Der Hamster mit der Löwenmähne - Nicolas Garma-Berman - E-Book

Der Hamster mit der Löwenmähne E-Book

Nicolas Garma-Berman

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Beschreibung

Eine hinreißende Geschichte, so charmant wie "Die fabelhafte Welt der Amélie" --- "Dieser Roman macht garantiert glücklich!" Avantages In ihrem Atelier bei Paris versteckt sich die Tierpräparatorin Eva vor der Welt. Allein ist sie nicht; sie unterhält sich prächtig mit all den Tieren, die – mehr oder weniger geglückte Ergebnisse ihrer Arbeit – das Atelier bewohnen, darunter Ernesto, der Hirsch im etwas eng geratenen Fellkleid, der immer Rat weiß. Da spaziert eines Tages ein Junge mit einem ganz besonderen Auftrag zur Tür herein: Eva soll seinen toten Hamster herrichten. Aber mit Löwenmähne! Perfektionistisch wie sie trotz allem ist, weiß Eva: Echtes Löwenmähnenhaar muss her – und sie in die Welt hinaus. Womit sie in ein Abenteuer gerät, in dem die Liebe ihr größter Verbündeter ist.

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Seitenzahl: 291

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Nicolas Garma-Berman

Der Hamster mit der Löwenmähne

Roman

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Prolog

Ich bin an der Departementsstraße 91 geboren, irgendwo zwischen Auchan und Ikea.

Natürlich sollte ich im Krankenhaus zur Welt kommen, aber keine Chance. Durch die Koinzidenz verschiedener Umstände, über deren Unwahrscheinlichkeit ich Sie selbst urteilen lasse, bin ich an der Departementsstraße 91 geboren.

Und so ist es abgelaufen – zumindest hat man es mir später dummerweise so erzählt.

Aufgeschreckt von den Kontraktionen des mütterlichen Leibes und erfüllt von Ungeduld bei der Aussicht, ihr erstes Kind zu begrüßen, hatten sich meine Eltern trotz des trüben Oktoberhimmels mit einem Lächeln im Gesicht auf den Weg gemacht. Ihr Auto rollte in Richtung Kreiskrankenhaus, als plötzlich unter dem Wagen ein dumpfes Geräusch ertönte. Dem Geräusch folgte ein metallisches Knacken und dann ein heftiges Stottern des Motors, woraufhin mein Vater das Auto fluchend am Straßenrand zum Stehen brachte. Unter der Motorhaube entdeckte er die blutigen Reste eines Igels. Igel sind in der Region zwar recht verbreitet, doch just an dieser Stelle war die Anwesenheit des Tieres verwunderlich, lag die nächste Grünfläche doch mindestens zwei Kilometer entfernt. Es musste eine ganze Reihe von Autobahnzubringern, Sicherheitszäunen und asphaltierten Flächen überquert haben, um bis zu uns zu gelangen. Welcher Beweggrund hatte es zu dieser Wanderung getrieben? Welches Unheil wütete in seinem Wäldchen? Welchem Ideal folgte es?

Das Auto war hinüber, der Igel auch. Nachdem er von unserem linken Vorderreifen plattgemacht worden war, hatte die Drehbewegung des Rades ihn in den Motorraum geschleudert, und mit der letzten Zuckung seines offenen Mäulchens hatten seine Schneidezähne ein Stromkabel durchtrennt, bevor er seinen Weg unter einem Kolben oder zwischen zwei Kerzen beendete. Anstelle eines Ideals fand er an jenem Tag einen dreifachen Tod: Abplattung, Stromschlag, Zerstückelung.

Meine Eltern warteten ungeduldig, dass ein anderes Auto vorbeikäme. Aber die Landschaft blieb still, das Asphaltband hartnäckig leer. Die Wehen wurden stärker, und die Fruchtblase platzte. Gerade da näherte sich endlich ein Fahrzeug. Zu spät für eine Umbettung meiner Mutter, die sich, auf der Rückbank zusammengekrümmt, ans Gebären machte. Das Auto bremste und blieb vor den beiden Beinen stehen, die in die Straßenmitte ragten. Heraus stieg ein Mann mit Dalí-Schnurrbart. Verzweifelt fragten ihn meine Eltern, ob er etwas von Geburtshilfe verstehe. Der Mann zwirbelte seinen Schnurrbart, den der Sprühregen erschlaffen ließ. Er näherte sich unserem Auto und warf einen Blick unter die Kühlerhaube, dann wandte er sich der Rückbank zu, sah meine Mutter und das, was aus ihr herausdrängte, strich sich erneut über den Schnurrbart, trat ein paar Schritte zurück, schien die Situation abzuwägen. Dann nickte er, ohne dass meine Eltern erkennen konnten, ob er damit ihre Frage beantwortete oder einfach den Auftrag annahm, der ihm übertragen wurde, und sagte mit heilbringender Stimme »Schönes Tier!«, ohne dass man wusste, ob er von dem Baby, meiner Mutter oder dem Igel sprach.

