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Der graue Kater verbringt seine Ferien auf dem Land und gewinnt ungewöhnliche Freunde. Den hellen Morgen über beruhigte sich die Vogelwelt des Gartens und kehrte allmählich zu ihren lang vermissten Gesangsübungen zurück. Man sprach von dem überraschenden Verhalten des Grauen Katers. Dieser lag unter einer Kiefer in der Sonne und leckte sein Fell. Sikesö kroch in der Nähe zwischen Tomatenstauden und tröstete ihren Freund. "Ohne dich, mein Graues Katerchen, wäre Coupi heute die traurigste Grasmücke der Welt. Wie fühlst du dich..." Das Graue Katerchen war überzogen von blutigen Striemen, und sein linkes Ohr hing eingerissen über dem Auge. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er sich richtig geprügelt. Er dachte darüber nach, wie er sich fühlte. Und er fand sich müde, wie zerschlagen – und recht zufrieden. "Ja, wie soll ich es dir sagen: Die Prügelei hat mir gut getan."
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Seitenzahl: 90
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Fritz Leverenz
Der graue Kater und der kleine Frosch Ulysses
Ein Märchen für große Kinder
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Der graue Kater
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Impressum neobooks
Gut gelaunt wanderte der Frühling, aus Palermo kommend, die Adria entlang, besuchte für zwei Tage Venedig, wo er sich mit seiner Freundin, der Mehlschwalbe, traf, um mit ihr auf dem Canale Grande, wie er sagte „beim Gleiten der Gondel Geist und Körper fallen zu lassen“, benutzte, um für die große Bergtour zu verschnaufen, von dort den Dolomiten-Express bis zum nächsten Alpenpass, verabschiedete seine Freundin, die noch für einige Rundflüge in den warmen Tälern blieb, durchstieg die Hohen Tauern, grüßte froh gelaunt den schneebedeckten Großglockner, als ihn zwischen Watzmann und dem Königssee unerwartet der Winter aufhielt, der dort Dienst als Oberzollsekretär tat. Breitbeinig und mit ungerührtem eisigen Gesicht verstellte der Winter ihm den Weg.
„Halt!“rief er.
„Weshalb so harsch?“ rief der Frühling. „Ich bin’s. – Ein Mitglied der Familie.“
„Ich kenne keine Verwandten“, sagte der Winter knarrend wie frosterstarrtes Tannenholz. „Singend und ohne Schal einzureisen, verstößt erstens A, wie Anton, gegen die Vorschrift; ist zweitens B, wie Berta, untersagt und drittens C, wie Cäsar, strengstens untersagt.“ Er stand da in Pelzmütze und Pelzmantel, und von seinem Gesicht sah man bloß den grauen Bart, die spitze weiße Nase und blitzende eisklare Augen.
Am ganzen Körper zitternd stand der Frühling vor ihm. Er hatte mit dieser Begegnung nicht gerechnet und war nur leicht bekleidet mit weißem Hemd und hellblauer Flanelljacke. Ein heiterer und leicht erregbarer junger Mann, der die modische Abwechslung liebte. Gern kam er als warmer Regen, als sonniger blauer Himmel oder als stürmischer Südwest. In diesem Jahr hatte er es vorgezogen, gegen den Ratschlag der Versammlung der Winde als Föhn nach Norden zu reisen. Der Monsun hatte ihn persönlich gewarnt und geraten, einen Umweg zu nehmen und, „da er dich als Bruder nicht mag, als Freund des Winters, als Nordost“, anzureisen. „Der Winter ist längst oben in den höchsten Bergen“, erwiderte der Frühling leichthin. Er mochte sich nicht verkleiden und im Mantel reisen.
„Ach, Herr Oberzollsekretär“, sagte der Frühling begütigend (er wagte nicht, den grimmigen alten Winter zu duzen), „Sie kennen das doch: „Leise zieht durch mein Gemüt, liebliches Geläute...“
„Unsinn!“ unterbrach ihn der Winter. „Wen interessiert, was in deinem Gemüte läutet?“
„Aber wissen Sie nicht, wie sehr die Mehlschwalbe, ein Kater und viele Bäume und Blumen auf mich warten?“
„Ja, eben“, sagte der Winter brummig. „Lass’ die Schwalbe warten! Du bringst mir ohnehin zu viel Aufregung unter die junge Natur; bist mir zu umstürzlerisch. - Dein geschmackloses Grün ließe sich ja noch ertragen, doch schafft dein Kunterbunt an Farben nur Chaos in meiner schwarz-weißen Welt. – Guck nicht so unverfroren! Schon dein leichtfertiges fröhliches Lächeln jagt mir warme Schauer über den Rücken.“
Der Frühling wagte gar nicht zu lächeln, zuckte nur traurig mit einem Mundwinkel. „Bruder, bedenke doch, es ist Mitte März“, wandte er leise ein.
