Der gefrorene Himmel - Richard Wagamese - E-Book

Der gefrorene Himmel E-Book

Richard Wagamese

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Beschreibung

»Richard Wagamese ist der geborene Geschichtenerzähler.« Louise Erdrich

Erstmals in deutscher Übersetzung - Richard Wagameses wegweisender Roman über das Schicksal eines kleinen Jungen, in dem die Geschichte eines ganzen Landes widerhallt.

Saul wächst in einem staatlichen Heim auf – wie so viele Kinder indigener Herkunft. Dem Zwang und der Kälte der Einrichtung kann Saul in den kostbaren Momenten entfliehen, wenn er auf Schlittschuhen über das Eishockeyfeld fliegt. Sein magisches Talent für das Spiel öffnet ihm einen Weg in die Freiheit. Und begleitet Saul auf der Suche nach der Geborgenheit einer Familie, dem kulturellen Erbe der Ojibwe-Indianer und der Versöhnung mit einer Welt, die keinen Platz für ihn vorgesehen hatte.

»Ein Roman der seltensten Art - sowohl bedeutend als auch ein Lesevergnügen, das einem das Herz bis zum Hals schlagen lässt.« Edmonton Journal

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ZUMBUCH

Saul wächst in einem staatlichen Heim auf – wie so viele Kinder indigener Herkunft. Dem Zwang und der Kälte der Einrichtung kann Saul in den kostbaren Momenten entfliehen, wenn er auf Schlittschuhen über das Eishockeyfeld fliegt. Sein magisches Talent für das Spiel öffnet ihm einen Weg in die Freiheit. Und begleitet Saul auf der Suche nach der Geborgenheit einer Familie, dem kulturellen Erbe der Ojibwe-Indianer und der Versöhnung mit einer Welt, die keinen Platz für ihn vorgesehen hatte.

»Ein Roman der seltensten Art – sowohl bedeutend als auch ein Lesevergnügen, das einem das Herz bis zum Hals schlagen lässt.«  Edmonton Journal

ZUMAUTOR

Richard Wagamese, geboren 1955 im Nordwesten Ontarios, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern und indigenen Stimmen Kanadas. Er veröffentlichte fünfzehn Bücher, für die er vielfach ausgezeichnet wurde. Aufgewachsen in Heimen und bei Pflegefamilien, die ihm eine Beziehung zu seinen indigenen Wurzeln verboten, wurde Wagamese erst im Alter von dreiundzwanzig Jahren wieder mit seiner Familie vereint. 2010 wurde dem Autor von der Thompson Rivers University die Ehrendoktorwürde verliehen. Richard Wagamese starb im Jahr 2017. Sein Roman »Das weite Herz des Landes« erschien 2020 bei Blessing.

Ingo Herzke, geboren 1966, hat Klassische Philologie, Anglistik und Geschichte studiert. Seit 1999 lebt er mit seiner Familie in Hamburg und übersetzt unter anderem A.L. Kennedy, Alan Bennett, Gary Shteyngart und Nick Hornby.

RICHARD WAGAMESE

DER GEFRORENE

HIMMEL

Roman

Aus dem kanadischen Englisch

von Ingo Herzke

Mit einem Nachwort

von Katja Sarkowsky

Blessing

Das Buch erscheint unter dem Titel INDIANHORSE bei Douglas & McIntyre in Vancouver

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Übersetzer bedankt sich beim Deutschen Übersetzerfonds, der die Arbeit am vorliegenden Text mit einem Stipendium gefördert hat.

1. Auflage 2021

Copyright © 2012 by Richard Wagamese

Copyright © 2021 des Nachworts by Katja Sarkowsky

Copyright © 2021 der deutschen Ausgabe

und der Übersetzung by Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin

Umschlagabbildung: © plainpicture/LP/Scott Gordon

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-26289-1V001

www.blessing-verlag.de

Für meine Frau Debra Powell,

weil sie mir erlaubt, mich in ihrem Licht

zu wärmen und zu wachsen.

Ich komme in den Frieden der Wildnis,

die ihr Leben nicht belastet mit Voraussicht

auf Kummer. Ich komme in die Gegenwart stillen Wassers.

Und über mir spüre ich die tagblinden Sterne,

die ihr Licht zurückhalten. Eine Weile

ruhe ich in der Gnade der Welt und bin frei.

Wendell Berry, Der Frieden der Wildnis

1

Ich heiße Saul Indian Horse. Ich bin der Sohn von Mary Mandamin und John Indian Horse. Mein Großvater hieß Solomon, mein Vorname ist also die Kurzform von seinem. Meine Familie gehört zum Fish-Clan der nördlichen Ojibwe, der Anishinabek, wie wir uns selbst nennen. Wir haben uns in den Gegenden am Winnipeg River angesiedelt, wo der Fluss breit wird und bevor er nach Manitoba hineinfließt, nachdem er den Lake of the Woods und das zerklüftete Rückgrat des nördlichen Ontario hinter sich gelassen hat. Man sagt, unsere Wangenknochen sind aus jenen Granitkämmen gemeißelt, die sich über unserer Heimat erheben. Und das tiefe Braun unserer Augen ist aus der fruchtbaren Erde gesickert, die unsere Seen und Sümpfe umgibt. Die Alten sagen, dass unser langes, glattes Haar vom wogenden Gras kommt, das an den Ufern unserer Buchten wächst. Unsere Hände und Füße sind breit und flach und stark wie die Tatzen eines Bären. Unsere Vorfahren haben gelernt, leichtfüßig Gegenden zu durchqueren, die der Zhaunagush, der Weiße, später fürchtete und zu deren Erkundung er unsere Hilfe suchte. Unsere Rede wirbelt und fällt wie die Flüsse, die uns als Straßen dienen. Unsere Legenden erzählen, wie wir aus dem Bauch unserer Mutter Erde gekommen sind; Aki ist unser Name für sie. Wir sind ganz und heil herausgesprungen, Akis Herzschlag pochte in unseren Ohren, und wir waren bereit, ihre Bewahrer und Beschützer zu werden. Als ich geboren wurde, redete unser Volk noch so. Wir waren noch nicht aus dem Kreis unserer Legenden herausgetreten. Diese Grenze überschritt erst meine Generation, und wir sehnen uns nach einer Rückkehr, zu der es nie gekommen ist.