Das Folgende vollzog sich in denkbar größter Unbequemlichkeit, aber ohne nennenswerte Probleme. Der Unbekannte war offenkundig ein Fachmann. Als ich endlich herausgeholt und auf der Brust meiner Mutter abgelegt war, tätschelte er mich zufrieden und wandte sich wieder der Kühlerhaube zu. Er betrachtete die Igelreste und seufzte. Man sah ihm an, dass er litt. Erst jetzt lasen meine Eltern, was auf der Autotür stand. Der Mann war Tierarzt.

Ich bin also an der Departementsstraße 91 auf den Überresten eines Igels in den Händen eines Tierarztes geboren. Und ich blieb dort auch noch eine Weile, denn der Tierarzt hatte in der Eile seine Scheinwerfer angelassen, und die Batterie seines Autos war leer.

Seither habe ich mir oft die Frage gestellt, wie bei so einem Anfang wohl mein Ende aussehen wird.

I

»Ich verstehe Ihren Wunsch, Monsieur, aber ich bin keine Schneiderin. Ich bin Tierpräparatorin.«

Der Mann sieht mich verzweifelt an.

»Mademoiselle, ich bin sicher, dass Sie das können. Man hat mir die Qualität Ihrer Arbeit in den höchsten Tönen gelobt, wissen Sie, auch Ihre Kreativität. Nach allem, was ich hier sehe, hat man nicht gelogen.«

Er steht mit seinem Tier in den Armen in meiner Werkstatt, einer norwegischen Katze, grau bis auf die schlaff herunterhängenden schneeweißen Pfoten.

Der Mann spürt in meinem Schweigen, dass er mit seiner Schleimerei nicht ankommt; ich ahne, dass er jetzt die Liebeskarte ziehen wird.

»Er hat mich so lange begleitet … Nach meiner Scheidung kam er jeden Abend und legte sich auf meinen Bauch. Seine Pfötchen … Er hat mich erwartet, wenn ich von der Arbeit kam, die Augen voller Zärtlichkeit, dann sah er mit mir fern. Er war ein intelligenter Kater, ach, wenn Sie wüssten! Und so liebenswürdig.«

»Liebenswürdig ist hier nicht die Frage, Monsieur. Ich bin sicher, dass Ihr Kater wunderbar war, aber ich kann Ihren Wunsch nicht erfüllen. Wie ich Ihnen schon sagte, übersteigt das meine Kompetenz. Im Übrigen, selbst wenn ich es wollte, halte ich es nicht für machbar.«

Den letzten Satz bereue ich sogleich. Der Mann ist nicht der Erste, der mit einem verrückten Auftrag unter dem Arm an meine Tür klopft; da kann man nur ablehnen, indem man sich auf Unfähigkeit beruft, und darf sich keinesfalls auf technische Fragen der Machbarkeit einlassen.

»Diesbezüglich erlaube ich mir, Ihnen zu widersprechen«, entgegnet er prompt. »Ich habe die Fläche der Pfoten natürlich ausgemessen, man braucht alle vier, mit zweien würde es nicht gehen, aber das ist absolut machbar, zumal ich nur Schuhgröße 37 habe.«

»Es tut mir wirklich leid, ich kann es nur wiederholen: Ich kann Ihnen keine Söckchen aus dem Fell Ihres Katers nähen!«

Er senkt enttäuscht den Kopf.

»So heißt er, wissen Sie?«

»Was meinen Sie?«

»Söckchen. So heißt er.«

Es fällt mir schwer, kein Mitleid mit diesem Mann zu haben, der offenkundig nicht ganz von dieser Welt ist. Es würde mir zwar nie in den Sinn kommen, aus dem Fell meines verstorbenen Haustiers Strümpfe zu nähen, aber ich glaube, auf diesem Planeten wimmelt es von weit absurderen Launen.

Weil ich spüre, dass ich gleich nachgeben werde, hole ich tief Luft, verabschiede ihn in einer letzten Aufwallung von Entschlossenheit und schließe seufzend die Tür hinter ihm.

Dann verlasse auch ich die Werkstatt und gehe nach Hause.

Ich wohne und arbeite in Alfortville, einem Pariser Vorort im Departement Val-de-Marne. Der Ort passt mir. Die Straße führt ein Stück an der Seine entlang, deren Wasser unter dem wohlwollenden Auge des Kraftwerks braun und gemächlich dahinfließt. Außerdem herrscht in dem Viertel ein Klima, das es mit dem meiner Heimatregion aufnehmen kann, weshalb ich mich rückhaltlos meinem liebsten Zeitvertreib hingeben kann: Trübsal blasen.

An diesem Oktobernachmittag funkelt der Fluss leider unter einem azurblauen Himmel, und die Brise aus dem Süden ist so sanft wie ein Ledertuch. Sogar die Gesichter der Passanten zeigen einen positiven Ausdruck. Ich sehe zu, dass ich mein Haus erreiche, bevor ich von der guten Laune ringsum angesteckt werde.

