Der gewitzte Juwelier - Peter Middelberg - E-Book

Der gewitzte Juwelier E-Book

Peter Middelberg

4,9

Beschreibung

ER, - der in der Schule nicht lernen will, - der seine Opernsängerlaufbahn an den Nagel hängt, - der seinen Berufsweg über drei Umwege trotzdem findet, - dessen Lehrmeister ihn ins kalte Wasser wirft, ihm jedoch verspricht, ihn zu retten, falls er unterzugehen droht, - dessen Kompagnon die erfolgreichen Einkaufreisen zu verhindern sucht, - dessen Wissensdrang dazu führt, dass er sich kritisch mit dem Christentum auseinandersetzt, - dem die Frauen bei der Metamorphose vom Knaben zum Mann beistehen, - dem die Frauen helfen, die entscheidenden Weichen auf der Fahrt zum Erfolg zu stellen, - dem eine Frau beim Verfolgen seines Zieles indessen im Wege steht, - den die Freunde als gebildeten und einfühlsamen Gefährten schätzen, - den die Kollegen einer Interessengruppe wegen seines kaufmännischen Geschicks für den gemeinsamen Einkauf nach Syrien, China, Namibia, Bangkok, Sri Lanka, Tahiti, Kolumbien und Italien erwählen, - den die Perlenzüchter, die Steinhändler und Schleifer wegen seines beinharten Verhandelns fürchten. Er ist Der gewitzte Juwelier

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Es kracht mal wieder in Thailand. Die Rothemden streben an die Macht. Wie sicher ist das Land für Touristen?

Bangkok, dort hebt man soeben die erste internationale Farbsteinmesse aus der Taufe. Jan Kessler entschließt sich trotzdem, teilzunehmen. Er will sehen, lernen, und sich den Wind der weiten Welt des Steinhandels um die Nase wehen lassen. Sein Weg führt ihn nach achtzehnstündigem Flug ins Hotel Shangri La, wo er für die Zeit der Messe wohnen wird. Aufgebaut wie ein Basar findet ein Teil der Edelsteinmesse in den Ballsälen dieses Hotelbetriebs statt. Germenstein & Kessler hat der alte Germenstein kurz nach dem Krieg Ende der 40er Jahre als Einzelfirma gegründet. Germenstein wurde, wie man so sagt, einer der <Platzhirsche> unter den Juwelieren, der als Einziger die Tabernakel und anderen Kirchengeräte für die ganze Diözese anfertigte und installierte. Noch heute erzählt er, dass er mit dem Prokurator für die Beschaffung, Doktor Brandenburg, so manchen Tropfen in der Kammer für Kirchengerät becherte. Ein guter Tropfen löste regelmäßig die Zunge des einflussreichen Geistlichen. Er war als Freund von gutem Essen und edlem Wein weithin bekannt. Jan möchte in Bangkok mit einem Überblick beginnen. Allerdings wäre er ohne fundierte Fachkenntnisse verloren. In seinen Lehr und Wanderjahren erwarb er dieses Wissen von seinen Chefs in Köln und Frankfurt. Er schlendert interessiert über die Gänge, begrüßt hier und da bekannte Händler und Schleifer aus Deutschland und der Schweiz, die aus dem gleichen Grund nach Bangkok reisten.

Das Juweliergeschäft Germenstein & Kessler also, mit seinen mehr als sechs Goldschmieden, zwei Goldschmiedelehrlingen, vier Verkäuferinnen und zwei Chefs hat einen hohen Bedarf an echten Farbsteinen, die unter Leitung des Goldschmiedemeisters Jan Kessler in der eigenen Werkstatt zu exklusiven Schmuckstücken verarbeitet werden.

»Sieh da, wen treffe ich auch an diesem abgelegenen Ort«, empfängt er seinen alten Bekannten Karl Tweer aus Idar Oberstein. Als versierter Steinschleifer ist der ein unverzichtbarer Handwerker für die Branche.

Die Freunde flachsen über ihre gemeinsamen Erlebnisse im Edelsteinhandel und verabreden sich für den Abend in ein Restaurant. »Das ist wegen seiner Art der Zubereitung der Speisen sehenswert, und sie müssen es unbedingt gesehen haben«.

»Einverstanden«, entgegnet Jan, »Thailand kennen sie bereits, aber aus welchem Winkel der Welt kommen sie heute?«

»Ich kenne die halbe Welt, nun verabschiedete ich mich gerade von einer atemberaubenden Kreolin in Südafrika. Ich bin total geschafft.«

»Ach so, ich sehe schon, es geht bei ihnen nicht nur um Rohsteine, sondern auch um süßes Leben. Interessant, erzählen sie mal.«

»Der Ehrenmann genießt und schweigt.«

»Ach so, wie schade. Ich dachte, ich könnte noch etwas lernen.«

»Natürlich können sie etwas von mir erfahren, nämlich über die Geheimnisse des Edelsteinhandels.«

»Gern auch darüber.«

Kessler wurde vor kurzem von einer Einkaufsgruppe namhafter Juweliere aufgrund seiner Erfahrungen im Einkauf von Edelsteinen ausersehen, eine gemeinsame Präsentation neuer Kreationen zu entwickeln und das entsprechende Material zu besorgen.

Kessler kauft nie am Beginn eines Ausstellungstages, sondern schaut sich um. Tweer schärfte ihm vor Jahren ein: »Gib dich nie zu früh deinen Gefühlen hin, sonst kaufst du zu teuer. Lass deine Begeisterung für ein Stück erst abkühlen, bevor du handelst.« Nun ist Kessler ohnehin nicht der Typ, der sich durch Emotionen hinreißen lässt. Doch von einem großen Smaragdcabouchon lässt er sich bestechen. Er spürt den Besitzerstolz, obwohl er den Stein nur sieht. Der Smaragd passt genau in das Collier, welches ich für meine reizvolle Kundin mit den roten Haaren entwarf. Er prüft den Edelstein eingehend und findet untrügliche Zeichen für die Echtheit. Er meint sogar, die Herkunft bestimmen zu können. Könnte er aus Brasilien stammen?

Mit der Zeit legte er sich im Umgang mit Schmuck Kenntnisse der Edelsteinbeurteilung zu. Er zweifelt nicht, dass dieser Schmuckstein unbehandelt ist. Um ganz sicher zu sein, lässt er das Stück bis zum nächsten Tag zurücklegen und schlendert weiter. Als er in der Lobby eine Erfrischung zu sich nimmt, trifft er auf einen bekannten Juwelier aus Hamburg. Er ist ein wacher, lebenslustiger Mann, der auch den alten Germenstein gut kennt. Kessler findet Gefallen an ihm, der seine Erzählungen gern mit kleinen Kabinettstückchen, Hamburger Humor und dem unverwechselbaren Plattdeutsch würzt. Beide tauschen ihre Eindrücke von der ersten Edelsteinmesse aus. Kessler ahnt nicht, unter welch dramatischen Umständen er ihn bald wiedersehen wird.

Abends treffen sich Tweer und Kessler im Foyer. »Bin ich eingeladen, oder muss ich mich auf eine Rechnung einstellen?«, erkundigt sich Jan.

»Heute nicht, aber das nächste Mal sind sie dran.«

An den beißenden Geruch der Abgase in der thailändischen Hauptstadt müssen sie sich erst gewöhnen. Sie nehmen ein Taxi.

In dem Restaurant stehen Einkaufswagen wie im Supermarkt.

»Wir brauchen nur einen Wagen, sie zahlen ja«, flachst Kessler.

Man sucht sich den schon marinierten Fisch, das Gemüse, die Shrimps und den Wein selber aus. Der Weg zur Kasse ist nicht weit. Danach setzen sie sich an einen freien Tisch und warten auf die Köche, die die Zubereitung mit den Gästen besprechen. Kessler läuft das Wasser im Mund zusammen. Das ist ja wohl auch die Absicht der umständlichen und langwierigen Prozedur. Seit seinem schmalen Frühstück ist er nüchtern.

Das Restaurant ist ein riesiger Saal mit unzähligen Sitzgelegenheiten, eher eine Markthalle und wirkt nüchtern. Eine Anzahl Säulen stützen die Decke. Auf den Tischen liegen einfache Leintücher. Ein Aschenbecher aus Leichtmetall steht jeweils in der Mitte. In Deutschland würde man die Gemütlichkeit vermissen. Aber die kommt hier mit dem Weintrinken, dem Rauchen, dem Plaudern und schließlich mit dem Essen.

Die Halle füllt sich. Sie ist offenbar eine Touristenattraktion. Links sieht man durch die oben offene Seite nach draußen auf den Park. Hier stehen eine Menge Köche an ihrem Wok mit Blick in den Palmengarten. Sie kochen auf offener Propangasflamme. Es dampft und duftet exotisch.

Es kommen die Kellner, öffnen den Wein und schenken ein. Sie nehmen den Wagen mit den gewählten Köstlichkeiten zum Kochen mit. Ehe Jan sich versieht, verwickelt ihn Tweer in spannende Geschichten.

»Sie wollten doch etwas über die Kreolin erfahren.«

Sehr überrascht hört Jan Kessler der Geschichte seines Freundes zu.

Dabei bemerkt der Zuhörer nicht, dass über eine Stunde vergeht und der Wein von den Kellnern fleißig nachgeschenkt wird. Sie bestellen eine zweite Flasche und der Alkohol steigt in den Kopf.

Endlich bringt man die Vorspeise. »Reispapier-Frühlingsrollen mit Garnelen mit je einem Salatblatt, etwas Koriander und Minze. Alles ist in das Salatblatt gerollt. Die kalte Rolle wird in eine Soße aus Honig, Sherry und Chilipulver, die eine Stunde auf geräucherten Speckscheiben ruhte, getunkt. Der Speck wurde knusprig gegrillt und abgekühlt in der Frühlingsrolle verarbeitet,« berichtet Tweer.

