Der Gottkaiser des Wüstenplaneten - Frank Herbert - E-Book

Der Gottkaiser des Wüstenplaneten E-Book

Frank Herbert

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Beschreibung

Ich habe diese menschliche Gesellschaft geformt und über dreitausend Jahre damit verbracht, damit die gesamte Spezies endlich erwachsen wird.

Dreieinhalb Jahrtausende sind auf Arrakis vergangen, und die Welt hat sich gründlich gewandelt: Der ehemalige Wüstenplanet ist dank technischer Mittel eine grüne Oase geworden. Die einst so stolzen Fremen sind nur noch ein Schatten ihrer selbst, eine touristische Attraktion. Doch es gibt noch ein Stück Vergangenheit auf Arrakis, sorgfältig vor Feuchtigkeit geschützt: die Wüste Sareer. Dort lebt Leto II, der Sohn von Paul Muad’dib. Doch Leto ist kein Mensch mehr. Seit Jahrtausenden vollzieht sein Körper eine Wandlung, geht eine Symbiose mit dem Shai-Hulud ein. Er hat seine Menschlichkeit aufgegeben, um die Menschen zu retten, tritt jetzt als Gott auf und verlangt absolute Unterwerfung. Doch seine Gegner wissen, dass er verletzlich ist – und sie verfügen über die Waffen, um ihn zu vernichten …

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Seitenzahl: 794

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FRANK HERBERT

 

 

 

DER GOTTKAISER

DES

WÜSTENPLANETEN

 

DER WÜSTENPLANET

VIERTER ROMAN

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Titel der Originalausgabe GOD EMPEROR OF DUNE
Aus dem Amerikanischen von Ronald M. Hahn Überarbeitete Neuausgabe Copyright © 1981 by Frank Herbert Copyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Covergestaltung: Das Illustrat Satz: Thomas Menne
ISBN 978-3-641-13959-9 V004
www.penguinrandomhouse.de

 

Prolog

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Den Menschen, deren Beschäftigung über das Gebiet ›realistischer Projekte‹ hinausgeht; den Trockenland-Ökologen, wo immer sie wirken werden oder zu welcher Zeit, ist dieser Versuch einer Voraussage in Anerkennung und Verehrung zugeeignet.

 

 

 

Für Peggy Rowntree

mit Liebe und Bewunderung

und größter Wertschätzung

 

Auszug aus der Rede Hadi Benottos anlässlich der Bekanntgabe der Funde von Dar-es-Balat auf dem Planeten Rakis:

 

Es ist mir nicht nur eine Ehre, Ihnen an diesem Morgen von der Entdeckung dieses außerordentlichen Lagerhauses zu berichten, das unter anderem eine monumentale, auf ridulianisches Kristallpapier geschriebene Manuskriptsammlung enthielt, sondern ich bin außerdem auch stolz darauf, Sie mit unseren Argumenten bekanntmachen zu dürfen, die die Authentizität unserer Funde betreffen, und Ihnen sagen zu können, warum wir glauben, die Originalaufzeichnungen Gott-Kaiser Letos II. vor uns zu haben.

Zuerst möchte ich Sie noch einmal an den historischen Schatz erinnern, den wir alle unter der Bezeichnung Die gestohlenen Journale kennen; jene Bände aus bekanntermaßen uralter Zeit, die uns über Jahrhunderte hinweg ausgezeichnet dabei geholfen haben, unsere Vorfahren zu verstehen. Wie Sie alle wissen, wurden Die gestohlenen Journale von der Raumgilde dechiffriert – und die Methode des Gildenschlüssels wurde auch angewendet, um diese neuentdeckten Bände zu übersetzen. Niemand stellt die Altertümlichkeit des Gildenschlüssels in Frage, der – und zwar allein – die Übersetzung dieser Bände erlaubt hat.

Zweitens: Diese Bände wurden von einem ixianischen Wortprozessor uralter Machart ausgedruckt. Die gestohlenen Journale hinterlassen keinen Zweifel, dass es sich dabei um eine von Leto angewandte Methode handelte, um seine historischen Betrachtungen aufzuzeichnen.

Drittens – und wir glauben, dass dies mit der Entdeckung selbst auf der gleichen Stufe der Wichtigkeit steht – ist da das Lagerhaus selbst. Der Aufbewahrungsort für diese Journale ist unzweifelhaft ein ixianisches Artefakt von dermaßen einfacher und trotzdem außerordentlicher Bauweise, dass er mit Sicherheit neues Licht auf jene historische Epoche werfen wird, die wir als »Die Zersplitterung« kennen. Wie zu erwarten, war das Lagerhaus unsichtbar. Es war weitaus tiefer vergraben, als die Mythen und die mündlichen Überlieferungen uns hatten vermuten lassen, und es nahm Strahlung auf und absorbierte sie, um den natürlichen Charakter seiner Umgebung zu simulieren, eine mechanische Nachahmung, worüber man natürlich kaum überrascht ist. Was unsere Ingenieure jedoch in Erstaunen versetzte, war die Tatsache, wie man dies mit den rudimentärsten und absolut primitivsten mechanischen Tricks hinbekam.

Ich stelle fest, dass einige von Ihnen ebenso aufgeregt sind, wie wir es waren. Wir nehmen an, dass wir den ersten ixianischen Globus vor uns haben, den Nicht-Raum, aus dem sich all diese Gerätschaften entwickelten. Und wenn es nicht der erste sein sollte, so glauben wir, dass es sich zumindest um einen der ersten handeln muss, der auf den gleichen Prinzipien basiert wie der erste.

Ich möchte Sie bitten, Ihre offensichtliche Neugier etwas zu zügeln, aber ich versichere Ihnen, dass Sie in Kürze das Lagerhaus werden besichtigen können. Wir müssen Sie allerdings bitten, dass Sie im Innern des Lagerhauses absolute Stille bewahren, da unsere Ingenieure und anderen Spezialisten immer noch dort arbeiten und ein paar Rätsel zu lösen versuchen.

Was mich zu meinem fünften und möglicherweise wichtigsten Punkt unserer Funde bringt. Mit einem nur schwer zu beschreibenden Gefühl muss ich Ihnen jetzt eine weitere Entdeckung offenbaren, die wir an dieser Stelle gemacht haben: nämlich den Fund einiger echter mündlicher Aufzeichnungen, deren Aufschriften sagen, dass sie von Leto II. mit der Stimme seines Vaters Paul Muad'dib gemacht wurden. Da die authentischen Stimmaufzeichnungen des Gott-Kaisers in den Archiven der Bene Gesserit aufbewahrt werden, haben wir der Schwesternschaft einige Beispiele unserer Aufzeichnungen, die ausnahmslos mit Hilfe eines alten Mikroblasen-Systems entstanden, zugeschickt und darum gebeten, sie möge einen Vergleichstest vornehmen. Wir haben so gut wie keinen Zweifel daran, dass sich unsere Aufzeichnungen als authentisch herausstellen werden.

Und nun richten Sie bitte Ihre Aufmerksamkeit auf die übersetzten Exzerpte, die Ihnen beim Eintreten übergeben wurden. Lassen Sie mich die Gelegenheit nutzen, um mich bei Ihnen für das Gewicht zu entschuldigen. Ich habe gehört, dass einige von Ihnen darüber gewitzelt haben. Wir haben dieses gewöhnliche Papier aus einem rein praktischen – und ökonomischen – Grund verwendet. Die Originalbände sind mit dermaßen kleinen Symbolen beschrieben, dass man sie erst einmal vergrößern musste, um sie überhaupt lesen zu können. Tatsächlich würde es über vierzig gewöhnliche Bände jener Schrift erfordern, die Sie jetzt vor sich sehen, um auch nur den Inhalt eines ridulianischen Kristalloriginals wiederzugeben.

Wenn der Projektor jetzt ... ja. Wir projizieren nun einen Teil einer Originalseite auf den Schirm zu Ihrer Linken. Dies ist ein Ausschnitt der ersten Seite von Band eins. Unsere Übersetzung erscheint auf den Schirmen zu Ihrer Rechten. Achten Sie auf die innere Evidenz und die poetische Eitelkeit der Worte ebenso wie auf die Bedeutung, die die Übersetzung ihnen beimisst. Wir sind der Überzeugung, dass dies nur von jemandem geschrieben worden sein kann, der über die Erfahrung direkter Ur-Erinnerungen verfügte und nichts unversucht ließ, diese außergewöhnliche Erfahrung bereits gelebter Leben auch denen verständlich zu machen, die diese Gabe nicht besitzen.

Sehen Sie sich nun die tatsächliche Bedeutung der Worte an. Sämtliche Hinweise decken sich mit allem, was uns die Geschichte über jene Person überliefert hat, von der wir glauben, dass nur sie einen solchen Bericht verfasst haben kann.

Aber wir haben noch eine weitere Überraschung für Sie. Ich habe mir die Freiheit genommen, den prominenten Dichter Rebeth Vreeb dazu einzuladen, an diesem Morgen an unserem Gespräch teilzunehmen. Ich habe ihn gebeten, eine kurze Passage von der ersten Seite in unserer Übersetzung vorzulesen. Wir haben festgestellt, dass diese Worte sogar in der Übersetzung einen anderen Charakter annehmen, wenn sie laut gelesen werden. Wir möchten, dass auch Sie einen Eindruck von der außergewöhnlichen Qualität bekommen, die wir in diesen Bänden entdeckt haben.

Meine Damen und Herren, heißen Sie Rebeth Vreeb willkommen.

 

 

Aus der Lesung von Rebeth Vreeb:

 

Ich versichere euch, ich bin das Buch des Schicksals.

Fragen sind meine Gegner. Denn meine Fragen explodieren! Antworten steigen auf wie ein verängstigter Vogelschwarm und verdunkeln das Firmament meiner unentrinnbaren Erinnerungen. Nicht eine Antwort, nicht eine, befriedigt.