Unterwegs knurrt mir mein Magen ins Ohr, dass es Zeit ist, mich um ihn zu kümmern. Die Vorstellung, mich der Menge im Supermarkt zu stellen, begeistert mich nicht, genauso wenig möchte ich Nathalie in ihrem Tante-Emma-Laden begegnen. Ich beschließe, dass der Zustand meiner Speisekammer keiner unmittelbaren Beachtung bedarf; ein Nothappen vom Bäcker tut es auch.

Nachdem ich zwei Pains au chocolat verschlungen habe, erreiche ich endlich mein Haus und erklimme die drei Stockwerke bis zu meiner Wohnung. Doch kaum im ersten angekommen, muss ich einsehen, dass ich zu schnell gelaufen bin. Da ist jemand direkt über mir.

Sein Aufstieg ist schwer und mühsam, begleitet von Seufzern bei jeder bewältigten Stufe. Das ist Mimile.

Ich kann nicht entkommen. Mimile ist alt und hat körperliche Schwierigkeiten, aber taub ist er nicht. Er hat mich heraufstürmen hören und weiß, dass ich hinter ihm bin.

Als ich ihn einhole, dreht er sich um, lächelt mich freundlich an und setzt seine übliche Beschützermiene auf.

»Hallihallo, Éva! Long time no see.«

Er lächelt weiter, aber ich kenne Mimile: Englisch spricht er immer, wenn er verlegen ist.

»Hallo, Mimile. Alles gut?«

»In perfect shape! Ich absolviere mein tägliches Training.«

Er schleift – im Wortsinn – einen riesigen Einkaufsbeutel hinter sich her, kommt näher und umarmt mich. Ein bisschen hat er mir auch gefehlt, und trotzdem habe ich keine Lust, ihn zu sehen.

Es vergeht ein Moment, er scheint nach Worten zu suchen und formuliert schließlich etwas mühevoll: »Sag mal … Ich meine, wenn du magst und wenn du irgendwann ein bisschen Zeit hast, könnten wir zum Beispiel einen Kaffee trinken.«

Vor sechs Monaten ist Mimile in die Wohnung über mir gezogen. Jeden Tag trägt er seine neunundsiebzig Jahre vier Stockwerke hinunter und wieder herauf, und wenn er an meiner Wohnung vorbeikommt, weiß ich nicht, wer lauter knarrt, die Treppe oder er. In den ersten Monaten nach seinem Einzug haben wir Distanz gewahrt, aber seit einiger Zeit spüre ich, dass er mehr Kontakt sucht.

»Na klar, sobald ich etwas Luft habe«, sage ich.

Dabei habe ich jede Menge Luft: In Sachen Arbeit ist nichts los, in meinem Sozialleben herrscht die gleiche gähnende Leere wie in meinem Kühlschrank, und es wäre überflüssig, in meinem Kalender nach freien Terminen zu suchen. Zumal ich gar keinen Kalender habe.

Ich renne die verbleibenden Stufen hoch und schließe die Tür auf. Die Luft im Wohnzimmer ist feucht und staubig. Ich ziehe die Vorhänge zurück und öffne das Fenster. Die Taube vom Dienst hat sich an die Balustrade geklammert, sie mustert mich ein paar Sekunden, fliegt dann Richtung Seine und schreit dabei dummes Zeug.

Es ist Donnerstag, und ich bin in der Werkstatt. Ich habe keinen einzigen Auftrag, und ich muss zugeben, dass ich seit meiner Ankunft die meiste Zeit damit verbracht habe, Däumchen zu drehen. Allmählich kriege ich Muskelkater davon.

Meine Werkstatt, die man von einem Innenhof aus betritt, besteht aus einem großen Raum, von dessen Wänden der Putz fällt, und einer Rumpelkammer, in der ich einen Teil meines Materials lagere – Töpfe, Farben, Leim, Garn, Schere, Seife, Grundkörper und andere in diesen Stunden der Quasi-Arbeitslosigkeit ungenutzte Utensilien. Im Werkstattraum stehen entlang der Seitenwände Arbeitstische, darüber hängen alte Apothekerschränke mit Zubehör in den Schubladen, zum Beispiel Glasaugen und verschiedene Gebiss- und Kiefermodelle. Ein kleiner Tisch am Fenster mit einem staubigen Computer drauf ist mein Büro.

Meine ersten Werke sind an der hinteren Wand und auf der Kommode ausgestellt. Ich schreibe »Werke« – nicht, dass ich mich als Künstlerin verstehe, aber diese Versuche gleichen so wenig meinen ursprünglichen Absichten, dass man ihnen schon ein gewisses künstlerisches Etwas zubilligen kann. Eine Form von Art brut, aus meiner Unkenntnis der entsprechenden Techniken aufgetaucht wie Hasen aus dem Zylinder.

