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Ein Jahrhundertbuch wird 100! Erzählerisches Meisterwerk und die Great American Novel des 20. Jahrhunderts in Neuübersetzung als Jubiläumsausgabe mit 100-Jahre-Gatsby-Zeittafel
«Hey, wenn Der große Gatsby nicht großartig ist, was zum Teufel ist es dann?» Haruki Murakami
«Einer der wenigen klassischen amerikanischen Romane.» John Dos Passos
«Ein himmlisches Buch: die seltenste Sache auf Erden.» Jean Cocteau
«Alles daran ist meisterhaft.» Edith Wharton
«Ein so großartiges Buch.» Ernest Hemingway
Long Island in den Zwanzigerjahren: Altes Geld trifft auf neues Geld, Glamour auf Stil, Moral auf Amoral. Wer hier wohnt, hat es geschafft, so auch der aufstrebende Broker Nick Carraway. Schon bald hört er von einem mysteriösen Nachbarn, der in seiner Nobelresidenz die exzentrischsten Partys von ganz Long Island gibt. Bei Jay Gatsby tanzt die New Yorker Society ums goldene Kalb, und plötzlich ist Nick ein Teil davon. Ein wilder Reigen von Ekstase und Ernüchterung, Betörung und Überdruss, Gier und Verrat beginnt.
Von Bernhard Robben neu übersetzt, sorgfältig ediert und attraktiv inszeniert: Die Manesse-Jubiläumsausgabe erzählt die spannende Geschichte eines Bestsellers, der erst einmal partout keiner sein wollte. Mit 100-Jahre-Gatsby-Zeittafel, Briefen sowie prominenten Stimmen zum Werk und Rezensionen kann dieser Klassiker nun nicht nur von Klassik-Aficionados (wieder)entdeckt werden.
«Niemand wird Amerika je gänzlich kennen, denke ich, da niemand je Gatsby kannte.» Jack Kerouac
«Der Roman eines Genius ... Nach einem Dreivierteljahrhundert hat sich Der große Gatsby noch immer seine Frische bewahrt.» Harold Bloom
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Seitenzahl: 472
Veröffentlichungsjahr: 2025
Jubiläumsausgabe eines Jahrhundertbuchs
F. Scott Fitzgeralds «Great American Novel» von 1925 neu übersetzt von Bernhard Robben, umfassend kommentiert, mit Briefen, Rezensionen, Essays, einer 100-Jahre-Gatsby-Zeittafel sowie einem Nachwort von Claudius Seidl.
Long Island in den Zwanzigerjahren: Altes Geld trifft auf neues Geld, Glamour auf Stil, Amüsiersucht auf Amoral. Wer hier wohnt, der hat es geschafft, so auch Nick Carraway. Schon bald hört er von einem mysteriösen Nachbarn, der die exzentrischsten Partys von ganz Long Island gibt. Bei Jay Gatsby tanzt die New Yorker Society ums goldene Kalb, und plötzlich ist Nick ein Teil davon. Ein wilder Reigen von Ekstase und Ernüchterung, Betörung und Überdruss, Gier und Verrat beginnt. Die Geschichte des sagenhaft reichen Jay Gatsby spielt zu einer Zeit, als «Gin das Nationalgetränk und Sex die nationale Obsession waren» (New York Times). Gespeist von der Magie des Jazz Age, verbindet Fitzgeralds Meisterwerk lyrische Schönheit und brutalen Realismus – ein hochprozentiger Cocktail von seimiger Süße, exquisiter Wermutnote und edel-bittrigem Abgang.
«Hey, wenn Der große Gatsby nicht großartig ist, was zum Teufel ist es dann?»Haruki Murakami
«Einer der wenigen klassischen amerikanischen Romane.»John Dos Passos
«Ein himmlisches Buch: die seltenste Sache auf Erden.»Jean Cocteau
«Alles daran ist meisterhaft.»Edith Wharton
«Ein so großartiges Buch.»Ernest Hemingway
«Niemand wird Amerika je gänzlich kennen, denke ich, da niemand je Gatsby kannte.»Jack Kerouac
F. Scott Fitzgerald
DER GROSSE GATSBY
Roman
Kommentierte Jubiläumsausgabe mit Korrespondenzen, Rezensionen und einer 100-Jahre-Gatsby-Zeittafel
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Bernhard Robben
Herausgegeben und kommentiert von Horst Lauinger
Mit einem Nachwort von Claudius Seidl
MANESSE VERLAG
Wie immer für Zelda
So trag den goldenen Hut, falls es ihr gefällt;
Kannst du hoch springen, spring auch für sie,
Bis sie ruft: «Geliebter, du hoch Springender, du mit dem goldenen Hut,
Ich muss dich haben!»
Thomas Parke d’ Invilliers1
Kapitel I
In meinen jüngeren und empfindsameren Jahren gab mir mein Vater einen Rat, der mir seither im Kopf herumgeht.
«Wenn du meinst, jemanden kritisieren zu müssen», sagte er, «so denk daran, dass nicht alle Menschen auf der Welt dieselben Vorteile hatten wie du.»
Mehr hat er nicht gesagt, doch haben wir uns auf eine reservierte Weise stets gut verstanden, weshalb ich wusste, dass weit mehr damit gemeint war. Seither neige ich folglich dazu, mich jeglichen Urteils zu enthalten, eine Angewohnheit, dank der sich mir viele seltsame Charaktere anvertrauten, die mich allerdings auch zum Opfer manch eines ausgemachten Langweilers werden ließ. Findet sich diese Eigenheit in gewöhnlichen Menschen, wird sie vom ungewöhnlichen Geist gleich entdeckt und vereinnahmt, weshalb mir im College ungerechterweise vorgeworfen wurde, allzu diplomatisch zu sein, besaß ich doch Kenntnis von den geheimen Nöten ungestümer, mir ansonsten unbekannter Menschen. Dabei hatte ich das mir derart Anvertraute meist gar nicht wissen wollen – hatte mich oft schlafend gestellt, beschäftigt getan oder eine abweisende Unbekümmertheit an den Tag gelegt, sobald unfehlbare Anzeichen verrieten, dass am Horizont ein vertrauliches Geständnis drohte, denn eben diese vertraulichen Geständnisse junger Menschen oder doch die Umstände, unter denen sie geäußert werden, sind meist wenig originell und von offenkundig Unterdrücktem entstellt. Solange man sich des Urteils enthält, gibt es stets Hoffnung. Ich fürchte immer noch ein wenig, etwas zu verpassen, falls ich vergesse, was mein Vater einst so hochmütig andeutete und was ich hier ebenso hochmütig wiederhole, dass nämlich der Sinn für fundamentalen Anstand bei der Geburt sehr ungleich verteilt wird.
Nachdem ich solcherart meine Toleranz gerühmt habe, muss ich bekennen, dass sie ihre Grenzen hat. Mag das Benehmen auf festem Fels oder matschigem Sumpf gründen, ab einem gewissen Punkt ist mir egal, worauf es ruht. Als ich letzten Herbst aus dem Osten zurückkehrte, empfand ich den Wunsch, die Welt möge Uniform tragen und gleichsam auf alle Zeit moralisch strammstehen; ich wollte keine weiteren wilden Exkurse mit privilegierten Einsichten ins menschliche Herz. Nur Gatsby, jener Mann, nach dem dieses Buch benannt ist, blieb davon ausgenommen – Gatsby, der für alles stand, wofür ich freimütige Verachtung hegte. Sofern die Persönlichkeit eine ungebrochene Abfolge stimmiger Gebärden ist, verkörperte er etwas Hinreißendes, eine gesteigerte Empfindsamkeit für die Verheißungen des Lebens, fast als wäre er mit einer jener komplizierten Apparaturen verwandt, die Erdbeben aus tausend Meilen Entfernung registrieren. Dieses Feingefühl hatte nichts mit jener schwammigen Beeindruckbarkeit gemein, die sich als «kreativer Geist» selbstbeweihräuchert – sie ist vielmehr eine außergewöhnliche Gabe der Hoffnung, eine romantische Bereitschaft, wie ich sie bei keinem anderen Menschen kenne und vermutlich auch in keinem anderen je wieder antreffen werde. Nein – an Gatsby war letztlich nichts auszusetzen; vielmehr war es, was Gatsby plagte, dieser stickige Staub, der im Gefolge seiner Träume aufgewirbelt wurde und mein Interesse am fruchtlosen Leid und den kurzlebigen Freuden der Menschen zeitweilig erstickte.
Seit drei Generationen schon ist meine angesehene, wohlhabende Familie in dieser Stadt des Mittleren Westens ansässig. Die Carraways sind so etwas wie ein Clan und stammen, einer Überlieferung zufolge, von den Dukes of Buccleuch ab;2 der eigentliche Begründer meines Familienzweigs aber war der Bruder meines Großvaters, der 1851 dort hinkam, einen Stellvertreter in den Bürgerkrieg schickte3 und jenes Eisenwarengeschäft gründete, das mein Vater noch heute führt.