Als Hauptgericht wählten sie gegrillten Barsch, Ingwersoße und einfachen Reis mit einem Salat aus Grapefruit, Krebs- und Hackfleisch.

Als Nachtisch gibt es sticky Reis mit Papaya. Tweers Geschichte über die Kreolin würzt das Ganze zusätzlich.

Die beiden Köche erscheinen nach dem ausgedehnten Essen und erkundigen sich höflich, ob es geschmeckt hat, und um sich ihren Küchenlohn abzuholen.

Welchen Zipfel der Erde hat der Steinschleifer Tweer noch nicht besucht? Seine hünenhafte Gestalt beeindruckt die Asiaten. Dabei ist der blonde Deutsche die Sanftmut in Person. Die riesige Erscheinung bewahrt ihn jedoch davor, im Busch von Gangstern überfallen zu werden. Im Laufe des Gespräches erzählt er: »Ich habe eine kleine grazile Frau geheiratet, die tatkräftig zu Hause Geschäft und Kinder versorgt.« Er zieht ein Foto aus der Tasche, und Jan bestaunt die hübsche Frau. Warum er trotzdem die Abwechslung bei der Kreolin sucht, versteht Jan nun überhaupt nicht.

Die anregende Unterhaltung wird unterbrochen, als ein bescheiden wirkender Mann an ihnen gemächlich vorbeizieht. »Das ist eine wichtige Person in Bangkok. Ich stelle sie ihnen vor«, flüstert er. Karl Tweer erhebt sich spontan, um ihn zu begrüßen.

Der Asiate mit einem faltenreichen Gesicht lächelt. Die wachen, dunklen Augen blitzen. Sie künden von kaufmännischer Schläue. Die feingliederigen Hände richten die bunte Seidenkrawatte mit Mühlenmotiven von Hermes. Der schwarze Nadelstreifenanzug imponiert und passt dazu. Tweer ist im Begriff, ihn mit Jan bekannt zu machen. »Und ich bin Shu«, stellt er sich bescheiden selbst vor. Sie stehen nun als kleine Gruppe, die sich angeregt unterhält, und wechseln Visitenkarten. Auch Kessler fällt mit seiner Körpergröße auf. Der zerbrechlich wirkende Mann geht ihm gerade bis zum Ellenbogen. Die beiden tauschen einige freundliche Worte, die man aber nicht mehr versteht, denn es wird plötzlich unruhig.

Flammen lodern jäh am anderen Ende des Saales. Eine alles bedrohende Feuerwand schlägt den Gästen unerwartet entgegen. Frauen kreischen, und Panik breitet sich unaufhaltsam aus.

Ein Koch hat in der Hektik des Geschäfts seinen Wok mit heißem Öl umgekippt. Das Fett entzündet sich an der offenen Flamme. Auf ihrer abrupten Flucht stoßen auch mehrere andere Küchenmeister ihre Kochtöpfe um. Eine Kettenreaktion breitet sich aus. Die Gäste versuchen, ins Freie zu flüchten. Stühle und Tische werden umgestoßen. Geschirr klirrt. Männerstimmen brüllen durcheinander, Frauen kreischen. Es wird zunehmend bedrohlicher. Die Menschen verhalten sich in ihrer Angst rücksichtslos. Jeder drängt dem Ausgang entgegen. Aber das Feuer breitet sich rasend schnell aus und löst eine dramatische Fluchtwelle aus. Viele Personen stürzen übereinander. Andere versuchen, sich über die Gefallenen in Sicherheit zu bringen. Kessler arbeitet sich instinktiv zu einer der Säulen durch, um sich daran festzuhalten. Im Strom, der Vorbeidrängenden wird er hin und her gestoßen. Von Tweer sieht er nichts mehr. Jan bemerkt noch, wie der bekannte Hamburger Juwelier an ihm vorbei geschoben wird. Jans Füße werden durch einen Körper auf dem Boden gebremst. Mit einem ohrenbetäubenden Knall explodiert eine weitere Gasflasche und im hinteren Teil der Halle kracht ein Teil der Decke herunter.

Die Fliehenden, die zum Ausgang streben, trampeln rücksichtslos über die am Boden Liegenden hinweg.

Da explodiert noch eine Propangasflasche. Ein weiterer Teil der Decke wird vom Explosionsdruck angehoben und stürzt ein. Sie begräbt einige Menschen unter sich. Die Masse kreischt, aber Kessler kann kaum noch etwas hören. Der Staub nimmt ihm vorübergehend den Atem und die Sicht. Als er wieder etwas sehen kann, bemerkt er schemenhaft vor sich auf dem Boden den Asiaten Shu, den er vor kurzem kennen lernte. In Sorge um ihn bückt er sich und versucht, ihm aufhelfen, erkennt aber, dass der sich nicht mehr bewegt. Ab jetzt geht alles durch das Unterbewusstsein gesteuert vonstatten. Er nimmt in gebückter Haltung und mit einer Hand an der Säule abstützend, den Gefallenen wie ein Kind mit dem anderen Arm auf. Sein Schützling ist erstaunlich leicht. Er kann ihn mühelos auf dem Arm tragen.

Eine neue Gasexplosion legt die halbe Halle flach. Menschen kommen aber nicht mehr zu schaden, weil sich in diesem Segment des Restaurants bereits alle in Sicherheit gebracht haben. Seiner Vernunft folgend wartet der Retter, bis der Saal fast leer ist. Dann läuft er auf die achtspurige Straße hinaus und zielstrebig zu einem der zahlreich eintreffenden Krankenwagen. Zwei Sanitäter entreißen ihm den Verletzten. Er fragt noch, in welches Krankenhaus sie ihn bringen, aber die uniformierten Männer haben ihn nicht verstanden und rasen mit markerschütterndem Signalhorn davon.

Soeben wird der Juwelier aus Hamburg auf einer Bahre vorbeigefahren. Er ist lebensbedrohlich verletzt. Vor ein paar Stunden haben sie noch miteinander geplaudert.

Wie benommen steht Jan nun regungslos am Straßenrand. Der laute Knall der Explosion ruft in seinem Ohr ein Fiepen hervor. Wie abwesend schlägt er sich den Staub aus dem Hemd, setzt sich, immer noch schockiert, auf die steinerne Straßenkante und lässt die Hektik und den wieder einsetzenden Verkehr wie im Traum an sich vorüberziehen.

Die Autos und Tuk-Tuks rauschen unbeeindruckt weiter. Niemand hält an, um zu gaffen. Der Gestank der Abgase wird ihm erst bewusst, als er zu husten beginnt und ihn jemand am Arm berührt. Es ist Tweer. Kessler erhebt sich mühsam und der Freund erkundigt sich: »Sind sie verletzt?« Verwirrt hebt und senkt er die Schultern, weil er nichts versteht. Als sein Freund laut wird, verneint er einsilbig. Beide wenden sich wortlos in den benachbarten Park. Der Knall der Explosionen machte Kessler vorübergehend fast taub und hinterlässt einen bleibenden Ton in dessen Ohr. Er versucht, diesen durch mehrfaches Gähnen loszuwerden, was ihm nur mühsam gelingt.

Die Nacht ist heiß. Ziellos umherwandernd probieren die Freunde, die Gedanken zu ordnen und die Ereignisse zu verarbeiten.

Der arme Herr Shu, er lag leblos in meinen Armen. Ob er wohl durchkommt, fragt sich Kessler. Später nehmen sie eine Taxe zum Hotel. Dort trinken sie einen Whiskey als Absacker für die nötige Bettschwere. Als er den Fahrstuhl verlässt, spürt Jan eine leichte Beruhigung. Das Ankommen auf den Veloursteppichen mit den amerikanischen Mustern ist trotz des kitschigen Aussehens wohltuend. Das helle Weiß der Wände, die Goldtöne der Lampen, die vornehme Stille sorgt für Entspannung.

»Wie kann so etwas passieren«, erkundigt sich Tweer und Kessler antwortet nach langem Überlegen: »Ich kenne einen ähnlichen Fall aus Hongkong. Ein Restaurantschiff brannte aus demselben Grund aus. Es ging dort so wie hier wahrscheinlich viele Jahre gut, so dass niemand auf die Sicherheitsmängel achtete.«

Müde verabschieden sie sich und suchen ihre Zimmer auf, um Schlaf zu finden. Sie verstehen sich wie Brüder. Beide sind ähnliche Charaktere, obwohl Kessler hier und da engagierter handelt. Er genießt die Atmosphäre seiner Suite und die Stille. Eigentlich mag er die Bezeichnung Suite nicht. Neureiche Geldsäcke, denen jedes herkömmliche Zimmer zu klein ist, brauchen mindestens eine Suite, lieber noch die Präsidentensuite.

Am Morgen gehen sie getrennte Wege.

Ausführlich lässt sich Jan in der Lobby über die Ereignisse des Vorabends aufklären. Man überreicht ihm eine deutschsprachige Zeitung, die das Thema mit Bildern beschreibt. Das Foto eines Feuerwehrmanns, der aus der noch brennenden Halle eine Frau rettet, dramatisiert den Aufmacher.

Nach der Lektüre schüttelt Jan den Kopf und hat den Eindruck, ein anderes Ereignis erlebt zu haben. Über hundert Tote sollen es sein und die meisten davon Touristen. Vier Detonationen hätten das Restaurant erschüttert und zerstört. Die Katastrophe sei durch einen Anschlag von Terroristen ausgelöst worden. Typisch. Die Presse verdreht wie so oft die Wirklichkeit und kocht Halbwahrheiten hoch. Man hat nur die Auflagenhöhe fest im Blick, nicht die zu ermittelnden Tatsachen. Kessler ist im Grunde der ideale Zeitungsleser, süchtig nach den Tagesrationen, dem frischen Stoff von Ereignissen, mit denen er seinen Riecher für aktuelle Trends bedient, um seine Entscheidungen zu steuern. Er legt die Zeitung beiseite und erhebt sich, um seine Vorbereitungen für die Edelsteinmesse zu treffen. Das scheint die beste Therapie zu sein, um sich abzulenken und das Erlebte zu verarbeiten.