Diese Leute hier wollen, dass ich meine Geschichte erzähle. Sie sagen, ich könne nicht verstehen, wo ich hingehe, wenn ich nicht verstehe, wo ich gewesen bin. Ihrer Meinung nach liegen die Antworten in mir selbst. Wenn wir unsere Geschichten erzählen, können hartgesottene Trinker wie ich uns von der Flasche befreien, und von dem Leben, das uns zu ihr geführt hat. Das ist mir alles scheißegal. Aber wenn ich dadurch schneller aus dieser Anstalt rauskomme, dann erzähle ich eben meine Geschichte.

Die Sozialarbeiter im Krankenhaus haben mich hergeschickt. Das New Dawn Centre. Sie nennen es Behandlungseinrichtung. Die Suchtberater hier sagen, der Schöpfer und die Großmütter und Großväter wollen, dass ich am Leben bleibe. Sie sagen alles Mögliche. Eigentlich reden sie dauernd und erwarten von uns, dass wir es auch tun. Sie sitzen da mit feucht glänzenden und hoffnungsvollen Augen und denken, wir sehen nicht, dass sie bloß warten. Selbst wenn ich auf meine Schuhe starre, spüre ich es. Sie nennen das Teilen. Sie behaupten, dass sei eines unserer uralten Stammesgesetze. Viele Herzen, die gemeinsam schlagen, machen uns stärker. Darum setzen sie uns in den Redekreis.

Wir sind mindestens dreißig, die hier untergebracht sind. Alle möglichen Leute, von Jugendlichen unter zwanzig bis zu ein paar Leuten Mitte dreißig, wie ich, und einer alten Frau, die so alt ist, dass sie gar nicht mehr richtig reden kann. Den ganzen Tag sitzen wir in Kreisen. Vom Reden werde ich müde. Es erschöpft mich. Ich wünschte, ich könnte einen trinken gehen. Aber ich ertrage es, und wenn mein Berater Moses mich zum Einzelgespräch in sein Büro führt, ertrage ich auch das. Ich bin seit einem Monat hier, nach sechs Wochen im Krankenhaus, und so lange habe ich seit Jahren keinen Alkohol getrunken, also scheint es was zu nützen. Mein Körper fühlt sich stärker an. Mein Kopf ist klar. Ich esse reichlich. Aber jetzt, sagen die, jetzt kommt der härteste Teil der Arbeit. »Wenn wir in Frieden mit uns selbst leben wollen, müssen wir unsere Geschichten erzählen.«

Ich kann meine nicht im Redekreis erzählen. Das weiß ich. Ich müsste zu viel auf die Reihe bekommen und durchgehen. Und mir ist aufgefallen, dass die Jüngeren alle ganz unruhig hin und her rutschen, wenn ich anfange zu reden. Vielleicht glauben sie mir nicht, oder irgendwas an meinen Worten geht ihnen auf den Sack. Jedenfalls kann ich da nicht reden. Darum hat Moses mir erlaubt, was aufzuschreiben. Und das werd ich tun. Dann kann ich mein Leben weiterleben. Irgendwo.

Unser Volk hat Rituale und Zeremonien, die uns Visionen ermöglichen sollen. Ich habe nie an welchen teilgenommen, aber ich habe Sachen gesehen. Ich bin aus dieser materiellen Welt herausgehoben worden, an einen Ort, wo Zeit und Raum einen anderen Rhythmus haben. Ich bin immer in den Grenzen dieser Welt geblieben, aber ich habe die Augen von einem, der für eine andere Ebene geboren ist. Unsere Medizinmenschen würden mich einen Seher nennen. Aber ich stand unter dem Bann einer Macht, die ich nie verstand. Vor vielen Jahren hat sie mich verlassen, und dass ich diese Gabe verloren habe, bekümmert mich am allermeisten. Manchmal habe ich das Gefühl, ich hätte mein ganzes Leben damit verbracht, sie wiederzufinden.

2

Ich war nicht dabei, als das erste Indianerpferd zu unserem Volk kam, aber ich habe die Geschichte als Kind so oft gehört, dass sie für mich wahr wurde.

Die Ojibwe waren kein Pferdevolk. Unser Land blieb ungezähmt: Seen, Flüsse, Sümpfe und Marschen, umstellt von Festungen aus Busch und Fels und dem labyrinthischen Geflecht der Landschaft. Wir brauchten keine Karten, um es zu verstehen. Wir waren Menschen der Manitous. Die Wesen, die mit uns Zeit und Raum teilten, waren Luchs, Wolf, Vielfraß, Bär, Kranich, Adler, Stör, Hirsch, Elch. Das Pferd war ein Geisterhund, geschaffen für das Laufen in offenen Ebenen. Es gab in der alten Sprache kein Wort dafür, ehe mein Urgroßvater eines aus Manitoba mitbrachte.