Welche Prismen blitzen, wenn ich die schrecklichen Zonen meiner Vergangenheit betrete. Ich bin das Bruchstück eines zerschlagenen Feuersteins, eingeschlossen in eine Schachtel. Die Schachtel kreist und bebt. Ich werde in einen Sturm der Rätsel geworfen. Und wenn sich die Schachtel öffnet, kehre ich in diese Gegenwart zurück wie ein Fremder in ein primitives Land.

Langsam (langsam, sage ich) fällt mir wieder mein Name ein.

Aber nicht, um mich selbst zu erkennen!

Dieses Lebewesen, das meinen Namen trägt, dieser Leto, der der zweite ist, der so gerufen wird, entdeckt in seinem Geist andere Stimmen, andere Namen, andere Orte. Oh, ich verspreche euch (so wie auch mir versprochen wurde), dass ich auf viele Namen antworte. Wenn ihr »Leto« sagt, reagiere ich. Das Leiden macht dies wahr; das Leiden und noch etwas:

Ich ziehe die Fäden!

Sie gehören alle mir. Ich brauche mir nur eine bestimmte Sache vorzustellen, etwa ... Männer, die durch das Schwert starben ... Und dann habe ich sie alle vor mir, in ihrem Blut, sehe jede Faser, jede Grimasse, höre jedes Stöhnen.

Die Freuden der Mutterschaft, denke ich, und da sind sie, die Wochenbetten. Reihenweise lächelnde Säuglinge, das süße Gurren neuer Generationen. Die ersten Gehversuche der Kleinen und die ersten Siege der Jugendlichen – ich sehe und erfahre alles. Sie stolpern übereinander, bis ich kaum noch etwas anderes sehen kann als Gleichheit und Wiederholung.

»All das musst du intakt halten«, warne ich mich.

Wer kann den Wert solcher Erfahrungen leugnen – den Wert, in jedem Augenblick durch das, was ich sehe, etwas dazuzulernen?

Ahhh, aber das ist Vergangenheit.

Versteht ihr denn nicht?

Es ist nur die Vergangenheit!

1

 

Ich wurde heute morgen in einer Jurte am Rande einer von Pferden bevölkerten Ebene geboren – in einem Land auf einem Planeten, den es nicht mehr gibt. Morgen werde ich als jemand anders an einem anderen Ort zur Welt kommen. Ich habe mich noch nicht entschieden. Aber heute morgen – ahhh, dieses Leben! Als meine Augen zu sehen gelernt hatten, sah ich in den Sonnenschein und auf das niedergetretene Gras hinaus und sah robuste Menschen, die den herrlichen Aktivitäten ihres Lebens nachgingen ... Wohin – oh, wohin ist all diese herrliche Robustheit entschwunden?

 

Die gestohlenen Journale

 

 

Die drei im Mondschatten im Verbotenen Wald nach Norden laufenden Menschen verteilten sich über eine Fläche von fast einem halben Kilometer. Der letzte der drei lief weniger als einhundert Meter vor den sie verfolgenden D-Wölfen her. Man konnte die Tiere in ihrer Gier kläffen und keuchen hören, wie sie es immer taten, wenn ihre Beute in Sichtweite war. Da der Erste Mond genau über ihnen stand, war es im Wald ziemlich hell, und obwohl man sich in höherliegenden Breiten des Planeten Arrakis aufhielt, war es aufgrund des heißen Sommertages noch immer warm. Der nächtliche Luftzug aus der Letzten Wüste der Sareer führte Harzduft und den feuchten Atem des Waldbodens mit sich. Hin und wieder kam eine Brise vom Kynes-Meer, das jenseits der Sareer lag. Sie folgte den Spuren der Rennenden mit Salz- und Fischgeruch.

Es war eine Schnurre der Natur, dass der letzte Läufer auf den Namen Ulot hörte, was in der Sprache der Fremen »Heißgeliebter Nachzügler« bedeutet. Ulot war von untersetzter Statur und neigte zur Fettleibigkeit, weswegen er die Bürde des Diätlebens bei der Vorbereitung dieses Unternehmens hatte auf sich nehmen müssen. Obwohl er für ihren verzweifelten Lauf extra abgenommen hatte, war sein Gesicht rundlich geblieben. Seine großen, braunen Augen zeigten an, wie bedauerlich er es fand, zuviel Fleisch mit sich herumzuschleppen.

Ulot war sich völlig darüber im Klaren, dass er nicht mehr viel weiter würde laufen können. Seine Lungen keuchten und pfiffen. Dann und wann taumelte er. Dennoch schrie er seinen Gefährten nicht hinterher. Er wusste, dass sie ihm nicht helfen konnten. Sie hatten alle den gleichen Eid geschworen, weil sie wussten, dass es für sie keine anderen Verteidigungsmöglichkeiten gab als die alten Werte und die Zuverlässigkeit der Fremen. Dies war wahr geblieben, obwohl alles andere, das die Fremen betraf, jetzt Museumswert besaß – und man die alten Weisheiten von Museumsfremen lernte, die sie auswendig herunterleiern konnten.

Es war die fremenitische Loyalität, die Ulot sogar angesichts seines Untergangs schweigen ließ. Es war eine gute Zurschaustellung der althergebrachten Qualitäten, obwohl es gleichzeitig beschämend war, dass keiner der Läufer über ein Wissen verfügte, das über reines Bücherwissen und die einstmals mündlich überlieferten – nun aufgezeichneten – Legenden und Historien, die sie nun nachäfften, hinausging.

Die D-Wölfe waren Ulot dicht auf den Fersen; es waren riesige, graue Bestien, die beinahe die Schulterhöhe eines Menschen erreichten. Sie sprangen und winselten in ihrer Gier, hoben den Kopf und konzentrierten den Blick auf die vom Mond beschienene Gestalt ihres Opfers.

Ulots linker Fuß verhakte sich an einer Wurzel, und beinahe wäre er gestürzt. Dieser Zwischenfall gab ihm neue Kraft. Er beschleunigte sein Tempo und gewann etwa eine Wolfslänge an Vorsprung. Seine Arme schwangen vor und zurück. Er atmete geräuschvoll durch den offenen Mund.

Die Wölfe veränderten ihren Schritt nicht. Sie waren silberne Schatten, die wie geölte Blitze durch die intensiven grünen Gerüche ihres Waldes eilten. Sie wussten, dass sie gewonnen hatten. Es war eine bekannte Erfahrung für sie.

Ulot stolperte erneut. Ein junger Baum gab ihm sein Gleichgewicht zurück, und er setzte keuchend und schnaubend seine Flucht fort, während seine Beine aus Protest gegen seinen Willen zitternd rebellierten. Er hatte keine Kraft mehr, sein Tempo noch einmal zu erhöhen.

Einer der D-Wölfe, ein großes, weibliches Tier, scherte aus und näherte sich Ulot von links. Dabei schwenkte sie nach innen und sprang über seinen Pfad. Gigantische Fangzähne streiften Ulots Schulter. Sie brachten ihn zum Schwanken, aber er fiel nicht hin. Der beißende Geruch seines Blutes gesellte sich zu den Düften des Waldes. Ein kleiner, männlicher Wolf erwischte Ulot an der rechten Hüfte, und schließlich stürzte er mit einem lauten Schrei zu Boden. Das Rudel fiel über ihn her. Ulots Schreie verstummten abrupt.

Ohne anzuhalten, um sich die Bäuche vollzuschlagen, fuhren die D-Wölfe mit der Verfolgung fort. Ihre Nasen untersuchten den Waldboden und die unbeständigen Luftwirbel und witterten die warme Spur zweier weiterer rennender Menschen.

Der nächste Läufer, der an der Reihe war, hieß Kwuteg. Der Name war alt und ehrwürdig und stammte noch aus jenen Zeiten, als man Arrakis noch den Wüstenplaneten genannt hatte. Einer von Kwutegs Vorfahren hatte im Sietch Tabr als Meister der Todesdestillen gearbeitet, aber das war nun mehr als dreitausend Jahre her und verloren in einer Vergangenheit, an die viele nicht mehr glaubten. Kwuteg rannte mit langen Schritten, und er war groß und schlank und hatte einen Körper, der den Eindruck erweckte, als sei er speziell für derartige Situationen geschaffen worden. Seine adlerhaften Züge wurden von langem, schwarzem Haar umrahmt. Und wie seine Gefährten trug auch er einen schwarzen Laufanzug aus enganliegender Baumwolle. Der Anzug zeigte deutlich, wie seine muskulösen Oberschenkel arbeiteten, und offenbarte den tiefen und gleichbleibenden Rhythmus seines Atems. Nur seine Schritte, die für einen Mann wie Kwuteg eindeutig zu langsam waren, verdeckten die Tatsache, dass er sich das rechte Knie verletzt hatte, als er den von Menschenhand geschaffenen Steilhang heruntergelaufen war, der die zitadellenähnliche Festung des Gott-Kaisers in der Sareer umgab.

 

Kwuteg vernahm sowohl Ulots Schreie als auch ihr abruptes Verstummen. Dann fingen die D-Wölfe mit neuer Kraft an zu kläffen. Er tat alles, um seine Gedanken von der Tatsache abzulenken, dass schon wieder einer seiner Freunde von den monströsen Wächtern Letos umgebracht worden war, aber seine Phantasie war zu stark und schlug ihn in ihren Bann. Kwutegs Geist formulierte einen Fluch gegen den Tyrannen, aber er verschwendete keine Atemluft, um ihn auch noch auszustoßen. Er hatte immer noch die Chance, die Zufluchtsstätte am Idaho-Fluss zu erreichen. Kwuteg wusste, was seine Freunde von ihm dachten – selbst Siona. Man hatte in ihm stets einen Konservativen gesehen. Sogar als Kind hatte er seine Kraft stets bis zum Äußersten aufgespart. Er hatte mit seiner Energie stets hausgehalten – wie ein Knauserer.