Abends in der Lobby treffen sich einige Schleifer und Händler aus Deutschland. Eine Wolke vollen Aromas des alten Nachkriegsduftes 4711 trifft ihn. Tweer ist auch zugegen. Langsam zerreißen die Nebel, die sich um das Erlebte gebildet hatten. Kessler gesellt sich zu ihnen und bestellt einen Drink. Nachdenklich knabbert er ein paar Erdnüsse, bis man ihn bittet, das Erlebte zu erzählen. Mit knappen Worten beschreibt er das Feuer und seine Todesangst. Nachdenklich erzählt er, dass viele Menschen in Panik davonrennen, ohne zu wissen, wohin. Einige junge Zuhörer aus der Nähe lachen. Jünglinge aus Deutschland witzeln darüber, dass in dem Restaurant Explosionen ausbrachen. In Deutschland würde so etwas nicht passieren. Wir hätten die Situation im Griff gehabt. Sensationshungrig wiederholen sie immer wieder die gleichen Parolen. Jan wird es zu viel. Er überlegt, sich zurückzuziehen.

Ein Thaimädchen mit geschlitztem Rock geht durch die Lobby. Sie trägt eine Tafel und ein Glöckchen. <Mr. Kessler, please to the information>, ist zu lesen.

Genervt erhebt er sich und erfährt am Empfang, dass ein Eilbote gekommen sei. Er wolle ihn am nächsten Tag zu einem Meeting abholen. Der Fahrer bittet um Auskunft, ob es ihm recht sei. Der Chauffeur spricht nur Thai und Kessler lässt sich alles von einer freundlichen Dolmetscherin übersetzen. Nach nochmaliger Rückfrage bestätigt die Übersetzerin die Bitte der Firmenleitung Shu zu einem Treffen. Shu? Das ist doch der, den ich gestern aus der Flammenhölle gerettet habe. Müde und abgespannt sagt er halbherzig zu, gibt aber der Dolmetscherin den Auftrag, sich über diese Firma zu erkundigen. Ganz in Gedanken macht er sich auf den Weg zu seinem Hotelzimmer.

Derweil unterhält sich ein Steinschleifer mit Tweer in der Lobby: »Sag mal, wer ist eigentlich dieser Kessler.« Der Befragte erzählt gern: »Ich habe vor einigen Jahren begonnen, Geschäfte mit ihm zu machen. Er ist ein offener, interessanter, durch und durch ehrlicher, ernster Charakter. Ein verschwiegener Mensch der alten Schule, aber nicht ganz einfach. Kessler würde ich die geheimsten Dinge anvertrauen und wüsste, dass er keines davon preisgäbe. Wenn er den Eindruck hat, dass man ihn zu betrügen versucht, kann er außergewöhnlich hart und unversöhnlich reagieren. Übrigens, auffällig ist sein Gespür für den Markt. Er bemüht sich, etwas hinzuzulernen, gibt aber sein Wissen auch ohne Zögern weiter. Er ist ein emotionaler Mensch und Erlebnisse, wie diese Katastrophe, gehen nicht spurlos an ihm vorüber. Auf derart schwerwiegende Vorfälle reagiert er in sich gekehrt. Sein Fingerspitzengefühl, unterstützt durch sein Talent zum Zeichnen, macht ihn zu einem begabten und gewitzten Juwelier. Er bekommt dadurch so manchen zusätzlichen Auftrag und hat uneingeschränkten Einfluss auf die Verwendung seiner Edelsteine. Er fertigt mit seinen Goldschmieden die meisten Stücke in eigener Werkstatt. Einfühlungsvermögen und nie nachlassende Kreativität sind seine Stärke. Kessler ist nicht auf den Mund gefallen, und wenn man ihm Zeit gibt, kann man erfahren, dass er zu ungewöhnlichen Ergebnissen fähig ist. Eine besonders positive Seite ist eine uneingeschränkte Hilfsbereitschaft. Als Handelspartner kann er beweglich, aber eisenhart sein. Hier und da ist er zäh, wie Elchleder. Das ist für seinen Geschäftspartner nicht immer angenehm. Ich weiß, wovon ich spreche.« Der Steinschleifer bemerkt: »Ein interessanter Mann. Kann man mit ihm gute Geschäfte machen?«

»Versuch´s mal«, gibt ihm Tweer lächelnd zur Antwort.

Während des Frühstücks am nächsten Tag tritt die Dolmetscherin zu Kessler und berichtet, was sie erfahren konnte. Bei der Firma, die ihn einlädt, handelt es sich um den größten Schleifer und Händler in Bangkok. Jan kennt zwar schon dessen Inhaber, aber das Unternehmen noch nicht und ist hinsichtlich der Einladung überrascht und vorsichtig interessiert.

Gegen zehn Uhr holt ihn ein Chauffeur in grauer Livree ab. Sie rollen in der klimatisierten Limousine etwa eine halbe Stunde durch den Verkehr und passieren auch das niedergebrannte Restaurant. Es wird aufgeräumt. Schlagartig ereilt ihn die Erinnerung an die Katastrophe. So etwas vergisst Kessler nicht so schnell. Alles spult sich noch einmal vor seinem geistigen Auge ab. Der Schock sitzt tief. Der Wagen kommt in den langen Schlangen, die die Hauptstadt durchziehen, immer wieder zum Stehen. Manchmal sucht Jan nach einem Halt in den geschäftig pulsierenden Massen. Was erwartet ihn?

Unsanft rumpelt der Wagen über die Schwelle der Auffahrt und reißt ihn aus seinen Gedanken. Sie halten vor dem Eingang eines Hospitals.

»Hallo Mister, wohin haben sie mich gebracht«?

Der Fahrer antwortet nicht und öffnet die Tür, lässt den Überraschten aussteigen und führt ihn zum Lift, der beide in den dritten Stock bringt. Kessler entkrampft sich, weil er ahnt, was ihn erwartet. Gleichwohl beunruhigt ihn das Kommende. Er hasst unklare, nicht aufgeklärte Situationen. Seine Rechte tastet nach der Krawatte, die er noch einmal straff zieht, als wäre das der geeignete Abwehrzauber, um dem Kommenden zu entfliehen.

Am Ende eines endlosen Ganges, der mit Linoleum belegt ist und matt im Neonlicht glänzt, erreichen sie eine Doppeltür. Jan stellt fest, dass sich der Geruch in Kliniken nach Desinfektionsmitteln auf der ganzen Welt gleicht. Der Fahrer klopft, öffnet, lässt ihn in ein Krankenzimmer treten und entfernt sich diskret. Eine junge Frau steht am Fenster und schaut in die Landschaft, ohne sich zu dem Eintretenden umzudrehen. Kessler nimmt auch in heikelsten Fällen stets zunächst junge Frauen wahr. Eine ältere Dame sitzt am Bett eines Patienten, den Kessler nicht sogleich erkennt, dann aber feststellt, dass er den von ihm geretteten Mann vor sich hat.

»Herr Shu, was für ein Unglück, sie hier so verletzt und bandagiert anzutreffen. Wie geht es Ihnen, haben sie große Schmerzen?«

»Ich muss es aushalten, danke«, röchelt der Patient. Sein Kopf ist mit einem weißen Verband versehen und seinen linken Arm hat man fest eingegipst. Er atmet schwer.

»Ihnen, Herr Kessler, habe ich mein Leben zu verdanken. Wenn sie mich nicht gerettet hätten, wäre ich von der Menschenmasse totgetrampelt worden. Meine Frau beobachtete alles von weitem, konnte mir aber nicht zu Hilfe kommen«.

Dann muss also die Dame an seinem Bett Frau Shu sein, die ich übersehen habe, wie unhöflich. Kessler begrüßt sie artig.

Sie ist mittelgroß und von vollschlankem Wuchs. Langes braunes Haar, das ein apartes Antlitz umrahmt, wird hinten mit einem großen Knoten zusammengehalten. Sie erhebt sich vom Krankenbett und revanchiert sich mit einer ebenso freundlichen Begrüßung. Sie spricht akzentfreies Deutsch mit einer rauen, sonoren und vergleichsweise tiefen Stimme. »Ich bin ihnen so dankbar, dass sie meinen Mann gerettet haben. Da ich ihn in der Menge nicht mehr sehen konnte, hatte ich Angst um ihn. Nach einiger Zeit entdeckte ich, dass sie ihn auf dem Arm trugen und dass er nicht in Gefahr schwebte. Ich machte es ihnen nach und hielt mich an einer Säule fest, um nicht von der Masse mitgerissen oder umgestoßen zu werden. Als sie gingen, bin ich ihnen nachgeeilt, konnte sie aber nicht mehr erreichen«.

Der Besucher bemerkt, dass dem Patienten das Atmen und Sprechen schwerfällt. Gleichwohl versucht dieser zu erklären: »Wir möchten uns persönlich bei Ihnen bedanken. Wie können wir uns erkenntlich zeigen?«

Kessler entgegnet verlegen: »Die größte Freude wäre ihre baldige Genesung und dass sie sich schnell von den Strapazen erholen und den Schock überwinden«.

Besorgt fragt sie: »Bleiben sie noch ein paar Tage in Bangkok?«

»Ja, etwa eine Woche vielleicht.«

»Sobald die Ärzte meinen Mann entlassen, möchten wir sie zu uns einladen. Dann werden wir uns bei einem festlichen Abendessen wiedersehen. Bitte bleiben sie bis dahin«.