„Du und dein Märzelein! - Poche nicht auf irgendein jahreszeitliches oder gar verwandtschaftliches Recht“, entgegnete der Winter barsch, „der Kalender ist nicht das Papier wert, auf dem er geschrieben steht. - Ich verwarne dich! Wässere nicht in meinen Angelegenheiten herum! Römisch eins: fühlen sich Blumen und Gräser wohl unter meiner Schneedecke, römisch zwei: so lange sie sich wohlfühlen, bleibe ich hier stehen, und römisch drei: damit sie sich noch recht lange wohlfühlen, wirst du, römisch vier: acht Grad Wärmezoll bezahlen.“
„Herr Oberzollsekretär! Ihre Forderung übersteigt jedes erduldbare Maß. Ich protestiere...“
„Römisch fünf!“ sagte der Winter frostig. „Z e h n Grad Zollgebühr. Entweder zahlst du sofort oder du bleibst noch einige Tage zum Skilauf oder gehst spazieren. Mit deiner übertriebenen Hitze kommst du mir jedenfalls nicht ins Land.“
„Hitze nennen Sie mein mildes Klima...? - Darf ich in Fahrenheit zahlen?“
„In Celsius, und zwar, römisch sechs: unverzüglich! Basta!“
„Sie – Sie sind ein eisstirniger und verfrostet konservativer Greis, Sie...“
„Nicht wahr? Ich halte mich frisch, du grüner Lümmel“, sagte der Winter knarrend, „erzähle es unserer Mutter Erde, die doch so viel auf ihreinnere Wärmehält“, und er pustete dem Frühling Raureif ins Gesicht.
„Mutter plagt schwere Müdigkeit, wenn sie nur an Sie denkt. Sie – Sie Zauselbart, Sie werden noch an sich selbst erfrieren.“ Er redete noch eine Zeit lang erregt auf seinen Bruder ein, musste sich schließlich aber fügen. Temperaturstürze konnte er seinen Freunden in der Natur nicht zumuten. Deshalb stapfte er sechs Tage lang in seiner leichten Kleidung über Gletscher und durch Schneewehen und holte sich kalte Füße.
So kam es, dass er in Berlin nicht, wie er es sich vorgenommen hatte, früher, sondern zugleich mit der Mehlschwalbe anlangte. Fröstelnd schwang er sich hinter dem Hochhaus in die kahlen Zweige der Pappel, nieste einen mehrstündigen Nieselregen, entschuldigte sich bei den Knospen für seine Verspätung und hauchte ihnen Mut zu. „Bitte“, sagte er, „bleibt nicht aus Verzweiflung eingerollt und vertrocknet mir womöglich. Ich bin und bleibe zuversichtlich und voller Wärme.“
Die Balkontür stand spaltbreit offen, und der Graue Kater roch den Frühling. Es gab für ihn zwei Jahreszeiten: die Wohnung und der Frühling. Den Frühling, der für ihn bis zum ersten Schneefall dauerte, nannte er dieSchöne Jahreszeit. Er wohnte im sechsten Stockwerk. So hoch, dass er die Wohnung mit dem gelben Berberteppich, den Stuhlbeinen, Kissen, zwei weichen Sesseln, der Couch, der Fußbank, dem Kühlschrank sowie dem roten Fressnapf, als die Welt ansah und die Welt als seine Wohnung. In dieser Welt lebten Frau Barbara, Herr Friedrich, gelegentlich Besucher und vor allem – er selbst. Die Weltanschauung des Grauen Katers hatte offenbar durch seinen Aufenthalt in der Großstadt sehr gelitten. An Erlebnisse in regennassen Gräsern, in sonnenwarmem Sand konnte er sich nur noch vage erinnern. Blickte er deshalb den rasch ziehenden Schönwetterwolken so häufig nach?
Er streckte seine Nase in den frischen Luftzug, schlüpfte auf den Balkon, überwand seine Furcht vor der Tiefe, sprang auf die Brüstung und legte sich zwischen die Primelkästen. Die Sonne wärmte sein Fell und er lauschte den langatmigen, doch interessanten Worten des Windes von dessen bevorstehender Weltreise; träumte lieblich beim Gesang der Vögel, als hätte er nicht erst gestern einen Grünfinken von der Brüstung geschlagen und gefressen.