Trotz des verletzten Knies beschleunigte Kwuteg seinen Schritt. Er wusste, dass der Fluss in der Nähe war. Die Verletzung hatte das Stadium periodisch auftretenden Stechens nun hinter sich, sein gesamtes Bein bestand nun aus einem unablässig brennenden Feuer. Er kannte die Grenzen seines Durchhaltevermögens. Und ebenfalls wusste er, dass Siona das Wasser fast erreicht haben musste. Da sie die schnellste Läuferin ihrer Gruppe war, trug sie auch das versiegelte Paket, in dem sich die Gegenstände befanden, die sie aus der Festung in der Sareer gestohlen hatten. Während er weiterlief, konzentrierte Kwuteg seine Gedanken auf das Paket.

Bring es in Sicherheit, Siona! Benutze es, um ihn zu vernichten!

Das gierige Heulen der D-Wölfe drang bis in Kwutegs Unterbewusstsein vor. Sie waren zu nah. Und allmählich wurde ihm klar, dass er ihnen nicht entkommen würde.

Aber Siona muss durchkommen!

Er riskierte einen Blick nach hinten und sah, wie einer der Wölfe ausscherte, um ihn von der Seite her anzuspringen. Er durchschaute das Muster ihres Angriffsplans. Als der von der Seite kommende Wolf seinen Sprung tat, sprang Kwuteg ebenfalls. Durch einen zwischen ihm und dem Rudel stehenden Baum geschützt, duckte Kwuteg sich, ergriff ein Bein des springenden Wolfs mit beiden Händen und wirbelte das verdutzte Tier ohne anzuhalten durch die Luft wie eine Keule. Die restlichen Verfolger spritzten auseinander. Dabei stellte Kwuteg fest, dass das Geschöpf leichter war, als er erwartet hatte. Er hieß die veränderte Lage beinahe freudig willkommen, schwang seinen lebenden Knüppel und schleuderte ihn mit aller Kraft dem Rudel entgegen. Zwei der Verfolger stürzten, Kwuteg hörte das Krachen aufeinanderprallender Schädel. Aber er konnte nicht alle Seiten decken. Ein magerer Wolf packte ihn von hinten und warf ihn gegen einen Baum. Der hilflose Wolf entglitt Kwutegs Händen.

»Lauf weiter!«, schrie er.

Das Rudel kam wie eine Springflut. Kwuteg packte die Kehle seines mageren Angreifers mit den Zähnen. Er biss zu, kannte keine Grenzen mehr. Wolfsblut spritzte über sein Gesicht und machte ihn blind. Ohne zu wissen, in welche Richtung er sich bewegte, stürzte Kwuteg sich auf einen anderen Wolf. Ein Teil des Rudels verwandelte sich in eine kläffende, herumwirbelnde Meute, und einige der Tiere gingen auf den Verletzten los. Der größte Teil des Rudels bewahrte jedoch Disziplin. Zähne rissen Kwutegs Kehle von zwei Seiten gleichzeitig auf.

 

Auch Siona hatte Ulots Schrei gehört und die anschließende Stille vernommen, der das Heulen der Wölfe gefolgt war, die ihren ersten Gegner zur Strecke gebracht hatten. Sie war von einer dermaßen starken Wut gepackt worden, dass sie beinahe explodiert war. Man hatte Ulot aufgrund seiner analytischen Fähigkeiten der Gruppe beigesellt, denn er konnte aufgrund weniger Fakten auf das Ganze schließen. Es war Ulot gewesen, der mit Hilfe seines unumgänglichen Vergrößerers die beiden seltsamen Bände untersucht hatte, die sie gefunden hatten und die die Pläne der Zitadelle enthielten.

»Ich glaube, es ist eine Geheimschrift«, hatte Ulot gesagt.

Und Radi, der arme Radi, der der erste ihres Teams gewesen war, der hatte sterben müssen ... Radi hatte gesagt: »Wir können uns nicht mit zusätzlichem Gewicht belasten. Schmeiß sie weg!«

Ulot hatte eingewandt: »Unwichtige Dinge werden aber im allgemeinen nicht versteckt.«

Kwuteg hatte sich auf Radis Seite geschlagen. »Wir sind wegen der Pläne der Zitadelle gekommen, und die haben wir nun. Diese Dinger da sind zu schwer.«

Aber Siona hatte mit Ulot übereingestimmt. »Ich werde sie tragen.«

Das hatte ihre Auseinandersetzung beendet.

Armer Ulot.

Jeder hatte gewusst, dass er der schlechteste Läufer der Gruppe gewesen war. Ulot war in allem ein langsamer Charakter, aber dass er ein intelligenter Bursche gewesen war, hatte nie jemand abgestritten.

Und er war vertrauenswürdig.

Ulot war vertrauenswürdig gewesen.

Siona unterdrückte ihren Zorn und benutzte dessen Energie, um ihr Lauftempo zu erhöhen. Im Mondlicht peitschten die Bäume an ihr vorbei. Sie befand sich jetzt in der zeitlosen Leere, in der für sie nichts anderes mehr existierte als ihre eigenen Bewegungen und ihr eigener Körper, der nur noch das tat, wozu er konditioniert worden war.

Die Männer bewunderten die Schönheit ihres Laufs. Siona wusste das. Sie hatte sich das lange Haar fest zusammengebunden, damit es sie beim Laufen nicht störte. Sie hatte Kwuteg einen Narren geschimpft, als er sich geweigert hatte, ihren Stil nachzuahmen.

Wo ist Kwuteg?

Ihr Haar war anders als seins. Es war von jenem tiefen Braun, das manchmal für Schwarz gehalten wird, aber es war nicht schwarz; ihr Haar hatte mit dem Kwutegs keinerlei Ähnlichkeit.

Wie es die Gene hin und wieder tun, kopierten Sionas Züge das Aussehen einer längst verstorbenen Ahnfrau: Ihr Gesicht war leicht oval, wies einen edel geformten Mund auf und zeigte über einer kleinen Nase wachsam-intelligente Augen. Ihr Körper war aufgrund ihrer langjährigen Laufpraxis geschmeidig geworden, aber auf die Männer in ihrer Umgebung hatte er eine stark sexuelle Ausstrahlung.

Wo ist Kwuteg?

Das Wolfsrudel hinter ihr war still geworden, und das machte Siona misstrauisch. Ebenso war es gewesen, bevor sie sich Radi gepackt hatten. Und auch als sie Setuse zwischen die Fänge nahmen.

Sie redete sich ein, dass die Stille auch andere Ursachen haben konnte. Kwuteg war still – und auch kräftig. Sie hatte den Eindruck gehabt, dass die Verletzung ihm nicht allzu viel zu schaffen machte.

Siona fühlte nun einen Schmerz in der Brust; einen Schmerz, der immer wieder kam und den sie nur allzu gut kannte, denn er trat bei sehr langen Übungsläufen immer auf. Unter dem dünnen, schwarzen Laufanzug schwitzte sie. Der Tornister mit seinem wertvollen Inhalt, den man versiegelt hatte, damit sie den Fluss durchqueren konnte, wippte auf ihrem Rücken. Sie dachte an die Baupläne der Zitadelle, die in ihm zusammengefaltet lagen.

Wo versteckt Leto sein gehortetes Gewürz?

Es musste irgendwo im Innern der Zitadelle liegen. Es ging gar nicht anders. Irgendwo auf den Plänen musste sich ein Hinweis finden. Das Melangegewürz, nach dem die Bene Gesserit, die Gilde und all die anderen hungerten ... Es gab da einen Preis, der dieses Risiko rechtfertigte.

Und dann diese beiden kryptischen Bände. Kwuteg hatte in einem recht gehabt: Ridulianisches Kristallpapier war schwer. Aber sie hatte Ulots Aufregung geteilt. Diese Geheimschriftzeichen enthielten etwas Wichtiges.

Erneut vernahm sie hinter sich das gierige Gekläff der sie durch den Wald verfolgenden Wölfe.

Lauf, Kwuteg, lauf!

Nun konnte sie genau vor sich zwischen den Bäumen den breiten, unbewachsenen Streifen erkennen, der den Rand des Idaho-Flusses ausmachte. Dahinter spiegelte sich das Mondlicht auf dem Wasser.

Lauf, Kwuteg!

Siona sehnte sich nach einem Laut aus Kwutegs Mund. Jedes Geräusch wäre ihr recht gewesen. Jetzt waren von den elfen, die das Unternehmen begonnen hatten, nur noch zwei übriggeblieben. Neun hatten dieses Abenteuer mit dem Leben bezahlt: Radi, Aline, Ulot, Setuse, Inineg, Onemao, Hutye, Memar und Oala.

Siona dachte an ihre Namen, und bei jedem sandte sie ein stummes Gebet zu den alten Göttern hinauf – nicht etwa zu dem Tyrannen Leto. Besonders inbrünstig betete sie zu Shai-Hulud.

Ich bete zu Shai-Hulud, der im Sand lebt.

Und dann, ganz plötzlich, hatte sie den Wald hinter sich gebracht und befand sich auf dem mondhellen Streifen des von niedrigem Gras bewachsenen Flussufers. Geradeaus vor ihr, hinter einem kiesbedeckten, schmalen Stück Boden, wellte sich das Wasser. Der Strand hob sich silbern von der öligen Flüssigkeit ab.

Ein lauter Aufschrei, der hinter ihr aus dem Wald kam, ließ sie beinahe straucheln. Inmitten des wilden Wolfsgekläffs erkannte sie Kwutegs Stimme. Kwuteg rief ihr etwas zu, ohne sie beim Namen zu nennen. Seine Botschaft, die nur aus zwei Worten bestand, war nicht nur unmissverständlich, sondern auch in zahllosen Gesprächen ausgemacht worden. Es war eine Botschaft, die zeigte, dass es um Leben und Tod ging.

