Der Geheime Zirkel III Kartiks Schicksal - Libba Bray - E-Book

Der Geheime Zirkel III Kartiks Schicksal E-Book

Libba Bray

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Beschreibung

Der fulminante Abschluss der Erfolgs-Trilogie Der Zugang zum magischen Reich scheint für immer verschlossen – Gemma gelingt es nicht mehr, das Tor aus Licht erscheinen zu lassen. Dabei bräuchten die Freundinnen die Magie gerade nötiger denn je. Ann soll ihren Dienst als Gouvernante antreten und Felicity den Langweiler Horace heiraten. Doch dann legen Bauarbeiter einen merkwürdigen Stein mit dem Umriss des Mondauges darauf frei.

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Ähnliche


Libba Bray

Der geheime Zirkel III

Kartiks Schicksal

Roman

Aus dem Amerikanischen von Ingrid Weixelbaumer

Deutscher Taschenbuch Verlag

Für Barry und Josh, in Liebe

Und für alle, die glauben, dass Frieden kein Ideal und keine Seifenblase, sondern eine Notwendigkeit ist.

Die Essenz der Gewaltlosigkeit ist Liebe.

Aus Liebe und dem Willen zu selbstlosem Handeln

erwachsen naturgemäß Strategien, Taktiken und Techniken

für einen gewaltlosen Kampf.

Gewaltlosigkeit ist kein Dogma; sie ist ein Prozess.

Thich Nhat Hanh

Frieden ist nicht nur besser als Krieg,

sondern unendlich schwerer.

George Bernhard Shaw

Rose aller Rosen, Rose der ganzen Welt!

Nun bist auch du an jenen Strand bestellt,

Wo trübe Flut den Kai der Sorgen überspült. Und hörest bang

Die Glocke, die uns ruft, den süßen fernen Klang.

Ewige Schönheit, müde ihrer selbst und leer,

Macht’ dich uns gleich, gleichwie dem öden grauen Meer.

Unsere Schiffe sind vertäut, die Segel aus Gedanken eingeholt,

Des gleichen, unabänderlichen Schicksals harrend, das Gott gewollt.

Und wenn sie dann, versenkt, besiegt in Seinen Kriegen,

Unter denselben weißen Sternen auf stillem Grunde liegen,

Wird endlich auch dem stummen Schrei Gehör gegeben

Unserer sehnsuchtsvollen Herzen, die nicht sterben können und nicht leben.

Aus dem Gedicht »Die Rose der Schlacht«

von William Butler Yeats

1. Akt Vor Tagesanbruch

Nichts ist leichter, als sich selbst zu betrügen.

Weil der Mensch das, was er sich wünscht,

auch für wahr hält.

Demosthenes

Prolog

1893

~

London

Die Nacht war kalt und unwirtlich und die Männer in ihrem Boot draußen auf der Themse verwünschten ihr Schicksal. Es war kein Honigschlecken, im Schutz der Dunkelheit durch die trüben Gewässer von Londons großem Fluss zu staken, um nach Dingen zu suchen, die noch etwas einbringen und für die eine oder andere Mahlzeit sorgen konnten. Die Feuchtigkeit, die einem in die steifen Knochen kroch und an den Rückenschmerzen schuld war, gehörte dazu.

»Irgendwas gesehn, Archie?«

»Nichts«, rief Archie seinem Freund Rupert zu. »’s ist die scheußlichste Nacht, die ich je erlebt hab.«

Sie waren nun schon eine Stunde unterwegs und hatten nichts gefunden außer einem Kleidungsstück von der Leiche eines Matrosen. Das konnten sie den Lumpen-und-Knochen-Sammlern verkaufen, die morgens kamen. Aber eine Tasche voll Münzen würde ihnen bereits heute Nacht den Bauch füllen und den Durst löschen, und für Männer wie Archie und Rupert zählte nur das Hier und Jetzt; weiter als bis morgen zu denken war ein zweifelhafter Luxus, den man besser Leuten überließ, die ihr Leben nicht als Leichenfledderer auf der Themse fristeten.

Die einzige Laterne des Bootes war gegen den teuflischen Nebel so gut wie machtlos. Die Nacht ließ die Ufer gespenstisch erscheinen. Wie Totenschädel aus Dunkelheit ragten die unbeleuchteten Häuser empor. Die Männer steuerten durch die Untiefen der Themse, stocherten dabei mit ihren langen Haken in dem schmutzigen Wasser auf der Suche nach den Leichen derjenigen, denen in dieser Nacht ein Unglück widerfahren war – Matrosen oder Dockarbeiter, die zu betrunken gewesen waren, um sich vor dem Ertrinken zu retten; die bedauerlichen Opfer von Messerstechereien oder von Taschendieben und Mördern; die Kohlentaucher, die von einer plötzlichen heftigen Flutwelle erfasst worden waren, ihre Schürzen schwer von kostbarer Kohle, ebenjener Kohle, die sie hinunter in den Tod zog.

Archies Haken stieß auf etwas Festes. »Halt, langsam, Rupert. Ich hab was.«

Rupert nahm die Laterne und leuchtete über das Wasser, wo ein toter Körper schaukelte. Sie fischten den Leichnam heraus, warfen ihn an Bord und rollten ihn auf den Rücken.

»Verdammt!«, sagte Rupert. »Is ’ne Lady.«

»War«, berichtigte Archie. »Durchsuch ihre Taschen.«

Die beiden Plünderer widmeten sich ihrem grausigen Geschäft. Die Frau war fein herausgeputzt, in einem eleganten lavendelfarbenen Seidenkleid, das nicht billig gewesen sein dürfte. Sie war nicht das, was sie für gewöhnlich in diesen Gewässern fanden.

Archie grinste. »Aha, guck mal da!« Er zog vier Münzen aus der Manteltasche der Frau und biss auf jede einzelne.

»Was hast du gefunden, Archie? Genug, um uns ’n Pint Bier zu kaufen?«

Archie betrachtete die Münzen genauer. Es waren nur Schillinge. »Eh, mehr aber auch nicht, wie’s aussieht«, brummte er. »Nimm die Halskette.«

»Klar.« Rupert löste den Schmuck vom Hals der Frau. Es war ein komisches Ding – ein Anhänger aus Metall, von der Form eines Auges, unter dem ein Halbmond baumelte, ohne nennenswerte Edelsteine daran. Rupert konnte sich nicht vorstellen, dass irgendwer es würde haben wollen.

»He, was ist das?«, rief Archie. Er bog die steifen Finger der Frau auf. Sie hielt einen durchweichten Fetzen Papier fest.

Rupert stieß seinen Partner in die Rippen. »Was steht da?«

Archie hielt es ihm hin. »Keine Ahnung. Meinst du, ich kann lesen?«

»Ich bin drei Jahre in die Schule gegangen«, sagte Rupert und nahm den Zettel. »Der Baum Aller Seelen lebt.«

Archie stieß Rupert in die Rippen. »Was soll das heißen?«

Rupert schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Was fangen wir damit an?«

»Vergiss es. Worte bringen keinen Gewinn, Rupert, alter Junge. Nimm die Kleider und wirf sie raus.«

Rupert zuckte die Schultern und tat, wie ihm geheißen. Archie hatte recht, mit einem alten Brief war kein Geld zu machen. Trotzdem war es schade, dass die letzten Worte der Verstorbenen mit ihr verloren gingen, aber, folgerte er, wenn diese Lady jemanden gehabt hätte, der sich auch nur ein wenig aus ihr machte, dann würde sie nicht in einer rauen Nacht mit dem Gesicht nach unten in der Themse treiben. Mit einem festen Stoß kippte er die tote Frau über Bord.

Ihr Körper ging langsam unter, die aufgequollenen weißen Hände blieben noch sekundenlang an der Oberfläche, als würden sie nach etwas greifen. Der Fluss verschluckte sie und zog ihre letzte Warnung mit hinunter in ein finsteres Grab.

1. Kapitel

März 1896

~

Spence-Akademie für junge Damen

Es gibt einen speziellen Kreis der Hölle, der in Dantes berühmtem Buch nicht erwähnt wird. Er heißt Benehmen und er existiert in allen Schulen für junge Damen landauf und landab im ganzen englischen Königreich. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, in einen See aus Feuer geworfen zu werden. Ich bin sicher, es ist nicht angenehm. Aber ich kann mit absoluter Bestimmtheit sagen, dass es eine Art von Folter gibt, die selbst Dante Alighieri zu schrecklich gefunden hätte, um sie in seinem Inferno zu beschreiben: nämlich die Qual, mit einem Buch auf dem Kopf und einem Brett im Rücken, eingeschnürt in ein enges Korsett, in Schichten von Unterröcken und in drückenden Schuhen die Länge eines Ballsaals abzuschreiten.

»Lasst uns unsere Augen zum Himmel richten, Mädchen«, gebietet unsere Direktorin, Mrs Nightwing, während wir versuchen, mit erhobenen Köpfen, die Arme seitwärts gestreckt wie Balletttänzerinnen, langsam einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Die Schlaufen des Rückenbretts scheuern an der Innenseite meiner Arme. Das Holz ist unbehandelt und ich bin gezwungen, so steif und gerade zu stehen wie die Wachen am Buckingham-Palast. Mein Nacken schmerzt vor Anstrengung. Im Mai werde ich debütieren, ein volles Jahr früher als üblich, denn es wurde von allen Beteiligten einvernehmlich beschlossen, dass ich mit fast siebzehn reif genug bin. Ich werde schöne Kleider tragen, verschwenderische Feste besuchen und mit gut aussehenden Männern tanzen – wenn ich diese Übungen überlebe. Im Moment ist das höchst zweifelhaft.