Shu fällt das Sprechen schwer: »Meine Frau Hera ist Griechin, aber in Hannover aufgewachsen und spricht deshalb so gut Deutsch. Sie ist auch eine sehr gute Köchin.«

Sie ergreift Jans Hand und drückt sie fest: »Ich danke ihnen von Herzen für die Rettung meines Mannes, obwohl sie selbst in Gefahr schwebten. Ich habe es in allen Einzelheiten beobachten können.«

Nun erst weist sie auf die junge Dame am Fenster: »Dies ist meine Tochter Shu Qi.«

Kessler wendet sich ihr zu und blickt überrascht in ein liebreizendes Antlitz. Die junge Frau ist beeindruckend attraktiv und trägt das offene, pechschwarz glänzende Haar hüftlang. Eine leicht geschwungene Nase gibt dem Gesicht das asiatische Profil. Der Mund mit den vollen Lippen lässt sie aufregend sinnlich erscheinen. Sie bewegt sich wie eine Raubkatze. Auch die bernsteinfarbenen Augen unter schwarzen Augenbrauen strahlen etwas Wildes, Ungezügeltes aus. Umso mehr überrascht Kessler der sanfte Blick, mit dem sie ihn abschätzt. Sie reicht ihm die Hand zur Begrüßung.

Kessler schaut ihr sekundenlang in die Augen. In sich ruhend hält Sie seinem festen Blick stand. Das entspannte Lächeln verzaubert ihn. Seine Hand mit ihren Händen umschließend spricht sie mit sanfter Stimme: »Sie haben ihr Leben eingesetzt, um meinen geliebten Vater zu retten.« Sie neigt den Kopf etwas zur Seite: »Ich stehe tief in ihrer Schuld und frage sie, wie wir ihren Einsatz vergelten können.«

Kessler lächelt verlegen: »Es war ein selbstverständlicher Reflex zu helfen. Das Weitere liegt in Ihrer Hand«. Die arrogante Bemerkung ist typisch für unüberlegte Schnellschüsse Kesslers nach dem Motto: Nun bin ich gespannt, wie euer Dank aussieht und wie viel euch mein Eintreten wert ist.

Drei Ärzte und zwei Schwestern betreten das Krankenzimmer. Diese unerwartete Gelegenheit nimmt Jan zum Anlass, um gute Besserung zu wünschen und sich rasch zu verabschieden. Seine Unachtsamkeit gegenüber der dankbaren Familie beginnt in deren Bewusstsein Fuß zu fassen.

»Ich bringe sie zum Auto«, wirft Shu Qi ein. Kesslers Herzschlag vollführt einen kaum wahrnehmbaren, aber schamvollen Hüpfer.

Sie verlassen gemeinsam das Krankenzimmer und treten auf den langen Flur. Ihr Gang wirkt entgegen der Erwartung zögerlich und lässt ihn glauben, dass sie etwas im Schilde führt oder überlegt, wie sie noch ein wenig Zeit mit dem Lebensretter ihres Vaters verbringen könnte, um sich ihm zu nähern. Eine hochmütige Annahme, und sicher ist er sich deshalb nicht. Er beschließt, seiner hochfahrenden Ahnung auf den Grund zu gehen, möchte er doch den prickelnden Reiz, den die Gegenwart dieser jungen Frau ausübt, ein wenig länger genießen. Sie lächelt gewinnend.

Währenddessen treffen sie auf einen dunkelhäutigen, fülligen Mann mit einem weißen Turban. Kessler kennt ihn. Er wickelte mit ihm mehrfach in der Bundesrepublik Geschäfte ab. Seine beleibte, weibliche Begleitung schreitet etwa drei Schritte hinter ihm. Sie ist in einen bunten indischen Sari gekleidet. Shu Qi begrüßt beide herzlich mit einer Verbeugung und mit aufeinandergelegten Handflächen vor der Brust. Kessler grüßt den Mann mit Handschlag und die Frau artig mit indischem Gruß. Sie wechseln ein paar freundliche Sätze, und Kesslers Begleiterin informiert sie über den Gesundheitszustand ihres Vaters.

Der Mann ist Sikh, ein Steinhändler. Er beabsichtigt, Herrn Shu einen Krankenbesuch abzustatten, und fragt nach, ob es wohl genehm sei.

Shu Qi versichert ihm, dass sich der Vater über einen Besuch wohl freue, dass er sich jedoch nicht zu viel versprechen solle, da er durch das Unglück sehr mitgenommen sei.

Nachdem man sich getrennt hat, fragt Shu Qi ihren Begleiter: »Woher kennen sie sich?«

Er verrät ihr lächelnd, dass er Juwelier sei. Durch Vermittlung hätte er mit dem Herrn schon in Deutschland zu tun gehabt.

Das ist für Shu Qi eine unerwartete Gelegenheit, und geistesgegenwärtig antwortet sie rasch und fast hastig: »Oh, dann muss ich Ihnen unsere Schleiferei zeigen. Hätten sie Zeit und Lust dazu? Ich lasse sie mit dem Wagen abholen. Morgen, so gegen zehn Uhr, ist das OK«?

Der spontane Überfall lässt ihm keine Wahl, obwohl seine Zeit knapp bemessen ist. Er überlegt in Erinnerung seiner unsicheren Vorahnung einen Moment und antwortet: »Ich habe zwar ganz andere Pläne, aber nun bin ich überredet.«

Na also, ich lag mit meiner Ahnung richtig, folgert er arrogant.

Sie drückt sichtlich triumphierend den Knopf für den Lift, der sie leise hinunter zum Automobil bringt. Kessler versichert ihr, dass er sich trotz der drängenden Zeit auf morgen freue. Stattdessen ist er in Gedanken schon wieder bei seinen Geschäften.

Im Hotel besucht er einen Inder namens Gotha Singh. Dieser bietet große Rubine aus Burma an. Diese Edelsteine sind selten. Der Mann ist klein und fast so kugelrund wie seine Steine. Offensichtlich frönt er den leiblichen Freuden. Wie es ihm gelingt, den Turban um seinen Kopf zu wickeln, ist Kessler ein Rätsel.

Jan ist beauftragt, für einen befreundeten Kollegen aus Deutschland einige dieser kostbaren Steine zu erwerben. Er selbst benötigt eine Partie kleiner runder und ovaler Rubine. Beide setzen sich an einen Tisch am Fenster. Kessler bittet in fernöstlicher Höflichkeit darum, seinen Reverenzstein hervorholen zu dürfen. Es wird ihm gestattet.

Bangkok liegt näher am Äquator als Deutschland. Deshalb ist das Licht hier intensiver. Man orientiert sich an Farbmustern, die man mitbringt. Mit der Zeit braucht man diese Hilfsmittel nicht mehr. Rubine sind schwer zu bewerten, weil sie in der warmen, starken Sonne blutrot erscheinen und in unserem Nordlicht mit seinen langwelligen Frequenzen dunkelbraun schimmern. Oder sie weisen einen Blaustich auf.

Der Rubinhändler versucht zunächst, geringerwertige Ware zu präsentieren. Der Deutsche lehnt alle Sortimente ab. Bei der dritten Vorlage trifft er auf eine unsortierte Partie kleiner Steine und wird fündig. Er nickt und macht nach gründlicher Prüfung dem Steinhändler ein sehr niedriges Angebot für die ganze Partie. Edelsteine werden nach Gewicht gehandelt und ein Karat ist ein fünftel Gramm. Wenn ein Stein ein Karat wiegt, nennt man ihn Karäter.

Der Sikh denkt: Wann verkaufe ich schon eine ganze Partie an einen neuen Kunden. Mit einem besonders günstigen Preis, kann ich den Neukunden vielleicht an mich binden. Jan weiß das und nutzt die Gelegenheit schamlos aus. Der Händler nickt betrübt und der Handel ist perfekt. Doch Kessler hat nun ein Problem. Er kaufte zu viel. Die ganze Partie ist für den vorgesehenen Zweck zu groß. Er muss blitzschnell entscheiden, wie er sein Einkaufskapital umstrukturiert, und hofft, eine Lösung zu finden.

Der Inder öffnet einen Steinbrief mit einer anderen Schliffart. Aus den Produkten sucht Kessler für den Kollegen und sich einige Karäter aus, die in Schliff und Farbe zueinander passen. Er fügt noch einen sehr lebhaften, facettierten ovalen Zweikaräter für sich hinzu und macht Herrn Gotha ein Preisangebot. Dieser hat nicht aufgepasst und stottert verblüfft: »Sie bieten viel zu wenig. Geben sie mir sechzig US-$ mehr per Karat und der Deal ist perfekt.« Kessler nickt und sagt: »Einverstanden.« Innerlich bleibt für ihn ein Gefühl der Unsicherheit zurück. Das geht zu leicht, braucht der Verkäufer Geld, oder will er mich betrügen, ist der Preis so in Ordnung? Ich werde in den nächsten Tagen versuchen, einen Preisvergleich bei anderen Händlern anzustellen. Er kauft sehr vorsichtig weiter ein. Er wird von seinen Steinlieferanten wegen seiner Sicherheit respektiert, einen angemessenen Kaufpreis zu ermitteln. Er hat im Laufe seiner Ausbildungszeit als Angestellter bei mehreren großen Juwelieren Erfahrung sammeln können.

»Ich würde gerne selbst in den Norden reisen, um mir die Schmuggelware anzusehen, aber mir fehlen Zeit und Mut dazu. Man hört nichts Gutes von den bewaffneten Drogenhändlern dort. Ich bediene mich lieber der Lieferanten, die diese Arbeit übernehmen und wir machen das Geschäft zusammen«. Sie nicken sich wissend zu und lächeln, der Sikh auf asiatische Weise, Jan mit europäischer Variante.

In der nächsten Partie liegen sieben wunderschöne ovale Rubine. Der eine wie der andere illustriert seine Besonderheit. Kessler ist verzaubert. Plötzlich erwacht die Gier in ihm, diese Steine zu besitzen. Das bemerkt der Händler, und er versucht, seine Verluste wieder einzufahren.