»Lauf weiter!«

Der Lärm, den das Rudel erzeugte, wurde zu einem panikartigen Kläffen. Aber von Kwuteg kam nichts mehr. Siona wusste jetzt, dass er nun mit letzter Kraft gegen etwas ankämpfte.

Er hält sie auf, damit ich entkommen kann.

Kwutegs Ausruf gehorchend, eilte sie an den Uferrand und landete mit einem Kopfsprung im Wasser. Nach der schweißtreibenden Lauferei kam ihr die Berührung mit der Flüssigkeit wie ein Schock vor. Einen Augenblick lang war sie wie gelähmt, zappelte herum, versuchte Schwimmbewegungen zu machen und rang nach Atem. Der wertvolle Tornister trieb auf dem Wasser und stieß Siona von hinten gegen den Kopf.

An dieser Stelle war der Idaho-Fluss nicht sonderlich breit. Er maß knapp fünfzig Meter und bog sich in eine sanft geschwungene Kurve mit sandigen Ausbuchtungen, die von Wurzeln umrandet wurden. An den Randstreifen wuchsen üppige Pflanzen und Gräser, denn das Wasser blieb nicht immer in dem Becken, das Letos Ingenieure entworfen hatten. Das Wissen, dass die D-Wölfe darauf abgerichtet waren, am Flussufer haltzumachen, stärkte Siona den Rücken. Sie kannte ihre territorialen Grenzen: Auf dieser Seite war es der Fluss, auf der anderen Seite der Wüstenwall. Sie legte die letzten Meter lautlos und unter Wasser zurück und tauchte in den Schatten einer Ufernische auf, bevor sie sich umwandte und einen Blick zurückwarf.

Das Wolfsrudel hatte sich am hinter ihr liegenden Ufer versammelt. Nur eines der Geschöpfe näherte sich dem Wasser. Es beugte sich nach vorn und berührte mit den Vorderläufen fast das Wasser. Siona hörte, wie es winselte.

Sie wusste, dass der Wolf sie sah. Daran gab es keinen Zweifel. D-Wölfe waren bekannt dafür, dass sie ausgezeichnet sehen konnten. Unter den Vorfahren von Letos Waldwächtern hatten sich Späherhunde befunden. Man hatte die Wölfe hauptsächlich wegen ihrer scharfen Augen gezüchtet. Siona fragte sich, ob es möglich war, dass die D-Wölfe ihre Konditionierung durchbrechen konnten. Sie jagten hauptsächlich auf Sicht. Wenn dieser eine Wolf, der sich jetzt am Uferrand aufhielt, ins Wasser ging, war es nicht auszuschließen, dass die anderen ihm folgten. Siona hielt den Atem an. Die Erschöpfung begann an ihr zu zerren. Sie hatte fast dreißig Kilometer zurückgelegt – und in der zweiten Hälfte dieser Strecke waren ihnen die D-Wölfe auf den Fersen gewesen.

Der Wolf am Flussufer heulte noch einmal, dann wandte er sich um und eilte zu seinen Gefährten zurück. Auf ein stummes Signal hin wandte sich das Rudel ab und verschwand zwischen den Bäumen.

Siona wusste, wo sie hingehen würden. Die D-Wölfe durften alles fressen, was sie im Verbotenen Wald aufspürten. Jeder wusste das. Deswegen durchstreiften sie dieses Gebiet ja auch. Sie waren die Wächter der Sareer.

»Dafür wirst du bezahlen, Leto«, flüsterte sie. Sie sprach sehr leise, und ihre Stimme war über dem sanften Plätschern der gegen die Ufergewächse schlagenden Wellen kaum zu hören. »Du wirst für Ulot, Kwuteg und all die anderen bezahlen. Du wirst dafür geradestehen.«

Siona ließ sich langsam nach vorne gleiten und von der Strömung treiben, bis ihre Füße auf einen ersten Ausläufer des Ufers trafen. Vor Erschöpfung ließ sie sich nach vorne fallen, krabbelte aus dem Wasser und hielt an, um nachzusehen, ob der Inhalt ihres versiegelten Tornisters auch trocken geblieben war. Das Siegel war nicht gebrochen. Sie musterte es einen Moment lang im Mondlicht, dann hob sie den Kopf und schaute auf den Wald, der auf der anderen Seite des Flusses lag.

Der Preis ist bezahlt. Zehn gute Freunde.

In ihren Augen funkelten Tränen, aber da sie noch aus dem gleichen Holz geschnitzt war wie die alten Fremen, waren es nur wenige. Dass sie über den Fluss gesetzt und sich geradewegs durch den Wald geschlagen hatten, während die Wölfe sich an der Nordgrenze aufhielten, und dann durch die Letzte Wüste gezogen waren, um die Wälle der Festung zu überwinden – all das nahm in Sionas Bewusstsein allmählich Traumproportionen an ... Selbst die Flucht vor den Wölfen, die sie vorausgesehen hatte, weil es unausweichlich gewesen war, dass das Wachrudel die Spur der Eindringlinge kreuzen und sich auf die Lauer legen würde ... Alles war ein Traum. Es war Vergangenheit.

Ich bin davongekommen.

Sie brachte den Tornister wieder in Ordnung und schnallte ihn sich wieder auf den Rücken.

Ich habe deine Verteidigungslinien durchbrochen, Leto.

Dann dachte Siona an die geheimnisvollen Aufzeichnungen. Sie hatte plötzlich das sichere Gefühl, dass irgend etwas, das in diesen geheimen Schriftzeichen verborgen war, ihr ermöglichen würde, Rache zu nehmen.

Ich werde dich vernichten, Leto!

Sie dachte nicht: Wir werden dich vernichten! Das war nicht Sionas Art. Sie würde es alleine tun.

Sie drehte sich um und marschierte auf die Obstgärten zu, die sich hinter dem kurzgeschnittenen Ufergras erhoben. Und während sie ging, wiederholte sie ihren Schwur und bekräftigte ihn laut mit dem alten Fremenspruch, der damit endete, dass sie ihren vollen Namen sagte: »Siona Ibn Fuad Al-Seyefa Atreides ist diejenige, die dich verflucht, Leto. Du wirst deinen Preis voll bezahlen!«

Das Folgende entstammt Hadi Benottos Übersetzung der bei Dar-es-Balat gemachten Funde:

 

Vor über dreitausend Standardjahren – gerechnet von dem Augenblick an, in dem diese Aufzeichnungen gemacht werden – wurde ich als Leto Atreides II. geboren. Mein Vater war Paul Muad'dib. Meine Mutter war seine fremenitische Gattin Chani. Meine Großmutter mütterlicherseits war Faroula, eine in den Reihen der Fremen bekannte Botanikerin. Meine Großmutter väterlicherseits war Jessica, ein Produkt des Zuchtprogramms der Bene Gesserit, die nach einem männlichen Gegenstück suchten, das in der Lage war, die gleichen Kräfte vorzuweisen, die die Ehrwürdigen Mütter besitzen. Mein Großvater mütterlicherseits war Liet-Kynes, der Planetologe, der die ökologische Umwandlung Arrakis' in die Wege leitete. Mein Großvater väterlicherseits war der Atreides, der vom Hause der Atreus abstammte und seine Vorfahren in gerader Linie bis zum griechischen Familienbegründer zurückverfolgen konnte.

Damit genug über die Urheber!

Mein Großvater väterlicherseits starb wie viele gute Griechen: bei dem Versuch, seinen Todfeind zu töten, den alten Baron Wladimir Harkonnen. Beide ruhen nun unbehaglich in meinen uralten Erinnerungen. Nicht einmal mein Vater ist zufrieden. Ich habe das getan, vor dem er zu tun sich gefürchtet hat, und nun muss sein Schatten die Konsequenzen mit mir teilen.

Der Goldene Pfad verlangt danach. Und was ist der Goldene Pfad?, werdet ihr fragen. Er ist das Überleben der Menschheit, nicht mehr und nicht weniger. Wir, die wir das zweite Gesicht haben; wir, die wir die Fallgruben der menschlichen Zukünfte kennen, haben stets unter dieser Verpflichtung gelebt.

Überleben.

Was ihr zu diesen Dingen fühlt – euer unbedeutendes Genörgel und eure Freuden, selbst eure Agonien und Verzückungen haben uns nur selten berührt. Mein Vater hatte diese Kraft. Meine ist noch stärker. Es macht uns keinerlei Schwierigkeiten, die Verwicklungen, die die Zeit bereithält, zu durchschauen.

Dieser Planet – Arrakis –, von dem aus ich mein multigalaktisches Imperium steuere, ist nicht mehr das, was er in jenen Tagen, als man ihn noch den Wüstenplaneten nannte, war. Damals war der gesamte Planet eine einzige Wüste. Jetzt gibt es nur noch diesen kleinen Fleck – die Sareer. Der gewaltige Sandwurm streift nicht mehr länger frei umher und erzeugt die Gewürzmelange. Das Gewürz! Man kannte den Wüstenplaneten einzig und allein, weil von ihm die Melange kam. Er war ihre einzige Quelle! Welch eine außergewöhnliche Substanz. Kein Laboratorium ist je in der Lage gewesen, sie künstlich herzustellen. Und es ist die wertvollste Substanz, die die Menschheit je gefunden hat.

