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Kommissarin Petrozzi verfolgt einen Serienmörder in Berlin-Spandau zur Zeit der Sechzigerjahre. Der Täter ist offensichtlich hörempfindlich und mordet nur, um den Lärm zu zerstören. Dennoch ist er gefährlich und muss gestellt werden. Nach einer Verfolgungsjagd kommt es oben im Dachstuhl der St. Nikolai-Kirche zu einem Zweikampf mit tödlichem Ausgang. Wer wird dieses Duell gewinnen?
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Veröffentlichungsjahr: 2018
Der Gong
Ein Berlin-Spandau-Krimi
Kriminalroman
von Rainer Borsche
- - - Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer - - -
Das erste Opfer war der Leierkastenmann.
Milena S. Petrozzi musterte die zusammengekrümmte Leiche. Die Kommissarin rieb sich die Nase. Zwei Spurensicherer knieten neben dem Leichnam und untersuchten ihn nach verwertbaren daten. Der Leierkasten lag einige Meter daneben, umgeworfen und zertrümmert. Petrozzi erkannte die zerschmetterten Walzen und das zerstörte Drehwerk. Warum sollte jemand so etwas tun? Der ganze Vorfall erschien ihr sinnlos. Sie drehte sich um; zog ihren Trenchcoat zusammen und stellte den Kragen hoch, da sie im scharfen Herbstwind fröstelte.Schließlich hatten sie schon Oktober und der War gar nicht so golden. Karl Rahm, ihr Kollege, kam auf sie zu, zwei Pappbecher in der Hand. Sie roch den Duft des heißen Kaffees. Karl war immer gut im Organisieren von irgendwelchen nützlichen Dingen, deshalb schätzte sie ihn als professionellen Kollegen. Er sah sie fragend an und gab ihr den Becher, den sie dankend nahmSie schloss dir durchfrorenen Finger um den Rand. Die heiße Pappe war genau richtig, um ihre gefrorenen Hände wieder aufzuwärmen. Sie hob den Becher an den Mund und trank einen Schluck des heißen Gebräus, das auch ihr Inneres wieder auftaute.
„Wer ist das gewesen? Was ist hier los!“, fragte Karl, doch sie konnte nur die Achseln zucken. „Ein Straßenmusiker. Vielleicht hat irgend Jemandem sein Gedudel nicht gepasst … und der ist dann ausgerastet.“ Karl trat einen Schritt näher heran, hütete sich jedoch, die Leichenbeschauer und Spurenleser bei ihrer Arbeit zu stören.
Es war acht Uhr morgens in der Spandauer Altstadt an einem Montag. Sie befanden sich seitlich vom Markt in einer kleinen Seitengasse und alles war noch leer. Wenige Menschen unterwegs, noch dazu bei diesem kalten Wind. Ein Zeuge hatte die Leiche gefunden. Ein Geschäftsinhaber aus einem Laden in der Nähe. Er war bereits vernommen worden. Laut Protokoll hatte er den Korpus um halb sieben gefunden und sofort erkannt, was geschehen war und dass der Mann tot sein musste. Schnell hatte er die Polizei alarmiert. Komissarin Petrozzi war ohnehin gerade in der Nähe gewesen, da sie später am Tag noch einen Vortrag in der Akademie abhalten wollte, die gleich hinter der Altstadt aufragte. Nun war ihr der Tag erst einmal versaut. Sie drehte sich herum; die zwei Spurenleser verstauten gerade ihre Instrumente und Müll stand auf und sah sie an; das war der kompetente Leiter der beiden Männer. „Ist alles erledigt!