Ich habe diesen Großonkel nie kennengelernt, sehe ihm aber offenbar ähnlich – zumindest dem recht schonungslosen Porträt zufolge, das im Büro meines Vaters hängt. Meinen Abschluss habe ich 1915 in New Haven gemacht,4 exakt ein Vierteljahrhundert nach meinem Vater, und bald darauf nahm ich an jener verspätet einsetzenden teutonischen Wanderung teil, die als der Große Krieg bekannt wurde.5 Ich schätzte unsere Gegenoffensive6 so sehr, dass ich als rastloser Mensch zurückkehrte – also entschied ich, nach Osten zu gehen und das Aktien- und Anleihegeschäft zu erlernen. Jeder, den ich kannte, war im Aktiengeschäft, weshalb ich annahm, dass es noch einen weiteren alleinstehenden Menschen ernähren konnte. All meine Tanten und Onkel erörterten meinen Entschluss, als ginge es darum, die richtige Grundschule für mich zu finden, um dann mit gewichtiger Miene, aber in zögerlichem Ton zu verkünden: «Tja, warum eigentlich nicht?» Vater willigte ein, ein Jahr lang für mich aufzukommen, und nach diversen Verzögerungen reiste ich im Frühjahr zweiundzwanzig in den Osten, für immer, wie ich glaubte. Richtig wäre es gewesen, sich in der Stadt ein Zimmer zu suchen, aber es war die warme Jahreszeit, und ich hatte gerade ein Land mit weiten Rasenflächen und freundlichen Bäumen verlassen, weshalb ich die Idee gut fand, die ein junger Mann im Büro vorbrachte, nämlich dass wir uns ein Haus in der Vorstadt teilen sollten. Er fand auch eins, ein verwittertes Holzhaus für achtzig Dollar im Monat, im letzten Moment beorderte ihn seine Firma jedoch nach Washington, weshalb ich allein aufs Land zog. Ich hatte einen Hund – zumindest für einige Tage, bis er mir dann fortlief –, einen alten Dodge und eine Finnin, die mir das Bett und mein Frühstück machte und die am Elektroherd finnische Weisheiten vor sich hin brummelte.
Etwa einen Tag lang fühlte ich mich einsam, bis mich eines Morgens ein Mann, der nach mir aufs Land gezogen war, anhielt und nach dem Weg fragte. «Wie komme ich zum Dorf West Egg?», erkundigte er sich ratlos.
Ich verriet es ihm. Und als ich weiterging, fühlte ich mich nicht länger einsam. Ich war ein Fremdenführer, ein Pfadfinder, einer der ursprünglichen Siedler. Eher beiläufig hatte mir der Mann die Bürgerrechte der Gegend verliehen.
Und mit dem Sonnenschein und der Laubexplosion der Bäume, den schnell wie im Zeitraffer hervorschießenden Blättern, überkam mich das vertraute Gefühl, mit dem Sommer würde auch das Leben von Neuem beginnen.
Es galt zum einen viel zu lesen, zum anderen aber auch der jungen, atemspendenden Luft viel Heilsames abzugewinnen. Ich kaufte mir ein Dutzend Bücher über das Bank- und Kreditwesen oder über sichere Kapitalanlagen, die auf meinem Regal in Rot und in Gold versammelt waren wie frisch aus der Prägeanstalt kommende Münzen und jene leuchtenden Geheimnisse zu offenbaren versprachen, die nur Midas, Morgan und Maecenas kannten.7 Außerdem hegte ich die hehre Absicht, darüber hinaus noch viele Bücher zu lesen. Im College war ich meinen literarischen Neigungen nachgegangen – hatte für die Yale News ein Jahr lang eine Reihe ebenso ehrwürdiger wie erwartungskonformer Leitartikel geschrieben –, und nun würde ich alldem wieder mehr Platz in meinem Leben einräumen, würde erneut einer dieser beschränktesten aller Spezialisten werden: ein «vielseitig gebildeter Mann». Das ist keineswegs bloß ein Epigramm – schließlich betrachtet man das Leben am erfolgreichsten aus nur einem einzigen Fenster.
Es war reiner Zufall, dass ich ein Haus in einer der sonderbarsten Gemeinden Nordamerikas mietete. Es befand sich auf jener schmalen, wilden Insel, die sich von New York aus direkt gen Osten erstreckt, zwei ungewöhnliche Landformationen inmitten anderer Absonderlichkeiten der Natur. Zwanzig Meilen außerhalb der Stadt zwei gewaltige, eiförmige Inseln mit ähnlichem Umriss und anstandshalber nur durch eine Bucht voneinander getrennt, Inseln, die in das wohl erschlossenste Stück Salzwasser der westlichen Hemisphäre hineinragen, den großen nassen Scheunenhof der Long-Island-Bucht. Es sind keine perfekten Ovale – wie das Ei des Kolumbus8 sind ihre Enden, da, wo sie sich fast berühren, abgeflacht –, doch musste ihre äußerliche Ähnlichkeit den sie überfliegenden Möwen Anlass zu stetigem Staunen bieten. Für uns Flügellose aber ist das interessantere Phänomen ihre Unähnlichkeit in jeder anderen Hinsicht abgesehen von Größe und Form.
Ich wohnte auf West Egg, der kleineren und, nun ja, nicht ganz so mondänen Insel, womit der bizarre und durchaus ein wenig unheilvolle Unterschied zwischen den beiden allerdings nur höchst unzureichend beschrieben ist. Mein Haus stand an der äußersten Spitze der eiförmigen Insel, kaum fünfzig Schritte von der Bucht entfernt und eingezwängt zwischen zwei riesige Anwesen, die den Sommer über sicher an die zwölf- bis fünfzehntausend Miete einbrachten. Das zu meiner Rechten war in jeglicher Hinsicht ein kolossales Etwas – der originalgetreue Nachbau irgendeines Hôtel de Ville aus der Normandie mit einem Turm an der einen Seite, nigelnagelneu unter dem flaumigen Bart noch jungen Efeus, dazu ein marmorner Swimmingpool und mehr als vierzig Morgen9 Rasen und Garten. Das war Gatsbys Landsitz. Vielmehr, da ich Mr. Gatsby noch nicht kannte, ein von einem Gentleman dieses Namens bewohnter Landsitz. Mein eigenes Haus war dagegen ein Schandfleck, aber nur ein kleiner, der übersehen worden war, und so konnte ich den Blick aufs Wasser genießen, den Blick auf einen Teil des Rasens meines Nachbarn und die tröstliche Nähe von Millionären – all das für achtzig Dollar im Monat.
Jenseits der Anstandsbucht glitzerten am Ufersaum die weißen Paläste des vornehmen East Egg, und die Geschichte dieses Sommers beginnt eigentlich erst an jenem Abend, an dem ich zum Abendessen zu den Buchanans fuhr. Daisy war meine Kusine zweiten Grades, und Tom kannte ich vom College. Direkt nach dem Krieg hatte ich zwei Tage bei ihnen in Chicago verbracht.
Zu den diversen sportlichen Leistungen, derer sich Daisys Ehemann rühmen konnte, gehörte auch, dass er einer der kraftvollsten Ends10 gewesen war, die je in New Haven Football gespielt hatten – gleichsam ein Nationalheld, ein Mann, der mit einundzwanzig eine so herausragende wie eng umgrenzte Vortrefflichkeit erzielt hatte, dass allem, was danach kam, der Beigeschmack von Enttäuschung anhaftete. Seine Familie war außerordentlich reich – selbst im College war ihm sein verschwenderischer Umgang mit Geld zum Vorwurf gemacht worden –, inzwischen aber hatte Tom Chicago verlassen, um an die Ostküste überzusiedeln, dies jedoch auf eine Weise, die einem den Atem verschlug: So hatte er etwa von Lake Forest11 eine Reihe Polo-Ponys überführen lassen. Kaum zu fassen, dass ein Mann meiner Generation wohlhabend genug war, sich so etwas leisten zu können.
Warum sie an die Ostküste übersiedelt waren, weiß ich nicht. Ohne besonderen Grund hatten sie ein Jahr in Frankreich verbracht und sich dann ruhelos treiben lassen, hierhin und dorthin, wo immer auch Menschen Polo spielten und gemeinsam reich waren. Dies nun sei ihr endgültiger Umzug, hatte Daisy am Telefon verkündet, was ich ihr aber nicht glaubte – zwar konnte ich Daisy nicht ins Herz schauen, doch ahnte ich, dass Tom sich ewig treiben lassen und stets leicht wehmütig weiter nach dem dramatischen Ungestüm unwiederbringlich vergangener Footballspiele suchen würde.
Und so kam es, dass ich an einem warmen, windigen Abend nach East Egg fuhr, um zwei alte Freunde zu besuchen, die ich kaum kannte. Ihr Haus war noch ausgefallener, als ich es erwartet hatte, eine in fröhlichem Rot-Weiß gehaltene Kolonialvilla im georgianischen Stil mit Blick über die Bucht. Die Grünfläche begann am Strand und lief eine Viertelmeile weit bis zur Haustür, übersprang Sonnenuhren, Ziegelwege und prachtvolle Gärten, bis sie sich schließlich, kaum hatte sie das Haus erreicht, wie vom Schwung ihres Laufs getrieben, in üppigen Ranken an den Hauswänden hochzog. Die Vorderseite wurde durch eine Reihe von Terrassentüren aufgelockert, die soeben in reflektiertem Sonnengold erglühten und sich dem warmen windigen Nachmittag weit öffneten, während Tom Buchanan in Reithosen und mit gespreizten Beinen auf der vorderen Veranda stand.
