Der große Gatsby - F. Scott Fitzgerald - E-Book

Der große Gatsby E-Book

F.Scott Fitzgerald

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Beschreibung

Der große Gatsby, the great american novel par excellence, war bei seinem Erscheinen 1925 ein kommerzieller Flop. Auch die Kritiker verkannten die Bedeutung des Romans. Erst nach dem Krieg, spätestens aber 1974 durch die Verfilmung mit Robert Redford und Mia Farrow begann die Renaissance Fitzgeralds und seines Meisterwerks über den sagenhaft reichen Gatsby, der rauschende Partys schmeißt, die nur einem Zweck dienen: Daisy zu ihm zu locken. Daisy, seine große Jugendliebe, die inzwischen mit dem Millionär Tom Buchanan verheiratet ist, der sein Vermögen jedoch geerbt und nicht wie Gatsby auf undurchsichtige Weise erworben hat. Geld und Dünkel regieren diese Welt und die Liebe, die schließlich auf der Strecke bleibt – in einem der größten Liebesromane der Weltliteratur. Die Erstausgabe mit der berühmten Coverillustration von Francis Cugat war noch lange nach Fitzgeralds Tod 1940 lieferbar. Heute bringt ein Exemplar (allerdings nur mit Schutzumschlag!) auf Auktionen über 200 000 Dollar. In diesem Fall inspirierte übrigens der Zeichner den Autor – und nicht umgekehrt. Die Gouache-Zeichnung von Cugat war vor dem Roman vollendet – und Fitzgerald begeistert. In einem Brief an seinen Lektor Max Perkins heißt es: »Benutzen Sie dieses Cover um Gottes willen nicht für ein anderes Buch, ich habe es in meinen Roman hineingeschrieben.«

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Seitenzahl: 326

Veröffentlichungsjahr: 2025

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F. Scott Fitzgerald

Der große Gatsby

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Maria Lazar

 

Bearbeitet und mit Anmerkungen versehen von Heiko Arntz

 

Mit dem Vorwort des Autors zur Neuausgabe des Romans von 1934 und einem Nachwort von Daniel Kampa

Kampa

Und wieder

für Zelda[1]

So trage doch den goldnen Hut, wenn sie es will,

Und kannst du hoch springen, springe für sie,

Bis dass sie ruft: »Du süßer, goldener, springender Geliebter,

Mein musst du sein!«

Thomas Parke D’Invilliers[2]

Kapitel I

Als ich noch jünger und um vieles empfindsamer war,gab mir mein Vater einen Rat, der mir seither immer wieder durch den Kopf ging.

»So oft du Lust hast, jemanden zu kritisieren«, sagte er, »erinnere dich, dass nicht alle Menschen auf der Welt ähnliche Chancen gehabt haben wie du.«

Weiter gab er keine Erklärungen, aber da wir seit jeher trotz aller Zurückhaltung ungewöhnlich stark miteinander verbunden waren, verstand ich, dass er noch viel mehr damit meinte, als diese wenigen Worte besagen. Ich enthielt mich von da an jedes Urteils, eine Gewohnheit, die mir viele seltsame Charaktere erschloss und mich natürlich auch nicht wenigen alten Eseln zum Opfer fallen ließ. Der ungewöhnliche Geist wittert diese Eigenschaft nur allzu leicht beim gewöhnlichen Menschen und klammert sich daran. So kam es, dass ich im College ungerechterweise für einen Intriganten galt, weil ich von wildfremden, zwielichtigen Leuten zum Mitwisser ihrer Sorgen gemacht wurde. Die meisten dieser intimen Beichten waren mir lästig – oft, wenn ich an einem unfehlbaren Anzeichen erkannte, dass ein weiteres Geständnis zitternd am Horizont auftauchte, schützte ich Müdigkeit vor oder ich gab mich beschäftigt, oder ich legte eine scherzhafte Leichtfertigkeit an den Tag. Denn die Bekenntnisse junger Menschen sind, zumindest in der Form, in der sie sie wiedergeben, doch nur Plagiate und verräterisch vor allem in dem, was sie verschweigen. Wer sich seines Urteils enthält, kann immer weiter auf die Menschen hoffen. Und ich fürchte immer noch, dass ich mir was zuschulden kommen lasse, wenn ich vergesse, was mein versnobter Vater behauptete und ich ebenso versnobt wiederhole: dass das Gefühl für Sitte und Anstand etwas ist, das bei der Geburt unter den Menschen sehr ungleich verteilt wird.

Nachdem ich mich so meiner Toleranz gerühmt habe, muss ich denn auch zugeben, dass sie nicht ohne Grenzen ist. Mag einer seine Persönlichkeit auf rauen Felsen oder in stickigen Sümpfen gebildet haben, es kommt ein Augenblick, in dem mir das ganz gleichgültig wird. Als ich im letzten Herbst[3] aus dem Osten[4] zurückkam, wünschte ich mir die ganze Welt in Uniform und in einer Art moralischer Habachtstellung. Ich hatte genug von ausschweifenden Ausflügen und intimen Einblicken in die Seelen der Menschen. Nur Gatsby, der Mann, dem dieses Buch seinen Titel verdankt, war von dieser meiner Reaktion ausgeschlossen – Gatsby, der alles verkörperte, wogegen ich eine angeborene Abneigung empfinde. Wenn das Wesen der Persönlichkeit in einer ununterbrochenen Abfolge geglückter Gesten besteht, dann war etwas Blendendes um ihn, eine gewisse erhöhte Empfindsamkeit für die Verheißungen des Lebens. Es war, als hinge er mit einem jener komplizierten Mechanismen zusammen, die auf eine Entfernung von zehntausend Meilen ein Erdbeben anzeigen können. Diese Empfindsamkeit hat nichts mit jener faden Reizbarkeit zu tun, die man gern mit dem Wort »schöpferisches Genie« bezeichnet – es war vielmehr eine ungewöhnliche Kraft zu hoffen, eine romantische Lebensbereitschaft, wie ich sie nie zuvor bei jemandem gefunden habe und wohl nie wieder finden werde. Nein – Gatsby schnitt gut ab am Ende; nur das, was Gatsby so sehr quälte, der Schmutz, den er im Verfolg seiner Träume aufwirbelte, war der Grund dafür, dass ich mich eine Weile den zügellosen Kümmernissen und traurigen Freuden der Menschen verschloss.