Mrs Nightwing durchquert mit langen Schritten den Ballsaal. Ihre steifen Röcke fegen über den Fußboden, als wollten sie ihn dafür tadeln, dass er dort liegt. Die ganze Zeit brüllt sie Befehle wie Admiral Nelson persönlich. »Köpfe hoch! Grinsen Sie nicht, Miss Hawthorne! Gelassener, ruhig-heiterer Gesichtsausdruck! Leeren Sie Ihren Geist!«

Ich bemühe mich, mein Gesicht so ausdruckslos zu halten wie eine leere Leinwand. Meine Wirbelsäule schmerzt. Mein linker Arm, den ich seit Stunden, wie mir scheint, zur Seite strecke, zittert.

»Und jetzt knicksen …«

Wie zusammenfallende Soufflés sinken wir in die Knie und versuchen verzweifelt, das Gleichgewicht zu halten. Mrs Nightwing fordert uns nicht auf, uns zu erheben. Meine Beine schwanken vor Erschöpfung. Ich schaffe es nicht. Ich stolpere vorwärts. Das Buch fällt mir vom Kopf und landet polternd auf dem Fußboden. Wir haben das nun viermal gemacht und viermal habe ich auf die eine oder andere Weise versagt.

Mrs Nightwings Schuhe machen eine Handbreit vor mir halt. »Miss Doyle, darf ich Sie daran erinnern, dass Sie sich bei Hofe befinden und vor Ihrer Majestät knicksen und nicht im Moulin Rouge auftreten?«

»Ja, Mrs Nightwing«, sage ich beschämt.

Es ist hoffnungslos. Ich werde nie lernen zu knicksen, ohne hinzufallen. Ich werde der Länge nach auf dem glänzenden Boden des Buckingham-Palasts liegen, mit der Nase auf dem Schuh der Königin. Ich werde das Klatsch- und Tratschthema Nummer eins der Ballsaison sein. Zweifellos werden mich alle Männer meiden wie die Pest.

»Miss Temple, vielleicht möchten Sie uns zeigen, wie man richtig knickst?«

Ohne eine Sekunde zu zögern, versinkt Cecily Temple, die Alleskönnerin, in einem langsamen, tiefen, anmutigen Knicks, der der Erdanziehungskraft zu trotzen scheint. Traumhaft. Ich bin maßlos eifersüchtig.

»Danke, Miss Temple.«

Ja, danke, du kleines teuflisches Biest. Ich hoffe, du heiratest einen Mann, der bei jeder Mahlzeit Knoblauch isst.

»Nun lassen Sie uns –« Mrs Nightwing wird durch ein lautes Hämmern unterbrochen. Sie schließt ihre Augen fest gegen den Lärm.

»Mrs Nightwing«, flötet Elizabeth. »Wie sollen wir uns auf unsere Umgangsformen konzentrieren, bei diesem entsetzlichen Krach, der aus dem Ostflügel kommt?«

Mrs Nightwing hat keinen Sinn für unser Gejammer. Sie holt tief Luft und reckt den Kopf. »Wir machen unbeirrt weiter, genau wie England selbst. Wenn das englische Königreich Cromwell widerstehen, die Rosenkriege siegreich beenden und die Franzosen schlagen konnte, dann werden Sie, meine Damen, gewiss ein bisschen Gehämmer in Kauf nehmen können. Denken Sie daran, wie schön Spence sein wird, wenn der Ostflügel fertig ist. Wir wollen es noch einmal versuchen – unbeirrt! Alle Augen sind auf Sie gerichtet! Es geziemt sich nicht, sich Ihrer Majestät wie eine furchtsame Kirchenmaus zu nähern.«

Manchmal stelle ich mir vor, nach welcher Art Beschäftigung Mrs Nightwing wohl ausschauen würde, würde sie uns nicht tagaus, tagein als Direktorin der Spence-Akademie für junge Damen malträtieren. Sehr geehrte Herren, so könnte ihr Brief lauten. Ich schreibe wegen der Anzeige für die Stellung als Ballon-Popper. Wenn ich es richtig verstehe, geht es darum, Luftballons mit einem Knall im Flug zerplatzen zu lassen. Ich habe eine Haarnadel, mit der ich den Trick fabelhaft beherrsche und die Kinder überall zum Heulen bringen würde. Meine früheren Dienstherren werden bestätigen, dass ich selten lächle, niemals lache und aus jedem Zimmer, das ich betrete, augenblicklich die Fröhlichkeit vertreibe, um meine einzigartige Aura von Trübsinn und Hoffnungslosigkeit darin zu verbreiten. Meine Referenzen in dieser Hinsicht sind einwandfrei. Falls Sie nicht allein durch die Lektüre dieses Briefes in einen Zustand tiefer Melancholie verfallen sind, senden Sie bitte Ihre Antwort an Mrs Nightwing (Ich habe einen Vornamen, aber niemandem ist es erlaubt, ihn zu gebrauchen.), c/o Spence-Akademie für junge Damen. Wenn Sie es nicht für nötig halten, die Adresse selbst herauszufinden, dann lässt Ihr Bemühen zu wünschen übrig. Hochachtungsvoll, Mrs Nightwing

»Miss Doyle! Was soll dieses dümmliche Grinsen auf Ihrem Gesicht? Habe ich irgendetwas gesagt, das Sie amüsiert?« Mrs Nightwings Ermahnung treibt mir die Röte in die Wangen. Die anderen Mädchen kichern.

Wir gleiten über den Fußboden und versuchen so gut wir können, das Gehämmer und Geschrei zu ignorieren. Es ist nicht der Lärm, der uns ablenkt. Es ist die Tatsache, dass Männer hier sind, im Stockwerk über uns, die uns kribbelig und leichtfüßig macht.

»Vielleicht könnten wir nachsehen, wie die Bauarbeiten vorangehen, Mrs Nightwing?«, schlägt Felicity Worthington mit honig-süßer Liebenswürdigkeit vor. Nur Felicity besitzt die Dreistigkeit, einen solchen Vorschlag zu machen. Sie ist mehr als wagemutig. Außerdem ist sie eine meiner wenigen Verbündeten, die ich hier in Spence habe.

»Die Arbeiter können keine Mädchen zu ihren Füßen brauchen, da sie bereits hinter dem Zeitplan zurück sind«, sagt Mrs Nightwing. »Köpfe hoch, wenn ich bitten darf! Und …«

Ein ohrenbetäubendes Gepolter dringt von oben herab. Der plötzliche Lärm lässt uns zusammenfahren. Sogar Mrs Nightwing entschlüpft ein »Gott sei uns gnädig!«.

Elizabeth, die nichts als ein Nervenbündel in der Verkleidung einer Debütantin ist, schreit auf und klammert sich an Cecily. »Oh, Mrs Nightwing!«

Wir sehen unsere Direktorin hoffnungsvoll an.

Mrs Nightwing kräuselt missbilligend die Lippen und stößt einen Seufzer aus. »Also gut. Wir unterbrechen vorübergehend. Wir wollen an die frische Luft gehen, um wieder rosige Wangen zu bekommen.«

»Dürfen wir unsere Zeichenblöcke mitnehmen, um den Fortschritt der Bauarbeiten am Ostflügel zu skizzieren?«, frage ich.

Mrs Nightwing schenkt mir ein seltenes Lächeln. »Ein ausgezeichneter Vorschlag, Miss Doyle. Also gut. Holen Sie Ihre Zeichenblöcke und Stifte. Ich werde Brigid beauftragen, Sie zu begleiten. Ziehen Sie Ihre Mäntel an. Und nun gehen Sie schon.«

Mit unseren Rückenbrettern legen wir auch unsere Manieren ab und stürmen zur Treppe und in die verheißene Freiheit, mag sie auch von noch so kurzer Dauer sein.

»Gehen!«, ruft Mrs Nightwing. Da wir ihrem Rat offensichtlich keine Beachtung schenken, brüllt sie uns nach, wir seien Wilde und untauglich für die Heirat. Aber wir sind schon die erste Treppe hinunter und ihre Worte können uns nicht mehr erreichen.

2. Kapitel

Der lang gezogene Trakt des Ostflügels mit dem Gerüst davor erstreckt sich wie das Skelett eines großen hölzernen Vogels. Aber die Hauptarbeit der Männer konzentriert sich auf die Restaurierung des verfallenen Turms, der den Ostflügel mit dem übrigen Schulgebäude verbindet. Seit dem Feuer, das ihn vor fünfundzwanzig Jahren zerstörte, war er nichts als eine schöne Ruine. Aber jetzt wird er mit Stein und Ziegeln und Mörtel wiederaufgebaut und verspricht schließlich ein herrlicher Turm zu werden – hoch und mächtig und imposant.

Seit Januar kommen Scharen von Männern hierher, um täglich außer sonntags in der Kälte und Nässe zu arbeiten und unsere Schule wieder ganz zu machen. Wir Mädchen dürfen uns dem Ostflügel während der Bauarbeiten nicht nähern. Der offizielle Grund dafür lautet, dass es viel zu gefährlich sei: Wir könnten von einem losen Balken erschlagen oder einem rostigen Nagel durchbohrt werden.

Aber die Wahrheit ist, dass Mrs Nightwing uns nicht in der Nähe der Männer haben will. Ihre Anweisungen in diesem Punkt waren unmissverständlich: Wir dürfen kein Wort mit den Arbeitern sprechen und sie dürfen nicht mit uns sprechen. Für einen gehörigen Abstand ist vorgesorgt. Die Arbeiter haben ihre Zelte eine halbe Meile entfernt von der Schule aufgestellt. Sie befinden sich unter den wachsamen Augen von Mr Miller, ihrem Vorarbeiter, während wir nie ohne die Begleitung einer Anstandsdame sind. Es wurden alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen, um uns voneinander fernzuhalten.