Er hatte sich seit den Jahren in New Haven verändert. Inzwischen war er ein gedrungener Dreißigjähriger mit strohblondem Haar, ziemlich harter Mundpartie und arrogantem Gebaren. Zwei hochmütig funkelnde Augen hatten die Vorherrschaft über das Gesicht gewonnen und verliehen dem Mann den Anschein, sich stets ein wenig aggressiv vorzubeugen. Nicht einmal das weibische Gepränge seiner Reitkleidung konnte die enorme Kraft dieses Körpers kaschieren – er schien die glänzenden Stiefel bis zum Bersten zu füllen, sodass die obersten Schnürsenkel spannten, und wenn er unter dem dünnen Mantel die Schultern bewegte, war das Spiel großer Muskelpakete zu sehen. Es war ein Körper, der zu enormer Kraftausübung fähig war – ein grausamer Körper.
Seine Stimme, ein schroffer, heiserer Tenor, ergänzte den von ihm vermittelten Eindruck, leicht erregbar zu sein. Ein Anklang altväterlicher Verachtung schwang darin mit, selbst gegenüber Leuten, die er mochte – und es gab einige in New Haven, die ihn bis aufs Blut hassten.
«Nun, glaub nicht, meine Meinung in diesen Dingen sei ausschlaggebend», schien er zu sagen, «nur weil ich stärker und mehr Mann bin, als du es bist.» Wir hatten im Abschlussjahr beide derselben Studentenverbindung12 angehört, und auch wenn wir nie sonderlich vertraut miteinander gewesen waren, hatte ich stets den Eindruck gehabt, dass er mich schätzte und mit der ihm eigenen schroffen, trotzigen Wehmut Wert darauf legte, dass ich ihn mochte.
Wir unterhielten uns einige Minuten lang auf der sonnigen Veranda.
«Ich habe hier eine nette Bleibe», sagte er, während seine Augen rastlos umherblitzten.
Er nahm mich am Arm, drehte mich herum, schwenkte die breite, flache Hand über den Ausblick, der sich uns bot, und umfasste mit seiner Geste einen tiefer gelegten italienischen Garten, einen halben Morgen stark duftender Rosen sowie ein stupsnasiges Motorboot, das in der Dünung schaukelte.
«Es hat Demaine gehört, dem Ölmagnaten.» Er drehte mich zurück, höflich und abrupt. «Gehen wir rein.»
Wir traten durch einen hohen Flur in einen hellen, rosafarbenen Raum, den die Terrassentüren an beiden Enden filigran ins Haus einbanden. Sie standen offen, und ihre Fenster glänzten weiß vor dem frischen Rasen, der fast ins Haus hineinzuwachsen schien. Eine Brise fuhr hindurch, blies Vorhänge gleich fahlen Fähnchen an einem Ende in den Raum hinein und am anderen wieder hinaus, zwirbelte sie hoch zur glasierten Hochzeitskuchendecke und warf Schatten und Wellenmuster auf den weinroten Teppich wie der Wind aufs Meer.
Das einzige, vollends unbewegte Objekt im Zimmer war ein riesiges Sofa, auf dem zwei junge Frauen wie auf einem fest verankerten Ballon schwebten. Sie waren beide ganz in Weiß, und ihre Kleider wehten und flatterten, als wären sie gerade erst nach kurzem Flug rund um das Haus wieder hereingeblasen worden. Ich habe wohl einige Augenblicke nur dagestanden und dem Rascheln und Säuseln der Vorhänge sowie dem Gescharre eines Bildes gelauscht, bis Tom Buchanan mit einem Knall die hinteren Fenster schloss und der nun gefangene Wind im Raum erstarb, sodass die Vorhänge und Teppiche und die beiden jungen Frauen langsam zur Erde niederglitten.
Die Jüngere war mir unbekannt. Sie hatte sich an ihrem Ende des Diwans der Länge nach ausgestreckt und verharrte vollkommen regungslos, das Kinn leicht angehoben, als würde sie darauf etwas balancieren, das herunterzufallen drohte. Falls sie mich aus den Augenwinkeln wahrnahm, ließ sie es sich nicht anmerken – ja, ich war so überrascht, dass ich mich leise murmelnd fast dafür entschuldigt hätte, sie durch mein Hereinkommen gestört zu haben.
Daisy, die andere, traf Anstalten, sich zu erheben – mit pflichtbewusster Miene beugte sie sich leicht vor –, dann aber lachte sie, ein absurdes, charmantes kleines Lachen, und ich lachte auch und machte einige Schritte auf sie zu.
«Ich b-bin wie gelähmt vor Freude.»
Sie lachte wieder, als hätte sie etwas Witziges gesagt, und für einen Moment hielt sie meine Hand fest, sah hoch in mein Gesicht und versicherte mir, dass es niemanden sonst auf der Welt gäbe, den sie lieber sähe. Das war so ihre Art. Leise murmelnd deutete sie an, dass Baker der Nachname der balancierenden Frau sei. (Man hatte mir zugetragen, dass Daisy nur murmelte, damit man sich zu ihr vorbeugte, eine unbedeutende Krittelei, die ihr nichts von ihrem Charme nahm).
Jedenfalls zuckten Miss Bakers Lippen, und sie nickte mir kaum wahrnehmbar zu, ließ den Kopf aber gleich wieder in den Nacken fallen – offenbar war, was sie balancierte, ins Wanken geraten und hatte ihr so einen Schrecken eingejagt. Wieder wollte mir eine Art Entschuldigung über die Lippen kommen. Nahezu jede Zurschaustellung vollendeter Selbstgenügsamkeit kann sich meiner verblüfften Anerkennung gewiss sein.
Ich wandte den Blick wieder meiner Kusine zu, die begonnen hatte, mir in ihrem leisen, betörenden Ton Fragen zu stellen. Ihr eignete jene Art Stimme, der das Ohr auf und ab folgt, als wäre jede Äußerung ein Arrangement von Noten, das nie wieder auf dieselbe Weise gespielt werden würde. Ihr Gesicht war so lieblich wie traurig mit glänzenden Dingen darin, glänzenden Augen, aber auch einem glänzenden, leidenschaftlichen Mund, und in ihrer Stimme schwang eine Aufregung mit, die Männer, denen sie etwas bedeutet hatte, schwerlich vergessen konnten: ein Hang zum Singsang, ein geflüstertes «Hör doch!», eine Versicherung, dass sie gerade erst einige fröhliche, aufregende Dinge erlebt hatte und auch in der nächsten Stunde fröhliche, aufregende Dinge zu erleben erwartete.
Ich sagte ihr, ich hätte auf meiner Fahrt nach Osten für einen Tag in Chicago Halt gemacht und solle ihr von einem Dutzend Menschen Grüße ausrichten.
«Vermissen sie mich?», rief sie begeistert.
«Die ganze Stadt ist verzweifelt. An sämtlichen Autos wurde das linke Hinterrad schwarz angemalt wie ein Trauerkranz, und Nacht für Nacht erklingen entlang der nördlichen Ufer13 Wehklagen.»
«Wie wunderbar! Lass uns zurückfahren, Tom. Morgen!» Um dann ein wenig zusammenhanglos hinzuzufügen: «Du solltest die Kleine sehen.»
«Das würde ich gern.»
«Sie ist drei Jahre und schläft gerade. Hast du sie schon mal gesehen?»
«Noch nie.»
«Nun, du musst sie einfach kennenlernen. Sie ist …»
Tom Buchanan, der rastlos im Zimmer auf und ab gelaufen war, blieb nun stehen und legte mir eine Hand auf die Schulter. «Was treibst du denn so, Nick?»
«Ich arbeite an der Börse.»
«Für wen?»
Ich sagte es ihm.
«Nie gehört», erklärte er entschieden.
Das ärgerte mich. «Wirst du noch», antwortete ich knapp. «Jedenfalls, wenn du hier an der Ostküste bleibst.»
«Ach, ich bleibe an der Ostküste, nur keine Sorge», sagte er, blickte zu Daisy hinüber und sah dann wieder mich an, als erwartete er noch etwas. «Ich wäre ein gottverdammter Narr, wollte ich woanders leben.»
«Absolut!», erklärte Miss Baker im selben Moment so plötzlich, dass ich zusammenzuckte – seit ich das Zimmer betreten hatte, war dies das erste Wort, das ich von ihr vernahm. Was sie offenbar ebenso überrascht hatte wie mich, denn sie gähnte und erhob sich in einer Abfolge rascher, geschmeidiger Bewegungen.
«Bin ich steif», klagte sie, «ich liege bereits seit einer Ewigkeit auf diesem Sofa.»
«Du brauchst mich gar nicht so anzusehen», gab Daisy zurück, «ich versuche schon den ganzen Nachmittag, dich zu einem Ausflug nach New York zu überreden.»
«Nein, danke», sagte Miss Baker, als sie die vier Cocktails sah, die aus dem Anrichteraum gebracht wurden. «Ich bin gerade mitten im Training.»14
Ihr Gastgeber sah sie ungläubig an. «Ach ja?»
Er stürzte seinen Drink hinunter, als wäre nur ein einziger Schluck im Glas. «Mir ist völlig schleierhaft, wie du überhaupt irgendwas geregelt bekommst.»
Ich sah Miss Baker an und fragte mich, was sie denn geregelt bekommen sollte. Es gefiel mir, sie anzuschauen. Sie war eine schlanke, junge Frau mit kleinen Brüsten und einer sehr aufrechten Haltung, was sie noch dadurch betonte, dass sie die Schultern durchdrückte wie ein junger Kadett. Ihre grauen, sonnengeblendeten Augen im blassen, charmanten, missmutigen Gesicht erwiderten meinen Blick mit höflicher Neugier. Mir fiel jetzt ein, dass ich sie oder ein Bild von ihr schon einmal irgendwo gesehen hatte.