Nehmen Sie zum Beispiel den Hirsch. Ich hatte das Tier bei einem Jäger in Loir-et-Cher abgeholt, dem ich eine kostenlose Präparation angeboten hatte. Er hatte begeistert angenommen. Als er das Ergebnis abholen kam, wurde sein vorfreudiges Strahlen im Nu von mühsam unterdrücktem Zorn verdrängt. Ich hatte beim Gerben einen Fehler gemacht. Danach war das Fell des Tieres hart und struppig, die Haut hatte sich verzogen, einige Teile zerfielen förmlich. Als ich versuchte, das Leder mit Nachdruck zu fetten, um es zu zwingen, sich der Struktur des Grundkörpers anzupassen, wurde alles noch schlimmer. Bis heute schmerzt es mich, das Ergebnis zu beschreiben: ein Hirsch mit Schlitzaugen, in denen ein dementer Blick wohnt, ein klaffendes, nach links verzogenes Maul, eine völlig asymmetrische Frisur und steife, geradezu schneidende Ohren. Nicht einmal das Geweih hatte ich anständig angebracht. Es neigt sich nach unten und lässt das Gesicht irgendwie enttäuscht aussehen. Trotz allem hat das Ganze etwas Anziehendes. Deshalb ist der Hirsch, den ich Ernesto genannt habe, mein bevorzugter Gesprächspartner.

Verstehen Sie das nicht falsch. Mir ist durchaus bewusst, dass Gespräche mit einem Tier nicht den heutigen Gesellschaftsnormen entsprechen (schon gar nicht, wenn es sich um ein totes Tier handelt). Nicht, dass es mir wichtig wäre, aber ich möchte doch, dass Sie mich verstehen. Meine Tiere und ich erzählen uns Geschichten. Wir plaudern über ihr früheres Leben, das voller Anekdoten ist. Sie erkundigen sich nach meinem und versüßen meine Einsamkeit. Ich glaube, alle Menschen sind damit beschäftigt, sich selbst Geschichten zu erzählen. Die Identität des Gesprächspartners ist nebensächlich.

Irgendwie kommt mir Ernesto griesgrämiger vor als sonst. Er starrt mich mit abwesendem Blick an. Ich versuche den Kontakt herzustellen.

»Bist du wehmütig, Ernesto?«

Keine Antwort.

»Denkst du an die Lichtungen deiner Kindheit? Spürst du wieder das Kitzeln des hohen Grases an dem Bauch, den du nicht mehr hast?«

»Alles Quatsch«, unterbricht mich Ernesto missmutig. »Ich bin nicht wehmütig, ich sorge mich um dich.«

»Um mich?«

»Ja, um dich, Éva. Sieh dich doch an. Du verbringst deine Tage damit, dich hier zu verkriechen, die Welt zu meiden und die wenigen Kunden, die an deine Tür klopfen, zum Teufel zu jagen.«

»Aber ich werde mich doch nicht auf irgendwelche fixen Ideen einlassen, nur um ein bisschen Kohle ranzuschaffen! ›Ich hätte gern Söckchen, Mademoiselle! Könnten Sie mir einen Schal aus dem Fell meines Bibers nähen, Mademoiselle?‹ Ich habe einen schönen Beruf und bin nicht bereit, solchen Schwachsinn mitzumachen!«

»Das ist nicht das Problem, das weißt du genau. Das Problem ist, dass du dich von der Welt isolierst. Von deiner Familie. Den Freunden.«

»Welchen Freunden?«

»Denen, die du haben könntest. An deiner Stelle würde ich alles annehmen, wenn nur irgendein Austausch mit einem menschlichen Wesen damit verbunden ist, ein bisschen Freundlichkeit, auch wenn sie nur oberflächlich bleibt. Wenn dir jemand Ratten bringt, damit du daraus Pantoffeln machst, weise ihn nicht ab. Mach die Pantoffeln.«

Natürlich hat er recht. Er kennt mich besser als ich mich selbst. Meine Tiere sind die Ersten, die unter den Folgen meines Verhaltens leiden, während sie an den Wänden meiner Werkstatt hängen und in Stille und Langeweile darauf warten, dass ein bisschen Leben in die Bude kommt.

»Du weißt genau, dass es nicht so einfach ist, Ernesto. Die Leute … Die Leute und ich … Was wir uns antun …«

Er sagt nichts mehr. Ich sehe die anderen an. Das Wiesel. Das Schuppenwildschwein. Keiner von ihnen sagt einen Mucks.

»Ihr versteht mich, stimmt’s? Nach all der Zeit … Ihr versteht, was ich sagen will?«

Die entstellten Gesichter bleiben stumm. Plötzlich ist das Zimmer leer und kalt.

Ich gehe ein bisschen raus und laufe am Ufer entlang, aber das hartnäckig strahlende Wetter überzeugt mich, umzudrehen und ruckzuck wieder in meiner Werkstatt abzutauchen. Beim Reinkommen ignoriere ich Ernestos vorwurfsvollen Blick und fange an, hektisch die Rumpelkammer aufzuräumen. Dann hänge ich im Internet rum und studiere ohne Begeisterung die Ausschreibungen der Naturkundemuseen.