 

Meine Familie lebt schon seit drei Generationen in dieser Stadt des Mittleren Westens – angesehene, wohlhabende Leute. Die Carraways sind so etwas wie ein Clan; der Legende nach stammen wir von den Herzögen von Buccleuch[5] ab. Der eigentliche Begründer unserer Linie aber war der Bruder meines Großvaters, der einundfünfzig hierherkam, einen Ersatzmann in den Bürgerkrieg schickte und den Metallwarengroßhandel ins Leben rief, den mein Vater heute noch betreibt.

Ich selbst habe diesen Großonkel nie kennengelernt, aber man sagt, dass ich ihm ähnlich sehe – wobei man auf das etwas verkniffen wirkende Porträt hinzuweisen pflegt, das im Büro meines Vaters hängt. Ich machte meine Examen 1915 in New Haven,[6] genau ein Vierteljahrhundert nachdem mein Vater sie dort gemacht hatte, und nahm kurz darauf an jener verspäteten germanischen Völkerwanderung teil, die allgemein unter dem Namen Weltkrieg bekannt ist. Und ich fand so viel Gefallen an dem rastlosen Hin und Her, dass ich zu Hause keine Ruhe mehr finden konnte. Der Mittlere Westen war nicht mehr der warme Mittelpunkt der Welt für mich, sondern der gottverlassenste Winkel des Universums – und so beschloss ich in den Osten zu gehen und mich mit Börsengeschäften zu befassen. Alle Leute, die ich kannte, machten damals Börsengeschäfte, und da dachte ich, dass sich ein Mensch mehr gewiss auch noch davon ernähren könnte. Meine Tanten und Onkel besprachen die Angelegenheit, als gelte es, eine neue Oberschule für mich auszusuchen, und sagten schließlich: »Nun ja – warum nicht«, wobei sie ihre Gesichter in ernste und nachdenkliche Falten legten. Mein Vater sagte mir zu, dass er mich für ein Jahr unterstützen wolle, und so zog ich denn, nach mehreren Verzögerungen, im Frühling zweiundzwanzig – für immer, wie ich glaubte – in den Osten.

Es hätte auf der Hand gelegen, eine Wohnung in der Stadt[7] zu beziehen, aber die warme Jahreszeit hatte eben begonnen und ich kam aus einem Land mit weiten Rasenflächen und freundlichen Bäumen. Als mir daher ein junger Mann aus dem Büro den Vorschlag machte, mit ihm zusammen ein Haus in einem Vorort zu suchen, leuchtete mir das sofort ein. Er fand auch das Haus, einen windschiefen Pappdeckelbungalow zu achtzig Dollar im Monat, aber die Firma schickte ihn im letzten Moment nach Washington, und so zog ich allein aufs Land hinaus. Ich hatte einen Hund – allerdings nur ein paar Tage, dann lief er mir davon –, einen alten Dodge und eine Finnin, die mir das Bett machte, das Frühstück kochte und über dem elektrischen Herd weise finnische Selbstgespräche führte.

Einen Tag, vielleicht zwei, fühlte ich mich recht einsam, dann sprach mich eines Morgens ein Mann auf der Straße an, der noch neuer in der Gegend war als ich.

»Wie kommt man von hier nach West Egg Village?«, fragte er ratlos.

Ich sagte es ihm. Und als ich weiterging, fühlte ich mich schon nicht mehr so einsam. Ich war ein Führer, ein Pfadfinder, ein Siedler der ersten Stunde. Er hatte mir soeben das Bürgerrecht des Ortes verliehen.

Und als ich so im Sonnenschein dahinging und auf allen Bäumen die Blätter aus ihren Knospen brachen – wie in Zeitrafferfilmen –, da hatte ich auf einmal die tiefe Überzeugung, dass das ganze Leben mit diesem Sommer einen neuen Anfang nahm.

Es gab natürlich sehr viel zu lesen; gleichzeitig konnte man so viele gesunde Kräfte aus der atemspendenden jungen Luft schöpfen. Ich kaufte mir ein Dutzend Bände über Bank-, Kredit- und Versicherungswesen und sie standen wie frisch geprägte Münzen in Rot und Gold auf meinem Bücherregal und versprachen, mich in all die glänzenden Geheimnisse einzuweihen, die sonst nur Midas, Morgan und Maecenas[8] kannten. Und ich hatte die feste Absicht, noch viele weitere Bücher zu lesen. Ich hatte mich bereits im College literarisch betätigt – ein Jahr lang hatte ich mehrere ernsthaft bemühte Leitartikel für die Yale News geschrieben – und nun sollte all das wieder Platz in meinem Leben finden, ich wollte endgültig zu jenem beschränktesten aller Spezialisten werden: dem »vielseitig gebildeten Mann«. Es ist durchaus nicht nur eine Phrase – aber das Leben lässt sich nun einmal am besten von einem einzelnen Fenster aus betrachten.[9]

Es war Zufall, dass ich gerade in einer der sonderbarsten Gemeinden von Nordamerika ein Haus mieten sollte. Es lag auf jener schmalen, turbulenten Insel, die sich vom Osten New Yorks aus erstreckt, und wo, unter anderen Seltsamkeiten, das Land zweimal eine ganz ungewöhnliche Form annimmt. Zwanzig Meilen von der Stadt entfernt ragen zwei riesige Eier – von gleicher Kontur und nur durch eine Art lange Bucht voneinander getrennt – in den zahmsten Meeresteil der westlichen Halbkugel, in den großen nassen Scheunenhof, der der Sund von Long Island ist. Sie sind nicht ganz oval, sondern, wie das Ei des Kolumbus, dort, wo sie ihre Basis haben, etwas abgeplattet – aber ihre Zwillingsähnlichkeit muss für die Möwen, die darüber hinfliegen, eine Quelle unerschöpflichen Erstaunens sein. Für die Unbeflügelten aber ist der ungeheure Unterschied in allem, was nicht ihre Größe und Kontur betrifft, ein noch viel erstaunlicheres Phänomen.

