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Ein Sommer in Schweden, vier Freunde und eine alte Schuld – Coming of Age-Roman auf zwei Zeitebenen. Nach Abschluss ihres Psychologiestudiums verbringen Julia, Fee, Jesper und Maël zwei wunderbare Wochen in malerischer Kulisse am See. Doch die Idylle birgt ein dunkles Geheimnis. Sie alle haben sich schuldig gemacht, und als Julia kurz nach dem Urlaub spurlos verschwindet, senkt sich Schweigen über die Freunde. Sieben Jahre später taucht ein Unbekannter auf und bringt das fragile Gefüge ins Wanken. Die Freunde müssen handeln um zu retten, was sie einst verband. Ein Roman über Freundschaft, darüber, was sie zusammenhält und was sie auf die Probe stellt.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Deutsche Erstausgabe März 2025 Copyright ©2025 Antonia Richter Antonia Richter c/o AutorenServices.de Birkenallee 24 36037 Fulda
©Covergestaltung: Anne Gebhardt, annegebhardt.design
www.antonia-richter.com
Alle Rechte einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks oder Veröffentlichung in jeglicher Form sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Liebe Leserinnen und Leser,
bevor die Geschichte gleich beginnt, möchte ich mich sehr herzlich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie sich für »Der geheime Sommer« entschieden haben. Mit meinem neuesten Buch halten Sie ein leuchtendes Stückchen Sommer und einen ganzen Schwung kleinerer und größerer Geheimnisse in Händen. Das Schreiben der Geschichte hat mich unter anderem nach Schweden und Italien geführt, und genau dorthin möchte ich Sie nun gerne mitnehmen. Also, es ist alles bereit, ich habe die verschiedenen Spielorte noch einmal gründlich durchgewischt, und meine Protagonisten Julia, Jesper, Fee und Maël freuen sich schon ungeduldig, Ihnen ihre Geschichte zu erzählen. Für die kleine Alltags-Auszeit wünsche ich Ihnen gute Unterhaltung und grüße herzlich,
Antonia Richter
Unsere Sommer waren voller Geheimnisse.
Manche gehörten uns allein. Andere teilten wir.
Ich erzähle von jenen, die die Macht hatten, uns zu zerstören.
(Julia, vor sieben Jahren)
Trotz aller Geheimnisse begann die Geschichte eigentlich harmlos.
Der Sommer machte seinem Namen alle Ehre und unsere Stimmung war großartig, an dem Tag, da wir in unser langersehntes Abenteuer aufbrachen. Wir sogen die warme Luft in unsere Lungen und waren schon dabei, den Stress der vergangenen Wochen zu vergessen.
Während wir das Gepäck in sämtlichen Ecken und Winkeln des Autos verstauten, begriffen wir, dass es jetzt tatsächlich losging. Dass unser sorgsam gehegter Plan genau in diesem Moment Wirklichkeit werden sollte.
Wir, das waren Jesper, Maël, Fee und ich. Frischgebackene Studienabsolventen, die mit übervollen Herzen hungrig nach dem Leben griffen.
Das große Abenteuer war eine Schwedenreise, die irgendwie alles zugleich sein sollte: Belohnung für das abgeschlossene Studium, Erholung von der Prüfungsphase und vielleicht, wenn alles gutging, die beste Zeit unseres Lebens.
Derlei Dinge konnten nur bedingt geplant werden, das war uns wohl allen bewusst. Und so vermieden wir allzu bewegende Worte zu unserer Reise und hofften im Stillen, dass es legendär werden würde.
Mir jedenfalls ging es so.
Maël Winter folgte nicht weniger als dem Ruf seines Herzens, als er an diesem besonderen Frühsommertag, der der erste seines neuen Lebens sein sollte, alles, was bis dahin gewesen war, hinter sich ließ und gen Süden aufbrach. In dem Wissen, dass ein anderes Herz ebenfalls ziemlich nachdrücklich nach ihm verlangte.
Gen Süden, das bedeutete in diesem Fall nach Italien, in das malerische Toskana-Städtchen Lucca. Vor allem aber zu ihr. Zu Giulietta. Sein Puls beschleunigte sich allein beim Gedanken an sie und daran, wie sie sein Leben von Grund auf verändert hatte. Mit ihr an seiner Seite schien alles endlich Sinn zu machen. Eine süßliche Melodie schlich sich ihm, dem unmusikalischen Maël, auf die Lippen, und was machte es schon? Schließlich war er allein unterwegs, es gab keine Zeugen für seine sentimentalen Töne.
Weder der Weg noch der Ort waren Maël neu. Neu war jedoch, dass er dieses Mal kam, um zu bleiben.
Beiläufig klappte er die Sonnenschutzblende herunter. Die Sonne legte sich ordentlich ins Zeug. Fast, wie um ihn im Land zu halten, hatte sich das milde Sommerwetter in den letzten Wochen in Deutschland täglich wieder übertroffen. Doch sein Plan war wohlüberlegt und der Schlussstrich endgültig. Seine Zukunft lag anderswo. Und vielleicht konnte er das ein oder andere besser machen als in der Vergangenheit.
Er atmete tief durch und genoss die beeindruckende Alpenkulisse, durch die ihn sein Weg seit geraumer Zeit führte. Deutschland hatte er mittlerweile hinter sich gelassen und würde schon in wenigen Stunden ankommen. Jetzt gerade fraß sein SUV Kilometer um Kilometer der Brennerautobahn auf dem Weg zur Grenze zwischen Österreich und Italien.
Maël kannte die Toskana, schließlich hatte er hier zahlreiche Seminare, wahlweise für gestresste oder aber übermotivierte Manager börsennotierter Top-Unternehmen geleitet und sich einen Namen als Führungskräfte-Coach gemacht. Wie immer dachte er nicht ohne eine gewisse Verachtung an seine bisherige Arbeit. Als er kurz nach dem Abitur sein Psychologie-Studium aufgenommen hatte, war dies jedenfalls mit größeren Visionen und ehrenwerteren Zielen geschehen.
Aber er wollte nicht jammern und schon gar nicht in die Selbstmitleid-Falle treten. Sein Job hatte ihn bisher gut versorgt und würde es ihm, wenn alles gutging, darüber hinaus ermöglichen Gutes für andere zu tun. Und das war eine Motivation, die ihm sofort neuen Schwung gab und düstere Gedanken in ihre Schranken wies.
Nein, jegliches Hadern verbot sich in seiner privilegierten Lage. Und dann waren da schließlich noch Giulietta und das verrückte Leben, das, kaum dass er sich an die eine Variante gewöhnt hatte, mit einer noch viel schöneren Aussicht lockte.
Wenn er seine Zeit nur an ihrer Seite verbringen konnte, war alles andere egal. Und das Wunderbarste: Sie fühlte ebenso. Dies war ein Geschenk, für das er keine Worte fand.
Giulietta und er waren lange um das Thema herumgeschlichen, selbst, als es ihnen beiden längst klar gewesen sein musste. Sie wollten nicht mehr ohne einander sein. Die Wochen nicht mehr in endloser Sehnsucht durchstehen, bis ein paar wenige gemeinsame Tage das Bild endlich geraderückten. Nein, sie würden es tun. Es wagen und sich mit ganzem Herzen in einen gemeinsamen Alltag stürzen, der für sie beide herausfordernd und neu sein würde.