Ohne die Melange, die den Navigatoren der Raumgilde die Fähigkeit der Hellsichtigkeit verleiht, würden die Menschen den Raum lediglich im Schneckentempo durchqueren können. Ohne die Melange können die Bene Gesserit weder Wahrsagerinnen noch Ehrwürdige Mütter heranziehen. Ohne die lebensverlängernden Eigenschaften der Melange würden die Menschen nach den alten Maßstäben leben – das heißt ungefähr einhundert Jahre. Heutzutage existiert das Gewürz nur noch in den Lagerhäusern der Gilde und der Bene Gesserit. Einige Nachfahren der Großen Häuser haben ein paar Vorräte gehortet – aber die Menge, die ich besitze, hätten die anderen nur allzu gern. Wie gerne würden sie mich doch überfallen! Aber das wagen sie nicht. Sie wissen genau, dass ich es eher vernichten würde, bevor es ihnen in die Hände fiele.

Nein. Statt dessen kommen sie mit dem Hut in der Hand und bitten mich darum. Ich spende es, um jemanden zu belohnen, und halte es zurück, wenn es gilt, jemanden zu bestrafen. Und dieses Verhalten hassen sie.

Es liegt in meiner Macht, sage ich. Wem ich etwas schenke, bestimme ich.

Und damit erschaffe ich den Frieden. Sie haben über dreitausend Jahre lang einen von Leto diktierten Frieden gehabt. Es ist ein erzwungenes Zur-Ruhe-Kommen, das die Menschheit vor meiner Machtübernahme nur über sehr kurze Zeiträume hinweg gekannt hat. Falls ihr es vergessen habt, solltet ihr die Abschnitte über Letos Frieden noch einmal in diesen meinen Journalen studieren.

Ich habe mit diesen Aufzeichnungen im ersten Jahr meiner Herrschaft, während der ersten Schmerzwehen meiner Metamorphose, als ich größtenteils noch sichtbar menschlich war, begonnen. Die Sandforellenhaut, die ich annahm (und die mein Vater zurückwies) und die mir größere Kräfte sowie eine grundsätzliche Immunität gegen konventionelle Angriffe und den Alterungsprozess verlieh – diese Haut bedeckte damals noch immer eine Gestalt, die als die eines Menschen erkennbar war: Ich hatte zwei Beine, zwei Arme und ein menschlich zu nennendes Gesicht – nur eben die trockene Haut einer Sandforelle.

Ahhh – dieses Gesicht! Ich habe es immer noch, und es ist der einzige menschliche Körperteil, den ich dem Universum zeigen kann. Der gesamte Rest meines Leibes ist bedeckt geblieben von den miteinander verbundenen Körpern jener winzigkleinen Sandbazillen, aus denen irgendeines Tages gewaltige Sandwürmer werden können.

Und das werden sie – eines Tages.

Ich denke oft über die Endmetamorphose nach, die so ähnlich ist wie der Tod. Ich weiß zwar, auf welche Weise sie vonstatten gehen wird, aber ich habe keine Ahnung, wann das passiert, und weiß auch nicht, wer die anderen Spieler in diesem Spiel sind. Dies ist das einzige, was ich niemals wissen kann. Ich weiß nur, ob der Goldene Pfad weitergeht oder endet. In dem Augenblick, wo diese Worte aufgezeichnet werden, weiß ich, dass der Goldene Pfad weitergeht, und das erzeugt in mir zumindest Zufriedenheit.

Ich spüre nun nicht mehr, wie die Flimmerhärchen der Sandforellen meinen Leib abtasten und die Flüssigkeit meines Körpers in sich einkapseln. Wir sind praktisch zu einer Einheit geworden. Sie sind meine Haut, und ich bin die Kraft, die das Ganze bewegt – jedenfalls meistens.

Während ich dies schreibe, fällt mir ein, dass man das Ganze eher als eine Gesamtheit bezeichnen könnte. Ich bin das, was man die Vorstufe zu einem Wurm nennen könnte. Ich bin etwa sieben Meter lang und mehr als zwei im Durchmesser. Der größte Teil meines Körpers ist mit Rippen ausgestattet, und mein Atreides-Gesicht erhebt sich in Mannshöhe an einem Ende. Meine Arme und Hände (die immer noch Menschenähnlichkeit aufweisen) hängen darunter. Meine Beine und Füße? Nun, sie sind größtenteils verkümmert. Sie sind am ehesten mit Flossen zu vergleichen und ziemlich ans Ende meines Körpers gewandert. Insgesamt wiege ich vielleicht fünf alte Tonnen. Ich mache diese Angaben, weil ich weiß, dass sie irgendwann von historischem Interesse sein werden.

Wie bewege ich dieses Gewicht von der Stelle? Größtenteils mit Hilfe meines kaiserlichen Wagens, der auf Ix hergestellt wurde. Schockiert euch das? Was die Menschen angeht, so haben sie die Ixianer stets mehr gehasst und gefürchtet als mich. Da sie mich kannten, war ich für sie stets das kleinere Übel. Und wer weiß, was die Ixianer noch alles erfinden und bauen werden? Wer kann das wissen?

Ich sicher nicht. Zumindest nicht alles.

Aber ich bringe den Ixianern eine gewisse Sympathie entgegen. Sie glauben so fest an ihre Technik, an ihre Wissenschaften und ihre Maschinen. Und weil wir beide glauben (egal um was es dabei geht), verstehen wir uns, die Ixianer und ich. Sie haben eine Menge Apparaturen für mich gebaut und nehmen an, dass sie sich dadurch meine Dankbarkeit erkauft haben. Die Worte, die ihr jetzt lest, wurden von einem ixianischen Gerät geschrieben, das man Diktatel nennt. Sobald ich meine Gedanken in einer bestimmten Weise aussende, schaltet sich das Diktatel ein. Ich brauche nur auf diese Weise zu denken, dann erscheinen die Worte gedruckt vor mir auf ridulianischen Kristallbögen, die kaum dicker sind als Moleküle. Manchmal gebe ich die Anweisung, dass meine Gedanken auf weniger haltbarem Material ausgedruckt werden. Zwei dieser Aufzeichnungen wurden mir von Siona gestohlen.

Ist sie nicht faszinierend, meine Siona? Sobald euch klargeworden ist, wie wichtig sie für mich ist, werdet ihr euch fragen, ob ich sie wirklich hätte im Wald umkommen lassen können. Ihr solltet nicht daran zweifeln. Der Tod ist eine äußerst persönliche Angelegenheit. Ich werde mich nur selten mit ihm anlegen. Und niemals in einem Fall, in dem jemand wie Siona einer Prüfung unterzogen wird. Ich hätte sie in jedem Stadium ihrer Tätigkeit sterben lassen können. Und da die Zeit nichts für mich bedeutet, hätte ich auch jederzeit einen anderen Kandidaten aufbauen können.

Sie fasziniert sogar mich. Ich habe sie beobachtet, als sie durch den Wald lief. Ich habe sie mit Hilfe meiner ixianischen Gerätschaften beobachtet und mich gefragt, warum ich dieses Unternehmen nicht vorausgesehen hatte. Aber Siona ist ... Siona. Deswegen habe ich auch nichts getan, um die Wölfe anzuhalten. Es wäre falsch gewesen, wenn ich das getan hätte. Die D-Wölfe sind nur der verlängerte Arm meines Willens – und ich will das größte Raubtier sein, von dem man je gehört hat.

 

Die Journale von Leto II.

Der nachfolgende kurze Dialog stammt aus einem Manuskript, das man »Das Welbeck-Fragment« nennt. Man nimmt an, dass es von Siona Atreides verfasst wurde. Die Dialogsprecher sind Siona selbst und ihr Vater Moneo, der (wie die Geschichte ausweist) Majordomus und Chefadjutant Letos II. war. Der Dialog stammt aus einer Zeit, in der Siona weniger als zwanzig Jahre alt war und von ihrem Vater in ihrer Unterkunft in der Fischsprecherschule in der Festivalstadt Onn, einer dichtbesiedelten Großstadt, auf dem Planeten besucht wurde, den wir heute unter dem Namen Rakis kennen. Laut der Identifikationspapiere des Manuskripts besuchte Moneo seine Tochter heimlich, um ihr mitzuteilen, dass sie ihre Auslöschung riskierte.

 

SIONA: Wie hast du nur so lange in seiner Nähe überleben können, Vater? Er bringt doch jeden aus seiner Umgebung um. Das ist allgemein bekannt.

MONEO: Nein! Du irrst dich. Er tötet niemanden.

SIONA: Du brauchst mir über ihn nichts vorzulügen.

MONEO: Ich sage die Wahrheit. Er tötet niemanden.

SIONA: Welche Rechtfertigung hast du dann für die bekanntgewordenen Tode?

MONEO: Es ist der Wurm, der tötet. Der Wurm ist Gott. Leto lebt zwar am Busen Gottes, aber er tötet keinen.

SIONA: Und wie überlebst du dann?

MONEO: Ich kann den Wurm erkennen. Ich sehe es in seinem Gesicht und an seinen Bewegungen. Ich weiß, wann Shai-Hulud erscheint.

SIONA: Er ist nicht Shai-Hulud!

MONEO: Nun, so hat man den Wurm in alten Zeiten genannt.

SIONA: Ich habe davon gelesen. Aber er ist nicht der Gott der Wüste.

MONEO: Sei still, du närrisches Mädchen! Du weißt doch überhaupt nichts von solchen Dingen.

SIONA: Ich weiß, dass du ein Feigling bist.

MONEO: Wie wenig du doch weißt. Du hast nie dort gestanden, wo ich gestanden habe. Du hast ihm weder in die Augen geblickt, noch die Bewegungen seiner Hände gesehen.

SIONA: Was tust du, wenn der Wurm erscheint?

MONEO: Ich gehe.

SIONA: Das ist klug. Wir wissen ganz sicher, dass er neun Duncan Idahos umgebracht hat.

MONEO: Ich habe dir doch gesagt, dass er niemanden umbringt!

SIONA: Wo ist der Unterschied? Leto oder der Wurm – sie haben nun ein und denselben Körper.