Ich wohnte auf West Egg,[10] der – nun ja, weniger mondänen der beiden Halbinseln, obwohl dies eine sehr oberflächliche Art ist, um den grotesken, ja geradezu verstörenden Unterschied zwischen den beiden zu beschreiben. Mein Haus lag ganz an der Spitze des Eis, nur fünfzig Meter vom Sund entfernt, und wurde von zwei riesigen Anwesen, von denen jedes für zwölf- bis fünfzehntausend pro Saison vermietet wurde, förmlich eingequetscht. Rechts stand ein in jeder Hinsicht ungeheuerlicher Bau – es war die Kopie eines Rathauses der Normandie, mit einem Turm an der Seite, funkelnagelneu und von einem zarten Efeuflaum bewachsen, sowie einem marmornen Schwimmbecken und mehr als vierzig Morgen Rasen und Garten. Dort wohnte Gatsby. Oder vielmehr, da ich Mr. Gatsby noch nicht kannte: Es war ein Haus, das ein Herr dieses Namens bewohnte. Mein eigenes Haus musste ihm eigentlich ein Dorn im Auge sein, aber nur ein sehr kleiner Dorn und wurde daher wohl nicht weiter beachtet, und so hatte ich denn die Aussicht auf das Wasser, auf einen Teil der Rasenflächen meines Nachbarn und die tröstliche Nähe von Millionären – alles für achtzig Dollar im Monat.

Jenseits der gefälligen Bucht flimmerten längs des Wassers die weißen Paläste des mondänen East Egg, und eigentlich beginnt die Geschichte dieses Sommers erst mit jenem Abend, an dem ich zu einem Dinner bei den Buchanans hinüberfuhr. Daisy war eine entfernte Cousine von mir, und mit Tom war ich im College zusammen gewesen. Gleich nach dem Krieg hatte ich zwei Tage mit ihnen in Chicago verbracht.

Ihr Mann war, abgesehen von verschiedenen anderen physischen Vorzügen, einer der kraftvollsten Tight Ends,[11] die jemals in New Haven Football gespielt hatten. Er war ein nationaler Typ sozusagen, einer von jenen Menschen, die mit einundzwanzig Jahren schlagartig eine eng umgrenzte Vollkommenheit erreichen, sodass alles, was nachher kommt, nur mehr im Schatten dieser Herrlichkeit erscheinen kann. Seine Familie war wahnsinnig reich – schon im College warf man ihm seine Verschwendungssucht vor –, aber jetzt hatte er Chicago verlassen und war mit einem Pomp in den Osten übersiedelt, der einem wirklich den Atem rauben konnte: So hatte er sich etwa eine Koppel Polo-Ponys von Lake Forest[12] nachkommen lassen. Es war wirklich kaum vorstellbar, dass ein Mensch aus meiner Generation Geld genug für so etwas hatte.

Warum sie eigentlich in den Osten gekommen waren, wusste ich nicht. Sie hatten ohne besonderen Grund ein Jahr in Frankreich verbracht und zogen dann rastlos bald hierhin, bald dorthin, wo immer man Polo spielte und gemeinschaftlich reich war. Hier waren sie nun zu ständigem Aufenthalt, wie Daisy am Telefon sagte, ich glaubte aber nicht daran. In Daisys Herz hatte ich zwar keinen Einblick, aber was Tom betrifft, so ahnte ich, dass er sich weiter treiben lassen werde, immer etwas sehnsüchtig auf der Suche nach dem dramatischen Trubel irgendeines entscheidendes Footballmatches.

So kam es also, dass ich an einem warmen und windigen Abend nach East Egg hinüberfuhr, um zwei alte Freunde, die ich im Grunde kaum kannte, zu besuchen. Ihr Haus war sogar viel prächtiger, als ich erwartet hatte. Es war ein freundlicher rot-weißer Herrensitz im georgianischen Stil,[13] von dem aus man die ganze Bucht überblicken konnte. Der Rasen lief vom Strand kommend eine Viertelmeile auf das Haus zu, über Sonnenuhren, gepflasterte Wege und flammende Beete hinwegsetzend, um schließlich – wie nicht zu bremsen – als leuchtende Reben an der Hauswand emporzuklettern. Die Front bestand aus einer Reihe von Fenstertüren, in denen sich jetzt goldenes Licht spiegelte. Die Flügel waren an diesem warmen, windigen Nachmittag weit offen, und Tom Buchanan stand in seinen Reithosen mit gespreizten Beinen auf der Terrasse.

Er hatte sich verändert seit New Haven. Er war jetzt ein stämmiger Mann von dreißig Jahren mit struppigem Haar, harten Gesichtszügen und anmaßendem Wesen. Zwei überlegen funkelnde Augen beherrschten sein Gesicht und erweckten den Eindruck, als beugte er sich stets angriffslustig vor. Auch der weibische Schnitt seiner Reithosen konnte über die ungeheure Kraft seines Körpers nicht hinwegtäuschen – er füllte seine glänzenden Stiefel so vollständig aus, dass die Schnüre sich oben förmlich spannten, und wenn er die Schultern unter der dünnen Jacke bewegte, konnte man die strotzenden Muskelpakete sehen. Dieser Körper war leistungsfähig wie eine ungeheure Hebelvorrichtung – es war ein grausamer Körper.

Seine Sprechstimme, ein barscher, heiserer Tenor, vollendete den streitsüchtigen Eindruck, den er erregte. Väterliche Unduldsamkeit schwang in ihr mit, sogar bei Leuten, die er gut leiden mochte – und es gab nicht wenige in New Haven, die ihn dafür hassten.

»Nun, Sie dürfen nicht denken, dass meine Meinung in diesem Fall ausschlaggebend sein muss, nur weil ich kräftiger und männlicher bin als Sie«, schien er stets zu sagen. Wir waren in derselben Studentenverbindung gewesen, und wenn wir einander auch niemals nahekamen, hatte ich doch immer den Eindruck, dass er etwas von mir hielt und mit der ihm eigenen schroffen Art sich meine Sympathie wünschte.

Wir sprachen ein paar Minuten auf der sonnigen Veranda.

»Ich habe mir hier ein schönes Plätzchen ausgesucht«, sagte er, und seine Augen schweiften rastlos umher.

Dann packte er meinen Arm, drehte mich halb herum und wies mit seiner offenen breiten Hand auf die Aussicht hin, die einen tief liegenden italienischen Garten, ein halbes Joch stark duftender Stechrosen sowie ein stumpfnäsiges Motorboot, das nahe am Ufer auf den Wellen dümpelte, einschloss.