Der Raum bleibt den ganzen Vormittag still. Das ideale Terrain für Trübsal, werden Sie mir sagen. Da täuschen Sie sich gewaltig. Eine zu bedrückende Umgebung macht die Trübsal instabil, sie kann jeden Augenblick in depressive Traurigkeit umschlagen, die überhaupt nicht mehr lustig ist.

Durch das Werkstattfenster sieht man den Innenhof, einen dieser gepflasterten Höfe, wie man sie hier in rauen Mengen findet. Ein beigefarbenes Schild mit meinem Namen (Éva Rosset) und der Angabe »Tierpräparatorin« an der Fassade des Vorderhauses soll jeden zu mir einladen, der die glückliche Idee hatte, mit seinem toten Vieh unter dem Arm durch das Viertel zu spazieren.

Glauben Sie es oder nicht, genau das ist der guten Frau passiert, die nun vor meiner Tür steht.

»Guten Tag«, sagt sie mit spitzer Stimme, »ich bin zufällig vorbeigekommen und habe Ihr Schild gesehen. Der Hamster meines Sohns hat uns verlassen.« Sie bekreuzigt sich. »Wir kommen gerade vom Tierarzt in der Rue Paul-Vaillant-Couturier.«

Die Frau sieht müde aus, hat eine Himmelfahrtsnase und wirkt höchst unsympathisch. Sie hat ihren Sohn an der Hand, ein Kind mit nichtssagendem Gesicht, das den Leichnam eines braun-weiß gestreiften Hamsters in den Händen hält, ziemlich cute, wie Mimile sagen würde. Der Junge, sechs oder sieben, wirkt niedergeschlagen. Beim Anblick meiner Werkstatt reißt er die Augen auf.

»Mama, die Tiere hier sehen komisch aus.«

Ich kann ihm nicht widersprechen. Die Mutter schaut sich um. Ich spüre, dass sie zu zweifeln beginnt.

»Bist du sicher, dass du Totoro behalten willst, mein Schatz?«, fragt sie.

»Ja!«, schreit der Junge und bricht in Tränen aus.

Ich bitte sie, sich zu setzen, und muss mir einen dritten Stuhl aus der Kammer holen. Zum ersten Mal empfange ich im Doppelpack. Offenbar ist es keine Gruppenaktivität, sein Haustier zum Ausstopfen zu bringen.

Ernesto zwinkert mir wohlwollend zu, als er sieht, wie ich mich um meine Gäste bemühe. Der Bengel plärrt immer noch, er sieht aus, als würde er gleich zusammenklappen. Die Frau kümmert sich nicht darum. Sie kratzt mit dem Nagel des Zeigefingers auf dem des Daumens, ein nervtötendes Geräusch.

Ich versuche die Atmosphäre zu entspannen.

»Wie heißt du? Machen dir die Tiere an der Wand Angst?«

»Sie starren mich an«, stößt er mühevoll hervor.

»Er heißt Raphaël«, sagt die Mutter.

»Klar sehen sie uns an, Raphaël, was sollten sie sonst tun? Die Armen würden sich langweilen. Sie müssen sich doch beschäftigen.«

Die Mutter wirft mir einen konsternierten Blick zu. Das Kind watet immer noch im Elend.

Ich muss die Situation retten.

»Weißt du, die hier sind nicht so gut gelungen, aber wenn du mir Totoro anvertraust, wird er viel schöner. Ich kann ihn im Sitzen präparieren oder im Stehen, dann können seine kleinen Pfoten etwas halten.«

Er hört schlagartig auf zu jammern.

»Präparieren? Wie die Ausländer ihre Pässe?«

Ich wende mich an die Mutter.

»Sie haben einen sehr gebildeten Sohn.«

»Papa sagt, alle Ausländer präparieren ihre Pässe.«

»Keine Angst, mein Schatz, Totoro ist Franzose«, stellt die Mutter klar. »Bei Tieren heißt präparieren ausstopfen.«

»Entschuldigen Sie, aber ich glaube, das ist ein Dsungarischer Hamster.«

Sie durchbohrt mich mit Blicken. Gott, ist das schwierig!

»Deine Mama hat recht. Bei Tieren hat präparieren eine andere Bedeutung. Es bedeutet, toten Tieren ihr natürliches Aussehen wiederzugeben. Wenn du mir Totoro anvertraust und mir sagst, wie du ihn haben willst, in welcher Position und mit welchem Ausdruck, mache ich mich an die Arbeit und lasse ihn genau so aussehen. Soll ich dir Fotos zeigen?«

Der Junge antwortet nicht. Er starrt auf sein Tier, von dessen gallischen Wurzeln er noch nicht ganz überzeugt ist.

»Komm, mein Schatz, wir sehen uns die Fotos an«, sagt die Mutter.

Ich hole meinen Katalog. In Anbetracht seiner Schmächtigkeit sage ich ihnen wohlweislich nicht, dass darin mein Gesamtwerk versammelt ist.