MONEO: Aber sie sind zwei eigenständige Lebewesen – Leto der Kaiser und der Wurm, der Gott ist.

SIONA: Du bist wahnsinnig!

MONEO: Vielleicht. Aber ich diene Gott.

2

 

Ich bin der inbrünstigste Menschenbeobachter, den es je gegeben hat. Ich beobachte die, die in mir, und die, die außerhalb sind. Vergangenheit und Gegenwart können in meinem Innern zu einer seltsamen Mixtur der Zumutung werden. Und wie die Metamorphose sich in meinem Fleisch fortsetzt, können meinen Sinnen wundervolle Dinge passieren. Es ist, als würde ich alles in einer Nahaufnahme sehen. Ich verfüge über ein außerordentlich präzises Hör- und Sehvermögen und kann sogar die vagesten Gerüche aufnehmen. Ich kann aus einer eine Million Köpfe zählenden Menge jeden Selbstgerechten heraussuchen. Ich weiß es. Ich habe es ausprobiert. Man kann vor meinen Sinnen nicht viel verbergen. Ich glaube, ihr würdet entsetzt sein, wenn ihr wüsstet, was mir allein der Geruch sagt. Eure Ausdünstungen sagen mir, was ihr tut oder vorhabt zu tun. Und erst Gesten und Posen! Einmal habe ich einen halben Tag lang einem alten Mann zugesehen, der in Arrakeen auf einer Bank saß. Er stammte in der fünften Generation von Stilgar dem Naib ab und wusste nicht einmal davon. Ich studierte seine Halslinie, die Hautfalten seines Kinns, die aufgesprungenen Lippen, die Schleimhäute seiner Nasenlöcher, die Poren hinter seinen Ohren und die grauen Haarbüschel, die unter der Kapuze seines altertümlichen Destillanzuges hervorlugten. Er bemerkte überhaupt nicht, dass man ihn beobachtete. Hah! Stilgar hätte so etwas in ein bis zwei Sekunden bemerkt. Aber der alte Mann wartete bloß auf jemanden, der dann doch nicht kam. Schließlich stand er auf und trottete weiter. Nach der langen Sitzerei war er ziemlich steif geworden. Ich wusste, dass ich ihn lebendig niemals wiedersehen würde. Er war dem Tode nah, und dass sein Wasser verschwendet werden würde, stand für mich außer Frage. Nun, aber das spielte auch keine Rolle mehr.

 

Die gestohlenen Journale

 

 

Leto hielt den Ort, an dem er die Ankunft seines gegenwärtigen Duncan Idaho erwartete, für den interessantesten im Universum. Wenn man menschliche Maßstäbe zur Beurteilung heranzog, befand er sich in einem gigantischen Raum – im Kern eines weitverzweigten Katakombensystems unterhalb seiner Zitadelle. Vom Zentrum des Raums aus, in dem er wartete, liefen sprossenähnliche Heizkammern aus, die dreißig Meter hoch und zwanzig Meter breit waren. Man hatte seinen Wagen im Mittelpunkt des Raums aufgestellt. Dort stand er in einer kreisförmigen, vierhundert Meter durchmessenden Kammer, die an ihrem höchsten Punkt einhundert Meter maß und ihn kuppelartig überwölbte.

Er hielt derartige Dimensionen für eine gute Rückversicherung.

In der Zitadelle war früher Nachmittag, aber das einzige Licht in seiner Kammer kam von den am Rande vorbeitreibenden, durch Suspensoren gehaltenen Leuchtgloben, die sanfte, orangefarbene Helligkeit erzeugten. Das Licht drang nicht weit in die Sprossen ein, aber Letos Erinnerung teilte ihm die genaue Position jedes Gegenstandes mit, den es hier gab: Er wusste, wo sich das Wasser, die Gebeine und der Staub seiner Vorfahren – und mithin aller Atreides, die seit den alten Zeiten auf dem Wüstenplaneten gelebt hatten und gestorben waren – befanden. Sie befanden sich alle hier – und zusätzlich noch ein paar Melange-Behälter, die den Eindruck erwecken sollten, das seien alle, die er besaß – wenn es einmal zum Äußersten kam.

Leto wusste, weswegen der Duncan kam. Idaho hatte erfahren, dass die Tleilaxu einen weiteren Duncan fabrizierten; einen neuen Ghola erschufen, der den Wünschen des Gott-Kaisers entsprach. Dieser Duncan fürchtete, dass man ihn nach fast sechs Dienstjahren ersetzen würde. Irgend etwas in dieser Art stand immer am Anfang dessen, was das Verderben der Duncans einleitete. Ein Gesandter der Gilde hatte Leto abgepasst, um ihn zu warnen, dass die Ixianer diesem Duncan eine Lasgun zur Verfügung gestellt hatten.

Leto kicherte. Die Gilde reagierte wirklich äußerst sensibel auf alles, was ihren Gewürzanteil bedrohen konnte. Der Gedanke, dass Leto das letzte Bindeglied zu den Sandwürmern war, die die Gewürzvorräte produziert hatten, erfüllte sie mit Schrecken.

Wenn ich in einer Gegend ohne Wasser sterbe, wird es kein Gewürz mehr geben. Nie wieder.

Davor hatte die Gilde Angst. Und ihre Geschichtsforscher versicherten ihnen, dass Leto auf der größten Gewürzmenge saß, die es im Universum gab. Dieses Wissen machte die Gilde praktisch zu seinem Verbündeten.

Während er wartete, machte Leto die Hand- und Fingerübungen seines Bene-Gesserit-Erbes. Die Hände waren sein Stolz. Unter den grauen Membranen aus Sandforellenhaut befanden sich lange, fingerartige Auswüchse und in alle Richtungen bewegliche Daumen. Er konnte sie ebenso benutzen wie normale Hände. Die fast nutzlosen Flossen, die einstmals seine Beine und Füße gewesen waren, waren im Gegensatz dazu äußerst lästig. Leto konnte seinen Leib mit großer Geschwindigkeit kriechend, rollend oder springend fortbewegen, aber wenn er auf die Flossen fiel, tat es weh.

Was hielt den Duncan auf?

Leto stellte sich den Mann vor, wie er unschlüssig durch ein Fenster über den flimmernden Horizont auf die Sareer hinausstarrte. Die Luft schien heute vor Hitze zu leben. Bevor er in seine Krypta hinabgestiegen war, hatte Leto im Südwesten eine Fata Morgana gesehen. Der Hitzespiegel zeichnete zitternd und bebend ein Bild auf den Sand und zeigte ihm eine Gruppe von Museumsfremen, die an einem Ausstellungssietch vorbeimarschierten, den man zur Erbauung der Touristen erhalten hatte.

Es war kühl in der Krypta, wie immer, und die Beleuchtung gering. Die Tunnelgänge waren finstere Löcher, die sich in sanften Linien nach oben und unten wanden, um dem kaiserlichen Wagen die größtmögliche Bewegungsfreiheit zu bieten. Manche der Tunnels breiteten sich kilometerweit hinter Tarnwänden aus. Gänge, die Leto mit Hilfe ixianischer Gerätschaften für sich selbst geschaffen hatte und von denen niemand etwas wusste.

Als er über das anstehende Gespräch nachdachte, verspürte Leto in seinem Inneren ein anwachsendes Gefühl der Nervosität. Er hielt dies für eine interessante Emotion und eine Sache, an der er sich früher erfreut hätte. Leto wusste, dass er mit Recht in den gegenwärtigen Duncan vernarrt war. Und es war sicher nicht unberechtigt, wenn er hoffte, dass der Mann das kommende Gespräch überleben würde. Manchmal überlebten sie es. Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass der Duncan eine tödliche Bedrohung darstellte, aber das musste man abwarten. Leto hatte versucht, dies einem der anderen Duncans zu erklären, genau hier, in diesem Raum.

»Sicher kommt es dir komisch vor, dass ich – mit meinen Kräften – so einfach von Glück und Zufall rede«, hatte Leto gesagt.

Der Duncan war zornig gewesen. »Du überlässt nichts dem Zufall! Ich kenne dich!«

»Wie naiv. Der Zufall ist die Natur des Universums.«

»Keineswegs! Das Unheil. Und du bist der, der es produziert!«

»Ausgezeichnet, Duncan! Das Erzeugen von Unheil ist das tiefgründigste Vergnügen. Und je nachdem, wie wir mit ihm fertig werden, verfeinern wir die Kreativität!«

»Du bist nicht einmal mehr menschlich!« Oh, wie wütend dieser Duncan gewesen war.

Leto waren seine Anklagen irritierend erschienen. Wie ein Sandkörnchen in seinem Auge. Er hielt an den Resten seines einstmals menschlichen Ichs mit einem Ingrimm fest, den man nicht in Abrede stellen konnte, obwohl die Irritation das Gefühl war, das einer Verärgerung am nächsten kommen konnte.

»Dein Leben ist zu einem Klischee geworden«, hatte Leto behauptet.

Woraufhin der Duncan eine kleine Bombe aus den Falten seiner Uniformrobe gezogen hatte. Welch eine Überraschung!

Leto liebte Überraschungen, auch unfeine.

Es ist etwas, das ich nicht vorausgesagt habe! Und genau das hatte er auch dem Duncan gesagt, der seltsam unentschieden dagestanden hatte und nun wusste, dass man ihn zu einer Entscheidung drängte.

»Sie könnte dich umbringen«, sagte der Duncan.

»Tut mir leid, Duncan. Sie wird mich möglicherweise leicht verletzen, aber nicht mehr.«

»Aber du hast gesagt, du hättest dies nicht vorausgesehen!« Die Stimme des Duncans war jetzt schriller geworden.