Wenn die Sonne warm schien und das Lied des Windes in den Bäumen raschelte, sagten unsere Leute, die Maymaygwayseeuk, die Wassergeister, seien zum Tanz aus dem Fluss gekommen. So ein Tag war es. Funkelnd. Die Augen der Geister blinzelten vom Wasserspiegel.

Mein Urgroßvater war eines Tages gegen Ende des Winters in den beißenden Nordwind gelaufen, Richtung Westen, zum Land unserer Verwandten, den Ojibwes der Prärie. Er hieß Shabogeesick. Schräger Himmel. Er war Schamane und Fallensteller, und weil er so viel Zeit draußen im Land verbrachte, sprach das Land zu ihm, erzählte ihm Geheimnisse und Lehren. Es hieß, er habe die Sendegabe besessen, die große Gabe der ursprünglichen Lehrer. Das war eine starke Heilkraft, denn damit konnten lebenswichtige Lehren unter Menschen geteilt werden, die sehr weit voneinander entfernt waren. Shabogeesick war einer der Letzten, die sich diese Energie zunutze machten, bevor die Geschichte darüber hinwegtrampelte. Eines Tages rief das Land ihn, und er ging ohne ein Wort weg. Niemand machte sich Sorgen. So was machte er dauernd.

Aber als er dann an einem Nachmittag im Spätfrühling aus der Wildnis zurückkehrte, führte er ein seltsames schwarzes Tier am Halfterstrick. So ein Wesen hatte unser Volk noch nie gesehen, und alle hatten Angst. Es war riesig. So groß wie ein Elch, aber ohne Geweih, und seine Hufe klangen auf dem Erdboden wie Trommeln. Es war wie ein starker Wind, der durch eine Felsspalte bläst. Die Menschen schraken vor seinem Anblick zurück.

»Was für eine Art Lebewesen ist das?«, fragten sie. »Isst man es?«

»Wieso läuft es neben einem Menschen her? Ist es ein Hund? Ist es ein Großvater, der sich verirrt hat?«

Die Menschen hatten viele Fragen. Niemand mochte sich dem Tier nähern, und als es den Kopf senkte und zu grasen anfing, schnappten sie erstaunt nach Luft.

»Es ist wie ein Hirsch.«

»Ist es so sanft wie Waywashkeezhee?«

»Es heißt Pferd«, sagte Shabogeesick zu ihnen. »Im Land unserer Verwandten nutzt man es, um lange Strecken zurückzulegen, um Lasten zu tragen, die zu schwer für Menschen sind, und um vor Zhaunagush zu warnen, bevor man ihn sehen kann.«

»Pferd«, sagten die Leute im Chor. Das große Tier hob den Kopf und wieherte, und sie fürchteten sich.

»Verspottet es uns?«, fragten sie.

»Es stellt sich vor«, sagte Shabogeesick. »Es bringt große Lehren mit.«

Er hatte das Tier im Zug hergebracht und war dann fünfzig Kilometer vom Bahnhof zu unserem Lager am Winnipeg River damit gelaufen. Es war ein Kaltblut, ein Percheron. Ein Zugpferd. Ein Arbeitstier, und Shabogeesick zeigte den Leuten, wie man ihm Zaumzeug anlegte und ein Geschirr, die Riemen geknüpft aus Zedernwurzeln und Seilen von der Handelsstation, damit es die Kadaver von Elchen und Bären viele Kilometer weit aus dem Busch ziehen konnte. Kinder lernten, auf seinem breiten Rücken zu reiten. Das Pferd zog die Alten auf Schlitten durch den tiefen Winterschnee, und die Männer fällten Bäume und ließen es die Stämme zum Fluss schleifen, auf dem man sie zur Sägemühle flößen und verkaufen konnte. Das Pferd war wirklich ein Geschenk, und die Menschen nannten es Kitchi-Animoosh. Großer Hund.

Eines Tages rief Shabogeesick dann alle in den Kreis bei den Lehrsteinen zusammen, wo die Alten Geschichten auf die Felsen gemalt hatten. Die Leute wurden nur dann bei diesen heiligen Felsen versammelt, wenn etwas Lebenswichtiges mitgeteilt werden musste. Niemand weiß heute noch, wo dieser Ort ist. Von allem, was durch die vielen Veränderungen verschwand, ist der Weg zu diesem heiligen Ort vielleicht der schwerste Verlust. Shabogeesick hatte Kitchi-Animoosh mitgebracht, und das Pferd knabberte an den saftigen Blättern der Espen, während mein Urgroßvater sprach.

»Als das Pferd zum ersten Mal nach mir rief, verstand ich seine Botschaft nicht«, verriet Shabogeesick ihnen. »Ich hatte diese Stimme noch nie gehört. Doch unsere Verwandten in der Prärie erzählten mir von der Güte dieses Wesens, und ich fastete und betete viele Tage in der heiligen Schwitzhütte, um mit ihm reden zu lernen.

Als ich aus der Schwitzhütte kam, war dieses Pferd da. Ich ging mit ihm hinaus in die Prärie, und das Pferd lehrte mich.

Große Veränderungen werden kommen. Sie werden so schnell wie der Blitz kommen und unser aller Leben versengen. Das hat mir das Pferd unter der riesigen Himmelsschale der Prärie erzählt. ›Die Menschen werden viele Dinge sehen, die sie noch nie zuvor gesehen haben, und ich bin nur eines davon.‹ Das hat es zu mir gesagt.