Sowie er aber den Wind in seinem Fell spürte, duckte er sich lauernd, blinzelte aus Augenschlitzen, vertraute bloß seinen geschmeidigen Muskeln, seinen scharfen Zähnen und wetzte seine Krallen an dem krummen Stück Pflaumenbaum, das Herr Friedrich für ihn aus dem Garten mitgebracht hatte. Er glaubte, aus dem Gezwitscher der Vögel erfahren zu haben, dass man ihm Mitgefühl und Sanftheit als Schwäche auslegte und ihn dafür verachtete. Deshalb äußerte er in seinen kurzen Gesprächen mit der Mehlschwalbe, Frauen seien Schwächlinge, von ihren Gefühlen beherrscht und nicht ernst zu nehmen. Glaubte er sich jedoch unbeobachtet, lag er, den Kopf auf den Pfoten, und träumte mit offenen Augen in die Ferne, erinnerte sich an ein wunderbar freies Gefühl, an seine Kindheit in der Prignitz im Mai vorigen Jahres. Seine Mutter, eine schwarz-weiß gefleckte Katze, dieClowngerufen wurde, und seine fünf Geschwister lebten dort. Doch nie würde er von seiner Sehnsucht sprechen. Nur die Mehlschwalbe, die den Frühling auf seinen Reisen begleitete, wusste von der Sanftmut hinter den Krallen und Zähnen. Erst kürzlich hatte sie den Grauen Kater seufzen und im Schlaf sprechen hören, wie er sich nach Freunden sehnte, mit ihnen Abenteuer zu erleben, über seine Einsamkeit zu reden. Sie behielt ihr Erlebnis für sich, doch sagte sie zu ihm, als er erwachte: „Um Freunde zu finden, musst du dich noch gewaltig ändern...“
Oft glitt sie dicht über ihn hinweg, und er spürte den Luftzug ihrer Flügel. Sie rief ihm Grüße zu. Auf seinem Balkon hatte sie begonnen, ihr Nest zu bauen. Nach dem Mord an dem Grünfinken aber zog sie es vor, auf dem katzenlosen Balkon nebenan zu nisten. „Dein heißer Blick macht mich nervös“, sagte sie beim Auszug. Vor jedem Anflug auf ihr neues Zuhause aber flog sie einen Umweg über seine Blumenkästen. „Aus Gewohnheit an den früheren Weg“, erzählte sie dem Wellensittich aus der zehnten Etage. „Aus Sympathie für den jungen Kater“, schwatzte der Wellensittich in die Gegend. Doch wer blickt schon in das Herz einer Mehlschwalbe?
„Ich grüße dich von Sikesö“, zwitscherte sie schon von Weitem. Da zuckte der Graue Kater zusammen, und sein Räuberherz bebte vor Sehnsucht nach der Schönen Jahreszeit, nach Freunden, nach Klettern auf Bäumen und Dächern und nach Mäusejagden. „Ich grüße von Sikesö den großherzigen, edelmütigen Grauen Kater“, rief sie diesmal mit spöttischem Unterton. „Zwar erkenne ich nichts an dir, das dich sympathischer macht als jede gewöhnliche Stadtkatze, es sei denn, man nennt deinen Hängebauch nett. Dann allerdings gehörst du zu den edelmütigsten Katzen. Doch Sikesö besteht auf ihre Grüße an dich. Ich habe ihr von dir erzählt – und nichts verschwiegen. Doch ist sie so gutmütig, dich zu bewundern und – zu bedauern.“
Der Graue Kater schluckte ihre kleinen Bosheiten, denn sein Herz schlug rascher bei jedem Blick, den die Mehlschwalbe ihm zuwarf. Er wurde nicht müde zu hören, wie sie von Sikesö erzählte, schon der Klang dieses Namens ließ ihn von jemandem träumen, an den er sich schmiegen, mit dem er durch die Natur streifen konnte. Wüsste er nur...
Lange verbarg er seine Neugier. Eines Tages jedoch fragte er sie barsch: „Sag’, wer ist diese – Sch- Schikeschö, dass sie mir Grüße bestellt?“ Er sprach den Namen mit leichtem Sigmatismus, den er sich in seiner Kindheit durch häufiges Fauchen zugezogen hatte. Und die Mehlschwalbe lachte über seine verunglückten Zischlaute. Sie empfand ihr Lachen zwar als taktlos, da ihr aber dem Grauen Kater gegenüber außer treffenden Worten kaum eine andere Waffe blieb, quälten sie ihre Bedenken nicht lange.
„Du kennst Sikesö nicht?“ fragte sie. „Deine Bewunderin, deine wohl einzige Freundin“, dabei senkte sie lächelnd die Stimme, als der Graue Kater ihr enttäuscht in die Augen sah, „die kleine Schildkröte vom Nachbarbalkon?“
„Aha“, sagte der Graue Kater schnurrend, „Sch- Schikeschö, doch, ja, ja“, und er schloss die Augen, um seine Unwissenheit zu verbergen. Ihn ärgerte, dass diese kindische Mehlschwalbe so selbstverständlich mit Namen umging, die er nicht einmal kannte. Er hörte das kleine Mädchen von neben an, diesen Namen häufig rufen. Schildkröten aber hatte er noch nie gesehen. Einen Moment lang fühlte er sich an eine dünne rothaarige Katze aus dem Heuhaufen über dem Prignitzer Kaninchenstall erinnert, die stets aufdringlich und kratzbürstig mit ihm hatte raufen wollen. Herr Friedrich hatte ihn dort bei einem Besuch seines Bruders, Herrn Jörg, im Heu entdeckt und mit nach Berlin genommen.