»Gehörte früher Demaine, dem Ölkönig.« Er drehte mich erneut höflich und abrupt um. »Wir gehen hinein.«

Wir gingen durch einen hohen Vorsaal in einen hellen, rosenfarbenen Raum, der mit seinen zwei riesigen bis zum Boden reichenden Flügelfenstern nur lose mit dem Haus verbunden zu sein schien. Diese beiden Fenster standen halb offen und leuchteten weiß gegen das frische Grün draußen, das förmlich ins Haus hereinzuwachsen schien. Der Wind fuhr durch den Raum, schlug die Vorhänge des einen Fensters herein und die des anderen ins Freie hinaus wie blasse Fahnen, wirbelte sie gegen die Decke, die an einen glasierten Hochzeitskuchen erinnerte, und lief dann über den weinroten Teppich,[14] wo er, wie draußen auf dem Meer, einen Schatten zurückließ.

Das einzig wirklich feste Objekt in dem Zimmer war ein ungeheuer großes Sofa, auf dem zwei Frauen wie in einem verankerten Fesselballon zu schweben schienen. Sie waren beide in Weiß und ihre Kleider flatterten und raschelten, als wären sie nach einem kurzen Flug um das Haus herum gerade erst wieder hereingeweht worden. Ich stand wohl für ein paar Minuten so da, lauschte den hin und her klatschenden Vorhängen und dem Ächzen eines Bildes an der Wand. Dann schlug Tom Buchanan mit einem Knall die Fenster hinten zu; der gefangene Wind erstarb und die Vorhänge, der Teppich und die beiden jungen Frauen schwebten langsam wieder zur Erde nieder.

Die Jüngere von beiden war mir unbekannt. Sie lag bewegungslos in ihrer ganzen Länge auf dem Diwan, mit leicht erhobenem Kinn, als balancierte sie auf ihm etwas, das nicht herunterfallen durfte. Ob sie mich aus den Augenwinkeln sah, hätte ich nicht zu sagen vermocht – ich war jedenfalls so verblüfft über sie, dass ich eine höfliche Entschuldigung wegen meines störenden Eintretens murmelte.

Die andere aber, Daisy, unternahm einen Versuch, aufzustehen – sie beugte sich mit einem schuldbewussten Ausdruck etwas vor – und lachte dann ein ganz unsinniges und entzückendes kleines Lachen, und ich lachte mit und trat ein paar Schritte näher.

»Ich bin wie – wie gelähmt vor Freude.«

Sie lachte wieder, als hätte sie etwas besonders Witziges gesagt. Dann hielt sie einen Augenblick lang meine Hand fest, schaute mir ins Gesicht und erklärte, dass sie sich in der ganzen Welt nach niemandem so gesehnt hätte wie nach mir. Das war so ihre Art. Nebenbei bemerkte sie auch in einem Flüstern, dass das balancierende Mädchen mit Zunamen Baker hieß. (Ich habe oft sagen hören, dass Daisy nur flüstere, um die Leute zu zwingen, ihr nahezukommen; eine ganz belanglose Unterstellung, die dieses Flüstern nicht weniger reizvoll erscheinen ließ.)

Auf jeden Fall aber bewegten sich Miss Bakers Lippen, sie nickte mir kaum merklich zu und legte dann sofort wieder den Kopf zurück – das Ding, das sie balancierte, schien zu ihrem Schrecken ein wenig geschwankt zu haben. Wieder kam etwas wie eine Entschuldigung über meine Lippen. Jedes Mal, wenn ich einem Ausdruck von solch absoluter Selbstzufriedenheit begegne, kann ich nicht anders, ich muss ihm meine bewundernde Anerkennung zollen.

Ich wandte mich meiner Cousine zu, die mich mit ihrer leisen, betörenden Stimme nach allem Möglichen zu fragen begann. Sie hatte eine jener Stimmen, denen das Ohr auf und ab folgte, als wäre jeder Satz, den sie sagte, eine Melodie, die nie wieder so gespielt werden würde. Sie hatte ein liebes und trauriges Gesicht mit etwas Leuchtendem darin: leuchtenden Augen und einem leuchtenden, leidenschaftlichen Mund. In ihrer Stimme aber zitterte eine unaufhörliche Erregung, die kein Mann, der sie je geliebt hatte, leicht vergessen konnte: Es war ein singendes Drängen, ein geflüstertes »Hör gut zu« und die Beteuerung, dass sie bis eben mit allem möglichen Schönen und Frohen beschäftigt gewesen war und dass alle diese schönen und frohen Dinge schon in der nächsten Stunde wieder auf sie warteten.

Ich erzählte ihr, dass ich auf meinem Weg nach Osten einen Tag in Chicago haltgemacht hatte und dass ein Dutzend Leute ihr durch mich die schönsten Grüße sandten.

»Vermisst man mich?«, rief sie aus.

»Die ganze Stadt ist in Verzweiflung. Alle Autos haben ihr linkes Hinterrad schwarz angestrichen, wie einen Trauerkranz, und die ganze Nacht hört man am nördlichen Seeufer ein klägliches Jammergeheul.«

»Wie wunderbar! Wir wollen wieder zurückgehen, Tom! Morgen schon!« Und dann fügte sie ohne weiteren Übergang hinzu: »Du musst die Kleine sehen.«

»Sehr gerne.«

»Jetzt schläft sie. Sie ist drei.[15] Hast du sie nie gesehen?«

»Nein.«

»Nun, so wirst du sie jetzt zu sehen bekommen. Sie ist …«

Tom Buchanan, der unruhig im Zimmer hin und her gegangen war, blieb stehen und legte die Hand auf meine Schulter.

»Was treibst du so, Nick?«

»Ich bin Börsenagent.«

»Bei wem?«

Ich nannte ihm meine Firma.

»Nie gehört«, sagte er mit Entschiedenheit.

Das ärgerte mich.

»Wirst du schon noch«, sagte ich kurz. »Wenn du nur erst länger im Osten bist.«

»Oh, ich bleibe hier, da brauchst du keine Angst zu haben«, erwiderte er und sah zu Daisy und dann wieder zu mir, als erwartete er noch irgendetwas, wogegen er sich wehren müsste. »Ich war ein gottverfluchter Narr, dass ich je woanders gewohnt habe.«

»Absolut!«, sagte Miss Baker in diesem Augenblick. Sie sagte es so plötzlich, dass ich zusammenfuhr – es war das erste Wort, das über ihre Lippen kam, seit ich den Raum betreten hatte. Und sie schien darüber nicht weniger erstaunt zu sein als ich selbst, denn sie gähnte und erhob sich mit allen möglichen flinken und geschickten Bewegungen.