“, sagte er lakonisch auf ihre fragende Miene hin. „Klarer Fall von Mord oder Totschlag. Schädelbruch mit einem harten Gegenstand. Schräg von hinten ausgeführt. Vermutlich ein Rechtshänder. Männlich wegen der Kraft, Größe wohl um ein Meter achtzig. Kräftiger Kerl. Mordwerkzeug vermutlich eine der Walzen, denn eine scheint zu fehlen.Der Täter hat sie nach der Tat mitgenommen, warum auch immer. Vielleicht als Andenken, vielleicht, um die Tatwaffe verschwinden zu lassen. Keine Fingerabdrücke, keine Fußspuren. Ein Nichtraucher und auch sonst haben wir nicht allzuviel. Ich schätze aber, es muss ein noch recht junger, kräftiger Kerl sein. Frauen kommen definitiv nicht in Frage bei der Schlagwucht. Der Hieb wurde schräg von oben geführt und es wurde dann mehrmals zugeschlagen.Recht manisch. Tatzeit muss gestern Abend gewesen sein, schätze ‚mal so gegen zehn mit den üblichen zwei Stunden Spielraum plus minus für erkaltende Körper, sie wissen ja ... Ich nehme an, der Rentner war bereits auf dem Heimweg. Warum der Leierkasten kaputtgemacht wurde? Keine Ahnung, vielleicht ein Racheakt ...“ Petrozzi nickte. Ihr feuerrotes Haar wippte. „Oder jemand mochte diese Art von Musik nicht ...“, murmelte sie. Ihr italienischer Akzent kam wieder durch, doch sie konnte bereits ganz gut deutsch, immerhin war sie nun bereits fast ein Jahr im Austausch in West-Berlin. Müll nickte ihr zu und setzte seinen Hut auf. „Ich lasse Ihnen den Abschlussbericht dann nachher zukommen. Der hier kommt jedenfalls ins Leichenschauhaus!“ Er grüßte und verabschiedete sich. Petrozzi hörte die Schritte auf dem Kopfsteinpflaster des Marktes; eine Autotür klappte, dann schnurrte der VW-Motor auf und der Wagen fuhr an.
Sie drehte sich herum. „Vortrag gestrichen!“, sagte sie, fast wütend. „Auf ins Büro! Ein Mord wird aufgeklärt!“
Karl Rahm neben ihr nickte und zog die Brauen nach oben: „Hoffentlich ...“, murmelte er. „Du weißt ja, wenn es nicht schnell geht, dann geht es gar nicht! Was denkst Du? Welches Motiv hatte der Täter?Ein Raubmord war es jedenfalls nicht. Das Geklimper ist noch in der Schale und die Brieftasche wurde auch nicht angerührt. Immerhin hatte der Rentner fast hundert Mark dabei.“
Petrozzi dachte noch gar nichts. Bis jetzt war alles zu vage. Noch konnte sie keine Spur aufnehmen, konnte kein Muster wittern hinter den Geschehnissen. Sie schüttelte daher nur stumm den Kopf und ging zum Wagen zurück, der auf dem Marktplatz parkte. Inzwischen hatten sich bereits einige Schaulustige eingefunden, doch die Schupos hatten den Ort weitläufig mit Absperrband umstellt und das Publikum hielt sich respektvoll zurück. Drei blaufarbene Schutzmänner halfen dabei, indem sie die Absperrung patrouillierten. Petrozzi nickte den behelmten Polizisten zu und stieg in den Wagen. Sie hatte viel Achtung vor der Dreckarbeit, die zu Fuß geleistet werden musste. Ihr Onkel war selbst bei der Schupo gewesen. Sie selbst war Kriminalerin geworden. Nach dem Krieg waren viele Plätze vakant, so dass auch Frauen in höhere Positionen gelangen konnten, wenn sie professionell genug waren. Immerhin schrieb man jetzt 1965, das Wirtschaftswunder war noch in Gang und es ging allgemein aufwärts. Hie und da stand noch eine Ruine herum, doch die Stadt konnte sich bereits wieder sehen lassen, nicht nur auf dem Kurfüstendamm. Auch der Mauerschock von vor vier Jahren war bereits so gut wie überwunden. West-Berlin hatte sich darauf eingestellt, eine Insel der freien Welt zu sein, umgeben vom real existierenden Sozialismus mit seinen Schutzzäunen, Minenfeldern und Stacheldrahtabsperrungen. Aber RIAS, AFN und Radio freies Amerika hielten ihre Stimmen der Freiheit hoch.
Rahm stieg schnaufend neben ihr ein und ließ den VW anspringen. Eigentlich hatten sie ja einen Opel als Dienstwagen, aber der war gerade in der Prüfung zum Jahres-TÜV, da mussten sie eben den kleinen Käfer nehmen. Kaffer, wie Rahm als Berliner immer sagte. Karl Rahm fuhr an, drehte an der Einmündung in den Markt ab, fuhr langsam die Carl-Schurz-Straße hinunter, vorbei an der großen Kirche und näherte sich der Zitadelle. Dann drehte er nach links ab und bog flink zum Polizeibüro ein.