»Hier sind ein paar Beispiele. Dieser Hund ist ein Cockerspaniel. Er ist nett, oder? Und das ist ein Rehkitz, wie Bambi. Ich habe sogar einen Löwen.«

Ich zeige ihnen den Löwen. Er sitzt da und hat das Maul bedrohlich aufgerissen. Die Frau wirkt beruhigt.

»So will ich ihn«, verkündet das Kind munter.

»Im Sitzen?«

»Nein, mit einer Mähne und Löwenzähnen und allem. Ich will, dass du Totoro als Löwen präparierst.«

»Aber ich kann doch deinen Hamster nicht in einen Löwen verwandeln.«

Seine Mutter gibt mir ein dezentes Zeichen mit der Hand.

Sie legt ihrem Sohn dar, dass die Metamorphose Hamster-Löwe technisch unmöglich ist. Er sagt, er will einen Löwen. Sie sagt, dass es dann besser ist, Totoro im Bertholet-Park zu begraben. Er verkündet, dass er Totoro niemals begraben wird. Sie erklärt ihm, dass Totoro sehr glücklich unter der Erde sein wird, wo es schön frisch ist. Er entgegnet, dass Totoro von Würmern zerfressen und von Kindern zertrampelt wird. Sie betont, dass er ins Paradies kommt. Er wiederholt, dass er einen Löwen will. Sie bleibt bewundernswert ruhig. Sie versichert, dass es absolut möglich ist, das Tier an einem Ort zu begraben, wo niemand es zertrampeln wird. Er kommt wieder mit den Würmern. Sie sagt eine Sekunde lang nichts. Er nutzt es aus, um zu wiederholen, dass er einen Löwen will. Sie schlägt ihm einen Kompromiss vor: Wie wäre es damit, Totoro als Hamster zu präparieren, aber mit einer Löwenmähne? Er zögert. Sie wirft sich in die Bresche, malt ihm aus, dass es der einzige Löwenhamster der Welt sein wird, dass er wie ein König auf dem Regal in seinem Kinderzimmer thronen wird, weitere Argumente rattern wie ein Maschinengewehr. Ein paar Augenblicke später ist das Kind verloren, aber überzeugt, und die Mutter erschöpft, aber zufrieden. Sie wendet sich mir zu und verspricht zuckersüß:

»Natürlich zahlen wir für die Mähne einen Aufschlag.«

Ich sage, dass ich meinen Terminkalender konsultieren muss, und tue so, als suchte ich im Computer. Nach einer Minute auf der Website von Météo France – Freitag: frühlingshaft, weitgehend sonnig; Enttäuschung – verkünde ich ihnen den Preis und dass ich einen Monat brauchen werde, um Totoro zu präparieren. Dann begleite ich sie mit einem professionellen Auf Wiedersehen zur Tür.

Ein Hamster mit Mähne ist nicht der Auftrag, mit dem ich in die Unsterblichkeit eingehen werde, aber Sie haben sicher schon verstanden, dass die Unsterblichkeit nicht mein größtes Lebensziel ist. Die Aussicht, für eine Familie zu arbeiten, die es geschafft hat, bereits einen Siebenjährigen zu einem ausländerfeindlichen Neurotiker zu machen, begeistert mich nicht wirklich, aber ich bin auch nicht gerade ein Mensch mit felsenfesten Prinzipien.

Ich hocke auf einem menschenleeren, von wilden Gräsern überwucherten Pontonsteg. Das Seine-Ufer ist ruhig. Ich denke wieder an den Hamster und überlege mir, welche Lieferanten imstande sein könnten, Löwenmähne für mich zu organisieren. Cevesec, keine Chance. Rigaudon auch nicht …

Ich muss echte Mähne auftreiben. Das ist entscheidend, keine Lappalie. Meine Anfänge in diesem Beruf waren so ein Desaster, dass ich seit ein paar Jahren auf absoluten Perfektionismus umgeschwenkt bin. Da ich eine natürliche Neigung zu Pi mal Daumen habe, zwinge ich mich, strenge Regeln einzuhalten, sonst verfalle ich wieder der Beliebigkeit und stürze ab wie ein Kater vom Geländer. Egal, wie lächerlich die Wünsche meiner Kundschaft sind: Ich bemühe mich, Qualität zu liefern. Also nachhaltige Produkte und so wenig Künstliches wie möglich. Echte Löwenmähne allerdings … Natürlich könnte ich synthetisches Fell nehmen, aber dann sieht das Tierchen aus wie ein Karnevalsscherz. Man kann das Lächerliche nicht noch lächerlicher machen.

Meine traditionellen Lieferanten verkaufen Gerbprodukte, Grundkörper, Zubehör wie Augen oder Gebisse. Museen oder Zoos wären eine Möglichkeit, aber da habe ich keine Beziehungen. Ich hätte die Sockenbestellung annehmen sollen. Je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass auch nur das kleinste Büschel echter Löwenmähne ein Problem wird, das sich nicht so leicht lösen lässt.