«Sie wohnen in West Egg», bemerkte sie herablassend. «Ich kenne da jemanden.»
«Ich kenne da keinen einzigen …»
«Aber Gatsby, den müssen Sie doch kennen.»
«Gatsby?», fragte Daisy. «Was für einen Gatsby?»
Ehe ich antworten konnte, dass er mein Nachbar sei, wurde zum Abendessen gerufen, und Tom Buchanan klemmte seinen muskulösen Arm herrisch unter meinen und schob mich aus dem Zimmer, als schiebe er eine Schachfigur auf ein anderes Feld.
Schlank, lässig, die Hände leicht in den Hüften, schritten die beiden jungen Frauen vor uns her auf eine in Rosa getauchte, zum Sonnenuntergang offene Veranda mit einem Tisch, auf dem vier Kerzen im nachlassenden Wind flackerten.
«Wozu Kerzen?», kritisierte Daisy stirnrunzelnd und schnippte sie mit den Fingern aus. «In zwei Wochen ist der längste Tag des Jahres.» Sie strahlte uns alle an. «Wartet ihr auch immer auf den längsten Tag des Jahres und verpasst ihn dann? Also ich warte immerzu auf den längsten Tag und verpasse ihn jedes Mal.»
«Wir sollten irgendetwas unternehmen», sagte Miss Baker gähnend und setzte sich an den Tisch, als ginge sie zu Bett.
«Na schön», sagte Daisy. «Und was?» Sie drehte sich ratlos zu mir um. «Was unternimmt man denn so?»
Ehe ich antworten konnte, musterte sie mit ehrfurchtsvollem Blick einen ihrer kleinen Finger. «Seht doch!», klagte sie. «Ich hab mich verletzt.»
Wir sahen alle hin – der Knöchel war grün und blau angelaufen.
«Du warst das, Tom», sagte sie anklagend. «Ich weiß, du hast es nicht gewollt, aber du bist das gewesen. Das hat man davon, wenn man so einen Rohling heiratet, so ein großes, riesiges, vierschrötiges Exemplar von einem …»
«Ich hasse das Wort ‹vierschrötig›», warf Tom ungehalten ein, «auch wenn es im Scherz gesagt wird.»
«Vierschrötig», beharrte Daisy.
Manchmal redeten sie und Miss Baker gleichzeitig, dabei jedoch verhalten und mit neckischer Zusammenhanglosigkeit, die nie zu bloßem Geplauder verkam und so kühl wirkte wie ihre weißen Kleider oder der unpersönliche Ausdruck ihrer Augen, denen jegliches Verlangen fremd zu sein schien. Sie waren hier, sie akzeptierten Tom und mich und gaben sich bloß dem höflichen Bemühen hin, uns zu unterhalten oder selbst unterhalten zu werden. Sie wussten, das Abendessen würde bald vorbei sein, genau wie wenig später auch der Abend vergangen und achtlos abgehakt sein würde. Was in scharfem Kontrast zur Westküste stand, wo ein Abend von Augenblick zu Augenblick bis zu seinem Ende dahinhastete, getragen von immerzu enttäuschter Erwartung oder purer nervöser Angst vor dem Moment selbst.
«Wenn ich dich höre, Daisy, fühle ich mich so unzivilisiert», gestand ich bei meinem zweiten Glas nach Kork schmeckendem, ansonsten aber recht eindrucksvollem Rotwein. «Können wir nicht über die Ernte oder so was reden?»
Ich hatte damit nichts weiter sagen wollen, doch rief meine Bemerkung eine überraschende Wirkung hervor.
«Die Zivilisation geht in die Brüche», stieß Tom heftig hervor. «In der Hinsicht bin ich schrecklich pessimistisch geworden. Habt ihr von diesem Goddard Aufstieg der farbigen Völker15 gelesen?»
Von seinem Ton überrascht, antwortete ich: «Nein. Wieso?»
«Tja, ein gutes Buch, sollte jeder lesen. Es geht darum, dass wir, also die weiße Rasse, restlos untergehen werden, wenn wir nicht aufpassen. Alles wissenschaftlich belegt und bewiesen.»
«Tom wird neuerdings so tiefgründig», sagte Daisy mit einem Anflug gedankenloser Traurigkeit. «Er liest richtig kluge Bücher mit ganz langen Worten. Wie hieß noch mal das Wort, das wir …»
«Nun ja, das sind ausnahmslos wissenschaftliche Bücher», bestätigte Tom und sah sie ungehalten an. «Dieser Mann hat einfach alles durchdacht. Wenn wir, also die herrschende Rasse, nicht aufpassen, dann werden die anderen Rassen die Macht an sich reißen.»
«Wir müssen sie bezwingen», wisperte Daisy und zwinkerte dabei grimmig ins glühende Licht der Sonne.
«Wir sollten in Kalifornien leben …», begann Miss Baker, aber Tom unterbrach sie, indem er sich nachdrücklich auf seinem Stuhl zurechtruckelte. «Es geht darum, dass wir alle der nordischen Rasse angehören. Ich, du und du und …» Nach einem kaum wahrnehmbaren Zögern schloss er mit leichtem Nicken auch Daisy ein, woraufhin sie mir erneut zuzwinkerte. «… wir haben alles hervorgebracht, was die Zivilisation ausmacht, also Wissenschaft und Kunst und so. Versteht ihr?»
Seine Konzentration wirkte ein wenig bedauernswert, fast, als genügte ihm seine stärker als sonst ausgeprägte Selbstzufriedenheit nicht länger. Als der Butler kurz darauf die Veranda verließ, da im Haus das Telefon klingelte, nutzte Daisy diese kurze Störung, um sich zu mir vorzubeugen. «Ich verrate dir ein Familiengeheimnis», flüsterte sie aufgeregt. «Dabei geht es um die Nase des Butlers. Willst du was über die Nase des Butlers hören?»
«Unbedingt, allein deshalb bin ich heute Abend doch hergekommen.»
«Nun, er ist nicht immer Butler gewesen; früher war er einmal der Silberputzer einer Familie in New York, die ein Silberservice für zweihundert Personen besaß. Das musste er von morgens bis abends putzen, bis schließlich seine Nase darunter zu leiden begann …»
«Und von dem Tag an wurde es immer schlimmer?», riet Miss Baker.
«Genau. Von da an wurde es immer schlimmer, bis er seine Stellung schließlich aufgeben musste.»
Einen Moment lang fiel der letzte Sonnenstrahl mit romantischer Zuneigung auf ihr leuchtendes Gesicht; und Daisys Stimme zog mich derart in ihren Bann, dass ich mich atemlos vorbeugte, bis der Schimmer verblasste und alles Licht sie so zaudernd und bedauernd verließ wie Kinder, die zur Dämmerung die verlockende Straße verlassen müssen.
Der Butler kehrte zurück und flüsterte Tom etwas ins Ohr, woraufhin der die Stirn runzelte und seinen Stuhl zurückschob, um ohne ein Wort ins Haus zu gehen. Und als hätte seine Abwesenheit etwas in ihr angestoßen, beugte Daisy sich aufs Neue vor und erklärte in überschwänglichem, melodischem Ton: «Ich liebe es, dich an meinem Tisch zu sehen, Nick. Du erinnerst mich an … an eine Rose, eine vollkommene Rose. Ist es nicht so?» Bestätigung heischend wandte sie sich zu Miss Baker um: «Eine vollkommene Rose?»
Das war völliger Unsinn. Nicht einmal annähernd sehe ich einer Rose ähnlich. Daisy improvisierte einfach nur, verbreitete dabei aber eine so erregende Wärme, als reichte sie mir, verborgen in einem der atemlosen, betörenden Worte, ihr Herz dar. Unversehens warf sie jedoch die Serviette auf den Tisch, entschuldigte sich und ging ins Haus.
Miss Baker und ich wechselten einen kurzen, bewusst belanglosen Blick. Ich wollte etwas sagen, als sie sich wachsam aufrichtete und in warnendem Ton «Pssst!» machte. Aus dem Zimmer nebenan war ein unterdrücktes, doch aufgeregtes Flüstern zu hören, woraufhin sich Miss Baker schamlos vorbeugte, um besser verstehen zu können. Das Murmeln ebbte am Saum des Verständlichen entlang, flaute ab, stieg erregt wieder an, und versiegte dann gänzlich.
«Dieser Mr. Gatsby, von dem Sie geredet haben, ist mein Nachbar …», begann ich.
«Jetzt nicht. Ich will hören, was da los ist.»
«Ist denn etwas los?», fragte ich treuherzig.
«Wollen Sie behaupten, Sie wüssten es nicht?», fragte Miss Baker ehrlich überrascht. «Ich dachte, alle Welt wüsste es.»
«Ich nicht.»
«Nun …», begann sie zögerlich. «Tom hat da eine Frau in New York.»
«Eine Frau?», wiederholte ich konsterniert.
Miss Baker nickte. «Sie sollte doch zumindest den Anstand besitzen, ihn nicht beim Abendessen anzurufen. Was meinen Sie?»
Noch ehe mir die Bedeutung ihrer Worte aufging, hörten wir ein Kleid rascheln, Lederstiefel knirschen, und Tom und Daisy kamen wieder an den Tisch.
«Das ist jetzt unbedingt nötig gewesen», rief Daisy mit gespielt guter Laune.