Maël warf einen Blick auf das Display des Navigationsgeräts. In wenigen Minuten würde er die Grenze erreichen, und dann, sobald der süße und fruchtige Duft der Weinberge und Apfelplantagen Südtirols die Luft erfüllte, endlich mit allen Sinnen spüren, dass ein neues Kapitel aufgeschlagen wurde. Dass er dieses Mal nicht zu Besuch hier war, sondern alle Zelte in der alten Heimat abgebrochen und seine Basis verschoben hatte. Wäre da nicht Giulietta, die ihn sehnsüchtig und fröhlichen Mutes erwartete, würde ihn die schiere Bedeutung dieses Schrittes noch sehr viel mehr einschüchtern. So jedoch war es etwas anderes. Mit ihr zusammen schenkte das Leben ihm eine Extra-Portion Mut und Zuversicht.
Für das, was sie vorhatten, würde er beides fraglos auch brauchen.
Jetzt jedoch wollte er erst einmal ankommen. Er ordnete sich in die kleine Schlange an der Grenze ein. Während er im Schritttempo weiterrollte, dachte er an später. Wenn er in Lucca angekommen war, sollte er sich vielleicht erst einmal frisch machen bevor er zu Giulietta fuhr.
Auf alles vorbereitet und stets in der Lage zu sein, wie frisch aus dem Ei gepellt aufzutreten, hatte ihn sein Job gelehrt. Immerhin. Allerdings schienen ihm während seiner Zeit als Coach solche Oberflächlichkeiten wichtig geworden zu sein, und er war sich nicht sicher, was er davon halten sollte.
Aber nein, heute war es etwas anderes. Immerhin ging es um Giulietta. Vielleicht fand er sogar ein Blumengeschäft, mal sehen. Er überlegte kurz, wie er eine entsprechende Frage in der Landessprache formulieren würde, und scheiterte an seinen bis jetzt noch viel zu spärlichen Italienischkenntnissen. Egal, er würde einen bunten Strauß für sein Mädchen organisieren, das wäre doch gelacht.
Maël spürte, wie er sich mit jedem Meter, den er sich seinem Ziel näherte, weiter entspannte, was angesichts der Herausforderungen, die vor ihm lagen, erstaunlich war.
Der kleine Stau an der Grenze löste sich langsam auf, und er rollte in das Land, das seine neue Herzensheimat werden sollte. Trotz der warmen Temperaturen stellten sich die Härchen an seinen Oberarmen für zwei, drei Augenblicke auf. Das hier war bedeutend, und er war sich dessen mehr als bewusst.
Fast hätte er dem Impuls nachgegeben, unmittelbar hinter dem Schalter an die Seite zu fahren und anzuhalten. Einfach um auszusteigen und dem Moment auf italienischem Boden nachzuspüren, aber das erschien ihm dann doch ein wenig übertrieben. Stattdessen öffnete er das Fenster, um, trotz laufender Klimaanlage, frische Luft hereinzulassen. Eine gute Idee, er wurde sofort mit dem landestypischen Sommerduft nach frisch gemähtem Gras und Heu belohnt. Sein Herz machte einen Hüpfer und die Vorfreude wuchs weiter.
Während der Fahrt gab er sich Tagträumen über seine neue Zukunft hin und bemerkte kaum, wie er Südtirol hinter sich ließ und die Po-Ebene erreichte. Die Berge waren während seiner Fahrt weiter in den Hintergrund getreten, stattdessen umgaben ihn Felder, so weit das Auge reichte. Er hielt am Seitenstreifen, stieg aus dem Wagen und sog den würzigen Duft frisch gepflügter Äcker tief in seine Lungen. Als er die Luft ausstieß, stellte er sich vor, wie er mit jedem Ausatmen einen gehörigen Teil des Arbeitsstresses entweichen ließ und stattdessen reine, positive Energie in sich sog.
Puh, ganz schön kitschig, dachte er bei sich. Diese Vorstellung hatte durchaus Potential in einem etwas stärker esoterisch angehauchten Manager-Seminar verarbeitet und an den Mann (in den meisten Fällen) oder die Frau (noch viel zu selten) gebracht zu werden. Er grinste. Trotzdem stimmte es für diese spezielle Situation irgendwie.
Er reckte und streckte sich und stieg gutgelaunt wieder in den Wagen. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern, bis die ersten toskanischen Zypressen und Olivenhaine am Wegesrand auftauchten.
In Lucca angekommen würde er als erstes einen Zwischenstopp bei Maria, in deren Café mit angeschlossener kleiner Pension, einlegen. Maria kannte ihn schon seit Jahren, hier war er während vorangegangener, damals noch ausschließlich beruflicher Aufenthalte, immer wieder eingekehrt. Und Marias Café hatte noch eine besondere Bedeutung, denn hier hatte er Giulietta kennengelernt. Und wiedergetroffen. Immer wieder … Bis klar war, dass sie zusammengehörten.
Maria behauptete bis heute, dies vom ersten Moment an gewusst zu haben, und man musste verrückt sein, wollte man ihr widersprechen. Maël schmunzelte.
Mit den Erinnerungen an Giulietta und ihr Kennenlernen im Kopf fuhren sich die letzten Kilometer wie von selbst und plötzlich war er einfach da.
Er suchte einen Parkplatz und hatte Glück, da war einer direkt vor Marias Café. Jetzt begann es also, sein neues Leben. Spätestens wenn Maria erfuhr, was Giulietta und er ausgeheckt hatten, würde es kein Zurück mehr geben. Aber das war ja auch gut so. Er wollte nicht mehr tauschen.
Bevor er aus dem Auto ausstieg, schaltete er routinemäßig noch sein Handy ein und tippte auf das Icon seines Mailproviders. Diese Gewohnheit, das fast schon zwanghafte Checken von Nachrichten, war ein Überbleibsel aus seinem Berufsleben. In Zukunft sollte er hier vielleicht …
Sein Blick fiel auf eine fett unterlegte, neu eingegangene E-Mail. Er runzelte die Stirn. Der Absender war ihm unbekannt. Das, was jedoch sofort in sein Herz stach, waren die Worte im Betreff: »Projekt zum Verschwinden von Julia Walther. Interview-Anfrage Podcast.«
Maëls Puls raste schlagartig und er fühlte sich schwindelig.
Er riss die Fahrertür auf, hier war es schließlich viel zu warm. Dass es draußen ohne die kühlende Unterstützung der Klimaanlage deutlich heißer war, spielte keine Rolle. Hier bekam er keine Luft, er musste aus dem Auto raus.
Und dann in aller Ruhe lesen, was genau in der E-Mail stand.
Die Welt schien in goldenes Licht getaucht, als Jesper Jahn an diesem milden Frühsommerabend nach Hause lief.
Während er die Treppen zu seiner Wohnung im dritten Stock hinaufstieg, wusste er genau, was dort in diesem Moment geschah. Und wie an jedem Tag stupste es sein Herz an, bis die Vorfreude auf das Wiedersehen ihn warm und wohlig durchflutete.