Für mich hat ein Problem ohne Lösung immer etwas Beruhigendes. Ich weiß, was man damit machen muss: es auf später vertagen. Das ist kindisch, klar, aber ich warte lieber bis zum allerletzten Moment, auch wenn mich die Angst schüttelt. Also kehre ich das Problem vorerst unter den Teppich.

Um mich herum verändert sich der Himmel allmählich. Wolken ziehen auf. Keine regenschweren Kumuluswolken, sondern verstreute, wattige Höhenwolken. Auf dem Quai zerfetzt eine XL-Möwe einen Müllsack und plustert sich auf, um die Tauben in die Flucht zu schlagen. Hinter der Möwe und unter den Wolken reckt ein Lastkahn seine Spitze in die Seine. Als ein Schiff vorbeifährt, plätschert der Fluss, und die Wellen spritzen ein bisschen auf das Deck, wo eine Frau sitzt.

Sie ist in ein weißes Tuch gehüllt, das bis auf ihre nackten Füße fällt. Ihr dichtes schwarzes Haar fließt über die Schultern, und sie starrt durch ihre Brille auf das Wasser, wie einst Penelope aufs Ionische Meer. Manchmal schwappt es ganz an sie heran, dann streckt sie die Beine aus, um mit den Zehen darin zu planschen. Sie scheint sich nicht um den nahenden Untergang ihres Bootes zu sorgen.

Während ich in diesen Anblick versunken bin, höre ich ein Hundejaulen, gefolgt von einer vertrauten Stimme.

»Calm down, Sam. Gutes Hundchen.«

Ich brauche eine Weile, um zu reagieren, wie wenn man aus komplexen Gedankengängen gerissen wird. Mimile trägt eine bordeauxrote Wollweste und einen Panamahut, der seine Glatze versteckt, an einer Schnur zieht er einen aschgrauen Hund hinter sich her.

»Mimile, wo kommt dieser Hund her?«

»Ich habe ihn seit letzter Woche.«

»Hat ihn dir jemand zum Hüten gegeben?«

Rhetorische Frage. Ich wüsste nicht, wer Mimile bitten sollte, seinen Hund zu hüten. Soviel ich weiß, ist Mimile wie ich: allein.

»Nein«, antwortet er. »Ich habe ihn adoptiert. Er heißt Sam.«

»Das habe ich gehört.«

»Ich wollte immer ein kleines Tier haben. Er ist sehr nett.«

»Aber nicht mehr ganz jung«, stelle ich fest.

Freundlicher Euphemismus: Dieser Pudel ist in der Abenddämmerung seines Daseins, und ich spreche hier von der Dämmerung an einem Wintertag, wenn die Nacht sehr schnell hereinbricht. Sowieso sehe ich nicht, was man an diesem ächzenden Pflegefall »nett« finden kann.

»Ja, er ist alt«, antwortet Mimile. »Weil ich nicht vor ihm gehen möchte. Man kann nie wissen. In meinem Alter …«

Toll, jetzt will er mich weichklopfen, indem er davon spricht, zu »gehen«, während er mit seinem moribunden Köter und den Augen einer verängstigten Katze vor mir steht. Als wüsste ich nicht, dass uns die Leute beim leisesten Windzug davonwitschen können. Als wüsste ich es nicht ganz genau. Wenn es einen Bereich gibt, für den die Leute keinerlei Vorsorge treffen, ist es genau dieser. Daran musst nicht ausgerechnet du mich erinnern, Mimile.

In diesem Stadium habe ich die Wahl, mich auf sein Spiel einzulassen oder es zu ignorieren und das Thema zu wechseln.

»Sam scheint jedenfalls zufrieden, hier zu sein«, sage ich.

Mimile nimmt die Ironie nicht wahr. Zweideutigkeit ist nicht sein Ding.

»O ja, das glaube ich auch«, pflichtet er mir bei. »Er war in einem Käfig, jemand hat ihn ausgesetzt, und er lief den ganzen Tag im Kreis. Weißt du, der Hund ist ein soziales Wesen, wie der Mensch. Er ist nicht für die Einsamkeit gemacht. Er braucht Gesellschaft.«

»Du scheinst dich ja mit Hunden auszukennen.«

»Ich kenne mich mit Einsamkeit aus.«

»Mimile, bitte hör auf mit dem Theater. Ich habe wirklich viel zu tun gehabt.«

Ausweichen, immer. Ich weiß, dass es keine großen Sachen sind, die Mimile erwartet. Einen Kaffee trinken, über Belanglosigkeiten reden, ihm einen Gefallen tun, wenn er mich braucht. Da sein, einfach anwesend sein. Aber ich schaffe es nicht.

Er lächelt gezwungen und nickt. Dann greift er nach einem Stück Holz und wirft es einen Meter weiter. Sam bleibt sitzen, träge schaut er zu seinem Herrchen auf. Ich möchte mich am liebsten in meine Werkstatt flüchten. Mimile spürt es, er kennt mich. Aber er sagt nichts, sondern fängt wieder an, mit Sam zu reden.