Auf sein Gebot antwortet Gotha spöttisch: »Da haben sie sich vertan. Wenn sie den Preis verdoppeln, kommen wir uns schon etwas näher.« Jan möchte die Steine unbedingt besitzen; aber natürlich nicht zu diesem Preis. Er ist närrisch darauf fixiert, sie zu bekommen, erhöht sein Gebot ein wenig und glaubt, schon gewonnen zu haben. Beinhart antwortet sein Gegenüber nach einer kurzen Pause: »Dafür bekommen sie diese Partie nicht.«

Ich erhöhe nochmals um einige $, das ist mein letztes Angebot, hofft der Europäer.

Der Händler schließt den Steinbrief, steckt die Steine triumphierend wieder an ihren Platz und schüttelt stolz den Kopf. Das ist das untrügliche Zeichen dafür, dass diese Rubine für Kessler verloren sind. Er ärgert sich mächtig und verbirgt es nicht. Diese Abfuhr kann er nicht verdauen. Unsicher fragt er sich: War ich nicht ausgeschlafen genug, hätte ich strategisch anders vorgehen sollen. Hätte ich mich mehr konzentrieren und dabei meine Gefühle nicht so frei zeigen sollen? Doch es nützt nichts, die Niederlage ist endgültig. Alle anderen Steine, die ihm der Händler dann noch zeigt, lehnt er beleidigt ab. Er glaubt, verloren zu haben.

Nach einer endlos empfundenen schweigsamen Minute schwatzt Gotha Singh seidenweich einschmeichelnd: »Darf ich ihnen eine Erfrischung servieren lassen?« Das ist die Überraschung. Als Kessler dankend annimmt, schnippt sein Gegenüber mit dem Finger und ein Angestellter bringt Tee.

Beide nippen schweigend an ihrem Glas. Dann ermuntert ihn Singh plötzlich: »Ich zeige Ihnen jetzt einen besonders perfekten Stein.«

Er hantiert in seinem Blechkasten und hält Kessler ein jungfräuliches Steinbriefchen hin. Es ist weiß wie Schnee, und vermutlich hat es noch niemand vorher geöffnet.

Ein leicht ovaler, facettierter, taubenblutfarbener Rubin mit idealen Proportionen leuchtet ihn feurig aus dem safrangelben Inlett an. Dieser Stein ist vollkommen im Schliff und von atemberaubender Farbe und Lebhaftigkeit. So etwas hat Kessler noch nicht gesehen. Diese Faszination löst in ihm auf der Stelle kreative Vorstellungen aus. Er sieht vor seinem geistigen Auge eine Dame in einem schneeweißen Kleid und einem großen Reifrock, viele Stufen eines Palastes herabschweben. Sie trägt majestätisch an ihrer rechten Hand einen Ring mit diesem wundervollen Edelstein, der in der Abendsonne geheimnisvoll leuchtet. In ihrem Haar blitzt eine kleine Krone. Der Stein und ihr Lächeln verzaubern die ganze Welt.

Kessler ist tief beeindruckt, bleibt aber äußerlich unbeteiligt kalt. Er untersucht den Rubin eingehend mit der Lupe und taxiert ihn auf etwa sieben Karat. Einige untrügliche Zeichen weisen ihn als echt und unbehandelt aus. Lange bleibt er stumm, um sein Gegenüber unsicher werden zu lassen.

»Humhh«, - brummt er: »Das ist ein außergewöhnlich schönes Stück, - jedoch schwer zu vermarkten. Für den Chefeinkäufer von Chaumès Paris wäre das etwas gewesen, aber der ist gestern nach Europa aufgebrochen. Diesem Herrn hätten sie das Objekt anbieten müssen. Heute ist der letzte Tag der Edelsteinmesse. Die meisten Käufer sind schon abgereist«.

Nachdenklich betrachtet Kessler den Stein und wappnet sich innerlich zum Gefecht. Die Enttäuschung, die Partie nicht bekommen zu haben, ist verflogen. Er hat keinerlei nachtragende Gedanken. Er erteilt Gotha jedoch eine kleine Lektion. Dieser Rubin löst in ihm keine großen geschäftlichen Emotionen aus, denn er ist wegen seines hohen Wertes wirklich schwer zu verkaufen. Aus heiterem Himmel reitet ihn der Leichtsinn. Ist er plötzlich ein Spieler geworden?

»Wenn sie den Preis extrem niedrig ansetzen, denke ich darüber nach, ihn zu kaufen.«

Eine lange Minute des Schweigens verstreicht, in der Gotha den Juwelier erwartungsvoll fixiert. Kessler hilft etwas nach, indem er den Stein mit seinem weichen Rehleder abreibt, um die Fingerflecken zu entfernen. Er legt ihn ins Papier zurück und macht langsam Anstalten, den Steinbrief zu schließen. Dabei wiegt er seinen Kopf fast unmerklich hin und her. Es soll unschlüssig wirken. Wenn bei einem solchen Manöver der Brief ganz geschlossen ist, und zurückgegeben wird, platzt auch das Geschäft, oder man verliert sein Gesicht.

Gotha atmet hörbar ein und spricht:

»OK, ich denke, neunzehntausend US-$ per Karat kann ich noch ertragen.« –

Kessler antworte ihm gedehnt: »Ich weiß, wie schwer es ihnen fällt, aber mein Angebot liegt bei sechzehntausendachthundert.«

Gotha erwidert gereizt: »Sie wollen mich ruinieren, das kann ich nicht akzeptieren. Achtzehntausendneunhundert muss ich haben, sonst setze ich zu.« –

»Na ja, … aber bedenken sie, wie viel Zins sie das festliegende Kapital kostet. Die Messe öffnet erst im nächsten Jahr wieder. Sie haben keinen direkten Zugang zum europäischen Markt, der in dieser Größenordnung handeln könnte. An wen wollen sie den Stein mit Gewinn verkaufen? Der amerikanische Markt stagniert und hier in Asien ist solch hochwertige Ware für diesen Preis momentan nicht abzusetzen, das wissen sie doch. Ihr Kapital liegt fest.«

Kessler lehnt sich ganz gelassen auf seinem Stuhl zurück und atmet hörbar aus. Er schüttelt fast unmerklich den Kopf und lässt Gotha Singh schmoren. Ich glaube, wenn er jetzt nicht auf mein Angebot eingeht, dann habe ich Glück gehabt und muss den Stein nicht kaufen, finanzieren und mir Gedanken machen, ihn wieder loszuwerden. Viel daran verdienen kann ich sowieso nicht. Nach einer geraumen Zeit murmelt er fast unhörbar: »Nun gut mein Freund, ich gebe ihnen siebzehntausend per Karat in bar, wenn das Institut in Bangkok ein positives Gutachten macht. Bringen sie den Stein zu Herrn Shaw hier im Hotel. Er ist der …«

»Ich kenne den Mann, er ist Gutachter des Edelsteininstitutes«, unterbricht ihn Gotha ärgerlich:

»Treffen wir uns morgen um zwölf im Institut, Herr Kessler?«

»Ja, Herr Gotha Singh, ich komme«, antwortet Kessler. Beide erheben sich und der Steinhändler verabschiedet sich verzweifelt und haucht:

»Der Deal ist vorerst perfekt.«

Nun fühlt sich Kessler wie ein cleverer Juwelier. Er ist sicher, ein gutes Geschäft gemacht zu haben. Wenn er in der Lage ist, den Stein in den nächsten Monaten wieder zu verkaufen, muss er diese kapitalintensive Transaktion nicht finanzieren. Seine Bank in Deutschland hat ihm inzwischen einen großzügigen Kreditrahmen eingeräumt, aber der Zins, den Kessler dafür zahlt, zwingt ihn, die Ware schnell wieder zu veräußern. So große Farbsteine werden mit höchstens zehn Prozent Aufschlag gehandelt, damit überhaupt ein Geschäft zustande kommt. Hohe Summen geben nur wenige Männer für Schmuck aus, obwohl es sich hier um echte Kapitalanlagen handelt. Gottlob hat es bis jetzt immer geklappt. Deshalb ist Jan zuversichtlich.

Nach diesem Geschäft, das am nächsten Tag nach der Begutachtung undramatisch abgewickelt wird, möchte sich Kessler erholen und bucht an der Rezeption seines Hotels eine Woche Badeurlaub auf der Halbinsel Phuket. Schließlich soll der ständige Vorwurf seines Kompagnons, er sei immerzu auf Lustreise, nicht lügengestraft werden.

Vorher muss er jedoch noch sein Versprechen einlösen. Pünktlich um zehn steht der Chauffeur mit dem Automobil vor dem Hotel und fährt ihn zur Besichtigung in die Schleiferei Shu. Ein deutscher Schleifermeister empfängt ihn und macht ihn mit dem beeindruckenden Unternehmen bekannt. Kessler staunt über die Dimensionen. Sternförmig erstrecken sich die Gänge von der Mitte nach hinten. In diesen sitzen wie auf einer Schnur aufgereiht und dicht gedrängt die Schleifer. Sie arbeiten fleißig. Keiner schaut auf, als die Gäste das Zentrum betreten. Wie die Spinne im Netz beaufsichtigt ein Mann die Arbeiter und versorgt sie mit Rohware. Die fertigen Steine nimmt er zurück und beurteilt ihren Schliff.

Der deutsche Experte zählt stolz den jährlichen Erfolg auf und nennt Zahlen, die Kessler schwindelerregend findet.

»Wer wird die vielen Edelsteine, die hier entstehen einmal kaufen und tragen«, fragt er sich halblaut zum Abschluss.

»Der Weltmarkt öffnet sich und frühere Schwellenländer treten zunehmend als Käufer auf«, erwidert der Deutsche. »Es ist mittlerweile schwer, genug Rohware zu bekommen«.

»Na, dann ist ihr Arbeitsplatz auf Jahre gesichert«, meint Jan Kessler.

»Natürlich, die meisten Thais müssen doch zum Schleifen erst ausgebildet werden. Wir machen das sehr gründlich. Und weil wir sie ordentlich bezahlen und anständig behandeln, bleiben sie bei uns.