Vor der Tür zu seiner kleinen Zweizimmerwohnung hielt er kurz inne und spürte dem Gefühl nach. Heute war ein ganz besonderer Tag, und diese wunderbare Wiedersehensszene nach der Arbeit würden sie für längere Zeit nicht erleben. Dafür aber etwas noch viel Schöneres, davon war Jesper überzeugt.
Heute suchte er nicht einfach nur den Wohnungsschlüssel heraus, sondern griff zuvor in die Papiertüte des Gartencenters, in dem er das Spielzeug erstanden hatte. Lulu sollte ebenfalls merken, dass heute etwas anders war und es Grund zur Freude gab. Er tastete nach der an dem Krokodil befestigten Schlaufe und zog das schlabbrige, seltsamerweise in einem vollen Orangeton leuchtende, Gummiding heraus. Prima, jetzt noch den Schlüssel.
Jesper horchte genau hin. Er hatte keinen Zweifel, dass Lulu ihn schon im Treppenhaus witterte und an seinen Schritten erkannte. Wenn er jedoch den Schlüssel ins Schloss der Wohnungstür schob, gab es für gewöhnlich kein Halten mehr. Und so war es auch heute. Unwillkürlich verzogen sich seine Lippen zu einem breiten Lächeln, als er, während er aufschloss, Lulus Pfoten eilig über den Boden im Flur tapsen hörte.
Endlich zog er die Tür auf, zunächst jedoch nur einen Spalt breit. Er achtete darauf, noch nicht in das Blickfeld seiner Mischlingshündin zu treten, sondern streckte erst einmal nur seine Hand durch die schmale Öffnung und wackelte mit dem neuen Spielzeug. Dies verfehlte seine Wirkung nicht. Lulu, deren Rute in höchster Frequenz wedelte, hatte merklich Schwierigkeiten, zu entscheiden, ob sie nach dem Gummikrokodil schnappen oder doch lieber ihr noch halb verborgenes Herrchen begrüßen sollte.
Ihr anfangs noch leises Winseln ging in ein freudiges Jaulen über, als Jesper sie endlich erlöste und die Tür weiter aufriss. Noch auf der Fußmatte ging er in die Knie und streichelte und liebkoste Lulu, die sich, zumindest für den Moment, eindeutig für ihr Herrchen entschieden hatte.
Nach einer extra langen Begrüßung betrat Jesper die Wohnung, wobei Lulu ihm aufgeregt um die Füße sprang. Jetzt wurde das neue Spielzeug doch wieder interessant, besonders natürlich, wenn Jesper ihm Leben einhauchte.
Dieser zog erst einmal seine Schuhe aus, auch wenn sie vermutlich bald Gassi gehen würden. So viel Hundefreude passte nun einmal nicht in eine Wohnung. Spätestens jetzt spürte Jesper, wie jegliche Anspannung von ihm abfiel und einer tiefen Zufriedenheit Platz machte. Seine Arbeit, sein Brotjob, wie er ehrlicherweise sagen musste und dies auch ohne Bedauern tat, hatte in den nächsten vier Monaten erst einmal Pause.
Jetzt nämlich begann die Zeit seines Musikerlebens, in der er seine Energie endlich voll und ganz den Dingen widmen konnte, die ihm wirklich wichtig waren. Mehr noch, sie waren es, wofür er morgens aufstand: seine Alternative Rock-Band Crimson Cascade und an erster Stelle natürlich Lulu.
In den kommenden Monaten würde er keinen Gedanken an die Versicherung verschwenden, in der er verrückterweise nun schon seit fünf Jahren in der Abteilung »Unfall/Schaden« angestellt war. Er haderte nicht mit der Arbeit, die ihm immerhin seine Wohnung und sein Leben finanzierte, aber seine Leidenschaft lag anderswo. Und er hatte das große Glück, für fast vier Monate freigestellt zu sein, um mit den Jungs zu versuchen, auf einer dreimonatigen Tournee durch Deutschland und das angrenzende Ausland ihre Träume zu fangen. In Jespers Bauch schien ein ganzer Schwarm Hummeln durcheinander zu wuseln, so aufgeregt war er, wann immer er daran dachte, dass es jetzt tatsächlich bald losging.
Die nächste Zeit würde ganz und gar der Musik gehören. Und natürlich Lulu. Dass sie dabei sein konnte, war für ihn die Voraussetzung gewesen, die ganze Sache überhaupt ernsthaft anzugehen.
Was das Tier ihm bedeutete, vermochte er nicht in Worte zu fassen. Aber das war auch nicht nötig. Entscheidend war, dass sie einander verstanden. Und das geschah auf ganz anderer Ebene und viel intensiver und unverfälschter als jede Erklärung sein konnte.
In diesem Moment war sehr eindeutig, was Lulu vorhatte. Sie stand abwartend, mit dem neuen Spielzeug im Maul und aufgeregt hechelnd, vor ihm. Es war noch nicht genug gespielt worden, da hatte sie natürlich recht. Jesper beugte sich zu ihr hinunter und kraulte sie an dieser Stelle hinter den Ohren, die sie normalerweise besonders genoss. Jetzt aber warf sie ihren Kopf ungeduldig von einer auf die andere Seite und brachte damit das schicksalergebene Gummitier in den Fokus seiner Aufmerksamkeit.
»Ist ja schon gut Lulu, ich habe verstanden.« Jesper ließ sich im Schneidersitz auf dem Boden vor der Wohnzimmercouch nieder. Dann hob er den rechten Zeigefinger und sah Lulu aufmerksam an. Sie wurde ruhiger und wartete auf seinen nächsten Befehl. Jetzt senkte er den Zeigefinger, hielt jedoch weiterhin Blickkontakt und streckte Lulu seine Hand entgegen, wobei die Handfläche nach oben zeigte.
Lulu verstand sofort. Natürlich. Sie hatten diese grundlegenden Dinge viel geübt, und Jesper wusste, dass es Lulu Sicherheit gab, wenn er sie anleitete. Wie in diesem Moment, da er sie wortlos aufforderte, ihm das neue Spielzeug zu überlassen. Natürlich stand dabei in Aussicht, dass er irgendeine Form von Spiel beginnen würde, und Lulu wedelte zaghaft mit dem Schwanz, als sie das Krokodil vorübergehend aus ihren Fängen entließ.
Jesper nahm es entgegen und sah sich automatisch im Raum um. Wenn Lulu ins Spiel vertieft war, übersah sie manchmal Hindernisse und er wollte sie natürlich nicht in Gefahr bringen. Doch es sah gut aus. Seine Wohnung war, wie eigentlich immer, ziemlich aufgeräumt. Er mochte es nicht, wenn die Dinge nicht an Ort und Stelle waren, und so bot sich ein relativ langer Korridor, quer durch das Wohnzimmer und den halben Flur, bis zur Eingangstür an.
Lulu wurde aufgeregter, sie hechelte mit offenem Mund und es wirkte, als ob sie lächelte. In Wahrheit stand sie unter einer starken Erwartungsspannung, von der Jesper sie jetzt erlösen wollte. Er ergriff das Spielzeug an der Schlaufe, ließ es einige Male zwischen Lulu und sich herumwirbeln, bevor er sich drehte und es in einem gekonnten Schwung in Richtung Tür schleuderte.