»Ich bin ganz steif«, klagte sie. »Ich liege schon seit einer Ewigkeit auf diesem Sofa.«

»Du brauchst mich nicht so anzuschauen«, entgegnete Daisy, »ich sage schon den ganzen Nachmittag, dass du nach New York fahren sollst.«

»Nein, danke«, sagte Miss Baker, und das galt den vier Cocktails, die soeben gereicht wurden, »ich bin absolut im Training.«

Der Hausherr warf ihr einen ungläubigen Blick zu.

»Wirklich!« Er schüttete seinen Cocktail hinunter, als wäre es nur der Rest von einem Glas. »Wie Sie je irgendetwas erledigen, ist mir unbegreiflich.«

Ich betrachtete Miss Baker und dachte darüber nach, was es wohl sei, das sie zu »erledigen« hatte. Ihr Anblick machte mir Freude. Sie war ein schlankes, flachbrüstiges Mädchen, mit einer aufrechten Haltung, die noch dadurch unterstrichen wurde, dass sie den Oberkörper wie ein junger Kadett in den Schultern zurückwarf. Ihre grauen, sonnengestählten Augen schauten ebenfalls mit einer höflichen Neugier aus einem blassen, reizend unzufriedenen Gesicht auf mich. Und mir war jetzt, als hätte ich sie selbst oder ein Bild von ihr schon einmal irgendwo gesehen.

»Sie leben auf West Egg«, bemerkte sie verächtlich. »Ich kenne dort jemanden.«

»Ich habe bislang noch niemanden …«

»Aber Sie werden doch Gatsby kennen?«

»Gatsby?«, fragte Daisy. »Was für einen Gatsby?«

Noch ehe ich sagen konnte, dass Gatsby mein nächster Nachbar war, wurden wir zum Dinner gerufen. Tom Buchanan zwängte seinen dicken Arm herrisch unter den meinen und schob mich zum Zimmer hinaus, als wäre ich eine Schachfigur, die er auf ein anderes Feld ziehen wollte. Langsam und lässig, die Arme gegenseitig leicht um die Hüften gelegt, gingen die beiden jungen Frauen voraus auf eine dem Sonnenuntergang zugewandte rosenfarbene Veranda. Auf dem Tisch flackerten vier Kerzen im leichten Wind.

»Wozu Kerzen?«, fragte Daisy stirnrunzelnd. Sie löschte sie mit den Fingern aus. »In zwei Wochen haben wir den längsten Tag im Jahr.« Sie blickte uns strahlend an. »Wartet ihr auch immer auf den längsten Tag im Jahr und versäumt ihn dann? Ich warte immer auf den längsten Tag im Jahr und versäume ihn dann.«

»Wir sollten etwas unternehmen«, sagte Miss Baker gähnend und setzte sich an den Tisch, als ginge sie soeben ins Bett.

»Also schön«, sagte Daisy. »Was wollen wir unternehmen?« Sie sah mich fragend an. »Was unternehmen die Leute so?«

Bevor ich antworten konnte, heftete sich ihr Blick mit einem Ausdruck des Erstaunens auf ihren kleinen Finger.

»Seht doch!«, rief sie jammernd. »Ich habe mich verletzt.«

Wir sahen alle hin – ihr Knöchel war braun und blau.

»Das warst du, Tom«, sagte sie vorwurfsvoll. »Ich weiß, es war keine Absicht, aber das warst du. Das hat man davon, wenn man so einen Grobian heiratet, einen großen, dicken Grobian …«

»Nenn mich nicht dick«, unterbrach Tom sie unwirsch. »Nicht einmal im Spaß.«

»O doch, dick«, sagte Daisy hartnäckig.

Manchmal sprachen sie und Miss Baker durcheinander, ganz unaufdringlich und mit einer neckischen Inkonsequenz, die niemals zu Geschwätz ausartete. Ihre Unterhaltung war so kühl wie ihre weißen Kleider und ihre gleichgültigen Blicke, frei von jedem Verlangen. Sie waren nun einmal hier – und sie nahmen mich und Tom als Gesellschaft an, machten lediglich einen kleinen höflichen Versuch, zu unterhalten oder unterhalten zu werden. Sie wussten, dass das Dinner bald vorüber sein würde und ein bisschen später auch dieser ganze Abend.

Es war hier ganz anders als im Westen,[16] wo ein solcher Abend von Etappe zu Etappe gehetzt wurde, in fortwährender Enttäuschung der hochgesteckten Erwartungen oder in ängstlicher Furcht vor Überraschungen.

»Ich komme mir in deiner Gegenwart so unzivilisiert vor, Daisy«, sagte ich nach dem zweiten Glas von dem recht korkigen, aber dennoch beeindruckenden Rotwein. »Könnt ihr nicht über Ernteerträge reden oder so etwas?«

Ich hatte mir bei meinen Worten nicht viel gedacht, doch sie zeigten unerwartete Wirkung.

»Die ganze Zivilisation geht in Stücke«, brach Tom heftig aus. »Ich werde langsam zu einem furchtbaren Pessimisten. Hat einer von euch Das Erwachen der farbigen Rassen von diesem Goddard gelesen?«[17]

»Nein«, antwortete ich, überrascht durch seinen Ton.

»Nun, das ist ein famoses Buch, das jeder lesen sollte. Die Idee ist, dass die weiße Rasse, wenn wir nicht aufpassen – nun, dass die weiße Rasse ganz und gar ausgerottet wird. Alles streng wissenschaftlich. Man hat es untersucht.«

»Tom macht sich in letzter Zeit so seine Gedanken«, sagte Daisy mit unwillkürlich trauriger Miene. »Er liest jetzt tiefsinnige Bücher mit langen Worten. Was war doch nur das Wort, das wir …«

»Nun, das sind alles wissenschaftliche Bücher«, unterbrach sie Tom mit einem ungeduldigen Blick. »Der Kerl hat die ganze Sache ausgearbeitet. Es ist höchste Zeit, dass wir – die herrschende Rasse – Vorkehrungen treffen, sonst reißen all diese anderen Rassen die Gewalt an sich.«

»Wir müssen sie eben niederschlagen«, flüsterte Daisy und zwinkerte heftig der glühenden Sonne zu.

»Sie sollten in Kalifornien leben …«, begann Miss Baker, aber Tom unterbrach sie, nur indem er das Gewicht in seinem Sessel verlagerte.