Genau das ist es, was uns dazu treibt, die Männer aufzusuchen.

Mit fest zugeknöpften Mänteln – der März ist noch immer eisig kalt – gehen wir durch den Wald hinter Spence, gefolgt von Brigid, unserer Haushälterin, die schnaufend und keuchend versucht, Schritt zu halten. Es ist nicht nett von uns, so schnell zu gehen, aber es ist die einzige Möglichkeit, ein paar Augenblicke für uns zu haben. Als wir die Hügelkuppe erreichen und uns an einer Stelle niederlassen, von der man einen ausgezeichneten Blick auf die Baustelle hat, ist Brigid weit hinter uns und wir haben kostbare Zeit gewonnen.

Felicity streckt eine Hand aus. »Das Opernglas, bitte, Martha.«

Martha zieht das Fernglas aus ihrer Manteltasche und reicht es weiter bis in Felicitys wartende Hände.

Felicity setzt es an die Augen. »Wirklich sehr eindrucksvoll«, schnurrt sie.

Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Felicity nicht den Ostflügel meint. Von da, wo wir sitzen, können wir sechs gut gebaute Männer in Hemdsärmeln sehen, die einen riesigen Balken an seinen Platz hieven. Ich bin sicher, wenn ich das Opernglas hätte, könnte ich jeden einzelnen ihrer Muskeln ausmachen.

»Oh, lass mich sehen, Fee«, stöhnt Cecily. Sie fasst nach dem Glas, aber Felicity reißt es weg.

»Warte, bis du an der Reihe bist.«

Cecily zieht einen Flunsch. »Brigid wird jeden Moment da sein. Ich werde nicht dazu kommen!«

Felicity lässt das Glas rasch sinken und greift nach ihrem Zeichenblock. »Seht jetzt nicht hin, aber ich glaube, einer von den Männern hat uns entdeckt.«

Elizabeth springt auf und reckt den Hals. »Welcher? Welcher?«

Felicity tritt ihr auf den Fuß, sodass Elizabeth auf ihren Allerwertesten fällt.

»Au! Warum tust du das?«

»Ich habe gesagt, ihr sollt jetzt nicht hinsehen«, zischt Felicity. »Der Punkt ist, es so erscheinen zu lassen, als ob wir ihre Aufmerksamkeit nicht bemerken.«

»Ohhh«, sagt Elizabeth, der langsam ein Licht aufgeht.

»Der eine dort am Ende, in dem Hemd mit dem armseligen roten Flicken«, sagt Felicity und wendet sich mit gespieltem Interesse ihrer Skizze zu. Ich beneide sie um ihre Kaltblütigkeit. Stattdessen suche ich Tag für Tag den Horizont nach einem anderen jungen Mann ab, von dem ich kein Wort mehr gehört habe, seit ich ihn vor drei Monaten in London verlassen habe.

Jetzt wirft Elizabeth einen verstohlenen Blick durch das Opernglas. »Oh mein Gott!«, sagt sie und lässt das Glas sinken. »Er hat mir zugezwinkert! So eine Frechheit! Ich sollte mich sofort bei Mrs Nightwing über ihn beschweren«, empört sie sich, aber die atemlose Aufregung in ihrer Stimme straft sie Lügen.

»Bei allen Heiligen.« Brigid hat uns endlich eingeholt. Flugs gibt Felicity das Opernglas an Martha weiter, die es mit einem kleinen Aufschrei ins Gras fallen lässt, bevor sie es in der Tasche ihres Capes verstaut.

Brigid setzt sich auf einen Felsblock, um zu Atem zu kommen. »Sie sind zu schnell für Ihre alte Brigid. Schämen Sie sich nicht, mich so abzuhängen?«

Felicity lächelt süß. »Oh, es tut uns leid, Brigid. Wir wussten nicht, dass Sie so weit zurückgeblieben sind.« Leise fügt sie hinzu: »Du alter Drache.«

Brigid runzelt die Stirn über unser Gekicher. »He, was fällt Ihnen ein? Machen Sie sich über Ihre Brigid lustig, ja?«

»Überhaupt nicht.«

»Oje, das ist sinnlos«, seufzt Cecily. »Wie können wir aus so weiter Entfernung den Ostflügel zeichnen?« Sie sieht Brigid hoffnungsvoll an.

»Sie werden ihn von hier zeichnen und keinen Zollbreit näher, Miss. Sie haben gehört, was Mrs Nightwing gesagt hat.« Brigid starrt auf das hölzerne Gerüst und die Steine behauenden Maurer. Sie schüttelt den Kopf. »’s ist nicht richtig, diesen verfluchten Ort wiederaufzubauen. Sie sollten ihn besser in Ruhe lassen.«

»Oh, aber es ist spannend!«, entgegnet Elizabeth.

»Und denken Sie nur, wie schön Spence sein wird, wenn der Ostflügel wieder instand gesetzt ist!«, stößt Martha ins gleiche Horn. »Wie können Sie sagen, es ist nicht richtig, Brigid?«

»Weil ich mich erinnere«, sagt Brigid und tippt sich an die Schläfe. »Mit dem Ort ist was faul, besonders mit dem Turm. Das kann man spüren. Ich könnte Ihnen Geschichten erzählen …«

»Ja, davon bin ich überzeugt, Brigid, die wunderbarsten Geschichten«, sagt Felicity so sanft wie eine Mutter, die ihr gereiztes Kind beruhigt. »Aber ich mache mir Sorgen, dass Sie von der Kälte Rückenschmerzen bekommen.«

»Na ja«, sagt Brigid und reibt sich die Hüften. »’s ist eine Plage. Und meine Knie werden auch nicht jünger.«

Wir nicken mitfühlend.

»Wir gehen nur ein winziges Stück näher«, gurrt Felicity. »Gerade nahe genug für eine ordentliche Skizze.«

Wir bemühen uns, so unschuldig wie ein Chor von Engeln dreinzublicken.

Brigid nickt uns kurz zu. »Also los, gehn Sie schon. Aber nicht zu nah! Und denken Sie ja nicht, dass ich nicht aufpasse!«

»Danke, Brigid!«, rufen wir fröhlich und sausen den Hügel hinunter, bevor sie ihre Meinung ändern kann.

»Und beeilen Sie sich! Es schaut mir nach Regen aus!«

Ein plötzlicher, kalter Windstoß fährt über das dürre Gras. Er rüttelt die müden Glieder der Bäume wie knöcherne Halsketten und peitscht unsere Röcke so weit hoch, dass wir sie herunterziehen müssen. Wir kreischen vor Überraschung – und Vergnügen –, denn es hat für einen unbewachten, verbotenen Augenblick die Aufmerksamkeit sämtlicher Männeraugen auf uns gelenkt. Der Windstoß ist in diesen späten Märztagen das letzte Aufbegehren des Winters. Die Bäume schütteln schon den Schlaf ab und rüsten sich selbst zum Angriff. Bald werden sie ihren grünen Siegeszug beginnen und den Winter in die Flucht schlagen. Ich ziehe den Schal um meinen Hals. Der Frühling kommt, aber ich kann die Kälte nicht abschütteln.

»Gucken sie?«, fragt Elizabeth aufgeregt, verstohlene Blicke nach den Männern werfend.

»Dauernd«, sagt Felicity im Flüsterton.

Marthas Locken hängen schlaff herunter. Sie gibt ihnen einen hoffnungsvollen Schubs, aber sie wollen nicht in ihre Form zurückspringen. »Sagt mir ehrlich, hat die Feuchtigkeit mein Haar ruiniert?«

»Nein«, lügt Elizabeth genau im gleichen Moment, in dem ich Ja sage.

Martha spitzt ihren Mund. »Ich hätte mir denken können, dass du unfreundlich sein würdest, Gemma Doyle.«

Die anderen Mädchen werfen mir frostige Blicke zu. Es scheint, als sei die Aufforderung »Sagt mir ehrlich« eine verschlüsselte Botschaft, die in Wirklichkeit heißt: »Lügt um jeden Preis«. Ich werde mir das notieren. Oft denke ich, wahrscheinlich gibt es ein Lehrbuch, in dem alles zum Thema Höflichkeit und Damenhaftigkeit steht, und ich habe nur versäumt, es zu studieren. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass Cecily, Martha und Elizabeth mich nicht leiden können und meine Gegenwart nur dann tolerieren, wenn Felicity dabei ist. Umgekehrt finde ich ihr Denken so eingeschnürt wie ihre Taillen, denn sie können über nichts anderes reden als über Feste, Kleider und die Missgeschicke oder Unzulänglichkeiten anderer. Ich würde lieber bei den Löwen im Kolosseum im Alten Rom mein Glück versuchen, als noch einen Teeplausch mit Leuten wie ihnen über mich ergehen zu lassen. Die Löwen machen wenigstens kein Hehl aus ihrem Verlangen, dich aufzufressen.

Felicity wirft einen Blick zu den Männern hinüber. »Hier entlang.«

Schritt für Schritt schieben wir uns näher an die Baustelle heran.

Die Arbeiter sind jetzt von fieberhafter Neugierde gepackt. Sie lassen ihre Arbeit ruhen und nehmen ihre Mützen ab. Die Geste ist von untadeliger Höflichkeit, aber das Grinsen auf den Gesichtern lässt auf weniger züchtige Gedanken schließen. Ich erröte.

»He, Burschen. Zurück an die Arbeit, wenn ihr sie behalten wollt«, warnt der Vorarbeiter. Mr Miller ist ein stämmiger Mann mit Oberarmen so dick wie kleine Schinken. Uns gegenüber zeigt er sich galant. »Guten Tag, meine Damen.«

»Guten Tag«, murmeln wir.