Sein kleines Fellknäuel explodierte förmlich und war in wenigen Sekunden hinterhergesprungen. Wie nicht anders zu erwarten, hatte sich das Gummitier widerstandslos ergeben und wurde nun stolz zu ihm zurückgeschleppt. Dabei offenbarte sich eine bis dahin unerkannte Fähigkeit des Krokodils: Es konnte nämlich, wenn man die richtige Stelle erwischte, müde kleine Quietschgeräusche von sich geben. Das war selbst Jesper neu, aber gut. Es schadete schließlich nicht.
Sie spielten noch eine ganze Weile auf diese Weise, bis Lulu langsamer wurde und sich, wenn sie mit der Beute bei ihm ankam, anhänglicher zeigte. Irgendwann legte er das Krokodil zur Seite und schnappte sich Lulu, die begeistert mit ihm auf dem Boden herumkugelte, bis sie beide müde wurden. Müde und glücklich, wie er in Gedanken hinzufügte.
Dann aber hielt er kurz inne. Da war noch eine andere Empfindung. Bittersüß. Verlockend und bedrohlich zugleich. Er spürte ihr nach und wusste doch längst, dass es das Gefühl des Aufbruchs war, das ihn so sehr an den letzten großen Aufbruch erinnerte.
Damals, vor sieben Jahren, als er und seine Freunde nach dem Abschluss ihres Psychologiestudiums viel zu sorglos in einen Sommer ausgeflogen waren, der ihrer aller Leben bis heute verändern sollte.
Sein Blick verschwamm, und er gab sich für einen Moment ganz der Erinnerung hin. Auch wenn das gefährlich war. Seinem Gefühl zu vertrauen, die beunruhigenden Anteile darin zu kontrollieren, hatte er in zahlreichen Therapiestunden nur ansatzweise gelernt. So würde er es ausdrücken, denn noch immer erschien ihm diese Kontrolle fragil.
Doch heute war nicht der richtige Tag für diese düsteren Gedanken. Heute begann etwas Schönes, das außerdem in vielerlei Hinsicht genauestens geplant worden war. Von ihm und seinen Bandkollegen. Denn schließlich ging es nicht anders.
»Berlin, Hamburg, Köln. Berlin, Hamburg, Köln«, flüsterte er, um sich ins Hier und Jetzt zurückzuholen.
Dies waren die ersten drei Städte, in denen sie mit Crimson Cascade die Bühnen rocken würden.
Maël starrte wie betäubt auf das Display seines Handys.
Julia! Ausgerechnet jetzt, da er über die ganze Sache hinweg zu sein glaubte und einen Neuanfang wagte, schubste ihn diese Nachricht wieder gefährlich nahe an seinen persönlichen Abgrund. Ihm wurde bewusst, dass seine Lippen stumm jenen Namen formten, den er so lange Zeit in allen möglichen Situationen geflüstert hatte. Mal traurig, ein anderes Mal fröhlich, doch immer ungehört. Von Julia und allen anderen.
Zum Glück. Du liebe Güte, was tat er hier? Bei der Nachricht handelte es sich um die harmlose Anfrage eines Studenten, der bei der ganzen Sache wahrscheinlich bedeutend aufgeregter war als er.
Er konnte sich schließlich noch gut daran erinnern, wie es während seines eigenen Studiums gewesen war. In der Psychologie hatte er vom ersten Semester an Versuchspersonen rekrutieren und unterschiedlichsten Tests unterziehen müssen, und anfangs hatte es ihn große Überwindung gekostet, auf die Menschen zuzugehen.
Aber er hatte es geschafft, und auch was diese Sache anging, würde es ihm gelingen, die Kontrolle zu behalten. Obwohl das Thema für ihn schmerzhaft war und Erinnerungen heraufbeschwor, die immer traurig bleiben würden.
Bisher hatte er nur den Betreff der E-Mail gesehen und sollte vielleicht erst einmal weiterlesen. Am liebsten würde er dies in Ruhe tun, doch er hatte sein Auto in einer sinnlosen Übersprunghandlung fluchtartig verlassen und stand nun in der italienischen Mittagssonne auf dem Bürgersteig.
Die Idee, sich zum Lesen der Mail ins Auto zurückzuziehen, verwarf er gleich wieder. Er wollte die ganze Sache auch nicht größer machen, als sie war. Das redete er sich zumindest ein, während er näher an den Eingang des Cafés heranrückte. Hier war es etwas kühler, und er hatte dennoch ein wenig Privatsphäre. Trotzdem war da das altbekannte mulmige Gefühl im Magen, als er die Nachricht nun endlich öffnete. »Hallo Maël«, las er die unerwartet vertrauliche Anrede. »Mein Name ist Leon Roth und ich studiere im vierten Semester Publizistik und Kommunikationswissenschaften an der …«
Maël ließ das Handy sinken. Der unbekannte Student war offenbar an seiner alten Uni immatrikuliert. Ein Gefühl der Übelkeit breitete sich wie eine ätzende Flüssigkeit in seinem Magen aus, dabei hatte er sich das doch denken können. Das Verschwinden Julias war zwar vereinzelt auch in den überregionalen Medien erwähnt worden – in der Regel verbunden mit einer Suchanzeige –, aber an ihrer Uni war es natürlich noch einmal etwas ganz anderes gewesen. Wochenlang hatte es auf dem Campus kaum ein anderes Thema gegeben.
Da er, anders als zum Beispiel Jesper, das Glück gehabt hatte, dort im Wintersemester gleich eine Stelle in der Forschung antreten zu können, war ihm das vermeintlich besorgte, viel zu oft aber offen sensationsheischende »Interesse« der Öffentlichkeit an Julias Schicksal nicht entgangen. Leider. Er wandte sich wieder der E-Mail zu. »Für meine Bachelorarbeit möchte ich exemplarisch eine Podcast-Folge produzieren, in der ich versuchen will, Licht in das Dunkel des Falls Julia Walther zu bringen.«
Maël schluckte und fühlte sich sofort abgestoßen. Wie stellte der ambitionierte junge Mann, dieser Leon Roth, sich das vor? Die ganze Sache lag nun mittlerweile sieben Jahre zurück. Und auch wenn der Student nicht ahnen konnte, wie aufopferungsvoll er monatelang jeder noch so kleinen Spur nachgegangen war, zeugte seine selbstverständliche Annahme, hier auf neue Hinweise zu stoßen, von einem Selbstbewusstsein, das auf ihn erst einmal unsympathisch wirkte.