Sie setzte sich und blickte fragend zu Miss Baker und dann zu mir herüber, ehe sie fortfuhr: «Ich habe einen Moment nach draußen geschaut; da ist es so romantisch. Auf dem Rasen hockte ein Vogel, und ich habe mir vorgestellt, er sei eine Nachtigall, eine, die auf einem Dampfer der Cunard Line oder der White Star Line zu uns herübergekommen ist.16 Sie singt so schön …», sang sie. «Das ist doch höchst romantisch, nicht wahr, Tom?»
«Sehr romantisch», erwiderte er, um sich dann in einem etwas bekümmerten Ton an mich zu wenden: «Wenn es nach dem Essen noch hell ist, würde ich dir gern die Ställe zeigen.»
Im Haus klingelte erneut aufdringlich das Telefon, und während Daisy über Tom entschieden den Kopf schüttelte, löste sich das Thema «Ställe» wie auch jedes andere Thema in Luft auf. An die letzten fünf Minuten am Tisch erinnere ich mich nur bruchstückhaft, so etwa daran, dass sinnloserweise die Kerzen wieder angezündet wurden und ich mir bewusst war, jedem direkt ins Gesicht sehen und zugleich jeden Blick vermeiden zu wollen. Was Daisy und Tom dachten, konnte ich mir nicht einmal im Entferntesten ausmalen, doch bezweifle ich, dass selbst Miss Baker, der es anscheinend gelungen war, sich eine gesunde Skepsis zuzulegen, die schrille metallische Zudringlichkeit des fünften Gastes gänzlich auszublenden vermochte. Manch einer hätte dieser Situation vielleicht etwas abgewinnen können – mir aber war so gar nicht danach zumute, und ich hätte am liebsten gleich die Polizei gerufen.
Es erübrigt sich wohl zu sagen, dass die Pferde nie wieder erwähnt wurden. Tom und Miss Baker, zwischen sich mehrere Schritte Zwielicht, schlenderten zurück zur Bibliothek wie zu einer Totenwache bei einem überaus realen Leichnam, während ich mich, als ich Daisy über eine Reihe miteinander verbundener Terrassen zur vorderen Veranda folgte, ein wenig taub stellte und mich bemühte, freundliches Interesse zu heucheln. In tiefem Dämmerlicht nahmen wir nebeneinander auf einem Korbsofa Platz.
Daisy legte ihr Gesicht in die Hände, als wollte sie dessen liebliche Form betasten, und langsam wanderte ihr Blick hinaus ins samtige Dunkel. Da ich sah, wie aufgewühlt sie war, stellte ich einige sie hoffentlich beschwichtigende Fragen nach ihrem kleinen Mädchen.
«Wir kennen uns nicht besonders gut, Nick», erwiderte sie plötzlich, «obwohl wir verwandt sind. Du warst auch nicht bei meiner Hochzeit.»
«Da war ich noch im Krieg.»
«Stimmt.» Sie zögerte. «Nun, Nick, wie auch immer, ich habe jedenfalls eine schlimme Zeit durchgemacht und bin seither ziemlich zynisch geworden.»
Sie besaß offensichtlich auch allen Grund dazu. Ich wartete, aber sie sagte nichts weiter, und nach einer Weile kam ich eher halbherzig wieder auf ihre Tochter zurück.
«Ich nehme an, sie kann schon reden – essen und all das?»
«O ja.» Sie blickte mich ein wenig gedankenverloren an. «Hör mal, Nick, lass mich dir erzählen, was ich kurz nach ihrer Geburt gesagt habe. Willst du das hören?»
«Unbedingt.»
«Dann wirst du begreifen, warum ich inzwischen so … denke. Also, sie war kaum eine Stunde alt, und Tom trieb sich weiß Gott wo herum. Ich wachte aus der Narkose auf, fühlte mich gänzlich verlassen und fragte die Schwester gleich, ob es ein Junge sei oder ein Mädchen. Sie sagte, es sei ein Mädchen, also wandte ich den Kopf ab und weinte. ‹Aber gut›, sagte ich, ‹ich freue mich, dass es ein Mädchen ist. Und ich hoffe, sie wird eine Närrin werden – denn das ist das Beste, was ein Mädchen in dieser Welt sein kann, eine schöne kleine Närrin.›»
«Weißt du, ich finde ja alles auch ganz schrecklich», fuhr sie in entschiedenem Ton fort. «Jeder denkt so – selbst die fortschrittlichsten Leute. Ich aber weiß es. Ich war überall und habe alles gesehen, alles getan.» Ihre Augen blitzten voller Trotz, fast wie die von Tom, und sie lachte mit aufreizendem Spott. «So weltklug – ach, was bin ich weltklug!»
In dem Moment, in dem sie verstummte, in dem ihre Stimme nicht länger meine Aufmerksamkeit, mein Einvernehmen forderte, erahnte ich die elementare Unsicherheit hinter all dem, was sie gesagt hatte. Und ich fühlte mich äußerst unbehaglich, fast, als wäre der ganze Abend nur ein Vorwand gewesen, mir eine gewisse Anteilnahme zu entlocken. Ich wartete, und richtig, einen Moment später bedachte sie mich mit einem so affektierten Lächeln, als hätte sie gerade ihre Mitgliedschaft in einer überaus vornehmen Geheimgesellschaft unter Beweis gestellt, der sie und Tom angehörten.
*
Der karmesinrote Raum im Haus war taghell erleuchtet. Tom und Miss Baker saßen auf dem langen Sofa, jeder an einem Ende, und während sie ihm laut aus der Saturday Evening Post17 vorlas, fügten sich ihre hingemurmelten, gleichmäßig betonten Worte zu einer besänftigenden Melodie. Das Licht der Lampen, glänzend auf seinen Stiefeln, stumpf auf ihrem herbstlaubgelben Haar, glitzerte über das Papier, wenn sie mit einem leichten Muskelspiel ihrer schlanken Arme die Zeitungsseiten umblätterte.
Als wir hereinkamen, gebot sie uns mit erhobener Hand noch einen Augenblick zu schweigen. «Und die Fortsetzung», sagte sie, während sie die Zeitung auf den Tisch warf, «folgt in der nächsten Ausgabe.»
Mit einem nervösen Kniezittern brachte sich ihr Körper in Erinnerung, und sie erhob sich. «Zehn Uhr», merkte sie an, als ob sie die Uhrzeit an der Decke abgelesen hätte. «Schlafenszeit für brave Mädchen.»
«Jordan spielt morgen ein Turnier», erklärte Daisy, «drüben in Westchester.»
«Ach – Sie sind Jordan Baker.»
Jetzt wusste ich, wieso sie mir bekannt vorkam – ihr so reizend missbilligendes Gesicht hatte mich schon aus vielen Tiefdruckfotografien18 von sportlichen Ereignissen in Asheville, Hot Springs oder Palm Beach angesehen.19 Zudem hatte man mir eine Geschichte über sie erzählt, irgendeine heikle, unerfreuliche Geschichte, nur worum es dabei gegangen war, hatte ich längst vergessen.
«Gute Nacht», sagte sie leise. «Weckt mich bitte um acht.»
«Du musst dann aber auch aufstehen.»
«Werde ich. Gute Nacht, Mr. Carraway. Wir sehen uns sicher bald wieder.»
«Natürlich werdet ihr das», bestätigte Daisy. «Ich denke sogar, ich werde euch verkuppeln. Komm doch öfter vorbei, Nick, und ich bringe euch – na, ihr wisst schon – irgendwie zusammen, sperre euch aus Versehen in einen Wäscheschrank, setze euch in einem Boot auf dem Meer aus, irgendwas in der Art …»
«Gute Nacht», rief Miss Baker von der Treppe. «Ich will kein Wort davon gehört haben.»
«Sie ist so entzückend», sagte Tom nach einem Moment. «Man sollte sie bloß nicht frei herumlaufen lassen.»
«Wer sollte das nicht?», fragte Daisy kühl.
«Ihre Familie.»
«An Familie hat sie nur eine tausend Jahre alte Tante. Außerdem kümmert sich Nick von jetzt an um sie, nicht wahr, Nick? Sie wird in diesem Sommer sicher viele Wochenenden hier bei uns verbringen, und der häusliche Einfluss dürfte ihr guttun.»
Daisy und Tom sahen sich einen Moment lang schweigend an.
«Kommt sie aus New York?», fragte ich rasch.
«Aus Louisville. Unsere unschuldige Mädchenzeit haben wir gemeinsam verbracht. Unsere schöne unschuldige …»
«Hast du eben auf der Veranda Nick dein Herz ausgeschüttet?», wollte Tom plötzlich wissen.
«Hab ich das?» Sie sah mich an. «Ich weiß nicht, aber wenn ich mich richtig erinnere, wurde über die nordische Rasse geredet. Ja, ich bin mir sogar ganz sicher. Irgendwie sind wir darauf gekommen, und ehe wir wussten, wie …»
«Glaub nicht alles, was du hörst, Nick», empfahl er mir.
Ich erwiderte leichthin, ich hätte überhaupt nichts gehört, und erhob mich wenige Augenblicke später, um nach Hause zu gehen. Sie brachten mich an die Tür und standen mit mir in einem hellen Lichtviereck. Doch als ich kurz darauf den Motor anließ, rief Daisy gebieterisch: «Halt! – Ich habe vergessen, dich was zu fragen, und es ist wichtig. Uns ist zu Ohren gekommen, dass du mit einer Frau aus dem Westen verlobt bist.»