»Duncan, Duncan, eine absolute Voraussage wäre das gleiche wie der Tod. Wie unaussprechlich langweilig der Tod doch ist.«

Im letzten Augenblick hatte der Duncan versucht, die Bombe zur Seite zu werfen, aber die Ladung war instabil gewesen und zu früh losgegangen. Der Duncan war gestorben. Aber was machte das schon. Die Tleilaxu hatten stets einen neuen in ihren Axolotl-Tanks. Einer der dahintreibenden Leuchtgloben über Leto fing an zu blinken. Spannung packte ihn. Moneos Signal! Der gläubige Moneo warnte seinen Gottkaiser, dass der Duncan nun in die Krypta hinabstieg.

Die Tür, die sich zwischen den beiden mit Schienen ausgestatteten Gängen des Nordwestbogens befand und zum Menschenlift führte, schwang auf. Der Duncan kam auf ihn zu, eine kleine Gestalt in der Ferne, aber Letos Augen registrierten selbst die kleinsten Einzelheiten: ein Fleck am Ellbogen seiner Uniformjacke, der ihm sagte, dass der Mann sich irgendwo angelehnt, das Kinn auf die Hand gestützt und nachgedacht hatte. Ja, da waren sogar noch Abdrücke an seiner Hand und seinem Kinn. Der Körpergeruch des Duncans ging seiner Gestalt voraus. Der Mann war von seinem eigenen Adrenalinspiegel aufgekratzt.

Während der Duncan auf ihn zukam, blieb Leto still und prägte sich Einzelheiten ein. Obwohl der Duncan schon jahrelang in seinen Diensten stand, bewegte er sich immer noch mit einer geradezu jugendlichen Kraft. Das hatte er seinem Minimalverzehr an Melange zu verdanken. Der Mann trug die alte Atreides-Uniform. Sie war schwarz, aber auf seiner linken Brustseite prangte ein goldener Falke. Es war eine interessante Aussage: »Ich diene zu Ehren der alten Atreides!« Sein Haar hatte noch immer die Karakul-Schwärze; seine Gesichtszüge waren von gemeißelter Schärfe und wiesen hohe Wangenknochen auf.

Die Tleilaxu produzieren gute Gholas, dachte Leto.

Der Duncan hatte eine dünne Tasche aus gewebten dunkelbraunen Fasern bei sich. Er besaß sie seit vielen Jahren. Im allgemeinen enthielt sie die Unterlagen, auf die sich seine Berichte bezogen, aber heute beulte sie sich unter einem schwereren Gewicht.

Die ixianische Lasgun.

Während Idaho ging, richtete sich seine Aufmerksamkeit auf Letos Gesicht. Es trug immer noch die unverkennbaren Züge eines Atreides: Es war schmal und zeichnete sich durch völlig blaue Augen aus. Nervöse Menschen konnten einem solchen Blick nicht lange standhalten. Er war für sie wie ein physisches Eindringen. Tief unter der grauen Schicht aus Sandforellenhaut lauerte etwas, das, wie Idaho wusste, sich in einem schützenden Reflex nach vorne klappen konnte. Es war weniger ein Schließen der Augen als ein Schließen des ganzen Gesichts. Trotz ihres grauen Rahmens war die Haut rosafarben. Es war nicht einfach, den Gedanken zu vermeiden, Letos Gesicht als Obszönität einzustufen und für ein letztes Stückchen Menschlichkeit zu halten, das in etwas unsagbar Fremdem gefangen saß.

Ohne den geringsten Versuch zu machen, seinen wütenden Entschluss zu verbergen, blieb Idaho sechs Schritte vor dem kaiserlichen Wagen stehen. Er verschwendete nicht einmal einen Gedanken daran, ob Leto von seiner Lasgun wusste. Dieses Imperium hatte sich zu weit von der alten Moral der Atreides entfernt. Es war zu einem unpersönlichen Moloch geworden, der jeden Unschuldigen zermalmte, der in seinem Weg stand. Damit musste ein Ende gemacht werden!

»Ich bin gekommen, um mit dir über Siona und andere Dinge zu sprechen«, sagte Idaho. Er brachte die Tasche in eine Position, die es ihm erlaubte, die Lasgun schnell hervorzuziehen.

»Sehr schön.« Letos Stimme war die Langeweile in Person.

»Siona war die einzige, die entkam, aber sie hat immer noch genug Rebellenfreunde.«

»Glaubst du, das wüsste ich nicht?«

»Ich kenne deine gefährliche Toleranz den Rebellen gegenüber! Aber ich weiß nichts über den Inhalt des Pakets, das sie gestohlen hat.«

»Ach, das. Sie hat alle Baupläne der Zitadelle.«

Einen Augenblick lang war Idaho nichts weiter als der Kommandeur von Letos Leibwache. Die Tatsache, dass ihre Sicherheit dermaßen bedroht war, schockierte ihn zutiefst.

»Du hast sie damit entkommen lassen?«

»Nein, das hast du getan!«

Idaho zuckte unter dieser Beschuldigung zurück. Allmählich richtete sich der in ihm steckende Attentäter wieder auf.

»War das alles?«, fragte er.

»Es waren zwei Bände meiner Aufzeichnungen; zusammen mit den Plänen. Sie hat die Kopien gestohlen.«

Idaho musterte Letos unbewegliches Gesicht. »Was stand in diesen Aufzeichnungen? Einmal sagst du, es seien Tagebücher, dann sind es wieder geschichtliche Aufzeichnungen.«

»Sie sind ein bisschen von beidem. Man könnte ebenso gut sagen, es seien Lehrbücher.«

»Ist es schlimm, dass sie die beiden Bände hat?«

Leto schenkte ihm ein sanftes Lächeln, das Idaho als negative Antwort interpretierte. Als Idaho in die dünne Aktenmappe langte, verspürte Leto ein leichtes Kribbeln. Würde er die Waffe oder einen Bericht hervorziehen? Obwohl der Kern seines Körpers mit einem mächtigen Schutzschild gegen übermäßige Hitze ausgestattet war, wusste Leto, dass ein Teil seines Leibes von einer Lasgun beschädigt werden konnte – besonders sein Gesicht.

Idaho zog einen Bericht aus der Tasche. Noch ehe er zu lesen anfing, hatte Leto seine Signale gedeutet. Idaho suchte nach Antworten. Er hatte nicht vor, Informationen abzugeben. Idaho wollte eine Vollmacht für ein Vorgehen, das bereits beschlossen worden war.

»Wir haben auf Giedi Primus einen Alia-Kult entdeckt«, sagte er.

Während Idaho die Einzelheiten vor ihm ausbreitete, blieb Leto still. Wie langweilig. Er ließ seine Gedanken wandern. Die Verehrer der längst gestorbenen Schwester seines Vaters dienten in dieser Zeit höchstens noch für ein kurzfristiges Amüsement. Und wie vorauszusehen gewesen war, hielten die Duncans derartige Aktivitäten für eine Art Bedrohung aus dem Untergrund.

Idaho beendete seinen Bericht. Seine Agenten waren gut informiert, zugegeben. Aber sie langweilten einen durch und durch.

»Das hat keine größere Bedeutung als das Wiederaufleben des Isis-Kultes«, sagte Leto. »Meine Priester und Priesterinnen werden sich etwas Hübsches einfallen lassen, um diesen Kult und seine Anhänger aufzulösen.«

Idaho schüttelte den Kopf in einer Weise, als würde er einer Stimme antworten, die aus seinem Inneren sprach.

»Die Bene Gesserit wussten von diesem Kult«, sagte er.

Das allerdings interessierte Leto.

»Die Schwestern haben mir nie verziehen, dass ich ihnen das Zuchtprogramm aus den Händen genommen habe«, sagte er.

»Dies hat nichts mit einem Zuchtprogramm zu tun.«

Leto unterdrückte ein mildes Vergnügen. In Bezug auf das Thema Zuchtprogramm waren die Duncans stets empfindlich, obwohl es hin und wieder auch welche gab, die Interesse daran zeigten.

»Ich verstehe«, sagte Leto. »Nun, die Bene Gesserit sind im allgemeinen mehr als nur ein bisschen geistig gestört, aber der Wahnsinn repräsentiert ein chaotisches Reservoir an Überraschungen. Manche Überraschungen können durchaus ihren Wert haben.«

»In dieser hier kann ich leider keinen erkennen.«

»Glaubst du, dass die Schwestern hinter diesem Kult steckten?«, fragte Leto.

»Allerdings.«

»Erklär mir das näher!«

»Der Kult hatte einen Schrein. Sie nannten ihn ›den Crysmesserschrein‹.«

»Wusste er überhaupt, was das ist?«

»Die oberste Priesterin wurde ›Jessicas Lichtbewahrerin‹ genannt. Sagt dir das irgend etwas?«

»Wie nett!« Leto machte keine Anstalten, seine Heiterkeit zu verbergen.

»Was soll daran nett sein?«

»Dass sie meine Großmutter und meine Tante zu einer Gottheit vereinen.«

Etwas steif und verständnislos schüttelte Idaho den Kopf.

Leto gestattete sich eine kurze, innere Pause, die nicht länger als den Bruchteil einer Sekunde dauerte. Die in ihm befindliche Großmutter hatte kein besonderes Interesse an diesem Kult auf Giedi Primus. Es war nötig, dass er ihre Erinnerungen und ihre Identität nach außen abblockte.

»Was, glaubst du, waren die Ziele dieses Kultes?«, fragte Leto.

»Das ist wohl offensichtlich. Es sollte eine Konkurrenzreligion werden, um deine Autorität zu untergraben.«

»Das klingt mir zu simpel. Was immer man die Bene Gesserit auch nennen mag – Einfaltspinsel sind sie ganz sicher nicht.«

Idaho wartete auf eine Erklärung.