Er presste die Lippen zusammen und zwang sich, weiterzulesen. »Sie müssen wissen, dass es mich sehr berührt hat, im ersten Semester von der Geschichte um Julia zu hören. Auch in meinem Leben tauchten zu jener Zeit Fragen auf, die vermutlich niemals beantwortet werden können. Vielleicht fühle ich mich Ihnen und den Freunden und Verwandten Julias daher so besonders verbunden.«
Gut, das waren doch ganz andere Töne. Maëls Augenbrauen wanderten überrascht nach oben, jetzt wollte er weiterlesen und mehr erfahren. »Für mich ist Julia Walther mehr als ein »Fall«, und mein Interesse für ihr Verschwinden übersteigt das Erstellen einer wissenschaftlichen Arbeit bei Weitem. Mir ist wichtig, dass Sie das wissen, denn Sie wurden mir als Ansprechpartner in dieser Sache genannt, weil Sie eine enge Freundschaft mit Julia verbunden haben soll. Und ich kann mir vorstellen, dass meine Anfrage für Sie schmerzhafte Erinnerungen wachruft.«
Irgendetwas an den Worten Leon Roths überzeugte Maël davon, dass er es ehrlich meinte. »Für den Podcast möchte ich ein berührendes Porträt Julias zeichnen. Falls Sie sich dafür entscheiden könnten, mir zu helfen, würde ich Ihnen gerne ein paar Fragen zu ihr und der Zeit vor und nach ihrem Verschwinden stellen. Von mir aus am liebsten per Video-Call, aber da richte ich mich gerne nach Ihnen.«
Maëls Gedanken sprangen nervös hin und her. Von der E-Mail zu Julia, wieder zu dem Studenten, zu der Zeit damals und zurück zu seiner eigenen Unschlüssigkeit, wie er dem Projekt gegenüberstehen sollte. »Unsere Gespräche sehe ich als vertraulich an und werde keine Informationen daraus veröffentlichen, bevor Sie sie nicht freigegeben haben. Und falls Sie selbst nicht teilnehmen möchten oder können, wofür ich natürlich Verständnis hätte, könnten Sie mir vielleicht weitere potentielle Ansprechpartner nennen? Außer Ihnen wurde mir zum Beispiel noch Jesper Jahn genannt, der Julia nahegestanden haben soll.«
Jesper. Natürlich. Mit ihm würde er auf jeden Fall sprechen. Sie konnten zusammen beraten, ob und wie sie reagieren sollten. Ihm war klar, dass es auch für den Freund nicht leicht sein würde.
Maël überflog die letzten Sätze der Nachricht, die wieder etwas floskelhafter klangen. Der Student würde sich freuen, bald von ihm zu hören, hoffte natürlich auf eine positive Rückmeldung und so weiter.
Er schaltete das Handy aus und spürte, wie er beim Lesen der Mail unwillkürlich seine Muskeln angespannt hatte. So, als wolle er die Geschichte, in die der ahnungslose Student wie in ein Wespennest stach, mit schierer körperlicher Kraft von sich fernhalten. Er konnte nicht sagen, ob es eine gute Idee wäre, dem jungen Mann zuzusagen. Zugleich wusste er, dass er keine Chance verstreichen lassen konnte, wenn es darum ging, Julia zu finden. Auch wenn er gehofft hatte, dieses Thema …
Ein lautes Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Die Tür des Cafés flog auf, ein schriller Schrei ertönte und ein Wirbelwind aus dunklen Locken und guter Laune warf sich an seinen Hals.
»Manuele? Manuele!«
Das war Maria, die Wirtin des »Caffè Cuore«, die sich, so lange sie sich kannten, mit fröhlicher Beharrlichkeit dagegen wehrte, ihn bei seinem richtigen Namen zu nennen.
»Maria, wie schön, dich …«, setzte er, von ihrer warmen Herzlichkeit beinahe erstickt, an.
»Vieni, vieni! Komm schon rein, hier draußen ist es ja zum Fürchten heiß!«
Maël folgte ihr in den Gastraum, in dem es nur unwesentlich kühler war. Einen Moment lang mussten sich seine Augen an die im Vergleich zum grellen Sonnenlicht schummrige Beleuchtung gewöhnen.
In seiner Hosentasche hütete sein Handy die Nachricht des wissbegierigen Studenten, die ihn längst schon nicht mehr losließ.
Zwar war es mehr als unwahrscheinlich, dass sie tatsächlich auf wie auch immer geartete neue Informationen zum Verbleib Julias stoßen würden. Dennoch konnte Maël nichts dagegen tun, dass der kleine Funke Hoffnung, der wie eine ewige Flamme nie verglommen war, trotzig aufflackerte.
Das war nicht gut, dessen war er sich bewusst. Er durfte nicht zu emotional werden. Nicht wieder.
Aber die Entscheidung darüber, ob sie das Projekt von Leon Roth unterstützen sollten, lag schließlich nicht nur bei ihm. Er musste das weitere Vorgehen nicht festlegen. Nicht heute und nicht allein.
Nein, er sollte zuerst einmal Jesper informieren, und dann würden sie gemeinsam weitersehen.
»Hey, Jes, hast du’s bald? Wir wollen langsam mal loslegen«, scholl Dans Stimme zum wiederholten Mal unangenehm laut an Jespers Ohr.
Es war eine der letzten Proben, bevor es ernst werden und ihre Tournee mit den ersten Gigs in Berlin beginnen würde. Sie waren alle vier aufgeregt, schließlich stand jetzt für drei wunderbare Monate endlich mal Crimson Cascade im Mittelpunkt. Ihre Band, die sie vor Jahren als Hobbymusiker neben ihren jeweiligen Berufen gegründet hatten, lange bevor Gastauftritte in anderen Städten auch nur denkbar gewesen waren.
Die Stimmung unter ihnen war entsprechend aufgeladen, wenn auch grundsätzlich positiv. Aber Jespers Antennen waren sehr fein, wenn es um eventuelle Spannungen ging, und es war nicht zu leugnen, dass besonders Dan und Mark in diesen Tagen eine ungewöhnlich kurze Zündschnur und erst recht keine Geduld hatten. Ryder hingegen schien, wie immer, die Ruhe selbst zu sein. Er liebte es, sich als ihr Frontman mit einem ordentlichen Quantum Glamour und Starappeal in ihrer Mitte feiern zu lassen. Auf sympathische Weise, sonst wäre ihre kleine Gruppe schon längst gecrasht.
Jesper schaltete das Handy aus, von dem aus er gerade jene Mail verschickt hatte, vor der er sich nun lange genug gedrückt, und die er eben noch einmal überflogen hatte. Für das Verfassen dieser Nachricht hatte er sich genug Zeit nehmen und seine Worte mit Bedacht formulieren wollen. Denn er wusste aus eigener Erfahrung, was solche Neuigkeiten bei der Adressatin schlimmstenfalls auslösen konnten.
Während er sein Handy tief in die hintere Tasche seiner Jeans schob, gab er sich Mühe, nach außen hin möglichst unbeeindruckt zu wirken. In Wahrheit war er selten so aufgewühlt gewesen, wie seit Maëls knapper Nachricht. Auf eine passive, fast hilflose Weise. Die Dinge waren ins Rollen gekommen. Jetzt noch, Jahre später. Und wohin es sie führen würde, konnte Jesper nur mutmaßen. Dabei vermochte keine der denkbaren Optionen das unangenehme Zittern zu mildern, das ihn nun schon viel zu lange quälte.
»Kein Stress«, murmelte er in Dans Richtung, der nun, da er sah, wie sein Bandkollege sich in Bewegung setzte, endlich Ruhe gab. Wahrscheinlich waren seine Worte auch an ihn selbst gerichtet, obwohl er wusste, dass sie nichts brachten. Anders als normalerweise die Musik. Mal sehen, was eine ordentliche Jam-Session ausrichten konnte. Für gewöhnlich machte ihn das Proben mit den Jungs ruhiger. Vorausgesetzt sie nervten ihn nicht schon vor der Session, so wie eben Dan.