»Die Idee ist, dass wir alle Nordländer sind. Ich und du und Sie und …« Nach einem winzigen Zaudern nahm er Daisy durch ein leichtes Nicken ebenfalls in die nordische Rasse auf, und sie zwinkerte mir erneut zu, »… und wir haben alles, was zur Zivilisation gehört, hervorgebracht – also, Kunst und Wissenschaft und all das. Versteht ihr?«

Er hatte etwas Mitleiderregendes, wie er sich so abmühte, als ob die schier grenzenlose Selbstzufriedenheit allein ihm nicht mehr genügte. Wie aber nun gleich darauf das Telefon im Haus läutete und der Butler die Veranda verließ, benutzte Daisy die kurze Unterbrechung und lehnte sich zu mir herüber.

»Ich werde dir ein Familiengeheimnis verraten«, flüsterte sie aufgeregt. »Es geht um die Nase des Butlers. Willst du die Geschichte von der Nase des Butlers hören?«

»Nur deswegen bin ich heute Abend gekommen.«

»Nun, er war gar nicht immer Butler. Er war früher Silberputzer bei Leuten in New York, die ein Silberservice für mehr als zweihundert Personen haben. Und er musste dieses Silber von morgens bis abends putzen, sodass schließlich seine Nase davon angegriffen wurde …«

»Und die Sache wurde immer schlimmer«, warf Miss Baker ein.

»Ja. Und die Sache wurde immer schlimmer, sodass er schließlich seine Stellung aufgeben musste.«

Die letzten Sonnenstrahlen fielen einen Augenblick liebevoll verklärend auf ihr glühendes Gesicht; ihre Stimme ließ mich näher rücken, während ich atemlos zuhörte – da verschwand das Erglühen und alles Licht wich von ihr in zögerndem Bedauern, gleich einem Kind, das in der Dämmerung die lustige Straße verlassen muss.

Der Butler kam zurück und flüsterte Tom etwas ins Ohr, worauf Tom die Stirn runzelte, seinen Stuhl zurückschob und ohne ein weiteres Wort hineinging. Und wie beruhigt durch seine Abwesenheit, lehnte Daisy sich wieder zu mir herüber, und ihre Stimme glühte und sang.

»Ich sehe dich so gerne an meinem Tisch, Nick. Du erinnerst mich an – an eine Rose, absolut an eine Rose. Nicht wahr?« Sie wandte sich wie um eine Bestätigung an Miss Baker. »Absolut an eine Rose.«

Das war nicht wahr. Ich hatte nicht die leiseste Ähnlichkeit mit einer Rose. Sie redete nur so daher, während eine verwirrende Wärme von ihr ausströmte, als wollte ihr ganzes Herz in einem dieser atemlos vibrierenden Worte auf einen zukommen. Dann warf sie mit einem Mal ihre Serviette auf den Tisch, entschuldigte sich und ging ins Haus.

Miss Baker und ich wechselten einen betont ausdruckslosen Blick miteinander. Ich wollte schon etwas sagen, als sie mich durch ein warnendes »Pst!« unterbrach. Aus dem Nebenzimmer drang unterdrücktes leidenschaftliches Geflüster, und Miss Baker beugte sich ganz schamlos vor, um etwas davon zu verstehen. Das Geflüster verharrte an der Schwelle zur Verständlichkeit, wurde leiser, schwoll dann aufgeregt an und verstummte schließlich gänzlich.

»Dieser Mr. Gatsby, den Sie vorhin erwähnten, ist mein Nachbar …«, sagte ich.

»Sprechen Sie nicht. Ich möchte hören, was vorgeht.«

»Geht denn etwas vor?«, fragte ich ganz unschuldig.

»Sie wollen doch nicht behaupten, dass Sie nichts davon wissen«, sagte Miss Baker voll ehrlichen Erstaunens. »Ich denke, das weiß ein jeder.«

»Ich nicht.«

»Nun …«, sagte sie zögernd. »Tom hat da irgendeine Frau in New York.«

»Eine Frau in New York …«, wiederholte ich verwirrt.

Miss Baker nickte.

»Sie könnte doch wirklich den Takt haben, nicht zur Essenszeit anzurufen. Finden Sie nicht auch?«

Noch ehe ich mich des Näheren bei ihr erkundigen konnte, hörten wir ein Kleid rascheln und Lederschuhe knirschen. Daisy und Tom kehrten zu Tisch zurück.

»Es war nicht anders möglich!«, rief Daisy mit übertriebener Lustigkeit.

Sie setzte sich nieder, schaute forschend auf Miss Baker und dann auf mich. »Ich habe nur eine Minute hinausgesehen«, fuhr sie daraufhin fort, »und es ist wirklich sehr poetisch draußen. Da sitzt so ein Vogel auf der Wiese, ich glaube, es muss eine Nachtigall sein, die eben mit der Cunard oder der White Star Line[18] herübergekommen ist. Sie singt und singt …«, Daisys Stimme sang, »… sehr poetisch, nicht wahr, Tom?«

»Sehr poetisch«, sagte Tom und wandte sich etwas gequält an mich: »Wenn es noch hell genug ist nach dem Essen, möchte ich dir gern die Ställe zeigen.«

Das Telefon läutete im Haus und ließ uns alle zusammenfahren, und wie Daisy Tom gegenüber so entschieden den Kopf schüttelte, wurden die Ställe und alle übrigen Gesprächsthemen sofort fallen gelassen. Von dem, was in den einzelnen Phasen der letzten fünf Minuten bei Tisch geschah, erinnere ich mich nur, dass die Kerzen ohne ersichtlichen Grund wieder angezündet wurden und dass ich das Bedürfnis hatte, einen nach dem anderen anzusehen, und doch die Blicke von allen vermied. Ich konnte nicht erraten, was Daisy und Tom dachten, aber ich vermute stark, dass auch Miss Baker, die doch bisher eine gewissen Abgeklärtheit an den Tag gelegt hatte, das metallisch schrille Eindringen dieses fünften Gastes nicht einfach ignorieren konnte. Gewisse Leute hätten die Situation vielleicht faszinierend gefunden – was mich betrifft, so hatte ich das instinktive Verlangen, sofort die Polizei zu rufen.

Die Pferde wurden, wie ich wohl nicht erst zu bemerken brauche, nicht mehr erwähnt. Tom und Miss Baker schlenderten mit einigen Fuß Zwielicht zwischen sich in die Bibliothek zurück, als hätten sie dort bei einer wirklichen und wahrhaftigen Leiche die Nachtwache anzutreten, während ich, etwas betäubt und eifrigst bestrebt, ein aufmerksames und freundliches Gesicht zu machen, Daisy durch eine ganze Reihe von Veranden zur vorderen Terrasse folgte. Dort setzten wir uns in der tiefen Dämmerung Seite an Seite auf eine geflochtene Bank.