Als die Zhaunagush kamen, brachten sie das Pferd mit. Unsere Leute sahen das Pferd als etwas Besonderes. Sie versuchten, seine Heilkraft zu verstehen. Es wurde Ehrensache, diese Geistwesen zu reiten, mit dem Wind um die Wette zu laufen. Doch die Zhaunagush konnten das nur als Diebstahl betrachten, als typisches Verhalten minderwertiger Menschen, also nannten sie uns Pferdediebe.

Der Wandel, der uns bevorsteht, wird viele Formen annehmen. Anblicke, die unseren Augen rätselhaft erscheinen, Geräusche, die uns in den Ohren knirschen, Gedanken, die wie Donner in unsere Herzen und Seelen brechen werden. Doch wir müssen lernen, jedes dieser Wandelpferde zu reiten. Das verlangt die Zukunft von uns, und unser Überleben hängt davon ab. Das ist die Geistlehre des Pferdes.«

Die Menschen wussten nicht, was sie mit diesen Reden anfangen sollten. Shabogeesicks Worte erschreckten sie. Doch sie vertrauten ihm und hatten Kitchi-Animoosh mit der Zeit lieb gewonnen. Also sorgten sie gut für das Pferd, fütterten es mit ausgesuchtem Getreide und Heu, das sie an der Eisenbahnstrecke einhandelten. Die Kinder ritten es, damit es gesund blieb. Als die Vertragsmänner uns in unserem abgelegenen Lager fanden und uns zwangen, unsere Namen in ihre Liste einzutragen, überraschte sie der Anblick des Pferdes. Als sie fragten, wie es zu uns gekommen sei, zeigten die Leute auf Shabogeesick, und so nannten die Zhaunagush ihn Indianerpferd – Indian Horse. Seither ist das unser Familienname.

3

Alles, was ich vom Indianersein wusste, starb im Winter 1961, als ich acht Jahre alt war.

Meine Großmutter Naomi war da schon sehr alt. Sie war das Oberhaupt der kleinen Schar, in die ich hineingeboren wurde. Zu der Zeit lebten wir noch in der Wildnis. Wir hatten wenig Kontakt zu anderen Menschen, abgesehen von den Zhaunagush im Northern Store in Minaki, wohin wir unsere Felle und Beeren brachten, oder gelegentlich einer Gruppe herumziehender Indianer, die auf unser Lager stieß. Sobald sie bemerkte, dass sich Fremde näherten, schaffte meine Großmutter meinen Bruder Benjamin und mich in den Busch. Dort blieben wir, bis sich die Fremden wieder verabschiedeten, auch wenn das mehr als einen Tag dauerte.

In unserem Lager gab es ein Gespenst. Wir sahen den Schatten dieses finsteren Wesens in den Falten im Gesicht unserer Mutter. Manchmal saß sie zusammengekauert dicht am Feuer, ballte die Fäuste und öffnete sie wieder, ihre Augen wie dunkle Monde. In solchen Momenten sprach sie nie, ließ sich nie trösten. Ich ging dann zu ihr und nahm ihre Hand, aber sie bemerkte mich gar nicht. So als stünde sie unter dem Bann einer sehr mächtigen Medizin, den kein Schamane zu brechen vermochte. Dieser Schatten lebte auch in anderen Erwachsenen, in meinem Vater und meiner Tante und meinem Onkel. Doch am schaurigsten zeigte er sich in meiner Mutter.

»Die Schule«, flüsterte sie dann. »Die Schule.«

Vor dieser Schule versteckte Naomi uns. Diese Schule ließ meine Mutter so tief in sich selbst versinken, dass sie manchmal in der äußeren Welt gar nicht mehr zu existieren schien. Naomi hatte gesehen, wie die Erwachsenen aus unserem Lager als Kinder weggeholt wurden. Sie hatte sie wiederkehren sehen, beladen mit einem Kummer, an den man nicht herankam, und als mein Großvater starb, führte sie ihre Familie wieder hinaus ins Land, in der Hoffnung, zu leben wie die Ojibwe könne sie heilen, ihren Schmerz lindern.

Außer meinem Bruder hatte ich noch eine Schwester, die ich nicht kannte. Sie hieß Rachel, und sie verschwand ein Jahr vor meiner Geburt. Sie war sechs.

»Die Zhaunagush kamen übers Wasser«, erzählte unsere Großmutter Benjamin und mir einmal, als wir uns unter den Bäumen versteckten. »Es war Ende August, und wir kamen gerade aus dem Sommerlager beim One Man Lake zurück an den Fluss. Unsere Kanus waren voller Beeren. Wir hatten vor, sie in Minaki zu verkaufen und dann Vorräte für den Winter zu kaufen. Wir waren müde.

Ich hätte nie gedacht, dass sie im Morgengrauen kommen. Also, ich hatte immer geglaubt, die Zhaunagush schlafen lange, wie dicke alte Bären. Aber sie kamen in unser Lager gelaufen, und ich zog mein Kleid über Benjamin, der noch so klein war, dass sie ihn dort nicht bemerkten. Aber Rachel fanden sie und nahmen sie in ihrem Boot mit.

Ich stand auf den Felsen und schaute ihnen nach. Sie hatten ein Boot mit Motor, und als sie um die Flussbiegung fuhren, da dachte ich, wie schnell doch Dinge aus unserem Blick verschwinden können. Ihre Schreie hingen in der Luft wie Feuerqualm von grünem Holz. Aber auch die verschwanden schließlich, und mir blieb nur die Heckwelle, die an die Felsen zu meinen Füßen schwappte.