Jesper versuchte ein Minimum an Verständnis für ihn aufzubringen und griff nach der Gitarre. Seine Finger kannten die Stücke in- und auswendig, sie übernahmen den technischen Teil, und er ergänzte das Gefühl in seinem Spiel über Bends oder Vibrato an Stellen, die förmlich danach schrien, entsprechend ausgestaltet zu werden. Seine Phrasierungen waren nie absolut identisch, Nuancen und Betonungen spiegelten seine Emotionen in einem geheimen Code wider. Währenddessen wanderten seine Gedanken, und irgendwie ergab das alles zusammen Sinn und machte seinen individuellen Klang aus.
Seitdem ihn die WhatsApp-Nachricht von Maël am frühen Nachmittag erreicht hatte, gingen Jesper dessen erste Worte nicht mehr aus dem Kopf.
»Hey Jesper, ich wollte dich darüber informieren, dass ich eine Anfrage zu Julia bekommen habe. Ein Student will eine Podcast-Folge über sie drehen. Wäre gut, wenn wir mal darüber sprechen, ob und wie wir reagieren wollen.«
Das waren Maëls Worte an ihn nach fast anderthalb Jahren Funkstille gewesen. Dass er große Umschweife machen würde, konnte man ihm jedenfalls nicht vorwerfen. Aber er konnte sich vorstellen, wie geschockt Maël darüber gewesen sein musste, dass die Vergangenheit heute, sieben Jahre später noch, ihre Finger nach ihnen ausstreckte.
Seine eigenen Finger rasten derweil durch die Läufe und schufen zusammen mit Dan am Schlagzeug, Mark am Bass und Ryder am Mikro – und wie immer beinahe in Ekstase – die bekannten Melodien, die heute mehr denn je zur Kulisse für seine Gedanken wurden.
Dass Maël derjenige war, den man als Ersten kontaktierte, um etwas über Julias Verschwinden zu erfahren, sollte niemanden überraschen. Jesper hatte immer den Eindruck gehabt, dass es Maël von ihnen allen am schwersten gefallen war, einen wahren Schlussstrich unter die Zeit damals zu ziehen. Nicht nur, dass er nach dem Studium eine Stelle am Psychologischen Institut angenommen hatte, er war auch darüber hinaus noch lange in losem Kontakt zur Uni und verschiedenen Leuten dortgeblieben.
Wie sehr er Julia geliebt hatte, war ein offenes Geheimnis gewesen.
Er sah es dem Freund also nach, dass er vermeiden wollte, allzu emotional zu schreiben. Julias Verschwinden und die Zeit davor, war für sie alle schwierig. Das Wissen darum, dass er Fee informieren musste, vermittelte ihm einen guten Eindruck davon, wie es sich für Maël vielleicht angefühlt hatte, ihm zu schreiben. Nicht gut. Ganz und gar nicht gut.
Sie stimmten ein langsameres Stück an. Eines, das erfahrungsgemäß gut dafür geeignet war, das Ende des Auftritts einzuleiten, bevor eine flotte Gute-Laune-Nummer und vielleicht eine oder zwei Zugaben den Sack zumachten. Jetzt aber erst mal der sentimentale Song.
Während Jesper die Einleitung und Strophen spielte, versuchte er, nicht zu denken. Stattdessen wollte er einfach nur fühlen und mit der Musik verschmelzen. Die kleinen Risse in seiner Fassade, die die erzwungene Erinnerung an Julia verursacht hatte, heilen. Das aber klappte überhaupt nicht, und er hätte es wissen müssen. Dafür hatten sie alle zu große Schuld auf sich geladen.
Um nicht in zunehmend düsteren Gedanken unterzugehen, dachte er an Lulu, während seine rechte Hand langsam und gefühlvoll am Tremolo-Hebel zog. Der Ton stieg quälend langsam an, seine Gitarre klagte ein geheimes Leid, von dem niemand wusste. Von dem niemand erfahren durfte.
Jesper zwang sich, daran zu denken, wie Lulu ihn später begrüßen würde. Vollkommen unvoreingenommen. Ein dunkelgrauer Fellball aus purer Liebe. Seine Schnauzer-Pudel-Mischlingshündin war die zuverlässigste Begleiterin, die er sich vorstellen konnte. Und viel zu oft sein letzter Halt. Besonders seitdem Julia verschwunden war.
Lulu ertrug die Trennung von ihm besser als er selbst. Und es war zu ihrem Besten, dass sie ihn nicht in den Probenraum begleitete. Die Lautstärkepegel, die bei ihren Sessions zustande kamen, waren zu hoch für das empfindliche Gehör seiner kleinen Hündin. Ihnen wollte er sie nicht aussetzen, das wäre verantwortungslos. Daher sorgte er dafür, dass sie kleine Beschäftigungen zu Hause fand. Mal versteckte er Leckerlis in der Wohnung, mal brachte er ihr einen neuen Kauknochen mit. Er achtete darauf, ihr in unregelmäßigem Wechsel immer etwas anderes zu präsentieren.
Was aber nie fehlen durfte, war eines seiner Kleidungsstücke. Ihm ging jedes Mal das Herz auf, wenn er sie heimlich dabei beobachtete, wie sie es in ihr Hundekörbchen schleppte und den Kopf zum Schlafen daran kuschelte.
Er merkte, dass er innerlich ein wenig ruhiger wurde. Außerdem war jetzt ein schnelleres, nicht so sentimentales Stück an der Reihe. Das half ebenfalls.
Anderthalb Stunden noch, dann wäre er wieder zu Hause. Bei ihr, die ihn hoffentlich von den unangenehmen Neuigkeiten ablenken würde. Wenigstens für einige unbeschwerte Momente. So bemerkenswert und einzigartig die Tournee mit Crimson Cascade sein würde, so zerstörerisch drohte die andere Sache zu werden.
Der Student, von dem Maël in seiner Nachricht erzählt hatte, würde mit der Recherche für seinen Podcast alte Wunden wieder aufreißen, da machte Jesper sich nichts vor. Und er musste es wissen, denn schließlich hing er mindestens so tief in der Geschichte wie die anderen. Wenn nicht sogar noch tiefer. Und dass er dem ambitionierten Podcaster ein dumpfes, nicht näher bestimmtes Misstrauen entgegenbrachte, änderte nichts an den Fakten.
Seine Mitschuld am Verschwinden Julias war Jesper jedenfalls schmerzlich bewusst.
Als die Nachricht ihr Leben ein weiteres Mal in seinen Grundfesten erschütterte, war Fee gerade dabei, ein Buchcover für einen großen Belletristik-Verlag zu erstellen.
In Gedanken war die junge Grafikdesignerin bis zu diesem Moment an der Ostküste der USA unterwegs gewesen, vertieft in die Suche nach den optimalen Elementen für einen locker-leichten Liebesroman. Inzwischen hatte sie eine noble blau-weiße Hafenszenerie mit dem dazugehörigen gleißenden Sonnenlicht, luxuriösen Yachten und natürlich auch den obligatorischen Möwen gezaubert. Der Roman sollte in New Haven spielen, und soweit war Fee zufrieden mit ihrer Arbeit.