Zwanzig Minuten später waren sie im Kontor uns saßen hinter ihren Schreibtischen. Milena S. Petrozzi dachte über den soeben gemeldeten Mord nach. Wer konnte dahinter stecken? War es nur eine lokale Angelegenheit? Die meisten Opfer kennen ihre Mörder; diese kommen fast immer aus dem lokalen Umfeld.Freunde, Verandte, Partner oder Arbeitskollegen. Irgendwie spürte sie, dass es diesmal nicht so war; dieser Fall war anders.
Sie sah Rahm an. Der stützte sich vor ihr mit dem Ellenbogen auf seinen Schreibtisch, den Kopf in der Hand. „Was meinst Du?“ fragte er, gähnte plötzlich und ließ eine Thermoskanne sehen, die er aus dem Schreibtischfach neben ihm fischte. „Kaffee?“, fragte er, als er den Deckel aufschraubte. Milena sagte nicht nein, denn sie konnte durchaus noch einen Schluck von dem heißen Gebräu gebrauchen. Das würde ihr dabei helfen, die kleinen, grauen Zellen auf Trab zu bringen. Karl reichte den gefüllten Deckel hinüber, der auch als Trinkbecher diente. Dankbar schlürfte Petrozzi das heiße Getränk und dachte nach. Es gefiel ihr nicht wirklich, was dabei herauskam. Sie stellte den Becher abrupt ab, als ihr eine Idee kam. Mit schnellem Griff langte sie nach dem schwarzen Telefon, das neben ihr stand und wählte eine Nummer: „Archiv!“, meldete sich eine müde, etwas gelangweilt klingende Stimme.
„Petrozzi hier, Büro drei. Ich brauche ‘mal die Daten der letzten Morde hier in der Stadt aus den vergangenen … sagen wir sieben Tagen. Ist das machbar? Ich meine natürlich ganz Berlin.“ Sie wusste, dass die Spandauer mit der „Stadt“ meistens nur den Bezirk verbanden. Deshalb war Klarheit von Nöten.Ein Hüsteln ertönte am anderen Ende der Leitung. „Klar. Die Daten kommen zu Ihnen herauf. Dauert nur zehn Minuten, bis ich sie geordnet habe. Ich schicke sofort den Botenjungen!“ Eigentlich sollte endlich eine Rohrpost in das alte Gebäude eingebaut werden, aber das war Zukunftsmusik. So mussten sie sich eben im Kommissariat des dritten Reviers mit den Büroboten zufrieden geben.
Petrozzi bedankte sich und legte auf. Rahm sah sie gespannt an: „Sie glauben, das ist eine Serie?“, fragte er überlegend. Petrozzi nickte stumm. Dann bequemte sie sich doch zu einigen Worten: „Könnte sein. Das werden wir ja sehen, wenn die Informationen aus dem Archiv vorliegen!“ Sie hob den geborgten Thermosbecher und trank noch einen Schluck. Schon klopfte es an der Tür. Ein Botenjunge trat auf ihre Aufforderung hin ein. Er trug eine dünne Kladde, die er ihr wortlos reichte. Nachdem die Tür wieder zugeklappt war, schaute Petrozzi in den Hefter. Es war nur eine einzige Seite. Drei Morde waren verzeichnet. Erstaunlich wenig bei einer Bevölkerung, die fast anderthalb Millionen betrug.Aber die Berliner waren eben recht zivilisiert. Sie las die Namen und die Erklärungen daneben. Zwei Fälle häuslicher Gewalt, bereits so gut wie geklärt. Ein Fall aus Reinickendorf, der andere aus Tempelhof.Der dritte Fall war wohl im Milieu der OK angesiedelt; ein Streit unter Zuhältern mit gezielter Messerarbeit in Schöneberg. Das war auch nichts. Enttäuscht ließ sie den Ordner sinken und schüttelte den Kopf. „Wir müssen warten ...“, sagte sie .Rahm neben ihr seufzte. Er wusste, dass sie Warten gar nicht mochte und dann immer besonders nervös war und auch zickig wurde. Er kannte seine Kollegin inzwischen ganz gut; ihre Zusammenarbeit funktionierte einwandfrei, aber manchmal war sie eben schwierig. Insbesondere dann, wenn es noch zu keinen Ergebnissen kam.Also wappnete auch er sich mit Geduld und sie schlugen sich den Rest des Tages mit Routinekram durch.