»Da gibt’s Geschmeide zum Mitnehmen, wenn Sie ein Souvenir von dem alten Mädchen wollen.« Er zeigt mit dem Kinn auf einen Haufen, auf dem allerlei ausrangiertes Gerümpel samt rußverschmierten Glasscherben von jahrzehntealten Lampen liegt. Es sind genau die Dinge, die Mrs Nightwing auf ihre Liste zu vermeidender, weil lebensgefährlicher, tödlicher oder degoutanter Gegenstände setzen würde. »Nehmen Sie sich, was Sie wollen.«

»Danke«, murmelt Cecily und weicht zurück. Elizabeth kann nicht aufhören, abwechselnd zu erröten und zu lächeln und schüchtern zu dem Mann mit dem rot geflickten Hemd hinzuschauen, der sie mit seinen Blicken verzehrt.

»Ja, danke«, sagt Felicity. Sie beherrscht die Situation, wie immer. »Das werden wir.«

Wir machen uns daran, die Überbleibsel des alten Ostflügels zu durchstöbern. Zersplittertes, verkohltes Holz und Reste von Papier erzählen von der Vergangenheit der berühmten Schule. Für manche ist es die Geschichte eines tragischen Brandes, in dem zwei Mädchen ums Leben kamen. Aber ich weiß es besser. Die wahre Geschichte dieses Ortes handelt von Magie und mysteriösen Dingen, von Hingabe und Verrat, von Bosheit und einem grauenvollen Opfer. Vor allem ist es die Geschichte von zwei Mädchen – besten Freundinnen, die zu erbitterten Feindinnen wurden –, die beide für tot gehalten wurden, umgekommen in dem Feuer vor fünfundzwanzig Jahren. Die Wahrheit ist weitaus schlimmer.

Eines der Mädchen, Sarah Rees-Toome, wählte unter dem Namen Circe einen unheilvollen Weg. Jahre später fand sie die Spur des anderen Mädchens, ihrer früheren Freundin, Mary Dowd, die eine neue Identität angenommen hatte, als Virginia Doyle – meine Mutter. Mithilfe eines bösen Geistes, über den sie gebot, ermordete Circe meine Mutter und gab meinem Leben eine völlig andere Wendung. Die Geschichte, die man sich in diesen Mauern hier flüsternd erzählt, ist auch meine Geschichte.

Die anderen sind mit Feuereifer dabei, nach Schätzen zu suchen. Aber ich kann hier nicht unbeschwert glücklich sein. Dies ist ein geisterhafter Ort und ich glaube nicht, dass neue Balken und ein warmes Feuer in einem marmornen Kamin daran etwas ändern werden. Ich will keine Erinnerungsstücke an die Vergangenheit.

Ein neues Konzert von Hammerschlägen hat eingesetzt und eine Schar von Vögeln aufgeschreckt, die in die Sicherheit des Himmels auffliegen. Ich starre auf den Berg Gerümpel und denke an meine Mutter. Hat sie den Pfeiler dort berührt? Hängt ihr Duft noch an der Scherbe eines Glases oder einem abgesplitterten Stück Holz? Eine schreckliche Leere breitet sich in meiner Brust aus. Wie sehr ich auch mit meinem Leben beschäftigt bin, das Schicksal gibt mir immer wieder einen Wink, der mir den Verlust frisch in Erinnerung ruft.

»Ah, was sagt man dazu.« Es ist der Mann mit dem roten Flicken auf seinem Hemd. Er zeigt auf einen Holzpflock, der an einem Ende angefault ist. Aber ein Großteil des Pfostens hat die Feuersbrunst und die Jahre der Missachtung überlebt. Eine Reihe von Mädchennamen ist darin eingeritzt. Ich streiche mit den Fingern über die Rillen und Schnörkel. So viele Namen. Alice. Louise. Theodora. Isabel. Mina. Meine Finger tasten über das knubbelige Holz und befühlen es wie eine Blinde. Ich weiß, dass ihr Name da sein muss, und ich werde nicht enttäuscht. Mary. Ich drücke meine Handfläche gegen den verwitterten Schriftzug, in der Hoffnung, unter meiner Haut die Gegenwart meiner Mutter zu fühlen. Aber es ist nur totes Holz. Ich blinzle die brennenden Tränen in meinen Augen fort.

»Miss?« Der Mann sieht mich neugierig an.

Ich wische mir rasch über die Wangen. »Es ist der Wind. Er bläst mir Asche in die Augen.«

»Ja, der Wind ist stark. Er wird noch mehr Regen bringen. Vielleicht einen Sturm.«

»Oh, da kommt Mrs Nightwing!«, zischt Cecily. »Bitte, lasst uns von hier verschwinden! Ich will keinen Ärger bekommen.«

Rasch sammeln wir unsere Skizzen ein und setzen uns in sicherer Entfernung auf eine Steinbank in der Nähe des noch im Winterschlaf liegenden Rosengartens, die Köpfe in tiefer Konzentration gebeugt. Aber Mrs Nightwing nimmt keine Notiz von uns. Sie prüft den Fortschritt der Bauarbeiten.

Der Wind trägt ihre Stimme zu uns herüber. »Ich hatte gehofft, wir wären schon weiter, Mr Miller.«

»Wir arbeiten zehn Stunden pro Tag, Missus. Aber da ist der Regen. Für die Natur kann der Mensch nichts.« Mr Miller macht den verhängnisvollen Fehler, Mrs Nightwing charmant anzulächeln. Sie erliegt keinem Charme. Aber es ist zu spät, um ihn zu warnen. Unter Mrs Nightwings vernichtendem Blick senken die Männer ihre Köpfe tief über ihre Pfosten. Das Geräusch von Hämmern und Sägen ist ohrenbetäubend. Mr Millers Lächeln verschwindet.

»Wenn Sie den Auftrag nicht zeitgerecht ausführen können, Mr Miller, werde ich andere Arbeiter suchen müssen.«

»Es wird in ganz London gebaut, Ma’m. Sie werden nicht so leicht welche finden. Leute wie wir wachsen nicht auf Bäumen.«

Nach meiner Zählung arbeiten mindestens zwanzig Männer tagein und tagaus und trotzdem ist Mrs Nightwing nicht zufrieden. Sie nörgelt und drängt und quält Mr Miller unentwegt. Merkwürdig. Das Gebäude steht nun schon so lange ausgebrannt und leer – was spielen da ein paar Monate mehr für eine Rolle?

Ich versuche, das jetzige Stadium des Turms auf meinem Zeichenblatt festzuhalten. Wenn er fertig ist, wird er der höchste Teil von Spence sein, vielleicht fünf Stockwerke hoch. Und mächtig dazu.

»Findest du es nicht eigenartig, dass Mrs Nightwing es so eilig hat, den Ostflügel fertigzustellen?«, frage ich Felicity.

Cecily hat es aufgeschnappt und kann mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg halten. »Es ist keinen Augenblick zu früh, wenn ihr mich fragt. Es ist eine Schande, dass sie so lange damit gewartet haben.«

»Ich hab gehört, sie haben jetzt erst die Mittel dafür aufgebracht«, berichtet Elizabeth.

»Nein, nein, nein!« Mrs Nightwing herrscht die Maurer an, als wären sie ihre Untergebenen. »Ich habe Ihnen gesagt – diese Steine müssen in der richtigen Reihenfolge gesetzt werden, hier und hier.«

Sie zeigt auf eine mit Kreide gezogene Linie.

»Bitte um Verzeihung, Missus, aber was spielt das für eine Rolle? Die Mauer wird standhaft und fest.«

»Es ist eine Restaurierung«, belehrt sie den Mann, als würde sie mit einem Tölpel sprechen. »Die Pläne müssen genau befolgt werden, ohne Abweichung.«

Ein Arbeiter ruft aus dem dritten Stockwerk des Turms herunter. »Es wird gleich regnen, Sir!«

Als Vorwarnung trifft ein Tropfen meine Wange, gefolgt von einem ganzen Stakkato weiterer Regentropfen. Sie spritzen über mein Blatt und verwandeln meine Skizze des Ostflügels in ein schwarzes Rinnsal. Die Männer schauen mit hoch erhobenen Händen zum Himmel, als würden sie ihn um Gnade bitten, aber der Himmel antwortet: kein Pardon.

Rasch klettern die Männer vom Turm herunter und rennen, um ihre Werkzeuge ins Trockene zu bringen und vor Rost zu schützen. Mit über unsere Köpfe gehaltenen Skizzenblöcken preschen wir Mädchen wie aufgeschreckte Gänse durch die Bäume, schnatternd und schimpfend über die Schmach einer solchen Dusche. Brigid winkt uns herein, ein Willkommen, das Sicherheit und ein warmes Feuer verspricht. Felicity zieht mich hinter einen Baum.

»Fee! Der Regen!«, protestiere ich.

»Ann kommt heute Abend zurück. Wir könnten versuchen, das Magische Reich zu betreten.«

»Und wenn es mir nicht gelingt, das Tor aus Licht erscheinen zu lassen?«

»Du musst dich nur fest darauf konzentrieren«, beharrt sie.