Zufrieden gewesen war sie auch mit ihrem Leben, bis zu diesem Augenblick, in dem die Mail auf einen Schlag alles änderte.
Die Maus in Fees Hand zuckte unkontrolliert. Das, genau das, hätte nicht passieren dürfen. Fee verwünschte den Impuls, der sie auf den kleinen Briefumschlag am unteren Rand des großen Bildschirms hatte klicken lassen. Sie ließ die Maus fallen wie eine heiße Kartoffel, schob sich auf ihrem Stuhl ein Stück vom Schreibtisch weg und versuchte Distanz zu schaffen.
Die Nachricht änderte dies erwartungsgemäß nicht. Sie war und blieb verheerend wie ein Orkan, eine Urgewalt, die an ihrem Kartenhaus rüttelte. Jede einzelne der über die Jahre sorgsam aufeinandergestapelten Karten bebte unter der Erschütterung. Und ob alles halten würde, war mehr als fraglich.
Während Fee in Gedanken panisch jeden Winkel ihres Gedächtnisses nach einem Ausweg durchsuchte, prangten die wenigen Worte, die diese Macht über sie hatten, grell auf dem leuchtenden Bildschirm vor ihr:
»Hey, ein Student von unserer Uni will einen Podcast über den Fall Julia Walther machen. Ich dachte, das solltest du wissen. Wir müssen entscheiden, was wir tun wollen.«
Der Text war so typisch für Jesper. Sie meinte, ihren guten Freund von früher aus jedem Wort herauszuhören. Und eigentlich sollte sie sich darüber freuen. Ging es nicht allen Menschen so? Hatten sie nicht alle »Freunde von früher«, mit denen sie zu einer bestimmten Zeit im Leben Bedeutendes geteilt hatten? Denen sie vielleicht aber auch viel zu nahegestanden hatten und mit denen genau deswegen ein oberflächlich-freundlicher Kontakt Jahre später kaum möglich war?
In Jespers und ihrem Fall war dieses »Bedeutende« eine blutige Wunde, die niemals heilen würde. Zwischen ihnen gab es keinen maßvollen Umgang, es würde immer wehtun. Dass er sich trotzdem bei ihr meldete, kam der höchsten Alarmstufe gleich.
Fee versuchte, sich zu beruhigen. Für ihre Arbeit war es von äußerster Wichtigkeit, den Kopf frei zu behalten. Nur so war es ihr möglich, kreativ zu arbeiten, etwas zu erschaffen, das ihre Kundinnen zufriedenstellen würde. Und nur so konnte sie das alles hier überhaupt aufrechterhalten. Mit anderen Worten: Es war lebensnotwendig für sie, die Nerven zu behalten.
Sie konzentrierte sich wieder auf den Wortlaut von Jespers Nachricht und zwang sich, den Fokus zu behalten. Ihr Blick wanderte über den Text, und ihr wurde unangenehm warm. Das Zittern verstärkte sich.
Offenbar hatte Jesper die Neuigkeiten von Maël erfahren. Er war der dritte im Bunde und vielleicht der Einzige, der niemals die Hoffnung verloren hatte, dass Julia noch lebte. Dass sie gefunden werden konnte. Und sie alle wieder zusammen sein würden.
Fee drückte die Schultern durch und streckte ihre schmerzenden Glieder aus. Es half nichts, selbst wenn sie weiter auf Jespers Worte starrte, würden sie keine unmittelbare Lösung offenbaren. Sie erhob sich von ihrem Bürostuhl und öffnete das Fenster neben ihrem Schreibtisch, um den lauen Sommerabend hereinzulassen.
Sie sog die klare, frische Luft mehrmals tief in ihre Lungen und schloss die Augen, bis der Sommer sie schwindelig machte. Die Gedanken jagten wild durch ihr Bewusstsein und Fee versuchte sie loszulassen. Ihre gemeinen kleinen Haken zu ignorieren, die sie in unendliche, sinnlose Strudel zu ziehen versuchten. Es gelang ihr eher schlecht als recht.
Dabei war ihre Sorge grundlos. Denn in diesem Moment war sie sicher, oder etwa nicht? Sie versuchte, sich durch die Kontrolle ihrer Atmung weiter zu beruhigen und konzentrierte sich auf die realen Dinge, die sie gerade wahrnehmen konnte. Den Duft der warmen Sommerbrise zum Beispiel, die eine feine Note von Kiefern und Fichten, von Moos und Waldbeeren in sich zu tragen schien und etwas in ihr berührte.
Sie setzte sich wieder und ihre Hand war ganz ruhig, als sie erneut nach der Maus griff und dem Buchcover dunkle Nadelbäume hinzufügte. War es vielleicht der fehlende Kontrast gewesen, der sie gestört hatte? Sie legte den Kopf schief, klickte und schob intuitiv Elemente über ihren Entwurf. Manchmal beflügelte es ihre Kreativität, wenn sie die Kontrolle aufgab. Mitunter führte dies zu Ergebnissen, die sie selbst überraschten.
Nachdem sie einige Minuten wie im Fieber an ihrem Coverentwurf gefeilt hatte, versiegte der unerwartete Energieschub so plötzlich, wie er gekommen war. Sie stand ein weiteres Mal auf und lief durch das bunte Chaos, das sich vom Arbeitszimmer bis in ihr Wohnzimmer erstreckte, in die Küche. Hier eine Aufgabe zu finden, die weniger ihren Kopf, ihre Hände dafür jedoch umso mehr beanspruchte, war ein Leichtes. Nach kurzem Überlegen zog sie die Klappe der Spülmaschine auf und begann systematisch damit, Frühstücksteller, große Teller sowie das Besteck in der immergleichen Reihenfolge herauszunehmen und in den Schrank und die Schubladenfächer zu räumen.
Gegen das stärker werdende beklemmende Gefühl, das hinter ihrem Bewusstsein lauerte und sich aus dem Schreck über Jespers Mail speiste, versuchte Fee, sich auf eine Melodie zu konzentrieren. Wo war der Ohrwurm, wenn man ihn mal brauchte? Halbherzig begann sie, ein paar Töne zu summen, während die Spülmaschine sich zunehmend leerte. Bald waren nur noch wenige tropfnasse Töpfe und die zugehörigen Deckel, unter deren Griffen sich Flüssigkeit gesammelt hatte, übrig.
Wahrscheinlich war es besser, die letzten Teile erst einmal schräg in der Maschine zu platzieren, so dass die Wasserreste ablaufen konnten, redete sie sich ein. Sie hatte in dieser Arbeitsphase definitiv Lieblingsgeschirr, und alles, was zu diesem Zeitpunkt noch tropfte, gehörte nicht dazu.
Das hieß aber auch, dass sie jetzt wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren musste. Wo ihr Computer stand, in dem ihr Mailprogramm immer noch geöffnet und Jespers Mail nur wenige Klicks von ihrem Auftragscover entfernt war. Trotzig und obwohl ihr klar war, dass es nicht funktionierte, versuchte sie sich an dem platten Sommerhit festzuhalten, der ihr vorhin in den Sinn gekommen war.