«Stimmt», pflichtete Tom ihr bei. «Wir haben gehört, dass du verlobt bist.»
«Nichts als üble Nachrede. Dafür bin ich viel zu arm.»
«Aber es wurde uns erzählt», beharrte Daisy, die sich zu meiner Überraschung wie eine Blume erneut öffnete. «Von drei verschiedenen Leuten, also muss was dran sein.»
Natürlich wusste ich, worauf sie anspielten, nur war ich nicht einmal ansatzweise verlobt. Die Tatsache, dass man besagtem Klatsch zufolge bereits das Aufgebot bestellt hatte, zählte zu den Gründen, weshalb ich an die Ostküste gegangen war. Man kann zwar nicht aufhören, sich wegen irgendwelcher Gerüchte mit einer langjährigen Freundin zu treffen, man kann sich davon aber auch nicht in eine Ehe treiben lassen.
Ihre Neugier rührte mich und machte sie nicht ganz so unantastbar reich – dennoch fuhr ich ein wenig verwirrt und leicht angewidert davon. Ginge es nach mir, müsste Daisy mit dem Kind im Arm aus dem Haus fliehen, doch schien sie keinerlei Absichten dieser Art zu hegen. Und was Tom betraf, so fand ich es weit überraschender, dass er sich von einem Buch deprimieren ließ, als dass er «eine Frau in New York» hatte. Irgendwas brachte ihn dazu, an den Rändern abgestandener Ideen zu knabbern, fast, als könnte dem herrischen Herzen sein leiblicher, robuster Egoismus allein nicht länger genügen.
Schon lag der Hochsommer auf den Dächern der Rasthäuser und vor den Tankstellen am Straßenrand, wo neue rote Zapfsäulen aus Lichtpfützen aufragten, und als ich bei meinem Grundstück in West Egg ankam, fuhr ich den Wagen in den Schuppen, um mich im Hof für eine Weile auf die liegengebliebene Rasenwalze zu setzen. Der Wind hatte sich gelegt und eine laute, helle Nacht zurückgelassen, im Blattwerk der Bäume flatterten Flügel, und der Orgelton der Frösche erklang, als hauchte ihnen der Blasebalg der Erde beständig neues Leben ein. Durch das Mondlicht waberte die Silhouette einer Katze, und als ich den Kopf nach ihr umwandte, sah ich, dass ich nicht mehr allein war – gut zehn Meter entfernt war aus dem Schatten des Anwesens meines Nachbarn eine Gestalt aufgetaucht, stand mit den Händen in den Taschen da und schaute zum silbrigen Streusalz der Sterne auf. Etwas in den entspannten Bewegungen und der selbstsicheren Art verriet mir, dass es sich um Mr. Gatsby höchstpersönlich handelte, der vors Haus getreten war, um sich seines Anteils am Himmel über uns zu vergewissern.
Ich beschloss, ihn anzusprechen. Miss Baker hatte beim Abendessen seinen Namen erwähnt, was mir eine hinreichende Empfehlung zu sein schien. Dann unterließ ich es aber doch, da er plötzlich zu erkennen gab, lieber allein sein zu wollen – er streckte auf seltsame Weise die Arme zum dunklen Wasser hin aus, und trotz der Entfernung zwischen uns hätte ich schwören können, dass er zitterte. Unwillkürlich wanderte mein Blick zum Meer, nur konnte ich nichts weiter als ein vereinzeltes grünes Licht ausmachen, winzig und in weiter Ferne, vielleicht am Ende eines Stegs. Als ich erneut hinsah, war Gatsby verschwunden und ich wieder allein in der ruhelosen Dunkelheit.
Kapitel II
Etwa auf halbem Weg zwischen West Egg und New York gesellt sich die Straße hastig zur Schiene und begleitet sie für eine Viertelmeile, fast als schreckte sie vor einem trostlosen Landstrich zurück. Dies ist ein Tal der Asche20 – ein fantastisches Anwesen, auf dem Asche sich wie Weizen zu Anhöhen, Hügeln und grotesken Gärten formt, auf dem Asche die Gestalt von Häusern, Schornsteinen und aufsteigendem Rauch annimmt und mit einer übernatürlichen Anstrengung schließlich sogar die von aschgrauen Menschen, die sich schemenhaft und schon zerfallend durch pudrige Luft bewegen. Hin und wieder kriecht eine Reihe grauer Waggons über ein unsichtbares Gleis, und sogleich schwärmen aschgraue Menschen mit bleiernen Spaten aus, um eine undurchdringliche Wolke aufzuwirbeln, die ihr obskures Tun vor allen Blicken verbirgt.
Über dem fahlen Geviert und den grauen, endlos darüber hinwegstrudelnden Staubwolken entdeckt man erst nach einer Weile die Augen von Doktor T. J. Eckleburg. Und diese Augen von Doktor T. J. Eckleburg sind blau und riesig – allein ihre Pupillen sind einen Meter groß. Sie blicken aus keinem Gesicht, sondern nur durch eine gigantische gelbe Brille, die auf einer nicht vorhandenen Nase sitzt. Offenbar hatte irgendein Witzbold sie dort angebracht, um für seine Praxis zu werben, und ist seither selbst mit ewiger Blindheit geschlagen, oder aber er war fortgezogen und hatte sie vergessen. Seine Augen jedoch, nach so vielen Tagen ohne frischen Anstrich durch Sonne und Regen längst verblasst, blickten weiterhin mit grübelndem Blick über diese düstere Schutthalde.
Das Tal der Asche wird auf einer Seite von einem schmalen trüben Fluss begrenzt, und wenn die Zugbrücke geöffnet wird, um Kähne durchzulassen, haben die Passagiere in den wartenden Zügen oft bis zu einer halben Stunde Gelegenheit, sich diesem trostlosen Anblick hinzugeben. Immer gibt es dort aber wenigstens eine Minute Aufenthalt, und bei einer solchen Gelegenheit begegnete ich Tom Buchanans Geliebter zum ersten Mal.
Dass er eine hatte, war unstrittig, wo immer man ihn kannte. Verübelt aber wurde ihm vor allem, dass er sie in beliebte Lokale mitnahm, um sie dann an einem Tisch sitzenzulassen, während er selbst umherschlenderte und mit aller Welt plauderte. Natürlich war ich neugierig auf sie, spürte allerdings keinerlei Verlangen, ihre Bekanntschaft zu machen – und machte sie dann doch. Eines Nachmittags fuhr ich mit Tom im Zug nach New York, aber als wir bei den Aschehaufen hielten, sprang er auf, packte mich am Ellbogen und zerrte mich geradezu aus dem Zug.
«Wir steigen hier aus», erklärte er mit Nachdruck. «Ich möchte dich mit meiner Freundin bekannt machen.»
Ich fürchte, er hatte zum Mittagessen ein Gläschen zu viel getrunken, weshalb die Entschlossenheit, mit der er auf meiner Gesellschaft beharrte, geradezu an Gewalt grenzte. Außerdem ging er hochmütig davon aus, dass ich an einem Sonntagnachmittag nichts Besseres zu tun haben könnte.
Ich folgte ihm über einen niedrigen, weiß getünchten Eisenbahnzaun, und unter Doktor Eckleburgs beharrlichem Blick liefen wir einige hundert Meter auf der Straße zurück. Das einzige Gebäude in Sichtweite stand am Rand des Ödlands21, ein kleiner Häuserblock aus gelbem Ziegel, zu dem ein kompaktes, nichts weiter verbindendes Stück Hauptstraße führte. Einer der dort befindlichen Läden war zu vermieten, ein zweiter eine rund um die Uhr geöffnete Gaststätte, zu der ein Ascheweg führte, der dritte eine Autowerkstatt – Reparaturen. GEORGE B. WILSON. An-undVerkauf –, und in die folgte ich Tom.
Das Interieur, ohnehin nur ganz spärlich vorhanden, war unansehnlich, der einzig sichtbare Wagen das eingestaubte Wrack eines Fords, das sich in eine dämmrige Ecke duckte. Mir kam der Gedanke, dieser Abklatsch einer Werkstatt könne nur eine Attrappe sein, etwa der heimliche Zugang zu luxuriösen, romantischen, im Oberstock gelegenen Wohnungen, als der Besitzer in der Tür zu seinem Büro auftauchte und sich die Hände an einem alten Lappen abwischte. Er war ein blonder, phlegmatischer Mann, kraftlos, doch leidlich gut aussehend. Als er uns entdeckte, flammte in seinen hellblauen Augen ein feuchter Schimmer Hoffnung auf.
«Hallo, Wilson, altes Haus», sagte Tom und klopfte ihm kumpelhaft auf die Schulter. «Wie läuft das Geschäft?»
«Kann nicht klagen», erwiderte Wilson wenig überzeugend. «Wann verkaufen Sie nun diesen Wagen?»
«Nächste Woche; einer meiner Leute arbeitet dran.»
«Der arbeitet wohl ziemlich langsam, oder?»
«Nein, tut er nicht», erwiderte Tom kühl. «Aber wenn Sie das so sehen, verkaufe ich ihn vielleicht doch lieber an jemand anderen.»