»Glaubst du, ich habe mich vorige Woche oder vorigen Monat oder die Zeit davor nicht fest darauf konzentriert?« Es beginnt jetzt immer heftiger zu gießen. »Vielleicht soll ich bestraft werden. Für das, was ich Nell und Miss Moore angetan habe.«

»Miss Moore!«, faucht Felicity. »Circe – so lautet ihr Name. Sie war eine Mörderin. Gemma, sie hat deine Mutter getötet und unzählige andere Mädchen, um dich zu schnappen und deine Zauberkraft an sich zu bringen, und bestimmt hätte sie dich vernichtet, wenn du sie nicht zuerst ins Jenseits befördert hättest.«

Ich möchte glauben, dass das stimmt, dass ich recht daran getan habe, Miss Moore für immer im Magischen Reich festzuhalten. Ich möchte glauben, dass es nur die eine Möglichkeit gab, die Magie zu retten, nämlich sie an mich selbst zu binden. Ich möchte glauben, dass Kartik heil und gesund und auf dem Weg hierher zu mir nach Spence ist, dass ich ihn jeden Moment hier im Wald sehen werde, mit einem Lächeln auf den Lippen, das nur mir allein gilt. Aber ich bin mir in diesen Tagen keiner Sache mehr sicher.

»Ich weiß nicht, ob sie tot ist«, murmle ich.

»Sie ist tot und Gott sei Dank, dass wir sie endlich los sind.« In Felicitys Welt ist das Leben so viel einfacher. Und für dieses eine Mal wünschte ich, ich könnte in ihre fest gefügte Welt schlüpfen und ohne Zweifel und Fragen leben. »Ich muss wissen, was mit Pippa geschehen ist. Heute Nacht wollen wir es wieder versuchen. Sieh mich an.«

Sie dreht mein Gesicht dem ihren zu, sodass ich ihren Augen nicht ausweichen kann. »Versprich es.«

»Ich verspreche es«, sage ich und hoffe, dass sie nicht sieht, wie sich meine Zweifel in Angst verwandeln.

3. Kapitel

Der Regen hat seiner Wut freien Lauf gelassen. Er hat den schlafenden Rosengarten und den Rasen durchtränkt. Er hat auch meine Freundin Ann Bradshaw gefunden. Sie steht in der Eingangshalle, mit einem unschönen braunen Wollmantel und einem graubraunen, mit Regentropfen gesprenkelten Hut. Ihr kleiner Koffer steht zu ihren Füßen. Sie hat die Woche bei ihren Verwandten, einer entfernten Cousine und deren Mann, in Kent verbracht. Im Mai, wenn Felicity und ich debütieren werden, wird Ann zu ihnen ziehen, um als Gouvernante ihrer zwei Kinder für sie zu arbeiten. Unsere einzige Hoffnung, sie vor diesem Schicksal zu bewahren, war die Magie zu Hilfe zu rufen. Aber wie sehr ich mich auch bemühe, ich kann das Magische Reich nicht betreten. Und ohne das Magische Reich kann ich die Magie in mir nicht wieder zum Leben erwecken. Seit Weihnachten habe ich diese fantastische Welt nicht mehr gesehen, obwohl ich in den vergangenen Monaten ein Dutzend Male versucht habe, dorthin zurückzukehren. Es gab Momente, wo ich einen Funken spürte, aber zu kurzlebig, nicht ergiebiger als ein Regentropfen in einer Dürre. Unsere Hoffnungen schwinden von Tag zu Tag und unsere Zukunft scheint so unabänderlich wie die Sterne.

»Willkommen zu Hause«, sage ich und helfe Ann aus ihrem nassen Mantel.

»Danke.« Ihre Nase läuft und ihr Haar, von stumpfem Braun wie das Fell einer Feldmaus, ist aus seiner Verankerung geschlüpft. Lange, dünne Strähnen hängen über ihre blauen Augen und kleben an ihren pausbackigen Wangen.

»Wie war es bei deinen Verwandten?«

Ann lächelt kein bisschen. »Erträglich.«

»Und die Kinder? Magst du sie?«, frage ich hoffnungsvoll.

»Lottie hat mich eine Stunde lang in einem Schrank eingesperrt. Klein-Carrie hat mich vors Schienbein getreten und mich einen Pudding genannt.« Sie wischt sich die Nase. »Das war am ersten Tag.«

»Oh.« Wir stehen befangen im Schein des berühmt-berüchtigten schlangenarmigen, bronzenen Kronleuchters von Spence.

Ann senkt ihre Stimme zu einem Flüstern. »Ist es dir gelungen, ins Magische Reich zurückzukehren?«

Ich schüttle den Kopf und Ann sieht aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. »Aber heute Nacht versuchen wir es wieder«, sage ich rasch.

Ein Schimmer eines Lächelns erhellt für einen Moment Anns Gesicht. »Es besteht noch Hoffnung«, füge ich hinzu.

Wortlos folgt mir Ann in den Marmorsaal, vorbei an den lodernden Kaminfeuern, den mit eingemeißelten Figuren geschmückten Marmorsäulen, den kartenspielenden Mädchen. Eine kleine Gruppe von jüngeren Schülerinnen hängt atemlos an Brigids Lippen, die ihnen Geschichten von Feen und Kobolden erzählt, von denen sie schwört, dass sie im Wald hinter Spence hausen.

»Nein, tun sie nicht!«, protestiert eins der Mädchen, aber in ihren Augen sehe ich den Wunsch, eines Besseren belehrt zu werden.

»Oh doch, das tun sie, Miss. Und auch noch andere Wesen. Deswegen sollen Sie nach Einbruch der Dunkelheit besser nicht hinausgehen. Das ist die Zeit, in der sie ihr Unwesen treiben. Bleiben Sie schön in Ihren Betten und Sie werden nicht aufwachen und feststellen, dass Sie in die Anderswelt entführt worden sind«, warnt Brigid.

Die Mädchen stürzen an die Fenster, um in die unermessliche tiefe Nacht hinauszuschauen, in der Hoffnung, einen Schimmer von Feenköniginnen und Geistern zu erhaschen. Ich könnte ihnen sagen, dass sie sie hier nicht sehen werden. Sie müssten mit uns durch das Tor aus Licht in die Welt jenseits der unseren reisen, um mit solchen fantastischen Wesen Bekanntschaft zu schließen. Und vielleicht würde ihnen das, was sie dort sehen, ganz und gar nicht gefallen.

»Unsere Ann ist wieder da«, verkünde ich, als ich die Vorhänge zu Felicitys privatem Zelt aufschlage. Extravagant wie eh und je hat Felicity eine Ecke des riesigen Raumes mit Seidenvorhängen abgetrennt. Es ist wie das Heim eines Paschas und sie gebietet darüber, als sei es ihr eigenes, angestammtes Reich.

Felicity betrachtet Anns schlammverschmierten Rocksaum. »Pass auf die Teppiche auf.«

Ann wischt ihren schmutzigen Rock ab und streut dabei eingetrocknete Schlammkrümel auf den Boden. Felicity seufzt gereizt. »Oh, Ann, wirklich.«

»Tut mir leid«, murmelt Ann. Sie zieht ihren Rock eng um sich und setzt sich auf den Boden, bemüht, ihn nicht noch mehr zu beschmutzen. Ohne zu fragen, greift sie in die Schokoladenschachtel und nimmt sich drei Stück, sehr zum Ärger von Felicity.

»Du musst nicht gleich alle nehmen«, murrt Felicity.

Ann legt zwei wieder zurück. Sie tragen den Abdruck ihrer Finger. Felicity seufzt. »Jetzt hast du sie schon betatscht; also kannst du sie auch essen.«

Beschämt steckt Ann alle drei zugleich in den Mund. Ausgeschlossen, dass sie ihren Geschmack richtig genießen kann. »Was hast du da?«

»Das?« Felicity hält eine weiße Karte mit schön geschwungener Schrift in der Hand. »Ich habe eine Einladung zur Teeparty bei Lady Tatterhall für eine Miss Hurley bekommen. Sie steht unter einem ägyptischen Motto.«

»Oh«, sagt Ann dumpf. Ihre Hand schwebt über der Schokoladenschachtel. »Ich nehme an, du hast auch eine bekommen, Gemma.«

»Ja«, sage ich schuldbewusst. Ich finde es empörend, dass Ann ausgeschlossen ist – es ist gemein und ungerecht –, aber ich wünschte, sie würde kein so mieses Gefühl in mir wecken.

»Und dann natürlich der Ball in Yardsley Hall«, fährt Felicity fort. »Der verspricht ganz fantastisch zu werden. Hast du das von der jungen Miss Eaton gehört?«

Ich schüttle den Kopf.

»Sie hat vor dem Abend Brillanten getragen!« Felicitys Stimme überschlägt sich fast vor Entzücken. »Ganz London hat darüber geredet. Diesen Fehler wird sie nie wieder machen. Oh, du solltest die Handschuhe sehen, die mir Mutter für den Collinsworth-Ball geschickt hat. Sie sind exquisit!«

Ann zupft einen Faden vom Saum ihres Kleides. Ann wird weder den Collinsworth-Ball noch irgendeinen anderen Ball besuchen, außer eines Tages als Anstandsdame für Lottie und Carrie. Sie wird keine Debütantinnensaison haben und nicht mit gut aussehenden Herren tanzen. Sie wird keine Straußenfedern im Haar tragen und sich nicht vor Ihrer Majestät verneigen. Sie ist hier in Spence als eine Stipendiatin, unterstützt von ihren reichen Verwandten, damit sie eine passende Gouvernante für ihre Kinder wird.

Ich räuspere mich. Felicity sucht meinen Blick.

»Ann«, sagt sie viel zu fröhlich. »Wie hat es dir in Kent gefallen? Ist es im Frühling so schön, wie man behauptet?«

»Klein-Carrie hat mich einen Pudding genannt.«

Felicity verbeißt sich das Lachen. »Äh. Na ja, sie ist nur ein Kind. Du wirst sie bald genug in den Griff kriegen.«

»Ich habe dort ein kleines Zimmer ganz oben am Ende des Treppenhauses. Es schaut zu den Ställen hinaus.«

»Ein Fenster. Ja, ist doch hübsch, eine Aussicht zu haben«, sagt Felicity. Sie hat überhaupt nicht begriffen, worum es geht. »Oh, was hast du da?«

Ann zeigt uns das Programm einer Aufführung von Macbeth am Drury Lane Theater mit der berühmten amerikanischen Schauspielerin Lily Trimble. Voller Sehnsucht starrt Ann auf das dramatische Bild von Miss Trimble als Lady Macbeth.