Daisy legte die Hände an ihr Gesicht, als wollte sie seine anmutige Form ertasten, und ihr Blick wanderte hinaus in die samtene Dunkelheit. Ich sah, wie aufgewühlt sie war, und stellte ihr einige Fragen nach der Tochter, in der Hoffnung, sie damit beruhigen zu können.

»Wir wissen nicht viel voneinander, Nick«, sagte sie plötzlich. »Wenn wir auch verwandt sind. Du warst gar nicht bei meiner Hochzeit.«

»Ich war noch nicht vom Krieg zurück.«

»Ach ja, richtig.« Sie zögerte ein wenig. »Nun, Nick, es ist mir nicht gut gegangen seither. Ich bin in jeder Beziehung ziemlich zynisch geworden.«

Sie hatte wohl alle Ursache, es zu sein. Ich blieb still, sie sagte aber nichts weiter, und so kam ich denn in meiner Hilflosigkeit einen Augenblick später wieder auf ihre Tochter zu sprechen.

»Sie redet doch schon und isst – und das alles.«

»O ja.« Sie sah mich mit einem abwesenden Blick an. »Ach, Nick, weißt du, was ich gesagt habe, als sie geboren wurde? Möchtest du es hören?«

»Selbstverständlich.«

»Du wirst daraus ersehen, wie ich inzwischen in jeder Beziehung zu empfinden gelernt habe. Nun, sie war noch nicht einmal eine Stunde alt, und Tom war weiß Gott wo. Ich erwachte mit einem recht jämmerlichen Gefühl aus dem Ätherrausch und fragte die Pflegerin sofort, ob es ein Junge oder ein Mädchen sei. Sie sagte, es sei ein Mädchen, und da wandte ich meinen Kopf ab und weinte. ›Ist mir ganz recht‹, sagte ich, ›dass es ein Mädchen ist. Und hoffentlich wird sie auch eine richtige Gans. Das Beste, was ein Mädchen auf dieser Welt tun kann, ist, dass sie eine schöne, dumme kleine Gans wird.‹ Du siehst, ich finde eigentlich alles in einer gewissen Beziehung entsetzlich«, fuhr sie sehr überzeugt fort. »Alle empfinden so – alle fortschrittlichen Menschen zum Mindesten. Und ich weiß, wovon ich rede. Ich bin schon überall gewesen, habe alles gesehen, habe alles gemacht.« Ihre Augen flammten herausfordernd, ganz ähnlich wie bei Tom, und sie lachte auf in zitterndem Zorn. »Herrgott, was bin ich nur für eine Sophistin geworden!«

In dem Augenblick aber, in dem ihre Stimme abbrach und meine Aufmerksamkeit nicht länger gefangen nahm, fühlte ich auch schon die tiefe Unaufrichtigkeit ihrer Worte. Und ich hatte die peinliche Empfindung, als wäre dieser ganze Abend förmlich arrangiert worden, um bei mir eine pflichtschuldige Rührung hervorzurufen. Ich blieb still, und da, ich täuschte mich nicht, sah sie mich eine Sekunde lang mit einem ganz deutlichen Schmunzeln auf ihrem hübschen Gesicht an, als bestätigte sie so ihre Mitgliedschaft bei einem furchtbar vornehmen Geheimbund, dem sowohl sie als auch Tom angehörten.

 

Drinnen erstrahlte das karminrote Zimmer[19] im hellen Licht. Tom und Miss Baker saßen an je einem Ende des langen Sofas, und sie las ihm aus der Saturday Evening Post[20] vor – die Worte, ohne besondere Betonung heruntergeleiert, verschwammen in einem schmeichelnden Singsang. Das Licht der Lampe erglänzte auf seinen Stiefeln, schimmerte matt auf dem herbstwelken Gelb ihrer Haare und flackerte auf den einzelnen Seiten der Illustrierten, wenn sie sie mit einem leichten Zucken ihrer schlanken Armmuskeln umblätterte.

Als wir eintraten, gebot sie uns einen Augenblick lang mit gehobener Hand, zu schweigen.

»Fortsetzung folgt«, sagte sie, indem sie die Zeitschrift auf den Tisch warf, »in der nächsten Nummer.«

Ihr Körper brachte sich in einer ständigen Bewegung ihrer Knie unaufhörlich zur Geltung. Sie stand auf.

»Zehn Uhr«, bemerkte sie, wobei sie allem Anschein nach die Zeit von der Decke ablas. »Das brave Mädchen muss ins Bett.«

»Jordan muss nämlich morgen an einem Golfmatch teilnehmen«, erklärte Daisy, »drüben in Westchester.«

»Oh – Sie sind Jordan Baker.«

Jetzt wusste ich, woher ihr Gesicht mir bekannt war. Mit diesem netten, verächtlichen Ausdruck hatte sie mir schon aus allen möglichen Illustriertenbildern aus dem Sportleben von Asheville, Hot Springs und Palm Beach entgegengeblickt. Und ich hatte auch eine Geschichte über sie gehört, irgendeine unangenehme Geschichte, aber was es war, hatte ich schon lange vergessen.

»Gute Nacht«, sagte sie sanft. »Und, nicht wahr, du weckst mich um acht?«

»Wenn du auch aufstehst.«

»Natürlich stehe ich auf. Gute Nacht, Mr. Carraway. Ich sehe Sie wohl bald wieder?«

»Das will ich meinen«, sagte Daisy. »Nein, wirklich, ich würde da gerne eine Heirat zustande bringen. Komm doch öfter rüber, Nick, ich werde … ich werde euch schon miteinander verkuppeln. Euch in der Wäschekammer einsperren oder mit dem Boot aufs Meer hinausschicken oder etwas in der Art …«

»Gute Nacht!«, rief Miss Baker noch von der Treppe her. »Ich habe nicht ein Wort gehört.«

»Sie ist ein nettes Mädchen«, sagte Tom kurz darauf. »Sie sollten sie nur nicht so im Land herumstreifen lassen.«

»Wer sollte das nicht?«

»Ihre Familie.«

»Ihre Familie ist eine tausend Jahre alte Tante. Übrigens wird Nick sich jetzt um sie kümmern, nicht wahr, Nick? Sie wird sicher furchtbar oft in diesem Sommer ihr Weekend hier verbringen. Ich denke, so ein häuslicher Einfluss kann ihr nur guttun.«

Daisy und Tom sahen einander einen Augenblick lang schweigend an.