«So hab ich das nicht gemeint», erklärte Wilson rasch. «Ich dachte nur …»
Er verstummte, und Tom blickte sich ungeduldig in der Werkstatt um. Dann hörte er Schritte auf einer Treppe, und wenig später verdeckte die dralle Figur einer Frau das Licht aus dem Büro. Sie war Mitte dreißig und ein wenig mollig, wirkte aber, wie manche Frauen es vermögen, trotz ihrer Fülle durchaus sinnlich. Ihr Gesicht über dem getüpfelten Kleid aus dunkelblauem Crêpe de Chine zeigte keinen Funken, keinen Schimmer von Schönheit, doch verströmte sie eine nicht zu übersehende Vitalität, so als ob all ihre Nervenenden ständig glühten. Sie deutete ein Lächeln an, ging an ihrem Mann vorbei, als wäre er nur ein Geist, gab Tom die Hand und schaute ihm direkt ins Gesicht. Dann fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen und sagte, ohne sich umzudrehen, mit leiser, rauer Stimme zu ihrem Mann: «Jetzt hol schon ein paar Stühle, damit wir uns setzen können.»
«Ja, natürlich», sagte Wilson geflissentlich und eilte zu seinem kleinen Büro, um gleich darauf mit der Zementfarbe der Wände zu verschmelzen. Weißer Aschestaub überzog seinen dunklen Anzug und sein fahles Haar wie alles andere in der Nähe – die eigene Frau ausgenommen, die näher an Tom heranrückte.
«Wir müssen uns sehen», erklärte Tom eindringlich. «Nimm den nächsten Zug.»
«Ja, gut.»
«Wir treffen uns unten beim Zeitungsstand.»
Sie nickte und zog sich in dem Moment von Tom zurück, in dem Wilson mit zwei Stühlen aus seinem Büro kam.
Außer Sicht warteten wir weiter unten an der Straße auf sie. In wenigen Tagen war der vierte Juli22, und ein graues, mageres, italienisches Kind legte ein paar Feuerwerkskörper in einer Reihe nacheinander auf die Schienengleise.
«Grässliche Gegend, nicht?», sagte Tom, während er stirnrunzelnd zu Doktor Eckleburg hinübersah.
«Ja, fürchterlich.»
«Tut ihr gut, hier mal rauszukommen.»
«Hat ihr Mann nichts dagegen?»
«Wilson? Der glaubt, sie fährt ihre Schwester in New York besuchen. Der Mann ist so blöd, der weiß kaum, dass er lebt.»
Also fuhr ich mit Tom Buchanan und dieser Frau nach New York – allerdings nicht zusammen, da Mrs. Wilson schicklicherweise in einem anderen Waggon Platz nahm. Für Tom ein Zugeständnis an die Empfindlichkeiten jener East Eggers, die sich gleichfalls im Zug aufhalten mochten.
Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt ein Kleid aus braunem gemustertem Musselin, das um ihre recht breiten Hüften spannte, als Tom ihr in New York auf den Bahnsteig half. Am Zeitungskiosk kaufte sie sich eine Ausgabe der Town Tattle23 sowie eine Filmillustrierte24, Feuchtigkeitscreme und ein Fläschchen Parfüm. Oben, am feierlich widerhallenden Taxistand, ging sie an vier Autos vorbei, ehe sie sich für einen fabrikneuen lavendelfarbenen Wagen mit grauen Polstern entschied, und so glitten wir schließlich aus dem Bahnhofsgewühl in den strahlenden Sonnenschein. Jählings aber wandte sie sich vom Fenster ab, beugte sich vor und pochte an die Trennscheibe. «Ich will einen von den Hunden da», erklärte sie allen Ernstes. «Für die Wohnung. Einen Hund zu haben – das wäre doch so hübsch.»
Wir rollten zurück zu einem grauhaarigen alten, John D. Rockefeller25 absurd ähnlich sehenden Mann, der einen Korb um den Hals trug, in dem ein Dutzend Welpen unbestimmter Herkunft kauerte.
«Was sind das für welche?», fragte Mrs. Wilson wissbegierig, sobald er ans Taxifenster trat.
«Alles verschiedene. Was wollen Sie denn für einen, meine Dame?»
«Ich hätte gern einen von diesen Polizeihunden, aber so einen haben Sie sicher nicht, oder?»
Der Mann blickte zweifelnd in den Korb, tauchte mit der Hand hinein, packte einen zappelnden Welpen am Nackenfell und zog ihn heraus.
«Aber das ist kein Polizeihund», sagte Tom.
«Nein, so richtig nicht», gestand der Mann, in dessen Stimme Enttäuschung mitschwang. «Ist eher ein Airedale.» Er fuhr mit der Hand über den braunen Waschlappenrücken. «Aber sehen Sie das hier? Was für ein Fell. So ein Hund, der holt sich nicht so schnell eine Erkältung.»
«Ich find ihn süß», erklärte Mrs. Wilson begeistert. «Wie viel kostet er?»
«Der?» Der Mann musterte den Hund mit bewunderndem Blick. «Der kostet Sie zehn Dollar.»
Der Airedale – fraglos steckte etwas von einem Airedale in ihm, auch wenn die Pfoten weiß waren – wechselte den Besitzer und rollte sich in Mrs. Wilsons Schoß zusammen, die daraufhin mit wahrer Hingabe das wetterfeste Fell zu streicheln begann.
«Ist das ein Junge oder ein Mädchen?», fragte sie schüchtern.
«Der da? Ein Junge.»
«Das ist eine Hündin», erklärte Tom entschieden. «Hier haben Sie Ihr Geld. Ziehen Sie los und kaufen Sie sich zehn neue Hunde dafür.»
Wir fuhren an diesem sommerlich warmen, milden Nachmittag über eine fast ländlich wirkende Fifth Avenue. Es hätte mich nicht gewundert, hinter der nächsten Ecke eine große Herde weißer Schafe zu sehen.
«Bitte anhalten», sagte ich. «Ich muss euch hier verlassen.»
«Nein, musst du nicht», widersprach Tom rasch. «Myrtle wäre beleidigt, wenn du nicht mit rauf in die Wohnung kommst. Nicht wahr, Myrtle?»
«Kommen Sie», drängte sie mich. «Ich ruf meine Schwester Catherine an. Leute, die es wissen müssen, sagen, sie sei sehr hübsch.»
«Tja, ich würde ja gern, aber …»
Wir fuhren weiter und nahmen erneut eine Abkürzung durch den Park in Richtung der West Hundreds. In der 158. Straße hielt das Taxi vor einem schmalen Stück des langen Kuchens weißer Apartmenthäuser. Mit dem Blick einer heimkehrenden Königin musterte Mrs. Wilson die Nachbarschaft, raffte den Hund und ihre übrigen Einkäufe zusammen und ging hocherhobenen Hauptes ins Haus.
«Ich lass die McKees kommen», verkündete sie, während wir mit dem Fahrstuhl nach oben fuhren. «Und meine Schwester rufe ich natürlich auch an.»
Die Wohnung lag im obersten Stock – ein kleines Wohnzimmer, ein kleines Esszimmer, ein kleines Schlafzimmer und ein Bad. Das Wohnzimmer war mit einer viel zu großen Garnitur Tapisseriemöbel zugestellt, weshalb man bei jedem Schritt über Szenen stolperte, die in den Gärten von Versailles schaukelnde Damen zeigten. Das einzige Wandbild war eine vergrößerte Fotografie, offenbar von einer Henne auf einem verwackelten Felsen. Erst wenn man es aus einigem Abstand betrachtete, wurde aus der Henne eine Haube, und das Antlitz einer korpulenten alten Dame strahlte ins Zimmer. Zusammen mit einer Ausgabe von Simon Called Peter26 lagen auf dem Tisch mehrere ältere Exemplare des Town Tattle sowie einige der kleineren Broadway-Skandalblättchen. Mrs. Wilson war vorerst mit dem Hund beschäftigt. Der Liftjunge besorgte widerwillig eine Kiste mit Stroh sowie etwas Milch, ergänzte dies aus eigener Initiative aber um eine Dose großer, harter Hundekekse – einer davon schwamm apathisch den ganzen Nachmittag in einer Schale Milch und löste sich nach und nach auf. Tom entnahm unterdessen einem verschlossenen Sekretär eine Flasche Whisky.
Ich bin erst zweimal in meinem Leben betrunken gewesen, und das zweite Mal war an jenem Nachmittag, weshalb ich mich an alles nur unscharf und verschwommen erinnere, so als wäre es von einem Schleier verhüllt, dabei war die Wohnung bis abends um acht Uhr in heiteres Sonnenlicht getaucht. Mrs. Wilson saß auf Toms Schoß und rief mehrere Leute an, dann gingen uns die Zigaretten aus, und ich lief zum Drugstore an der Ecke. Als ich zurückkam, waren beide verschwunden, also setzte ich mich diskret ins Wohnzimmer und las ein Kapitel aus Simon Called Peter, doch entweder war es fürchterlich schlecht geschrieben oder der Whisky verzerrte alles, jedenfalls ergab, was ich las, für mich überhaupt keinen Sinn.
Gerade als Tom und Myrtle (seit dem ersten Glas redeten Mrs. Wilson und ich uns mit Vornamen an) wieder auftauchten, trafen auch die ersten Gäste ein.