Ihr Rechner empfing sie mit schwarzem Bildschirm, sie hatte den Energiesparmodus auf fünf Minuten getaktet. Fast schon wünschte sie sich einen Komplettabsturz herbei, aber da bliebe schließlich immer noch das Handy, und außerdem bekam sie Jespers Nachricht und ihre möglichen Folgen doch ohnehin nicht mehr aus dem Kopf.
Nein, nachdem sie wie blind letzte Änderungen umgesetzt hatte, wollte sie ja schließlich auch das Cover noch einmal begutachten. Sie setzte sich und schloss die Augen, während sie die Maus bewegte, um den Rechner wieder zu wecken. Nach ein paar Sekunden rückte sie näher an den Tisch und öffnete entschlossen die Augen, um den neuen Gesamteindruck auf sich wirken zu lassen.
Nachdem sie eine unbestimmte Zeit auf den Bildschirm und ihre Arbeit der letzten Stunden gestarrt hatte, fühlte sie Übelkeit in sich aufsteigen. Ein bitterer Geschmack, wie nach Galle, brannte in ihrem Hals und sie schluckte mehrmals. Erfolglos. Das war … Nein, das konnte doch nicht sein! Wo noch vor einer Stunde ein fast fertiges Buchcover die zukünftigen Leserinnen an die sonnige Atlantikküste gelockt hatte, warfen nun dunkle Nadelbäume unheilverkündende Schatten auf ein wenig einladendes schwedisches Sommerhaus. Das leuchtend türkisfarbene Wasser des Atlantiks hatte sich in einen schwarzen See verwandelt.
Fees Augen füllten sich zu ihrem Entsetzen mit Tränen. Wann war das geschehen? Sie wusste doch, was sie getan hatte. Die Bewaldung der Küste ein wenig aufgestockt, um dem zukünftigen Cover eine stärkere Tiefe zu verleihen, mehr doch nicht. Oder?
Plötzlich nahm sie unangenehme Abgase der nahegelegenen Industrieschlote wahr und stand auf, um das Fenster zu schließen. Dabei flammte die irrationale Hoffnung auf, dass sich ihr ein anderer Anblick bieten würde, als sie sich wieder setzte, aber natürlich war alles noch gleich.
Vor sich sah sie weiterhin eine beschmutzte Schwedenidylle, und Fee ahnte, wie es dazu gekommen sein musste. Sie presste die Lippen aufeinander. Jespers Nachricht hatte die Geister der Vergangenheit heraufbeschworen. Sie waren schuld. Und hatten ganz offenbar die Macht, sie so sehr aus der Bahn zu werfen. Das durfte nicht sein. Sie musste besser aufpassen. Und die Kontrolle behalten. Nicht nur um ihrer selbst willen.
Ihr war inzwischen richtig schlecht. Der bittere Geschmack hatte sich in ihrem ganzen Mund ausgebreitet. Sie beobachtete sich selbst hilflos. Der Schmerz, alter und noch älterer, blitzte immer wieder durch. Und sie war unfähig, sich zu schützen. Gesichter huschten durch ihre Erinnerung, und vielleicht war das, was sich in Jespers E-Mail ankündigte, zu viel für sie. Schließlich hatte sie schon einmal jemanden verloren. Weil sie nicht gut genug aufgepasst hatte.
Dass so etwas noch einmal passieren sollte, war lächerlich unwahrscheinlich. Aber doch sprachen alle Hinweise dafür.
Wer sollte das besser wissen als sie, Felicitas, die Möchtegern-Künstlerin, 28 Jahre alt und schuld am Verschwinden ihrer besten Freundin Julia.
Am Anfang unseres legendären Sommers stand die Anreise. Eine lange und in unserem Fall umständliche.
Aber genauso wollten wir das. Der Weg sollte das Ziel sein, die Seele sollte mitreisen, und so zuckelten wir in Maëls altem Honda zunächst stundenlang über deutsche Autobahnen, bevor wir mitten in der Nacht die Fähre nach Malmö erreichten. Ja, die Autofähre. Die ganze sechs Stunden für die Überfahrt brauchte.
Eine Kabine hatten wir uns nicht genommen. Schlaf wurde schließlich überbewertet, und so verbrachten wir die Zeit an Bord übermüdet aber aufgeregt im Bistrobereich.
»Wessen Idee war das eigentlich?«, fragte Jesper, nachdem wir gut die halbe Fahrt hinter uns gebracht hatten.
»Was genau meinst du?«, Maël klang kaum wacher als Jesper.
Ich konnte mir schon vorstellen, wovon er sprach. Schließlich hatte Jesper uns zur Genüge von der Öresundbrücke vorgeschwärmt und von der Möglichkeit, während der Fahrt einige Stunden Zwischenstopp in Kopenhagen einzulegen. Aber wir anderen waren dagegen gewesen.
»Ach, komm schon, Jesper«, versuchte ich ihn zu besänftigen. »So geschafft, wie du dich gerade anhörst, wäre es doch ohnehin keine gute Idee, eben noch einen Städtetrip einzulegen. Lass uns doch erst mal ankommen.«
»Das ist halt hier so eine verschlafene Veranstaltung. Sechs Stunden Fähre, mitten in der Nacht. Gähn!« Er pflückte mir meinen korallenroten Strohhut mit dem türkisen Band vom Kopf und verdeckte damit schicksalergeben sein Gesicht.
»Ich bin jedenfalls mitten in der Nacht lieber auf einer Fähre als im Auto auf unbekannten Straßen unterwegs«, warf Maël ein. »Die kleine Pause tut uns doch allen ganz gut. Also entspann dich. Es geht schon früh genug wieder weiter.«
Fee und ich verfolgten den kleinen Diskurs belustigt. Er war typisch für die beiden, den vernünftigen Maël und den immer irgendwie getriebenen Jesper. Dabei war ihnen dies wahrscheinlich gar nicht so bewusst. Mitten in meinem Herzen schwappte jedenfalls plötzlich eine heftige Woge der Liebe für die beiden hoch, die ich bedingungslos und ohne nachzudenken, als meine zwei besten Freunde bezeichnete. Wegen solcher Momente und der Vertrautheit, die uns verband.
»Maël hat recht«, sagte ich, »ruh dich noch ein bisschen aus. Immerhin fahren wir von Malmö aus noch mal locker drei bis vier Stunden bis nach Anderstorp. Und außerdem«, ich grinste, »könnten lustige Motive von euch entstehen.« Ich wedelte mit dem Smartphone in meiner Hand und schob in gespielter Unschuld meine Augenbrauen nach oben.
»Wehe«, tönte es gedämpft aus Maëls Richtung, der seine Jacke zu einem dicken Kissenersatz zusammengerollt hatte und demonstrativ die Augen schloss. Jesper schien sich endlich mit seinem Schicksal abzufinden, sah nur noch einmal misstrauisch in Fees und meine Richtung und tat es dann Maël gleich.
Fee schien die Reise ebenfalls müde zu machen. Sie war heute auffällig still und überließ mir die Bühne. Aber ich konnte die anderen verstehen. Natürlich. Die letzten Monate waren hart gewesen. Und wenn wir ehrlich waren, hatten wir die Geschehnisse des vergangenen Sommers alle noch nicht verarbeitet. Aber das sollte für die kommenden zwei Wochen einmal kein Thema sein. Jedenfalls hoffte ich, dass die anderen das genauso sahen.