»Ist sie denn aus New York?«, fragte ich rasch.

»Aus Louisville. Wir haben dort unsere unschuldigen Mädchenjahre miteinander verbracht. Ach, unsere wunderbaren, unschuldigen …«

»Du hast Nick da draußen wohl ein bisschen dein Herz ausgeschüttet?«, fragte Tom plötzlich.

»Hab ich das?« Sie schaute mich an. »Ich kann mich nicht genau erinnern, aber ich glaube, wir sprachen über die nordische Rasse. Ja, gewiss, wir sprachen darüber. Keine Ahnung, wie wir drauf kamen, und ehe wir’s uns versahen …«

»Du darfst nicht alles glauben, was du so hörst, Nick«, sagte er zu mir.

Ich sagte leichthin, dass ich nicht das Geringste gehört hätte, und brach ein paar Minuten später auf, um nach Hause zu gehen. Sie begleiteten mich hinaus und standen dann Seite an Seite im hell erleuchteten Türrahmen. Als ich eben losfahren wollte, rief Daisy gebieterisch: »Halt! Ich vergaß ganz, dich nach etwas Wichtigem zu fragen. Wir hörten, dass du mit einem Mädchen im Westen drüben verlobt bist.«

»Ja, wirklich«, stimmte Tom ihr freundlich bei. »Wir hörten, dass du verlobt bist.«

»Ein leeres Gerücht. Bin zu arm dazu.«

»Aber wenn wir es doch gehört haben«, sagte Daisy hartnäckig, und ich staunte, dass sie noch einmal aufblühte wie eine Blume. »Wir haben es von drei Leuten gehört, und da muss es wohl wahr sein.«

Ich wusste sehr wohl, dass man sich so etwas von mir erzählte, aber ich war nicht im Entferntesten verlobt. Und die Tatsache, dass der Tratsch schon mein Aufgebot veröffentlicht hatte, war mit schuld daran gewesen, dass ich in den Osten gezogen war. Man kann doch seine Beziehungen zu einer alten Freundin nicht durch Geschwätz zerstören lassen, und andererseits hatte ich nicht die leiseste Absicht, mich in eine Heirat hineinschwatzen zu lassen.

Ihr Interesse rührte mich und ließ sie weniger unnahbar reich erscheinen. Trotz allem aber war ich verwirrt und ein kleines bisschen verstimmt, als ich jetzt wegfuhr. Ich fand, es wäre an Daisy gewesen, sofort das Haus zu verlassen, mit dem Kind auf dem Arm – aber sie schien nichts dergleichen zu beabsichtigen. Und was Tom betraf, so war die Tatsache, dass er »eine Frau in New York« hatte, lange nicht so verwunderlich, als dass ein Buch ihn zu deprimieren vermochte. Irgendetwas zwang ihn allem Anschein nach, sich mit flachen Ideen abzugeben. Offenbar konnte sein derber physischer Egoismus sein herrisches Herz nicht länger nähren.

Schon lag der Hochsommer auf den Dächern der Gasthäuser und vor den Tankstellen, wo neue rote Zapfsäulen in Lichtkreisen wachten. Als ich auf West Egg mein Haus erreicht hatte, fuhr ich den Wagen in den Schuppen und setzte mich noch eine Weile auf eine vergessene Rasenwalze in den Hof. Der Wind hatte sich verzogen, die Nacht war laut und hell geworden; es war ein Flügelschlagen in allen Bäumen, und der anhaltende Orgelton der lärmenden Frösche schien aus den Eingeweiden der Erde selbst zu kommen. Durch das Mondlicht schlich der Schatten einer Katze, und als ich den Kopf wandte, um ihr nachzusehen, merkte ich, dass ich nicht allein war – fünfzig Fuß von mir entfernt war eine Gestalt aus dem Schatten des Nachbarhauses aufgetaucht und betrachtete nun, die Hände in den Taschen, den Silberpfeffer der Sterne. Irgendetwas in seinen gemächlichen Bewegungen und der sicheren Art, mit der er die Füße auf den Rasen setzte, gab mir ein, dass dies nur Mr. Gatsby sein konnte, der herausgekommen war, um zu sehen, welcher Anteil des örtlichen Himmels der seine war.

Ich beschloss, ihn anzusprechen. Miss Baker hatte ihn heute beim Dinner erwähnt, und das genügte, um eine Beziehung anzuknüpfen. Aber ich blieb doch still, denn er gab ein plötzliches Zeichen, dass er gerne allein sein wollte – er streckte nämlich seinen Arm ganz sonderbar in der Richtung des dunklen Wassers aus, und so weit ich auch von ihm entfernt war, ich hätte darauf schwören mögen, dass er zitterte. Ich blickte unwillkürlich auch zum Meer hinüber – konnte aber dort nichts anderes als ein grünes Licht bemerken, das, so klein und weit, wie es schien, gewiss am Ende eines Anlegers brannte. Als ich dann von Neuem zu Gatsby blicken wollte, war er verschwunden, und ich saß wieder allein in der unruhigen Dunkelheit.

Kapitel II

Ungefähr in der Mitte zwischen West Egg und NewYork vereinigt sich die Autostraße jäh mit der Eisenbahnlinie und zieht sich eine Viertelmeile neben ihr her, um ein bestimmtes trostloses Revier zu umgehen, das sich hier befindet. Es ist dies ein Tal ganz aus Asche[21] – ein gespenstisches Ackerland, wo Asche wächst wie anderswo Weizen, haufenweise zu Hügeln anschwillt und groteske Gärten bildet; wo die Asche die Form von Häusern und Schornsteinen und aufsteigendem Rauch annimmt und schließlich, auf magische Weise, zu aschgrauen Menschen wird, die sich mühselig fortbewegen und förmlich durch die staubige Luft zu kriechen scheinen. Dann und wann zieht ein Zug von grauen Wagen eine unsichtbare Straße entlang, um dann plötzlich mit einem geisterhaften Kreischen stehen zu bleiben, worauf Scharen von aschgrauen Menschen sich aus ihm ergießen und mit ihren Spaten solche Staubwolken aufwirbeln, dass ihre weitere geheimnisvolle Tätigkeit jedem Blick entzogen wird.