Catherine, die Schwester, war eine schlanke mondäne Frau um die dreißig mit einem steifen roten Bubikopf und milchweiß gepuderter Haut. Sie hatte die Brauen gezupft und in kessem Schwung nachgezogen, doch verliehen die Bestrebungen der Natur, den alten Verlauf wiederherzustellen, dem Gesicht etwas Verschwommenes. Bei jeder ihrer Bewegungen klimperte es unentwegt, da an ihren Armen zahllose Keramikreifen auf und ab klapperten. Sie kam so selbstverständlich hereingestürmt und blickte so besitzergreifend auf das Mobiliar, dass ich schon dachte, sie wohne hier. Als ich sie jedoch danach fragte, lachte sie maßlos, wiederholte laut meine Frage und sagte, sie lebe mit ihrer Freundin in einem Hotel.
Mr. McKee war ein blasser, femininer Mann, der ein Stockwerk tiefer wohnte. An seiner Wange klebte noch ein Klecks Schaum, da er sich gerade erst rasiert hatte, und er begrüßte jedermann im Zimmer mit größtem Respekt. Er ließ mich wissen, dass er in der «künstlerischen Sparte» tätig sei, und später reimte ich mir zusammen, dass er Fotograf war und jene unscharfe Vergrößerung von Mrs. Wilsons Mutter gemacht hatte, die wie ein Ektoplasma27 an der Wand dräute. Seine Frau war schrill, träge, hübsch und grässlich. Stolz erklärte sie mir, ihr Mann habe sie seit ihrer Hochzeit schon einhundertsiebenundzwanzig Mal fotografiert.
Mrs. Wilson hatte sich vorhin bereits umgezogen und trug jetzt ein raffiniertes Nachmittagskleid aus cremefarbenem Chiffon, der unablässig raschelte, wenn sie durchs Zimmer rauschte. Mit dem Kleid hatte sich auch die Persönlichkeit verändert. Ihre intensive Vitalität, die in der Werkstatt so bemerkenswert gewesen war, hatte sich in eine imposante Blasiertheit verwandelt. Ihr Lachen, ihre Gesten, ihre Beteuerungen wurden von Mal zu Mal affektierter, und je mehr sie sich aufplusterte, desto kleiner wurde das Zimmer, bis sie sich schließlich auf einer lärmenden, quietschenden Achse durch die verqualmte Luft zu drehen schien.
«Meine Liebe», rief sie mit hoher, gespreizter Stimme ihrer Schwester zu, «die meisten dieser Leute beschwindeln dich, wann immer sie können. Sie denken bloß ans Geld, an nichts sonst. Erst letzte Woche kam eine Frau her, um sich meine Füße anzusehen, aber als sie mir die Rechnung überreichte, hätte man meinen können, sie hätte mir den Blinddarm entfernt.»
«Wie hieß die Frau?», wollte Mrs. McKee wissen.
«Mrs. Eberhardt. Sie kommt zur Fußpflege zu den Leuten nach Hause.»
«Mir gefällt Ihr Kleid», bemerkte Mrs. McKee, «ich finde es einfach hinreißend.»
Mrs. Wilson wehrte das Kompliment ab, indem sie verächtlich eine Augenbraue hochzog. «Ist doch bloß ein abgetragener alter Fummel», sagte sie. «Ich werfe ihn nur manchmal über, wenn es mir egal ist, wie ich aussehe.»
«Aber er steht Ihnen fabelhaft, wirklich», ließ Mrs. McKee nicht locker. «Würde Chester Sie in dieser Pose festhalten, ich glaube, er könnte was draus machen.»
Wortlos betrachteten wir alle Mrs. Wilson, wie sie sich eine Haarsträhne aus den Augen strich und unsere Blicke mit einem strahlenden Lächeln erwiderte. Mr. McKee musterte sie aufmerksam mit schräg gehaltenem Kopf, ehe er eine Hand langsam vor seinem Gesicht hin und her bewegte.
«Ich müsste die Beleuchtung ändern», sagte er nach einer Weile. «Damit ihre Gesichtszüge besser zur Geltung kommen. Und ich würde versuchen, auch all das auf ihren Rücken fallende Haar einzufangen.»
«Also, ich würde an der Beleuchtung auf keinen Fall etwas ändern», verkündete Mrs. McKee. «Ich finde, sie ist …»
«Sch!», sagte ihr Gatte, und wir betrachteten alle wieder das mögliche Motiv, woraufhin Tom Buchanan hörbar gähnte und aufstand.
«Ihr McKees braucht was zu trinken», sagte er. «Hol noch mehr Eis und Mineralwasser, Myrtle, bevor hier jedermann einschläft.»
«Ich hatte dem Jungen doch schon Bescheid gesagt.» Vor lauter Verzweiflung über die Unzuverlässigkeit der niederen Stände zog sie die Brauen in die Höhe. «Diese Leute! Man muss doch immer hinter ihnen her sein.»
Sie sah mich an und lachte grundlos. Dann warf sie sich über den Hund, liebkoste ihn hingebungsvoll und rauschte in die Küche, als würden dort ein Dutzend Köche auf ihre Anweisungen warten.
«Ich habe draußen auf Long Island ein paar ganz schöne Sachen gemacht», versicherte Mr. McKee.
Tom sah ihn verständnislos an.
«Zwei hängen unten. Eingerahmt.»
«Zwei was?», fragte Tom.
«Zwei Studien. Eine habe ich ‹Montauk Point28 – die Möwen› genannt, die andere ‹Montauk Point – das Meer.›»
Die Schwester, Catherine, setzte sich zu mir aufs Sofa. «Wohnen Sie auch unten auf Long Island?», erkundigte sie sich.
«In West Egg.»
«Ehrlich? Vor einem Monat war ich da auf einer Party. Bei einem Mann namens Gatsby. Kennen Sie den?»
«Er wohnt gleich nebenan.»
«Tja, man erzählt sich, er sei ein Neffe oder ein Vetter von Kaiser Wilhelm. Deshalb ist er wohl auch so reich.»
«Tatsächlich?»
Sie nickte. «Er macht mir Angst. Und es wäre mir zuwider, wenn er was gegen mich in der Hand hätte.»
Diese faszinierenden Ausführungen über meinen Nachbarn wurden von Mrs. McKee unterbrochen, die plötzlich auf Catherine deutete: «Chester, ich finde, sie eignet sich ideal», brach es aus ihr heraus, aber Mr. McKee nickte nur gelangweilt und wandte seine Aufmerksamkeit Tom zu. «Ich würde ja gern häufiger auf Long Island arbeiten, wenn mich nur jemand einführen würde. Alles, worum ich bitte, ist, dass mir jemand eine kleine Starthilfe gibt, mehr wäre gar nicht nötig.»
«Fragen Sie Myrtle», antwortete Tom und brach in ein kurzes Gelächter aus, als Mrs. Wilson mit einem Tablett hereinkam. «Sie schreibt Ihnen bestimmt eine Empfehlung, nicht wahr, Myrtle?»
«Ich soll was?», fragte sie aufgeschreckt.
«McKee hier eine Empfehlung für deinen Gatten schreiben, damit er ein paar Studien über ihn machen kann.» Während er sich etwas ausdachte, bewegte er stumm die Lippen: «‹George B. Wilson an der Zapfsäule› oder so was in der Art.»
Catherine beugte sich zu mir vor und flüsterte mir ins Ohr: «Sie können beide den Menschen nicht ertragen, mit dem sie verheiratet sind.»
«Nein?»
«Sie finden ihn unausstehlich.» Sie sah Myrtle an, dann Tom. «Ich will damit nur sagen: Warum weiter zusammensein, wenn sie ihren Lebenspartner nicht ausstehen können? Ich an ihrer Stelle würde mich scheiden lassen und gleich wieder heiraten.»
«Mag sie Wilson denn nicht?»
Die Antwort kam unerwartet und zwar von Myrtle, die diese Frage zufällig mitangehört hatte. Ihre Reaktion war so heftig wie obszön.
«Sehen Sie», rief Catherine triumphierend. Sie senkte wieder ihre Stimme. «Eigentlich ist es seine Frau, die verhindert, dass sie zusammenkommen. Sie ist Katholikin, und für die kommt eine Scheidung nicht in Frage.»
Daisy war keine Katholikin, und dass Catherine so abgefeimt log, schockierte mich ein wenig.
«Wenn sie denn tatsächlich einmal heiraten», fuhr sie fort, «werden sie wohl im Westen leben, bis Gras über die Sache gewachsen ist.»
«Diskreter wäre es, sie würden nach Europa fahren.»
«Ach, gefällt Ihnen Europa?», rief sie überrascht. «Ich bin gerade aus Monte Carlo zurückgekommen.»
«Ach ja?»
«Erst letztes Jahr. Ich war mit einer Freundin drüben.»
«Waren Sie lange dort?»
«Nein, und wir waren nur in Monte Carlo. Über Marseille. Wir hatten zwölfhundert Dollar dabei, die man uns aber in den Séparées binnen zwei Tagen abgeluchst hat. Die Rückreise war die Hölle, das kann ich Ihnen sagen. Weiß Gott, wie ich diese Stadt gehasst habe!»
Am späten Nachmittag schimmerte der Himmel vor dem Fenster einen Moment lang so honigblau wie über dem Mittelmeer – dann rief mich die schrille Stimme von Mrs. McKee zurück ins Zimmer. «Fast hätte ich auch einen Fehler begangen», verkündete sie energisch, «und einen kleinen Itzig29 geheiratet, der es schon jahrelang auf mich abgesehen hatte. Ich wusste, dass ich zu gut für ihn war. Alle haben mir das ständig gesagt: ‹Lucille, du bist viel zu gut für den Mann!›, aber wäre ich Chester nicht begegnet, hätte er mich garantiert gekriegt.»