»Hast du’s gesehen?«, frage ich.

Ann schüttelt den Kopf. »Meine Verwandten waren dort.«

Ohne sie. Jeder, der Ann nur ein bisschen kennt, weiß, wie sehr sie das Theater und alles Dramatische liebt.

»Aber du durftest das Programm behalten«, sagt Felicity. »Das war doch nett.«

Ja, so nett wie eine Katze, die eine Maus ihren Schwanz behalten lässt. Felicity kann manchmal unausstehlich sein.

»Hattest du einen schönen Geburtstag?«, fragt Ann.

»Ja, ganz wunderbar«, strahlt Felicity. »Achtzehn. Was für ein herrliches Alter. Jetzt kann ich über mein Erbteil verfügen. Na ja, nicht sofort allerdings. Meine Großmutter hat in ihrem Testament verfügt, dass ich zuvor debütiere. In dem Moment, wo ich vor der Königin knickse, werde ich eine reiche Frau sein und kann tun, was ich will.«

»Sobald du debütierst«, wiederholt Ann und schluckt den Rest ihrer Schokolade.

Felicity nimmt sich selbst ein Stück Schokolade. »Lady Markham hat schon ihre Absicht bekundet, die Patenschaft für mich zu übernehmen. Es ist also so gut wie fix. Felicity Worthington, reiche Erbin.« Felicitys gute Laune schwindet. »Ich wünschte nur, Pippa wäre hier, um mein Glück zu teilen.«

Ann und ich tauschen Blicke. Einst war Pippa unsere Freundin. Jetzt ist sie irgendwo im Magischen Reich, höchstwahrscheinlich verloren an die Winterwelt. Wer weiß, was aus ihr geworden ist? Aber Felicity klammert sich immer noch an die Hoffnung, Pippa zu finden und zu retten.

Das Zelt öffnet sich. Cecily, Elizabeth und Martha schlüpfen herein. Es ist viel zu eng hier drinnen für uns alle. Elizabeth stürzt sich auf Felicity, während Martha und Cecily sich zu mir setzen. Ann wird ganz nach hinten geschubst.

»Wir haben gerade eine Einladung zu einem Ball der Herzogin von Crewesbury erhalten.« Cecily rekelt sich wie eine verwöhnte Perserkatze.

»Ich auch«, sagt Elizabeth.

Felicity blickt so gelangweilt wie möglich drein. »Meine Mutter hat unsere Einladungen schon vor einer Ewigkeit bekommen.«

Ich habe keine solche Einladung erhalten und ich hoffe, niemand wird mich danach fragen.

Cecily fächelt sich Luft zu und schneidet eine Grimasse. »Ach je. Es ist ziemlich eng hier, nicht wahr? Ich fürchte, wir haben nicht alle Platz.« Sie schaut zu Ann. Cecily und ihre Clique haben Ann nie viel besser als einen Dienstboten behandelt. Aber seit unserem unglückseligen Versuch letzte Weihnachten, sie in der Gesellschaft als die Tochter eines Herzogs aus einem russischen Adelsgeschlecht zu präsentieren, ist Ann vollends eine Ausgestoßene. Der Klatsch hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet, durch Briefe und hinter vorgehaltener Hand, und nun gibt es in Spence kein Mädchen mehr, das die Geschichte nicht kennt.

»Du wirst uns schrecklich fehlen, Cecily«, sage ich mit strahlendem Lächeln. Ich möchte ihr am liebsten die Zähne einschlagen.

Cecily stellt unmissverständlich klar, dass nicht sie es sein wird, die verschwindet. Sie breitet ihre Röcke aus und nimmt somit noch mehr Platz ein. Martha flüstert Elizabeth etwas ins Ohr und sie brechen in Gekicher aus. Ich könnte fragen, worüber sie lachen, aber sie würden es mir nicht sagen, also wozu die Mühe.

»Was riecht hier so?«, fragt Martha und verzieht das Gesicht.

Cecily schnuppert theatralisch. »Kaviar vielleicht? Den ganzen weiten Weg von Russland! Er muss wohl vom Zaren persönlich sein!«

Diese falschen kleinen Biester. Anns Wangen glühen und ihre Lippen zittern. Sie springt auf und stürzt so hastig zum Eingang, dass sie fast über ihre Füße fällt. »Entschuldigt mich, ich muss noch eine Handarbeit fertig machen.«

»Bitte bestelle deinem Onkel, dem Herzog, meine besten Empfehlungen«, ruft ihr Cecily nach und die anderen wiehern vor Lachen.

»Warum musst du sie so heruntermachen?«, frage ich.

»Sie gehört nicht hierher«, sagt Cecily überheblich.

»Das stimmt nicht«, sage ich.

»Nein? Manche Leute sind einfach fehl am Platz.« Cecily fixiert mich mit einem hochmütigen Blick. »Vor Kurzem habe ich gehört, deinem Vater geht es nicht gut und er befindet sich in Oldham. Ich kann verstehen, dass du dir große Sorgen machst. Was für eine Krankheit hat er eigentlich?«

Das Einzige, was Cecily zu einer Schlange fehlt, ist eine gespaltene Zunge, denn bestimmt ist sie unter ihrem schönen Kleid eine Kobra.

»Grippe«, sage ich. Die Lüge schmeckt bitter in meinem Mund.

»Grippe«, wiederholt Cecily, den anderen einen verstohlenen Blick zuwerfend.

»Aber es geht ihm schon viel besser und ich werde ihn morgen besuchen.«

Cecily gibt noch nicht auf. »Ich bin froh, dass du das sagst. Denn man hört ja mitunter so ekelhafte Geschichten – von Männern aus den besten Kreisen, die im Opiumrausch aufgefunden und deswegen in ein Sanatorium eingeliefert werden. Skandalös.«

»Cecily Temple, ich will heute Abend keine Verleumdungen hören«, warnt Felicity.

»Er hat Grippe«, wiederhole ich, aber meine Stimme schwankt.

Cecily lächelt triumphierend. »Ja, natürlich.«

Ich folge Ann und rufe ihren Namen, doch sie bleibt nicht stehen. Vielmehr geht sie immer schneller, bis sie fast rennt, nur um von uns und unserem Geschwätz über Bälle und Teegesellschaften wegzukommen. All die schillernden Verlockungen, die fast in Reichweite sind und doch nie erfüllt werden.

»Ann, bitte«, sage ich und bleibe am Fuß der Treppe stehen. Sie ist schon halb oben. »Ann, kümmere dich nicht um sie. Sie sind gar keine echten Mädchen. Sie sind böse Hexen – Furien mit Ringellocken!«

Wenn ich gehofft hatte, Ann würde lachen, dann habe ich mich gründlich getäuscht. »Aber sie sind es, die den Ton angeben«, sagt sie, ohne aufzuschauen. »So war es immer und so wird es immer sein.«

»Aber, Ann, sie haben nicht gesehen, was du im Magischen Reich gesehen hast. Sie wissen nicht, was du getan hast. Du hast Steine in Schmetterlinge verwandelt und bist durch einen Vorhang aus Gold gesegelt. Du hast uns mit deinem Gesang vor den Quellnymphen gerettet.«

»Es ist vorbei«, sagt sie tonlos. »Was spielt das alles noch für eine Rolle? Es wird mein Schicksal nicht wenden, oder? Im Mai werdet ihr, du und Felicity, eure Saison beginnen. Ich werde zu meinen Verwandten fahren und für sie arbeiten. Alles wird zu Ende sein und wir werden einander nie wiedersehen.«

Für einen Moment sieht sie mich an, anscheinend in der Hoffnung, in meinem Gesicht Trost zu erblicken. »Sag mir, dass ich unrecht habe; sag mir, dass du noch einen Trumpf im Ärmel hast, Gemma«, flehen ihre Augen. Aber sie hat nicht unrecht und ich bin nicht schnell oder abgebrüht genug, um zu lügen. Nicht heute Abend.

»Lass sie nicht gewinnen, Ann. Komm zurück ins Zelt.«

Sie sieht mich nicht an, aber ich kann ihren Abscheu spüren. »Du verstehst nicht, oder? Sie haben schon gewonnen.« Und damit tritt sie zurück ins Dunkel.

Ich könnte zu Felicity und den anderen zurückkehren, aber ich habe keine Lust dazu. Eine tiefe Niedergeschlagenheit hat mich befallen und ich möchte allein sein. Ich suche mir einen geeigneten Lesesessel im Marmorsaal, weit weg vom Geschwätz der anderen. Ich habe erst wenige Seiten gelesen, als ich bemerke, dass ich nur eine Armlänge von der berüchtigten Säule entfernt bin. Sie ist eines der vielen seltsamen Dinge in Spence. Dazu gehört der bronzene Kronleuchter mit den kunstvoll geschmiedeten schlangenförmigen Armen in der Eingangshalle. Dann die glupschenden Wasserspeier auf dem Dach. Die lächerlichen, mit Straußenfedern gemusterten Wandtapeten. Das über dem obersten Treppenabsatz hängende Porträt der Gründerin von Spence, Eugenia Spence, deren stechenden blauen Augen nichts entgeht. Zu diesen Seltsamkeiten würde ich auch die riesigen offenen Kamine zählen, die eher wie die aufgerissenen Mäuler schrecklicher wilder Tiere denn wie gemütliche Wärmequellen erscheinen. Und dann ist da diese Säule in der Mitte des Marmorsaals, die mit Figuren von Elfen, Satyrn, Nymphen und allerlei Kobolden geschmückt ist.