Allerdings werden die Menschen auch durch Schleifmaschinen ersetzt, wenn es um maschinenfähige Ware geht. Diese arbeiten gleichbleibend in der Qualität und rund um die Uhr ohne Mittagspause. Das haben wir bei der Herstellung einer großen Partie Cabouchons erst kürzlich festgestellt, die auf einer solchen Maschine aus Deutschland geschliffen und poliert worden sind. So gut, wie dieser Automat arbeitet, kann ein Schleifer die Steine nicht polieren. Das Problem bei den Maschinen besteht darin, dass ausschließlich gleichmäßige, symetrische Formen, kreisrunde oder quadratische entstehen. Tropfen oder Herzen müssen stets von Hand geschliffen werden.

Inzwischen sind sie in der dritten Etage vor einem Büro angekommen und der Meister verabschiedet sich von seinem Gast, indem er an die Tür klopft und ihn eintreten lässt. Die Tochter des Hauses empfängt ihn mit einem Lächeln, welches die Absicht erkennen lässt, ihn zu erobern, glaubt er.

Seine Bewunderung für den Betrieb steht jedoch im Vordergrund. Er will das auch nicht verbergen. »Ihr Unternehmen beeindruckt und wird offensichtlich von Experten straff geführt«, lenkt Kessler ab.

»Mein Vater kommt morgen aus dem Krankenhaus. Er möchte, dass ich Ihnen einige Partien vorab zeige«.

»Ich möchte Ihnen nicht verhehlen, dass ich meinen Einkauf bereits abgeschlossen habe, werde also kein interessanter Kunde für sie sein«.

Shu Qi kontert pikiert: »Damit sie zukünftig vielleicht auch bei uns kaufen, wollen wir sie mit unserer Ware bekannt machen«.

Kessler atmet aus und setzt sich auf einen Bürostuhl.

»Nein, hier sollen sie nicht Platz nehmen, sondern dort, in dem bequemen Sessel«, fordert sie einladend.

»Edelsteineinbeurteilung ist eine ernste, anstrengende Arbeit, bei der man so unbequem, wie möglich sitzen muss, damit man hellwach bleibt.«

Shu Qi sieht ihn ungläubig und etwas keck von der Seite an: »Wollen wir das heute so ernst sehen? Ich habe den Auftrag, ihnen nur Appetit zu machen und schöne Steine bewundern zu lassen.«

»Na ja, meinetwegen, zeigen sie mal etwas«, sagt er von oben herab und versucht, sie auf den Arm zu nehmen. Er bezweifelt, dass sie überhaupt etwas von der Materie versteht. Er stellt sie auf die Probe und führt sie arrogant aufs Glatteis. Ist die Fachkompetenz von Shu Qi so bemerkenswert wie ihre Aufsehen erregende Attraktivität?

Sie öffnet eine große Partie erstklassig facettierter Saphire, die noch nicht sortiert ist. Ovale, runde, tropfenförmige und achteckige, Steine mit einem Gewicht zwischen ein und drei Karat liegen vor ihm.

Wie ein Tornado stürmen die Ideen für diverse Schmuckstücke auf Jan ein. Damit er sie nicht vergisst, greift er nach seinem Büchlein, in das er seine spontanen Einfälle zeichnerisch notiert. Behände skizziert er Armbänder, Ringe und ein Kollier.

Shu Qi schaut aufmerksam zu und tritt zu ihm an die Seite, um besser sehen zu können.

Kessler schätzt es nicht, wenn sich jemand über seine Schulter hinweg Einblick in seine kreativen Geheimnisse verschaffen will, und schließt das Büchlein.

»So etwas Bildschönes habe ich ja noch nie entdeckt, Herr Kessler, darf ich mal sehen«, fragt sie arglos.

»Verehrtes Fräulein Shu, es sind vertrauliche Skizzen eines Juweliers«, antwortet er borniert.

»Ich will sie ihnen nicht mit den Augen stehlen, sondern nur die Zeichnungen bewundern. Lassen sie mich doch einen Blick in das Büchlein werfen.«

Er bleibt hart und verteidigt seine Ideen und Entwürfe eifersüchtig und stur. »Bitte haben sie Verständnis, das ich ihnen meine geheimsten Geschäftsentwürfe nicht offenbaren kann.«

Shu Qi schmollt. Sie ist es nicht gewohnt, so uncharmant abgewiesen zu werden, zumal sie meint, dass er zu viel Aufhebens von seinen Geheimnissen macht. Die Enttäuschung steht in Ihr Gesicht geschrieben. Nun überkommen ihn doch Zweifel, weil er glaubt, zu schroff reagiert zu haben. Um die Peinlichkeit zu überbrücken, fragt er sie:

»Was verlangen sie für diese Partie per Karat?«

»Sechshundertfünfzig«, antwortet sie etwas spitz, ohne auf das Briefchen zu schauen, auf der ein Abgabepreis in Geheimschrift notiert ist.

»Ein stolzer Preis für schöne Ware.«

Sie ist unsicher, ob er sie aufziehen oder mit ihr verhandeln will. Deshalb erwidert sie ihm: »Was meinen sie damit?« Kessler lehnt sich vor und sieht sie an. »Verstehen sie etwas vom Geschäft, oder wollen sie mir etwas vorgaukeln?«

Nach einem kurzen Moment blitzt sie zurück: »Ich sagte Ihnen eingangs, die Präsentation diene nur zu ihrer Orientierung, wenn sie handeln wollen, müssen sie das mit meinem Vater machen, der spricht mit Ihnen auf Augenhöhe.«

Kessler ist peinlich berührt, weil ihm die Sache aus dem Ruder gelaufen ist. Er versucht, die Wogen zu glätten: »Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, entschuldigen sie.

Im täglichen Edelsteingeschäft gibt es Routinen, die sich einspielen. Es ist nicht auszuschließen, dass ich sie zu ernst nehme. Wenn sie mir vorher bedeutet hätten, dass sie nicht mit den Geschäften vertraut seien, hätte ich Bescheid gewusst und keine Frage nach dem Preis gestellt.«

»Na ja, ich bin Ihnen aufgesessen, habe es aber versucht. Das Handeln ist ausschließlich die Arbeit meines Vaters. Er versprach mir, mich bald in das Geschäft einzuweihen.«

»Oh, dafür nähme ich sie gerne unter meine Fittiche«, lacht Kessler und sie meint: »Dass glaube ich ihnen gerne, aber denken sie nicht, sie hätten es leicht mit mir.«

Die Atmosphäre entspannt sich allmählich und man spricht über tägliche Dinge, wie Reisen, Mode, Urlaub und hübschen Schmuck. Jan bereut die Eifersüchtelei bezüglich seiner Skizzen, zieht das Notizbuch mit den Entwürfen aus der Tasche und meint: »Ich könnte Ihnen eventuell doch einen Einblick verschaffen. Sie steht auf und rückt an seine Seite. Mit großen Augen betrachtet sie die Stücke und bestaunt andächtig Blatt für Blatt.

Ein verführerischer Duft entströmt ihrem Körper. Trotzdem schließt Kessler das Büchlein abrupt, und Shu Qi räumt die Steine ernüchtert an ihren Platz.

Er erwähnt fast nebenbei, aber doch mit gewisser Absicht, dass er sich am Ende dieser Einkaufstour ein paar Tage Urlaub auf Phuket genehmigen wird. »Ach, kennen sie Phuket denn schon? Es ist eine wunderschöne Halbinsel mit Palmen und Ananasplantagen.«

»Ja, ich habe davon gelesen«.

Sie wittert eine Chance und fragt trickreich: »Haben sie ihr Hotel schon gebucht?«

»Ich bin konservativ und fahre ins Palm Inn im Westen der Halbinsel, welches mir von einem Freund empfohlen worden ist.«

»Oh, das kenne ich, es ist idyllisch und beherbergt keine lauten Touristen. Man kann sich dort gut erholen«. Das war es. »Übrigens, ehe ich es vergesse, mein Vater bittet sie, morgen unbedingt ins Geschäft zu kommen. Er wird aus dem Krankenhaus entlassen und lässt sich von dort aus sogleich in sein Büro bringen. Es sei sehr wichtig, sagt er. Wir sehen uns dann sowieso abends beim Nachtmahl.«

So geht das Geplauder noch einige Zeit weiter, bis Kessler sich hin und her gerissen verabschiedet. Germenstein und die Lustreisen, denkt er zwiespältig.

Stilvoll wird er mit der Edelkarosse vom Chauffeur zurückgebracht. Die Polster aus hellgrauem Leder hat man an den Kanten mit einem feinen weinroten Streifen abgesetzt. Im Fond kann man die Beine bequem ausstrecken. Eine lautlose Klimaanlage sorgt für eine angenehme Temperatur. Leise, klassische Musik dringt aus unsichtbaren Boxen an sein Ohr. Manche Teile der Innenausstattung fertigte der Hersteller in Groß Britannien aus hochglanzpoliertem französischem Wurzelholz an. Mit schmalen Chromleisten ist man sparsam und effektvoll umgegangen. Den Fahrgastraum trennt eine Scheibe vom Sitz des Lenkers ab. Eine flüsternde Maschine treibt das Gefährt kraftvoll an. Vorne auf der Haube prangt die berühmte Emmy.

Ein Chinese sitzt als Kraftfahrer auf einem Kissen hinter dem Steuer. Er trägt eine hellgraue Uniform, die ebenfalls mit einem schmalen weinroten Streifen abgesetzt ist. Auch die Mütze hat die gleiche Farbe wie der Wagen und die Livree. Graue Lederhandschuhe schützen das Lenkrad. Einen Tag sinnlos vergeudet, denkt er missmutig, aber er wird sich noch wundern.