Das ist alles, was ich von ihr noch bei mir habe – das nasse Klatschen des Wassers an den Felsen. Immer, wenn ich das höre, erinnere ich mich an das Morgengrauen, als die weißen Männer kamen und uns Rachel stahlen.«

Also versteckten wir uns vor den weißen Männern. Benjamin und ich entwickelten die feinen Ohren der Wildnis. Wenn wir das Dröhnen eines Motos hörten, wussten wir, dass wir rennen mussten. Wir fassten die Hand der alten Frau und huschten in den Wald, suchten uns ein Versteck, bis wir uns sicher waren, dass keine Gefahr mehr herrschte.

Ich lernte Englisch gleichzeitig mit Ojibwe. Mein Vater lehrte mich, in den Büchern der Zhaunagush zu lesen, sein Zeigefinger leitete mich an, den Klang der Buchstaben nachzubilden. Sie fühlten sich hart an, diese Worte der Weißen; scharf und spitz auf der Zunge. Die alte Naomi kämpfte dagegen, wollte die Bücher ins Feuer werfen.

»Sie kommen auf verschiedenen Wegen, diese Zhaunagush«, sagte sie. »Ihre Reden und ihre Geschichten können dich genauso schnell wegschaffen wie ihre Boote.«

Als Kind hatte ich also Angst vor den Weißen. Wie sich zeigte, mit gutem Grund.

Im Jahr 1957, ich war vier, holten sie meinen Bruder Benjamin. Die alte Frau und ich sammelten Wurzeln auf einer Lichtung hinter den Bäumen direkt am Fluss. Das Flugzeug kam aus Richtung Westen, und wir hörten es nicht rechtzeitig. Naomi und ich schafften es noch bis zu einer Felsspalte, aber die Männer und mein Bruder konnten nirgendwohin. Das Flugzeug schnitt ihnen den Weg ab, und wir krochen aus unserer Kluft und sahen, wie die Männer aus dem Flugzeug ein Kanu ins Wasser ließen und dann das Kanu meiner Familie ans Ufer gegenüber drängten. Sie hatten Gewehre, diese Zhaunagush. Ich glaube, hätten sie keine gehabt, hätten mein Vater und mein Onkel sie abwehren können, und wir wären ins Hinterland verschwunden. Aber sie griffen sich meinen Bruder mit vorgehaltener Waffe und schubsten ihn ins Flugzeug.

Meine Mutter brach auf der langen, flachen Felszunge zusammen, die bei unserem Lager in den Fluss hinausragte. Niemand konnte sie wegbewegen. Tagelang blieb sie da liegen, und erst die Kälte des Herbstregens brachte sie wieder auf die Beine und zurück zum Feuer. Für mich war sie da verloren, das konnte ich sehen. Sie war hager und ausgezehrt vom tagelangen Weinen, ihre Haut ein Zelt über den Knochen. Als Benjamin verschwand, nahm er ein Stück von ihr mit, und niemand konnte die Lücke füllen. Mein Vater versuchte es. Wochenlang wich er nicht von ihrer Seite. Aber da sie nun schon zwei Kinder verloren hatte, kam nichts mehr über ihre Lippen außer »die Schule«, und diese Worte hingen wie eine Wunde in der Luft. Also verließ er sie – er und mein Onkel paddelten flussabwärts, um die Beeren zu verkaufen. Als sie zurückkehrten, brachten sie den Weißen Mann in braunen Flaschen mit. Geister nannte Naomi sie. Böse Geister. Diese Geister brachten die Erwachsenen dazu, sich seltsam und torkelnd zu bewegen und verdreht zu reden. Beim Einschlafen hörte ich gehässiges Lachen. Manchmal kam meine Mutter taumelnd auf die Beine und tanzte ums Feuer, und der Schatten, den sie auf die Zeltleinwand warf, sah aus wie ein Skelett. Ich zog mir mein Gewand bis an den Hals, legte mich quer über den Platz, den mein Bruder früher beansprucht hatte, und wartete, dass der Schlaf mich überwältigte.

In klaren Nächten saßen die alte Frau und ich auf den Felsen am Flussufer. Die Sterne kreisten über uns, und wir hörten die Wölfe nacheinander rufen. Naomi erzählte mir Geschichten aus den alten Zeiten. Erzählte mir von meinem Großvater und der Medizin, die er beherrschte. Gute Medizin. Starke Ojibwe-Medizin. Der Fluss wand sich schlangengleich und glänzte im Licht des nördlichen Mondes. Ich glaubte in seiner kreiselnden Strömung manchmal Lieder in der Sprache der Ojibwe zu hören. Ehrenlieder, die mich über den Schmerz der Abwesenheit meines Bruders erhoben. Die Stimme stützte und stärkte mich wie Naomis warme Hand auf meiner Schulter.

4

Nachdem Benjamin verschwunden war, verließ meine Familie die Wildnis und das Flussufer. Eines Tages nahmen wir das Kanu und ließen das Lager hinter uns. Meine Großmutter kam auch mit, obwohl sie sich dagegen ausgesprochen hatte. Meine Mutter kam mir inzwischen fast schwerelos vor. Es überraschte mich immer, dass sie überhaupt Fußabdrücke hinterließ. Sie bestand nur noch aus Luft. Ihre Augen waren leer, und sie ging gebückt wie eine alte Frau.

Mein Vater ertrug alles in stoischem Schweigen. Doch er schwang die Axt mit wütendem Nachdruck und häutete Hirsche mit brutaleren Schnitten. Diese schwere, dichte Energie war genau das Gegenteil zu der Leere meiner Mutter.