Sie ist auch lebendig.

Oder war es einmal. Diese »gemeißelten« Figuren sind Wesen des Magischen Reichs, die für ewige Zeit hier gefangen sind. Einmal haben wir sie mit der Magie zum Leben erweckt. Es war ein dummer Streich und wir wurden dabei fast getötet.

Ich betrachte die winzigen, im Stein gefangenen Körper genau. Die Münder der Wesen sind in einem wütenden Schrei geöffnet. Ihre Augen starren durch mich hindurch. Ich möchte nicht hier sein, wenn sie freikommen sollten. Obwohl ich mich davor fürchte, drängt es mich, die Säule zu berühren. Meine Finger landen auf den fauchenden Lippen eines Satyrs und mein Herzschlag beschleunigt sich, denn ich fühle eine merkwürdige Mischung aus Faszination und Abstoßung. Ich schließe die Augen und erlaube meinen Fingern, die rauen Vertiefungen und Erhebungen seines drohenden Mundes zu erforschen, die Zunge, die Lippen, die Zähne.

Meine Finger rutschen auf dem Stein aus; eine scharfe Kante schneidet in meine Haut. Ich schreie vor Schmerz auf. Blut sammelt sich in der schmalen Kerbe. Ich habe kein Taschentuch, also stecke ich meinen Finger in den Mund und spüre den bitteren Geschmack. Die Säule ist still, aber ich kann ihre bedrohliche Ausstrahlung im Pochen meiner Wunde fühlen. Ich rücke meinen Sessel näher an Brigids beruhigendes Geplauder heran, weit weg von der gefährlichen Schönheit der Marmorsäule.

~

Um zehn Uhr, als uns vor Müdigkeit schon die Augen zufallen, steigen wir Mädchen die Treppen zu unseren Zimmern hinauf und haben nur noch den Wunsch, unter die warmen Decken zu kriechen, zu schlafen und zu vergessen.

Felicity drängt sich zu mir vor. »Halb eins. Am üblichen Ort«, flüstert sie. Sie wartet mein zustimmendes Nicken nicht ab. Sie hat den Befehl gegeben und das genügt.

Die Lampen in meinem Zimmer brennen noch gedämpft. Ann schläft, aber sie hat die Nähschere liegen lassen, wo ich sie sehen kann. Die Schneiden sind geschlossen, aber ich weiß, sie haben ihr Werk getan und die Innenseiten ihrer Arme gezeichnet. Ich weiß, ihre Unterarme sind mit frischen Striemen bedeckt, die sich bald in das Webmuster alter Narben einfügen werden, die Ann sich zugefügt hat. Würde es mir gelingen, den Weg ins Magische Reich wiederzufinden, einen Weg zur Magie, dann könnte ich Ann vielleicht helfen. Aber im Moment vermag ich ihr Schicksal nicht zu wenden. Ich kann nur gespannt sein, ob sie es aus eigener Kraft schafft.

4. Kapitel

Als ich in die Spence-Akademie für junge Damen kam, wusste ich nichts von der Vergangenheit der Schule und deren Verbindung zu mir und meinem Leben. Ich war in Trauerkleidern gekommen, da meine Mutter erst wenige Monate zuvor gestorben war. Die offizielle Erklärung für ihren Tod lautete Cholera. Aber ich wusste es besser. In einer Vision hatte ich meine Mutter sterben sehen, gejagt von einem dunklen Geist aus einer anderen Welt, einem grässlichen Gespenst, das ihre Seele stehlen wollte, hätte sie sich nicht im letzten Moment selbst das Leben genommen.

Es war meine erste Vision, doch nicht die letzte. Von meiner Mutter hatte ich eine Zauberkraft geerbt, einesteils ein Geschenk, andernteils ein Fluch. Hier in Spence habe ich von meiner Bindung an eine Welt jenseits der unseren erfahren, einer Welt mit einer außergewöhnlichen zauberischen Kraft, genannt das Magische Reich.

Jahrhundertelang hatte eine mächtige Gruppe von Priesterinnen über das Magische Reich geherrscht, die sich der Orden des aufgehenden Mondes nannte. Gemeinsam benützten diese Frauen die Magie des Reichs, um den Seelen der Verstorbenen zu helfen, ihren Frieden zu finden und über den Fluss ins Jenseits überzusetzen. Mit der Zeit wuchs ihre Zauberkraft und wurde immer mächtiger. Sie konnten fantastische Illusionen erzeugen und Menschen sowie Ereignisse auch in der Welt der Sterblichen beeinflussen. Aber ihre höchste Pflicht war es, das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse innerhalb des Magischen Reichs zu bewahren. Denn es gibt dort viele verschiedenartige Wesen, und eine bestimmte Gruppe – die dunklen, böswilligen Geister der Winterwelt – wollte um jeden Preis die Kontrolle über die Magie erlangen, um so die Herrschaft über das Magische Reich und womöglich auch über unsere Welt an sich zu reißen. Zur Sicherheit bannte der Orden die Magie in einem Kreis von Kristallen – Runen –, deren Siegel niemand erbrechen konnte. Nur die Priesterinnen selbst konnten sich noch der Magie bedienen. Unter den anderen Wesen des Magischen Reichs, den verschiedenen Völkern und Clans, wuchsen Enttäuschung und Verdruss. Sie alle wollten die gleichen Rechte und ihren Anteil an der Magie.

Sogar die Verbündeten des Ordens wurden mit der Zeit unzuverlässig. Um das Magische Reich zu schützen, hatte der Orden einst ein Bündnis mit der Bruderschaft der Rakschana geschlossen. Diese Männer hüteten das Gesetz und wachten über die Priesterinnen. Sie waren auch deren Liebhaber. Aber auch sie waren zunehmend erbittert über den Machtanspruch des Ordens und dessen alleinige Kontrolle über die Magie.

Und so war es immer und ewig weitergegangen: Alle Seiten stritten sich um den Besitz der Magie – bis zu dem Feuer vor fünfundzwanzig Jahren. In jener Nacht brachten meine Mutter und ihre beste Freundin den dunklen Geistern der Winterwelt ein Opfer dar – ein kleines Zigeunermädchen –, im Austausch gegen Zauberkraft. Aber etwas ist dabei schiefgegangen. Sie brachten das Kind versehentlich um, deshalb war seine Seele für die Winterwelt verloren und die dunklen Geister gingen leer aus. Wütend forderten sie daraufhin das Leben der beiden Mädchen selbst. Um meine Mutter und Sarah zu retten, opferte Eugenia Spence, die Gründerin von Spence, sich selbst den Geistern der Winterwelt, um für die schreckliche Tat der Mädchen zu bezahlen. Als letzten Gruß warf sie meiner Mutter das Amulett zu. Eugenia schloss das Magische Reich, versiegelte es, sodass niemand mehr hinein- und herauskonnte, bis eine mächtige Priesterin geboren würde, die das Magische Reich wieder öffnen könne und den Lauf der magischen Welt neu bestimmen würde.

Dieses Mädchen bin ich. Und niemand scheint darüber glücklich zu sein. Der Orden findet, ich sei eigensinnig und dumm. Die Rakschana halten mich für gefährlich. Sie haben einen von ihnen, einen jungen Mann namens Kartik, ausgeschickt, um mich zu beobachten, mich davon abzuhalten, das Magische Reich zu betreten. Als das nichts nützte, befahlen sie ihm, mich zu töten. Stattdessen verriet er seine Bruderschaft und rettete mein Leben, um den Preis, dass ein solcher auf seinen eigenen Kopf ausgesetzt wurde.

Ob es ihnen passt oder nicht, Tatsache ist: Ich bin diejenige, die imstande war, das Magische Reich wieder zu öffnen, und bis jetzt kann niemand ohne meine Hilfe hinein. Ich war es, die das Siegel, das die Magie verschlossen hatte, erbrochen hat, indem ich die Runen zertrümmerte. Und ich war es, die die Quelle der Magie gefunden hat, an einem geschützten Ort, genannt der Tempel. Im Tempel habe ich mit Circe gekämpft, der Widersacherin meiner Mutter und einer Feindin des Ordens, um die Magie zu bewahren. Dabei habe ich Circe getötet und die Magie an mich selbst gebunden, wo sie sicher verwahrt ist. Ich habe versprochen, ein Bündnis mit meinen Freundinnen, mit Kartik und allen Wesen, allen Völkern und Clans des Magischen Reichs zu schließen und die Magie mit ihnen zu teilen.

Aber seither habe ich keine Visionen mehr und kann das Magische Reich nicht betreten. Ich habe keine Ahnung, wie das geschehen ist. Ich weiß nur, dass es mir nicht mehr gelungen ist, das Tor aus Licht, das in jene Welt führt, erscheinen zu lassen, sooft ich es auch versucht habe. Stattdessen sehe ich immer wieder, einen kurzen, qualvollen Moment lang, Circe vor mir, als ich sie zurückgelassen habe, gefangen unter der Oberfläche des Brunnens der Ewigkeit im Innern des Tempels. Für immer verloren in dem nassen Grab dieses magischen Brunnens.

Ich bin es, die über die Zukunft des Magischen Reichs und seiner Zauberkraft entscheiden muss, aber ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie ich dorthin zurückkehren kann.

So liegen derzeit die Dinge.

Heute Nacht wird alles anders werden. Ich werde einen Weg finden, um uns hineinzubringen. Ich werde den Mut dazu finden. Ich werde wieder den magischen Funken in meinen Adern spüren. Meine Freundinnen und ich werden den duftenden Garten des Magischen Reichs betreten und ein neues Kapitel aufschlagen.