Das Frühstück nimmt er am nächsten Morgen schon früh. Er bekleidet sich mit einer kurzen Sporthose und einem T-Shirt, schützt sich mit einer leichten Leinenmütze gegen die unbarmherzige Sonne und geht mit nackten Füßen in Sandalen auf den Markt. Das Erlebnis will er sich nicht entgehen lassen. Auf diesem Handelsplatz in Bangkok lernt man unendlich viele Gemüse, Kräuter und Gewürze kennen und riechen. Mit etwas Aufmerksamkeit erfährt man ein paar Handelstricks. Auf den Kanälen schwimmen kleine Boote, aus denen die Verkäuferinen die Waren anbieten. Dieses Bild erinnert ihn unwillkürlich an Venedig. Soeben entdeckt er eine betagte Thailänderin, die ihren Fahrer mitbrachte. Er trägt die Einkaufskörbe an einem Querholz auf dem Nacken. Vom Ufer dirigiert sie mit ihrem Stock die Boote zu sich, wählt Gemüse und Früchte von einem Schiffchen und Blumen von einer anderen Barke. Danach entdeckt sie ein Boot mit Porzellan und ihr Träger wird von ihr mit zwei schweren Vasen beladen. Humpelnd erreicht sie ein Boot mit Bananen und wählt umständlich einige aus. Dann verliert Kessler sie aus den Augen.

Ein Mann kauft Obst, Gemüse und Gewürze. Er hat ein kleines Mädchen an der Hand. Um ihr eine Freude zu machen, winkt er eine Barke herbei, die Süßigkeiten verkauft. Die Kleine springt vor Begeisterung hin und her, als sie eine rote Lutschstange erhält. Dankbar schauen zwei schwarze Augen zu ihrem Vater auf.

Kessler liebt Kinder und lächelt.

Er kauft zwei Blumengebinde, ein bescheidenes für Shu Qi und ein aufwendigeres für ihre Mutter, denn es steht noch der Besuch bei Herrn Shu bevor, der aus dem Hospital entlassen werden soll.

Im Hotel kleidet er sich um. Er achtet penibel auf europäischen Chic, grauen Anzug mit passender Weste und Uhrkette, dezent grau gestreiftes Hemd mit Manschetten für erlesene Goldknöpfe, hellrot einfarbige Krawatte mit winziger Rubinnadel und passendes Tuch für das Jackett. Dann lässt er sich in die Schleiferei fahren.

Erst jetzt während der Fahrt überlegt er, was in den kommenden Stunden auf ihn zukommen könnte. Den ersten kapitalen Fehler beging er bereits, als er sich gegenüber der Tochter ziemlich unhöflich benahm, weil er sie nicht gleich in seine allzu geheim erklärten Aufzeichnungen einbezog. Er bereut seine offensichtliche Arroganz zutiefst.

Shu Qi begrüßt ihn wieder Erwarten besonders herzlich und freut sich über den geschmackvollen Strauß, den Kessler für sie aussuchte. Zusammen begeben sie sich hinauf in die oberste Etage und zu Shu´s Büro. Der empfängt den Gast ebenso herzlich, verbleibt unterdessen aber in seinem Sessel und entschuldigt sich für die Unhöflichkeit, seinem Retter nicht angemessen entgegentreten zu können.

»Eigentlich gehört er noch ins Bett«, bemerkt Shu Qi. Jan erkennt die Schmerzen, die jener eisern unterdrückt. Ihr Vater bittet Shu Qi, sie allein zu lassen.

Was hat das zu bedeuten, orakelt Jan und wendet sich etwas verunsichert, aber erwartungsvoll dem Geretteten zu. Herr Shu kommt sogleich zur Sache und wünscht, dass Kessler sich eine große Partie Saphircabouchons ansieht. Voller Erstaunen öffnet dieser das dargereichte gefaltete Päckchen, etwa so breit wie ein Briefumschlag. Braunes, geöltes Packpapier nimmt man gerne, um eine so große Menge Steine aufzubewahren. Innen ist der Steinbrief mit weißem Gegenpapier, dem Inlett, ausgelegt. Herr Shu reicht ihm ein Holztablett, das auch mit neutralem Papier ausgekleidet ist. Jan lässt die Steine aus dem Pergament auf das Tablett rutschen. Er bekommt schnell einen Einblick in die Ware.

Es sind muglig geschliffene Saphire von auffallend schöner Farbe. Die Objekte kommen ausnahmslos aus Ceylon, erkennt er auf Anhieb. Einzeln wiegen sie zwischen ein und drei Karat. Kessler sortiert sie mit der Kornzange grob vor und vertieft sich in den einzigartigen Anblick. Er beginnt zu rechnen. Runde, ovale, tropfenförmige, abgerundete Vierecke und Dreiecke hat man mit feinstem Finish versehen. Hier sieht er wirklich außergewöhnliche Qualität. Nach langem Schweigen ergreift Herr Shu das Wort und raunt sichtlich angegriffen: »Das sind dreihundertvierundsechzig Karat Cabouchons, im Auftrag für einen Amerikaner gearbeitet. Dieser hat die Hälfte des Preises angezahlt und vor acht Tagen telegrafisch abgesagt. Sicher kann man die meisten Steine facettieren, aber der Schleifverlust und die Arbeit fressen die Anzahlung auf. Ich neige nicht dazu, Edelsteine zweimal zu schleifen. Was meinen sie, kann man diese Partie im Ganzen vermarkten?«

Kessler fühlt sich geschmeichelt und wiegt den Kopf bedächtig. Was will der Shu von mir? Will er mich prüfen, und wenn, wozu? Oder will er die Partie ernsthaft verkaufen? Wie konnte es passieren, dass ihm ein Amerikaner die Partie nicht abgenommen hat? Warum gibt er zu, dass ihm ein solcher Fehler unterlief? Ich glaube, dass er mich prüfen will, ob ich in der Lage bin, eine solch besondere Kommission überhaupt zu beurteilen, geschweige denn zu verkaufen.

Kessler verzieht seine Miene und äußert skeptisch: »Cabouchons sind nicht in Mode. Die Partie ist unsortiert und viel zu groß. Wenn man sich über dreihundert Karat dieser Steine ans Lager legen wollte, müsste der Preis extrem niedrig sein. Zusätzlich sollte der Zins des mindestens vier Jahren brachliegenden Kapitals berücksichtigt werden. Sie muten mir eine erstaunliche Kompetenz zu, und wenn sie mich mit der Vermarktung betrauen würden, zusätzlich ein schweres Stück Arbeit, Herr Shu, aber wenn das ihr Ernst ist, will ich mich bemühen. Kann ich von hier aus Faxen?«

Sichtlich erstaunt und fast überrumpelt erwidert er ihm: »Ja natürlich, ich gebe Ihnen das Büro von Shu Qi, da sind sie ungestört.«

»Vielen Dank für das Vertrauen, das ist sehr gut, dann kann sie mir gleich helfend zur Hand gehen. Jedoch zuvor, Herr Shu, was ist ihr äußerster Abgabepreis per Karat für die Partie«?

»Darüber dachte ich noch nicht nach«.

In meinem Innersten traue ich diesem Deutschen gar nicht zu, die Steine zu vermarkten. Doch ich will nichts unversucht lassen. Ich nenne ihm einen extrem niedrigen Preis in US $, um ihm zu helfen. Ich will den Ärger endlich loswerden.

Erstaunt registriert Kessler die Bereitschaft des Händlers, die Ware unbedingt zu diesem Preis verkaufen zu wollen. Das ist eine äußerst günstige Gelegenheit, mein Ansehen bei diesem wichtigen Asiaten zu verbessern. Er erhebt sich und geht hinüber ins Büro zu Shu Qi und überlegt: Vielleicht können wir in unserer Einkaufsgruppe eine kleine Extra-Schmuckkollektion mit Cabouchons einrichten. Aber den Rest der Steine muss ich bei anderen Steinhändlern und Herstellern unterbringen. Der Preis ist sensationell günstig. Aus seinem kleinen Büchlein notiert er sich drei Adressen und lässt seine charmante <Bürogehilfin> zwei Faxe schicken. Danach ergreift er den Telefonhörer. Die Verbindung ist schnell hergestellt, und er spricht mit einem Steinhändler in Zürich.

»Hallo, Herr Eggi, hier ist Kessler in Bangkok. Wie geht es Ihnen, haben sie einen Moment Zeit für mich, ich fasse mich ganz kurz.«

»Na sicher, schießen sie los, mein Lieber aber was machen sie in Bangkok?«

»Mir wird eine Charge Saphircabouchons angeboten, die für mich zu groß ist. Es handelt sich um erstklassige Ware zu einem sensationell günstigen Preis.«

Die Experten besprechen kurz die genaue Beschaffenheit der Steine. Den Abgabepreis gibt Jan auf Anfrage in Buchstaben verschlüsselt durch.

»Oh Gott, so günstig, kann das denn sein«, fragt Eggi ungläubig zurück.

»Der Preis ist OK«, mogelt Kessler »deshalb habe ich gleich an Sie gedacht,« Jan weiß, dass Herr Eggi ein Pfennigfuchser ist.

»Na ja, ich hatte bisher immer Glück mit ihren Empfehlungen. Der Schliff ist zwar nicht aktuell und die Ware wird nur langsam abfließen, aber dafür kaufe ich definitiv einen Abschnitt von etwa achtzig Karat aus der Partie.«

»OK, wenn die Steine in Europa sind, treffen wir uns und schneiden ab. Vielen Dank, salü Herr Eggi«

»Salü, Herr Kessler, und schaffen sie nicht zu viel an, ich will ihnen auch noch etwas verkaufen.«

Jan kontert: »Ja, natürlich, aber ihre Stärken sind doch Turmaline aus Afrika und Brasilien.« Beide lachen und Kessler legt auf.

Er ruft einen Händler aus Hanau an, der auch für ein Angebot in Frage kommt. Den Geschäftsfreund kann er wider Erwarten jedoch nicht für einen kleineren Abschnitt begeistern.

»Cabouchons sind nicht in Mode, vielen Dank«, gibt er als kurze Antwort zu bedenken.