Meine Eltern hatten sich beide dem Alkohol der Zhaunagush ergeben, und wir verließen die Wildnis auf seinen Spuren. Wir folgten dem Whiskey zu den provisorischen Lagern der Halbindianer, die sie auf Brachen rund um Sägewerksstädte aufschlugen, wo sie auf kleine Brocken Arbeit warteten, die ihnen gelegentlich zugeworfen wurden. Indianerarbeit. So nannten das die Leute vom Sägewerk. Männer und Jungen zogen in den Wald, um Windbruch abzusägen und die Stämme zu den kahl geschlagenen Flächen zu schleifen, wo die Seilschlepper sie fassen konnten. Sie mussten die krumm gewachsenen Bäume umhauen, die es den weißen Holzfällern schwer machten, die Premiumbäume unbeschadet zu fällen. Sie bekamen keine Kettensägen. Die Halbindianer und Indianer fällten alles von Hand, mit Bogensägen und Äxten. Das war brutal harte Arbeit und schlecht bezahlt, und der Lohn wurde schnell versoffen. In diesen Lagern sah man nicht viele Kinder. Die meisten waren schon von den Regierungsleuten weggeholt worden. Dass niemand mich holen kam, lag eher an unserem unsichtbaren Lebenswandel als an Glück. Ich zog einen kleinen Wagen über die zerfurchten Schlammwege durch das Zeltlager und dann zu den schäbigen Außenbezirken der Stadt, wo die armen Weißen wohnten, um Feuerholz zu verkaufen, das wir Kinder von Hand klein brachen. Kleinholz-Halbblut. So nannten mich die Zhaunagush in den Fabriken. Kleinholz-Halbblut.

Unser Leben wurde ein Trott von einem Zeltlager zum nächsten. Manchmal konnten wir eine verlassene Hütte aus Teerpappe unser Zuhause nennen, aber meistens lebten wir wie die anderen Heimatlosen in Stoffzelten, die im Kreis um ein Feuer aufgebaut waren. Wir teilten die Wärme und das Essen, das irgendwer auftreiben konnte. Ich lernte, Kaninchen in Fallen zu fangen und Hühner zu stehlen. Zur gleichen Zeit, als ich den Schwefelgeruch der Fabriken zu hassen anfing, gewöhnte ich mich an den Gestank von gebratenem Hund, die Schärfe des Kiefernharztees, mit dem wir unsere üblichen Schmalzbrote herunterspülten. Naomi erzählte mir Geschichten und hielt mich von den Erwachsenen fern, wenn sie unter Alkoholeinfluss standen. Sie zeigte mir, wie man Eichhörnchen und Waldmurmeltiere häutet, die wir manchmal in den lichten Wäldern fangen konnten.

Im Winter 1960 ließen wir uns in Redditt nieder. Dort gab es reichlich Arbeit für die Männer. Wir konnten uns einen Holzofen für das Zelt kaufen und verbrachten die Schneemonde in einem Komfort, an den wir uns schon kaum mehr erinnern konnten. Dank diesem neuen Schuss Hoffnung trank mein Vater weniger. Es war mehr Geld fürs Essen da, und ich musste nicht mehr die Astenden abbrechen, die aus dem Schnee ragten, und sie mit meinem Wagen herumfahren. Im Frühling war ich größer geworden, geschmeidig und sehnig.

In diesem Frühjahr sammelten wir Pilze und Kräuter und Wildlauch. Ein Bach führte von einem Moorteich hinab zum großen Fluss, und meine Großmutter zeigte mir, wie man einen Leinensack ins Wasser hängte und die Saugkarpfen fing, die zum Laichen bachaufwärts schwammen. Ich lernte, sie mit raschen Messerschnitten auszunehmen und zu putzen und benutzte die Innereien als Köder für Angelschnüre, die ich nachts im großen Fluss treiben ließ. Die Fische räucherten wir. Manchmal kneteten wir auch eine dicke Schicht Tonerde darum und backten sie im Feuer. Meine Großmutter verwendete die Gräten als Nadeln, um Knöpfe an meine abgewetzten Hemden zu nähen. Langsam stellte sich das Gefühl ein, wir könnten uns am Rand dieser rauen Stadt ein Leben aufbauen. Der Sommer kam. An den meisten Abenden saß meine Mutter mit uns am Feuer, obwohl sie immer noch eine so tiefe Traurigkeit in sich trug.

5

Dann kam Benjamin aus der Wildnis gewandert. Er war aus der Schule in Kenora weggelaufen. Er hatte Leute getroffen, die wussten, wohin es uns verschlagen hatte, war der Eisenbahnlinie und dann der Straße nach Norden gefolgt. Es waren hundert Kilometer bis Redditt, und er war den ganzen Weg gelaufen. Er war von Mücken zerstochen und mager und größer als das letzte Mal, als wir ihn gesehen hatten. Seine Haare waren kurz geschoren, und seine schlecht sitzende Kleidung hing noch schlabbriger am Körper, weil er auf der Wanderung so viel Gewicht verloren hatte. Einen Augenblick lang wusste niemand, wer er war.

»Mutter«, sagte er.

Meine Mutter tauchte in einem Sturm von Tränen und Lachen aus ihrer Verzweiflung auf.