Denn wenn es mir nicht gelingt, wird das Magische Reich, so fürchte ich, für immer für uns verloren sein.

~

Die Schule ist dunkel und still – das fröhliche Schulmädchengeplapper nur noch das Echo eines Echos in den Gängen von Spence. Ann und ich schleichen auf Zehenspitzen zur Treppe, wo wir uns mit Felicity treffen. Der Ostflügel schläft um diese Zeit – kein Baulärm, der uns stört. Trotzdem geht von dem Trakt eine eigene Kraft aus.

Sei still, Ostflügel, ich werde heute Nacht nicht auf dein Geflüster hören.

Felicity hält etwas in der Hand.

»Was hast du da?«, frage ich.

Sie zeigt uns ein zierliches Spitzentaschentuch. »Das ist für Pippa, wenn wir sie sehen.«

»Es ist sehr hübsch. Sie wird entzückt sein«, sage ich, weil ich Felicity nicht enttäuschen will.

Wir folgen ihr das lange Treppenhaus hinunter. Unsere Schatten dehnen sich von Stufe zu Stufe weiter nach oben hin aus, als wollten sie die Sicherheit unserer Betten erreichen. Wir schlüpfen in den Marmorsaal, zu Felicitys Zelt, und setzen uns im Schneidersitz auf den Boden, wie wir es schon so oft getan haben.

Ann kaut an ihrer Unterlippe und beobachtet mich.

»Bereit?«, fragt Felicity.

Ich hole mit einem zitternden Atemzug Luft und stoße sie in einem Schwall aus. »Ja. Fangen wir an.«

Wir fassen uns an den Händen und ich bemühe mich mit aller Kraft, meine Gedanken auszuschalten und mich einzig und allein auf das Magische Reich zu konzentrieren. Ich sehe das Grün des Gartens, die Höhlen der Seufzer, die sich hoch über dem rauschenden Fluss erheben. Diese verzauberte Welt beginnt hinter meinen geschlossenen Augen Gestalt anzunehmen.

»Siehst du es schon?«, fragt Ann und stört damit meine Konzentration.

Das Bild des Gartens verweht wie eine Rauchfahne. »Ann!«

»Tut mir leid«, murmelt sie.

»Du darfst sie nicht stören!«, schimpft Felicity. Sie drückt meine Hände. »Denk daran, Gemma, unsere ganze Zukunft hängt von dir ab.«

Ja, danke. Das beruhigt mich ungemein. »Ich brauche vollkommene Ruhe, bitte.«

Gehorsam senken sie die Köpfe und schweigen still und schon stellt sich ein magisches Kribbeln ein.

Los, Gemma. Du darfst nicht denken, dass du es nicht schaffst. Stell dir das Tor vor. Es wird kommen. Mach, dass es kommt. Befiehl ihm zu kommen.

Das Tor erscheint nicht. Ich sehe nichts, fühle nichts. Panik überfällt mich, träufelt vergiftete Zweifel in meine Seele: Was ist, wenn die Gabe nur geborgt war? Was, wenn ich sie für immer verloren habe? Was, wenn alles ein Irrtum war und ich schließlich nur ganz gewöhnlich bin?

Ich öffne die Augen, bemühe mich, meinen Atem zu beruhigen. »Ich brauche einen Moment.«

»Wir hätten es nicht so lange aufschieben sollen«, grollt Felicity. »Wir hätten gleich im Januar etwas unternehmen sollen. Warum haben wir bis jetzt gewartet?«

»Ich war damals noch nicht bereit dafür«, sage ich.

»Du hast gewartet, dass er zurückkommt«, sagt Felicity. »Nun, er kommt nicht.«

»Ich habe nicht auf Kartik gewartet«, fauche ich sie an. Sie hat mich an meiner empfindlichsten Stelle getroffen. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Ein Bild von Miss Moore taucht in meinem Kopf auf. Ich sehe sie, ihr entschlossenes Kinn, die Taschenuhr in der Hand, so, wie wir sie kannten, als sie unsere geliebte Lehrerin war. Bevor wir wussten, dass sie Circe ist. Bevor ich sie getötet habe. »Ich … Ich war noch nicht bereit. Das ist alles.«

Felicity sieht mich kalt an. »Du hast nichts getan, was du bedauern musst. Sie hat den Tod verdient.«

»Lasst es uns noch einmal versuchen«, sagt Ann. Sie reicht uns ihre Hände und ich sehe die Schnitte, die sie sich heute Abend zugefügt hat.

»Nur zu. Aller guten Dinge sind drei«, scherze ich, obwohl mir überhaupt nicht nach Scherzen zumute ist.

Ich schließe die Augen und verlangsame meinen Atem, während ich noch einmal versuche, meine Gedanken auszuschalten und mich auf nichts anderes als das Tor aus Licht zu konzentrieren. Hitze sammelt sich in launischen Wellen in meinem Magen an. Es ist, als würde man wieder und wieder ein Streichholz anzünden, das nicht brennen will. Komm schon, komm schon. Für einen Moment flammt es auf, fängt wie gewohnt Feuer am Zündstoff meiner Wünsche. Ich sehe die sich sanft wiegenden Olivenbäume im Garten. Den lieblichen Fluss. Und ich sehe das Tor aus Licht. Ha! Oh ja! Wie habe ich es vermisst! Jetzt muss ich es nur festhalten …

Das Bild verblasst und an seiner Stelle sehe ich das geisterhafte Gesicht Circes in dem kalten Wasser des Brunnens. Sie schlägt die Augen auf. »Gemma …«

Mit einem unterdrückten Schrei reiße ich mich los und die Zauberkraft ist weg. Ich spüre, wie das Magische Reich zurückweicht, gleich einer Flut, die ich nicht an den Strand zurückholen kann. Sosehr ich auch ziehe, es gelingt mir nicht.

Ann gibt als Erste auf. Sie ist an Enttäuschungen gewöhnt und erkennt rascher, wenn sie verloren hat. »Ich gehe ins Bett.«

»Es tut mir leid«, flüstere ich, ohne die beiden anzusehen. Das Gewicht ihrer Niedergeschlagenheit liegt schwer auf meiner Brust, sodass ich kaum atmen kann. »Ich weiß nicht, was passiert ist.«

Felicity schüttelt den Kopf. »Ich verstehe nicht, wie das möglich ist. Du hast die Magie an dich gebunden. Wir sollten uns ganz problemlos ihrer bedienen können.«

Wir sollten, aber wir können es nicht. Ich kann es nicht. Und mit jedem vergeblichen Versuch schwindet meine Zuversicht. Was ist, wenn ich nie wieder ins Magische Reich zurückkomme?

~

Lange nachdem meine Freundinnen schlafen gegangen sind, sitze ich in meinem Bett, mit fest geschlossenen Augen, die Knie an meine Brust gepresst. Mit einem einzigen, inständig wiederholten Wort bitte ich das Tor aus Licht zu erscheinen. Bitte, bitte, bitte … Ich bitte, bis meine Stimme heiser vor Tränen und Verzweiflung ist, bis die frühe Morgendämmerung ihr gnadenloses Licht auf mich wirft, bis mir nichts anderes mehr zu sagen bleibt als das, was ich nicht über meine Lippen bringe – dass ich die Magie verloren habe und dass ich ohne sie nichts bin.

5. Kapitel

Das Oldham-Sanatorium, eine halbe Bahnstunde von London entfernt, ist ein großer, weißer Gebäudekomplex, umgeben von einem weiten, grünen Rasen. Einige Stühle stehen draußen, sodass die Patienten die Sonne genießen können, wann immer sie wollen.

Wie versprochen sind Tom und ich gekommen, um Vater zu besuchen. Es behagt mir nicht, ihn an diesem Ort zu sehen. Am liebsten erinnere ich mich an Vater in seinem Arbeitszimmer, wie er am Kaminfeuer sitzt, in einer Hand seine Pfeife, mit einem Zwinkern im Auge und einer fantastischen Geschichte im Ärmel. Aber ich vermute, selbst die Erinnerung an ihn hier im Sanatorium wird um einiges angenehmer sein als die an eine Opiumhöhle in Londons East End, wo ich meinen Vater gefunden habe. Vater war seiner Sucht so hoffnungslos verfallen, dass er sich sogar von seinem Ehering getrennt hat, nur um immer noch mehr Rauschgift zu bekommen.

Nein, daran will ich nicht denken. Nicht heute.

»Vergiss nicht, Gemma, du sollst fröhlich und unbeschwert sein«, ermahnt mich Tom – mein älterer, doch leider nicht weiserer Bruder –, als wir über die weite Rasenfläche schlendern, an ordentlich beschnittenen Hecken entlang, an denen kaum ein unbedachter Zweig oder ein vorwitziges Unkraut die sorgsame Symmetrie stört.

Ich lächle eine vorbeikommende Krankenschwester strahlend an. »Ich denke, ich weiß auch ohne deinen guten Rat, wie ich mich zu verhalten habe, Thomas«, sage ich zwischen zusammengebissenen Zähnen.

»Da bin ich mir nicht so sicher.«

Ehrlich, was hat man von Brüdern, außer dass sie einen mit schöner Regelmäßigkeit abwechselnd quälen und nerven?

»Wirklich, Thomas, du solltest beim Frühstück besser aufpassen. Du hast einen riesengroßen Dotterklecks auf deinem Hemd.«

Tom schaut erschrocken an sich herunter. »Ich seh nichts!«

»Doch« – ich tippe an seinen Kopf – »hier.«

»Was?«

»April, April!«

Sein Mund verzieht sich zu einem schiefen Lächeln. »Aber es ist noch gar nicht April.«

»Ja«, sage ich und marschiere in flottem Tempo voraus. »Und trotzdem bist du ein Dummkopf.«