In der Zwischenzeit ist ein Antwortfax aus Italien eingetroffen.

Es heißt auf Italienisch: ich nehme einhundert karat, manfredi.

Das macht Jan und seine Gehilfin zuversichtlich.

Danach kommt die Absage eines großen Schmuckherstellers und Kessler sieht seine Felle plötzlich schwimmen. Wen kann ich noch für diese günstigen Steine begeistern? Ich will diese Partie vermarkten, mein Renomé steht auf dem Spiel. Scheitern kommt nicht in Frage, denkt er.

Aus seinem schlauen Büchlein notiert er noch zwei Adressen. Zunächst kommt postwendend eine Absage aus Italien.

Nach einigen Minuten jedoch klingelt das Telefon und man verlangt Herrn Kessler.

»Hallo, Herr Kessler, hier ist Bernhard Lux, vielen Dank für ihr Fax, aber ich vermute, sie haben sich im Preis vertan«.

»Nein, nein, der Preis ist in Ordnung, deshalb dachte ich gleich an Sie, weil ich weiß, wie wichtig Ihnen ein extrem günstiger Preis ist«.

»Ah ha, so werde ich also in der Branche beurteilt«. »Die Partie ist für mich zu groß«, gibt Kessler zu bedenken.

»Jetzt glaube ich Ihnen das sogar, sie Schlauberger, also dann nehme ich einen Abschnitt von etwa sechzig Karat.«

»OK, ich melde mich, wenn die Steine in Deutschland sind, aber was haben sie mit den Steinen vor?«

»Ich mache eine Cabouchonkollektion, die hat keiner, und warum soll ich nicht der Erste sein.« Kessler antwortet ihm nachdenklich: »OK, ich melde mich, wenn die Ware bei mir eintrifft.« Der Fabrikant kontert: »Ja, dann komme ich mit einer Vorlage und kann hoffentlich auch an sie meine Ware verkaufen, adieu Herr Kessler.« Die Verbindung ist unterbrochen. Dieser Pfiffikus, denkt er, koppelt wie ein Lux sogleich einen Vorteil mit einem Weiteren. Jan jubelt innerlich und sagt laut: »Jetzt sind alle Steine zu Geld gemacht.« Shu Qi schaut auf und ist begeistert. Herr Shu hört nebenan ihren Jubelschrei.

»Ich habe die Partie verkauft«, triumphiert er, als er mit Shu Qi in das Chefbüro zurückkehrt. Shu strahlt trotz seiner körperlichen Beschwerden vor Freude über das ganze Gesicht. Überschwänglich bittet er Jan heran, schüttelt die Hand des Glücklichen und dankt ihm: »Dieses Geschäft hat mich von Anfang an geärgert und ließ mich nachts nicht mehr ruhig schlafen. Ich habe mich in der ganzen Welt bemüht, die Steine an den Mann zu bringen, aber ohne Erfolg. Ehrlich gesagt, ich traute es Ihnen überhaupt nicht zu, so erfolgreich zu sein und wollte Sie testen. Herzlichen Glückwunsch und noch einmal vielen Dank.«

Kessler stellt fest: Donnerwetter, konnte ich doch diesen mit allen Wassern gewaschenen Asiaten Shu mit Gewitztheit übertrumpfen.

Shu Qi beugt sich zu ihm herunter und flüstert. »Nun haben sie bei meinem Vater einen dicken Stein im Brett.«

Kessler gibt zur Antwort: »Wenn man selbst von einer Sache überzeugt ist, fällt es leichter, andere dafür zu gewinnen. Die erste Zusage ließ mich hoffen und intensiv weitermachen.« Er denkt bei sich: Man muss wissen, dass nur im deutschsprachigen Raum, in Italien und Frankreich dieser Schliff beliebt ist. Jan bespricht mit Herrn Shu die Einzelheiten der Bezahlung, den Versand nach Deutschland. Nach einer Tasse chinesischen Tee verabschiedet er sich von ihm und dessen Tochter. Sie registriert wohl, dass Kesslers Interesse am Geschäft dem an ihrer Person überwiegt.

Spät nachmittags holt ihn die Limousine erneut zu der Einladung zum Dinner vom Hotel ab. Die Familie bewohnt außerhalb der Stadt einen architektonisch beachtenswerten Bungalow im thailändischen Stil. Er besteht aus Holz und ist mit teilweise kunstvoll geschnitzten, bemalten Galerien versehen. Das Dach hat man schwungvoll gestaltet und mit bunten Ziegeln gedeckt. Das Domizil steht in einem Park, in dem hohe Palmen Schatten spenden. Riesige blühende Rhododendronbüsche verströmen dezenten Duft. Garten und Haus sind geschmackvoll aufeinander abgestimmt und nehmen Kesslers Aufmerksamkeit gefangen. Die kosmisch anmutende Harmonie überzeugt durch professionelle Gestaltung.

Shu Qi empfängt ihn bewusst kühl in einem smaragdgrünen, langen eng anliegenden Kleid mit goldener Stickerei, welches hochgeschlossen und bis fast an die Hüfte einseitig geschlitzt ist. Es hat einen Stehkragen und kurze Ärmel. Der Gast lässt sich von ihrer Erscheinung ganz in Anspruch nehmen und braucht einige Zeit, die für ihn unerwartet starken Eindrücke zu verarbeiten.

Etwas verlegen streckt er beide Arme nach vorn und überreicht lächelnd zwei aparte Blumengebinde: »Einen für die Dame des Hauses und einen für sie.«

Frau Shu wartet im Hintergrund und bedankt sich im Näherkommen. Sie heißt ihn herzlich willkommen. Jan übersieht das Interesse dieser Frau am Zustandekommen einer Verbindung ihrer Tochter mit dem weltgewandten Europäer völlig.

Das Gebäude ist für den Ankömmling ein Traum. Über eine breite Freitreppe erreicht man die Veranda und durch die geöffnete Schiebetür, die Halle, welche man großzügig mit Teppichen ausgelegt hat. Auf einem erhöhten Podest steht ein langer Esstisch mit acht gepolsterten Stühlen. Ein filigraner, netzartig geschnitzter Paravan teilt eine intime Sitzgruppe ab. Aus einem der Sessel erhebt sich Herr Shu noch etwas mühsam und bietet Kessler einen Platz an. Sehr bewegt durch die starken Eindrücke lobt der Gast das Anwesen. Herr Shu antwortet ihm: »Wenn wir tagsüber schwer arbeiten, nutzen wir es abends zum Entspannen.

Meine Frau und Shu Qi geben sich die größte Mühe, unser Zuhause so behaglich wie möglich zu machen. Hier fühle ich mich geborgen und wohl. Ich freue mich, dass es ihnen auch gefällt.«

»Oh, ihr Zuhause vermittelt Impressionen wie aus einem Märchen«, bemerkt der Gast anerkennend.

Frau Shu lacht: »Vielleicht übertreiben sie, mein Guter, aber ich möchte nicht ausschließen, das Märchen auch für sie wahr werden könnten«. Auch diesen zarten Hinweis überhört Jan in seiner geschäftigen Abwesenheit.

Herr Shu bietet Kessler mit seiner gesunden Hand einen Longdrink an und sie unterhalten sich über Hausbau, Gemütlichkeit und darüber, dass Bangkok wettermäßig im Tropengürtel mit hoher Luftfeuchtigkeit liegt. Dieser Umstand verlangt vom Architekten eine völlig unterschiedliche Bauweise und den Einsatz anderer Materialien, als man es aus Europa kennt.

Beide vertiefen dieses Thema und werden nach einer geraumen Zeit durch die Damen unterbrochen, die zu Tisch bitten. Die auserlesenen Speisen werden mit wunderschön verzierten Stäbchen angeboten. Kesslers feiner Gaumen wird an diesem Abend mit unnachahmlichen Freuden verwöhnt. Kleine gekochte Krabben mit in Streifen geschnittenem Gemüse wechseln sich mit kross gebratenem Hähnchenfleisch ab. Dieses wird jedoch erst ein Hochgenuss, wenn man es in eine rote süß/saure Soße tunkt. Ein in feinem Sesamöl gerösteter großer Fisch folgt. Der dazu gereichte trockene deutsche Weißwein aus Franken rundet den Genuss ab. Einige für den Gast undefinierbare gesottene Fleischstückchen würzen die Zufriedenheit des Europäers. Auf Nachfrage erklärt Shu Qi, dass es sich um eine Art thailändischen Hasen handelt. Die verschiedenen süßen Nachspeisen kann Kessler nur noch in kleinsten Portionen genießen. Er hat sich von den aufeinander folgenden Hochgenüssen zu sehr verführen lassen. Dieses Abendessen wird er nicht vergessen.

Herr Shu nimmt seinen Gast nach Aufheben der Tafel beiseite und geht von Schmerzen geplagt in den Park hinaus zu einer Bank. Beide setzten sich. Auf einem kleinen Beistelltischchen steht ein Kistchen Sumatra-Zigarren, die der Gastgeber anbietet. Jan ergreift die Gelegenheit, schneidet die noch unberührte Spitze perfekt ab und entzündet sie mit einem bereitstehenden Streichholz. Der frische Duft des ausgesucht würzigen Sumatratabaks zieht an ihnen vorbei. Shu hat die Angewohnheit, die oft hartnäckige Verbissenheit von Gesprächspartnern mit solchen Ritualen zu unterlaufen. Später folgen sie wie hypnotisiert der Eleganz des Zigarrenrauchens. Deshalb fragt er ihn nun direkt: »Ich möchte Sie näher kennen lernen, wollen sie mir etwas von sich anvertrauen?«

Kessler zieht wohlüberlegt den Rauch an und gibt ihn bedächtig durch die Nase ab. Wozu will er private Angelegenheiten von mir wissen? Wie viel darf ich von mir preisgeben? Was will der Kaufmann mit meinen persönlichen Geheimnissen anfangen?