»Sie wollen mehr von dem Gewürz!«, sagte Leto. »Und mehr Ehrwürdige Mütter.«

»Sie ärgern dich also, damit du dich schließlich freikaufst?«

»Ich bin von dir enttäuscht, Duncan.«

Idaho starrte Leto nur an, und Leto stieß einen Seufzer aus und machte eine komplizierte Geste, die aufgrund seines neuen Körpers nicht leicht zu deuten war. Im allgemeinen waren die Duncans gewitzter, aber Leto vermutete, dass der Plan, den dieser hier verfolgte, seine Intelligenz umnebelt hatte.

»Sie haben Giedi Primus zu ihrer Basis gemacht«, sagte Leto. »Was sagt dir das?«

»Giedi Primus war ein Stützpunkt der Harkonnens, aber das ist Unzeiten her.«

»Deine Schwester ist dort gestorben; auch sie war ein Opfer der Harkonnens. Es ist schon in Ordnung, dass die Harkonnens und Giedi Primus in deinem Gedächtnis eine Einheit bilden. Warum hast du es nicht früher erwähnt?«

»Ich hielt es nicht für wichtig.«

Leto presste fest die Lippen aufeinander. Die Erwähnung seiner Schwester hatte den Duncan durcheinandergebracht. Auf rein geistiger Ebene wusste der Mann, dass er nur der letzte in einer langen Linie fleischlicher Wiedererweckungen war und ein Produkt der Axolotl-Tanks der Tleilaxu, die ihn aus den Zellen eines Originals erschaffen hatten. Der Duncan konnte seinen wiedererweckten Erinnerungen nicht entkommen. Er wusste, dass die Atreides ihn aus den Fesseln der Harkonnens befreit hatten.

Und egal, was ich auch sein mag, dachte Leto, ich bin immer noch ein Atreides.

»Was willst du damit sagen?«, fragte Idaho.

Leto kam zu dem Entschluss, dass es an der Zeit war, einen Schrei auszustoßen. Er ließ ihn laut werden: »Die Harkonnens haben Gewürz gehortet!«

Idaho zog sich einen vollen Schritt zurück.

Mit leiserer Stimme fuhr Leto fort: »Auf Giedi Primus existiert ein bisher unentdecktes Gewürzlager. Die Schwestern haben versucht, es sich unter den Nagel zu reißen. Sie haben den Kult nur als Tarnung vorgeschoben.«

Idaho war verblüfft. Jetzt, wo es ausgesprochen war, erschien die Antwort offensichtlich.

Und mir ist es entgangen, dachte er.

Letos Aufschrei hatte ihn wieder völlig in die Rolle des Kommandeurs der kaiserlichen Garde zurückversetzt. Idaho kannte die wirtschaftlichen Verhältnisse des Imperiums, wenn auch nur in den einfachsten Grundzügen: Es gab keine Ratenkäufe; alle Geschäfte wurden in bar abgewickelt. Die einzige Münze zeigte ein Abbild des kapuzenbedeckten Gesichts Letos, des Gott-Kaisers. Aber alles basierte auf dem Gewürz, jener Substanz, deren enorm hoher Wert noch immer im Ansteigen begriffen war. Ein Mensch konnte den Gegenwert eines Planeten bequem in seinem Handgepäck befördern.

»Kontrolliere die staatliche Münze und die Gerichtsbarkeit«, dachte Leto. »Den Rest kann der Pöbel haben.« Der alte Jacob Broom hatte das gesagt. Leto konnte hören, wie er in ihm kicherte. »Es hat sich gar nicht so viel geändert, Jacob.«

Idaho holte tief Luft. »Das Glaubensbüro sollte auf der Stelle informiert werden.«

Leto schwieg.

Da er dies für eine Aufforderung hielt, mit seinen Berichten fortzufahren, machte Idaho weiter, aber Leto hörte ihm nur mit einem kleinen Teil seines Bewusstseins zu. Er kam sich vor wie ein Aufzeichnungsgerät, das Idahos Worte und Gesten beobachtete und aus ihnen die jeweils richtigen Schlüsse zog.

Und jetzt möchte er über die Tleilaxu sprechen.

Du bewegst dich auf gefährlichem Boden, Duncan.

Aber dies öffnete Letos Reflexionen einen neuen Weg.

Die listigen Tleilaxu erschaffen meine Duncans noch immer aus den Originalzellen. Sie tun etwas, das die religiösen Gesetze verbieten – und sie und ich wissen es. Ich habe die Manipulation menschlicher Gene untersagt. Aber die Tleilaxu wissen, wie sehr ich die Duncans als Kommandeure meiner Garde schätze. Ich glaube kaum, dass sie vermuten, wie amüsant das für mich ist. Es erheitert mich zu wissen, dass jetzt ein Fluss Idahos Namen trägt, während es früher ein Berg war. Der Berg existiert nicht mehr. Wir haben ihn abgetragen, weil wir Baumaterial für die hohen Wälle brauchten, die jetzt meine Sareer umgeben.

Natürlich wissen die Tleilaxu, dass ich die Duncans hin und wieder meinem eigenen Programm unterwerfe. Die Duncans stellen eine Kreuzung der Stärke dar – und viel mehr. Jede Feuerstatt braucht einen Zugregler.

Es war mein Plan, diesen Duncan mit Siona zu kreuzen, aber das ist jetzt vielleicht nicht mehr möglich.

Hah! Er sagt, ich soll gegen die Tleilaxu »etwas unternehmen«. Warum fragt er nicht geradeheraus: »Hast du vor, mich zu ersetzen?«

Ich bin versucht, es ihm zu sagen.

Erneut verschwand Idahos Hand in der dünnen Aktenmappe. Letos innerem Auge entging nicht die kleinste Bewegung.

Die Lasgun? Oder weitere Berichte? Ah, das letztere.

Der Duncan bleibt weiterhin vorsichtig. Er möchte nicht nur eine Versicherung, dass ich von seinen Plänen keine Ahnung habe, sondern verlangt auch nach weiteren »Beweisen« für die Theorie, dass ich seiner Loyalität gar nicht würdig bin. Er zögert es hinaus. Das hat er immer getan. Ich habe ihm oft genug erzählt, dass ich meine Fähigkeiten nicht dazu einsetze, den Augenblick vorauszusagen, in dem ich diese alte Gestalt aufgebe. Aber er zweifelt daran. Er ist stets ein Zweifler gewesen.

Diese grottenähnliche Kammer saugt nicht nur seine Stimme auf. Wäre ich nicht dermaßen empfindlich, würde die hier herrschende Dunkelheit auch die chemische Offensichtlichkeit seiner Ängste abschirmen. Ich dämpfe seine Stimme so, dass ich mich nicht ganz auf sie konzentrieren muss. Welch ein Langweiler dieser Duncan geworden ist. Er hält einen geschichtlichen Vortrag, erzählt mir von der Rebellion Sionas, und ich zweifle nicht daran, dass er mich wegen ihrer neuesten Eskapaden gleich wieder ins Gebet nehmen wird.

»Es ist keine gewöhnliche Revolte«, sagt er.

Sofort bin ich wieder da! Narr. Alle Revolten sind gewöhnlich. Die äußerste Langeweile. Eine folgt dem Muster der anderen. Eine ist wie die andere. Die Antriebskräfte bestehen aus Adrenalinabhängigkeit und dem Verlangen, persönliche Macht zu erringen. Sämtliche Rebellen sind verkappte Aristokraten. Deswegen kann ich sie auch so leicht überzeugen.

Warum hören die Duncans mir nie richtig zu, wenn ich sie darüber aufkläre? Und gerade mit diesem habe ich mich darüber unterhalten. Es war eine unserer ersten Auseinandersetzungen; hier, in dieser Krypta.

»Die Kunst des Regierens«, sagte er, »besteht darin, den Radikalen niemals die Initiative zu überlassen.«

Wie pedantisch. Radikale tauchen in jeder Generation auf. Es hat keinen Sinn, dagegen Maßnahmen zu ergreifen. Und genau das meint er, wenn er sagt, »man dürfe ihnen nicht die Initiative überlassen«. Er will sie zerschmettern, unterdrücken, kontrollieren, abwehren. Er ist der lebende Beweis dafür, dass der Bewusstseinsunterschied zwischen einem Polizisten und einem Militär nur geringfügig ist.

»Man hat nur dann einen Grund, Radikale zu fürchten«, sagte ich zu ihm, »wenn man sie zu unterdrücken versucht. Man soll ihnen zeigen, dass man das Beste, was sie anzubieten haben, übernehmen will.«

»Sie sind gefährlich! Sie sind gefährlich!« Wenn er es nur oft genug wiederholt, glaubt er, wird eine Wahrheit daraus.

Langsam, Schritt für Schritt, führe ich ihm meine Methode vor. Er erweckt sogar den Eindruck, als würde er zuhören.

»Dies ist ihre Schwäche, Duncan: Radikale sehen alles in zu einfachen Begriffen – schwarz und weiß, gut und böse, sie und wir. Indem sie auf solch naive Weise komplizierte Dinge angehen, bereiten sie dem Chaos einen Weg. Und die Kunst des Regierens, wie du es ausdrückst, besteht darin, das Chaos zu beherrschen.«

»Niemand ist in der Lage, mit jeder Überraschung fertig zu werden.«

»Überraschung? Wer redet denn von Überraschungen? Das Chaos kommt nicht überraschend. Es hat voraussagbare Charakteristiken. Zum Beispiel zerschlägt es die Ordnung und stärkt die extremen Kräfte.«

»Ist das nicht genau das, was die Radikalen zu tun versuchen? Versuchen sie nicht, Unruhe zu erzeugen, damit sie die Kontrolle übernehmen können?«

»Sie glauben, dass sie das täten. In Wirklichkeit erzeugen sie nur neue Extremisten; neue Radikale, die dann ihrerseits genau dasselbe tun.«