Es wurde groß gefeiert. Mein Bruder saß am Feuer und bekam unsere dünne Suppe zu essen, meine Großmutter rührte einen Brotteig, den sie an einem Stock über dem Feuer buk. Ich stand neben ihm, während er kaute. Er hatte sich verändert. Nicht nur die Größe. Sein Blick war wachsam, sein Kiefer entschlossen und hart. Seine Hände zitterten ziemlich, als er Brotstücke abriss. »Saul«, begrüßte er mich und nickte einmal. Es war eigenartig, einen so erwachsenen Ausdruck auf dem Gesicht eines Jungen zu sehen. Dann hustete er.

Der Husten schüttelte ihn, und er beugte sich vor. Sein gekrümmter Rücken hob und senkte sich vor Anstrengung. Die Erwachsenen wichen erschrocken zurück, Angst im Gesicht. Nur meine Großmutter kam und kümmerte sich um ihn. Sie lehnte ihn an ihre Brust und nahm seinen Kopf in die Arme. Allmählich ließ sein Hustenanfall nach. Als er ganz aufhörte, war sein Gesicht rot, und er hatte Tränen in den Augen. Er kuschelte sich eng an meine Großmutter, legte die Hand vor den Mund und mühte sich, regelmäßig zu atmen. »Die Hustenkrankheit«, sagte sie zu uns. »Die hat er von der Schule.«

Die nächsten Tage ruhte mein Bruder sich aus. Es würde Jahre dauern, bis ich den vollen Namen seiner Krankheit erfuhr, doch die Tuberkulose, die in der Lunge meines Bruders saß, verbreitete in meiner Familie Furcht und Schrecken. Meine Mutter zog sich wieder in ihre Trauer zurück. Mein Vater trank heftig. Eines Abends holte meine Großmutter uns alle am Feuer zusammen und redete mit uns.

»Es bleibt nicht mehr viel Zeit«, sagte sie. »Die Hustenkrankheit hat Benjamin schwer erwischt, und ich glaube, bald werden die Zhaunagush kommen und ihn suchen. Wenn das passiert, werden sie auch Saul finden, und dann werden wir beide verlieren.«

Wir müssten dorthin gehen, wo die Regierungsleute uns nicht finden konnten, sagte meine Großmutter. Wir müssten wieder richtig leben. Wir müssten Benjamin an einen Ort bringen, wo Luft und Land seinen Geist erleichtern könnten.

»Er ist zwölf«, sagte sie. »Saul ist sieben. Sie sind jetzt alt genug, auf die alte Weise den manumin zu tanzen, den Wasserreis. Das hätte ihr Großvater gewollt. Wir werden zum Gods Lake gehen.«

Niemand widersprach. Die deutlichen Worte der alten Frau ließen keinen Raum für Diskussionen. Wir bereiteten uns auf die Reise vor. Mit seinem letzten Lohnscheck kaufte mein Vater drei alte Frachtkanus, die mein Onkel und meine Großmutter mit über dem Feuer erhitztem Fichtenharz flickten. Die alte Frau tauschte im Stillen den Whiskey meines Vaters gegen ein Gewehr und Munition und zwei schwere Metallwannen ein. Wir packten unsere Zelte und alle Vorräte zusammen und paddelten los Richtung Gods Lake, der in der unzugänglichsten Wildnis lag. Großmutter kannte das Land und führte uns über die Portagen zum Winnipeg River, dann nach Norden, vorbei an Minaki, schließlich Richtung Osten bis weit über den One Man Lake hinaus. Für die Fahrt brauchten wir zehn Tage. Benjamin und ich saßen in der Mitte eines der großen Kanus, und unsere Großmutter im Heck steuerte uns durch Untiefen und Stromschnellen hinein in prachtvolle Gewässer. Eines Tages hingen die Wolken tief, und leichter Regen sprenkelte das schiefergraue Wasser, das unser Bug zerteilte. Die Regentropfen waren warm, Benjamin und ich fingen sie auf der Zunge, während unsere Großmutter hinter uns lachte. Unsere Kanus glitten dahin, und wenn ich das Ufer betrachtete, kam es mir vor, als sei das Land selbst in Bewegung. Die Felsen lagen wie Loblieder in seiner Brust, und die Bäume reckten sich wie gekrümmte Finger preisend in die Höhe. Es war herrlich. Auch Ben spürte es. Er schaute mich mit Tränen in den Augen an, und ich erwiderte seinen Blick lange, sah mich satt am Gesicht meines Bruders. Als er hustete, legte ich ihm die Hand auf den Rücken.

»Vor langer, langer Zeit, vor den Zhaunagush, machte sich eine Gruppe von Jägern im Spätherbst auf, Elche zu suchen.« Die Stimme meiner Großmutter schallte übers Wasser, und die beiden anderen Kanus kamen längsseits, damit die Erwachsenen zuhören konnten. »Sie nahmen den gleichen Weg wie wir jetzt, und noch nie hatten sie solche Stärke in ihrem Land gesehen. Es war, als würden die Felsen zu ihnen singen.

In diesen Zeiten verließ sich unser Volk auf Intuition – die Kraft des Großen Geistes in unseren Gedanken –, und die Jäger fanden eine Portage an einem flachen Stück, nicht weit von hier. Sie führte in eine stark zerfurchte Landschaft mit vielen Bergrücken. Das Gehen fiel sehr schwer, doch sie folgten einem kleinen Fluss durch einen Einschnitt in den Bergkämmen, bis sie auf einmal spürten, dass das Land sich hinter ihnen schloss wie die Klappe eines Wigwams. Sie spürten eine Stille in den Knochen, und manche von ihnen hatten Angst. Doch sie brauchten so dringend Fleisch für den kommenden Winter, dass sie weitergingen.

Schließlich führte der Bach sie zu einem verborgenen See. Der Strand war schmal, und der See lag in einem steil ansteigenden Kessel, abgesehen von einem Uferabschnitt, wo das Land langsam aus einem Sumpf mit Tamarack-Lärchen aufstieg. Die Jäger wussten, dort würden Elche sein, und fassten Mut. Also suchten sie nach einer Stelle, wo sie das Wild am besten aufbrechen konnten. Doch das Wasser des Sees lag still und schwarz, und die Stille, die darüberhing, machte sie nervös. Die Jäger hatten das Gefühl, aus den Bäumen beobachtet zu werden.

Endlich fanden sie eine Stelle, wo Geröll von einer Klippe abgerutscht war und einen breiteren Strand bildete. Sie war so flach, dass man mit den Kanus anlegen konnte, nicht weit von einer schönen Baumgruppe mit Weidendickicht. Der perfekte Platz, um ein Lager aufzuschlagen. Sie zogen die Kanus an Land, standen auf den Kieseln und sahen sich um. Kein Lüftchen regte sich. Das Atmen fiel ihnen schwer, und immer stärker wurde das Gefühl, beobachtet zu werden.

Als die Jäger anfingen, die Kanus zu entladen, hörten sie Lachen aus den Bäumen und das tiefe Grollen von Stimmen, die in der Alten Sprache redeten, der Ursprache, die nur noch bei Feiern und Ritualen verwendet wurde. Doch es war niemand da. Während sie panisch durchs flache Wasser preschten und die Kanus wieder in den See schoben, klang das Gelächter ganz offen von den Bäumen her. Die Nackenhaare standen den Jägern zu Berge, und zitternd paddelten sie zurück zur Portage. Als sie wieder zu Hause ankamen, war jedes Haar auf ihren Köpfen weiß geworden.

Die Menschen nannten den Ort Manitou Gameeng, und die Missionare der Zhaunagush, die die Geschichte hörten, machten Gods Lake daraus. Niemand konnte dortbleiben; immer, wenn es welche versuchten, wurden sie von einer starken Kraft überwältigt, und sie rannten weg. Aber Solomon hatte einen Traum. In diesem Traum erntete unsere Familie Reis am Gods Lake, und wir waren alle zufrieden und hatten uns dort niedergelassen, und der Himmel war wolkenlos und tiefblau. Also zogen wir eines Frühjahrs dorthin. Wir hielten auf dem Schotter am Fuß der Klippe eine Zeremonie ab, sangen alte Lieder und sprachen Gebete in der Alten Sprache, bereiteten ein Festmahl, stellten Teller für die Geister unter die Bäume und ließen sie da. Wir entzündeten ein heiliges Feuer und verbrannten den letzten Rest des Essens, und dein Großvater kletterte hoch an der Klippe hinauf und legte ein Tabakopfer auf dem Felsen nieder.

Die Luft wurde dünner, eine Brise kam auf, und es herrschte Frieden. Doch seither konnte niemand anders dorthin gehen. Andere werden immer noch davongejagt. Nur die Familie Indian Horse kann zum Gods Lake. Das ist unser Revier. Der Reis, der am Südende wächst, ist unsere Ernte, und wir werden ihn auf die althergebrachte Art ernten, als Opfergabe für die Alten.«

Die Geschichte ängstigte uns. Sogar die Erwachsenen, die sie schon oft gehört hatten, verstummten. Ich fragte mich, was dort wohl aus uns werden würde. Ob der Geist, der Manitou des Gods Lake, Mitleid mit uns haben würde, ob wir auf diesem Land gedeihen könnten, das nur uns allein gehörte.

6

Wir erreichten Gods Lake am frühen Nachmittag eines Spätsommertages. Eine große, in den Granit eingelassene Schale voll Pechschwarz, von Fichten, Kiefern und Tannen gesäumt. Am Ufer standen, wie meine Großmutter erzählt hatte, hohe Zedern, am Südende waren ein Sumpf mit Tamarack-Lärchen und eine breite, flache Bucht, wo Wasserreis im Überfluss wuchs. Zuerst war die Luft still. Doch als wir aufs Nordende zupaddelten, kam Wind auf, und wir hörten Vögel aus dem Schilf und dem Flachwasser am Ufer. Ein Adlerpaar beobachtete uns vom Wipfel einer alten Kiefer. Eine Bärenmutter und ihre beiden Jungen schraken auf, als wir näher kamen, galoppierten bergauf durch Farnkraut und über eine Wiese, bis sie zwischen den Bäumen verschwanden. Es war warm und der Himmel über uns mit kleinen Wölkchen geschmückt.

Wir schlugen unsere Zelte auf einer Lichtung zwischen den Bäumen auf. Jeden Morgen konnte ich, wenn ich die Eingangsklappe des Zeltes aufschlug, das ich mit meinem Bruder teilte, das Wasser bis zum anderen Ufer sehen, wo Nebel aufstieg wie im Traum. Es gab Wild und Fisch und Beeren, und wir aßen so gut wie nie zuvor. Anscheinend wirkte das Versprechen des Ortes auf uns alle. Ben erholte sich so weit, dass er mir beim Sammeln von Feuerholz und beim Stellen der nächtlichen Angelleinen helfen und mit auf den Bergkamm kraxeln konnte, wo wir uns hinsetzten und einfach ins Land hinausschauten. Die Götter von Gods Lake schienen erfreut, dass wir da waren, und während die Wochen des Sommers ihrem Ende entgegenschwanden, ging es in unserem Lager friedlich und unbeschwert zu.