Ich drehe den Kopf zum Lastkahn. Die Möwe, die auf dem Quai saß, ist an Bord gegangen, spaziert herum und hackt mit dem Schnabel nach einem Tau, das auf dem Vordersteven herumliegt. Penelope ist immer noch da, sucht aber nicht mehr auf dem Wasser. Sie sieht mich an, das Tuch bis zu den Schultern hochgezogen, starrer Blick, die Augen hinter ihren Brillengläsern zusammengekniffen. Sie lächelt mir zu, aber ich bin mir nicht sicher, ob es ein freundliches Lächeln ist.

Ich fühle mich unbehaglich und hocke mich hin, um unbeholfen Sams Nacken zu tätscheln. Der Pudel ist mürrisch, sein Fell hart. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Mimile, zu der Frau gewandt, mit den Schultern zuckt.

»Éva, ich wollte gerade eine alte Freundin besuchen. Kommst du mit?«

Ich hatte also unrecht. Mimile hat ein Sozialleben. Von dieser Frau hat er mir nie erzählt. Ich habe ihm keine Gelegenheit dazu gegeben.

Die Gelegenheit ist da, vor meiner Nase. Aber anstatt sie zu ergreifen, stammle ich eine Ausrede und verdrücke mich.

Ich könnte in die Werkstatt gehen, aber ich habe nicht die geringste Lust, mir von einem postmodernen Geweihträger die Leviten lesen zu lassen. Mit einem Ministopp in der Rue de Pivoines, wo ich eine Packung Sushi kaufe, trabe ich nach Hause. In der Wohnung schlüpfe ich mit einer Spur Unbehagen, denn es ist noch nicht einmal vier, in meinen Pyjama und mit Sushi, Sojasoße und dem Spionageroman von John le Carré, der auf dem Sofa lag, unter meine Decke. Ich habe fest vor, die Dunkelheit abzuwarten, bevor ich einschlafe, damit ich nicht früh um drei wie eine verschreckte Eule aus dem Bett falle. Die Dunkelheit, aber nicht länger.

Nach einer Viertelstunde Lektüre sehe ich ein, dass mich das Buch kein bisschen unterhält. Ich begreife rein gar nichts, die Kerle wechseln die Länder wie Hemden, sprechen zwölf Sprachen und strampeln sich ab, um die Welt am Laufen zu halten, was mir ebenso vergeblich wie illusorisch vorkommt.

Ich habe das Sushi aufgegessen, stehe auf, um mir einen Rum einzugießen, und gehe wieder ins Bett. Ab halb sechs lässt sich Mimiles langsamer Schritt durch die Decke vernehmen (wenn es nicht der von Sam ist). Ein dumpfes Schrittgeräusch, gefolgt von einem Knarren. Alles knarrt in diesem Haus.

Ich versuche weiterzulesen, aber meine Gedanken bleiben an der Decke kleben. Ich überlege mir, dass ich Mimile vorschlagen könnte, mit mir zu essen, dass ich mehr Sushi oder ein Bo Bun holen oder ihm beim Lesen seiner Mails helfen könnte. Einen kurzen Moment lang habe ich sogar Lust dazu. Die Idee blitzt auf, es wäre so einfach, so normal. Natürlich bewege ich mich so wenig wie ein lauernder Löwe. Ich erfinde Vorwände, um mich zu überzeugen, dass er mich gar nicht braucht. Schließlich hat er Sam. Schließlich ist er gar nicht allein. Schließlich ist es schon spät, er ist bestimmt müde. Schließlich bin ich ihm nichts schuldig.

Der Brunnen, aus dem ich meine Argumente schöpfe, ist tief, aber sein Wasser ist trüb.

Ich gieße mir noch einen Rum ein und versuche, mich wieder in meinen Roman zu versenken. Kapitel fünf. Zwei Männer spielen Tennis. Beim Seitenwechsel unterhalten sie sich in einer Geheimsprache. Während der Partie entschlüsselt jeder das Beinspiel des anderen, seine Angriffs- und Verteidigungskünste, um darin die Lücken zu entdecken, die er später beim großen Abschlusskampf nutzen kann. Einer der beiden Spieler ist anscheinend ein durchtriebener Schurke. Ich vermute, wenn ihm der andere an diesem Punkt der Geschichte eine Kugel in den Kopf schießen würde, wäre der Roman zu kurz, aber ich begreife wirklich nicht, was ihn daran hindert.

Es ist noch hell, aber ich beschließe trotzdem zu schlafen. Jetzt wach liegen oder später – was macht das für einen Unterschied?

Und vielleicht träume ich dann.

Ich träume viel. Das ist der Teil meines Lebens, den ich am liebsten mag. Manchmal habe ich das Gefühl, das ist der einzige, den ich unter Kontrolle habe. Meine Träume machen mir nie Angst, sie verletzen mich nicht, ich bin darin nicht verloren und fehl am Platz. Meistens sind sie eher schlicht, leidenschaftliche Romanzen oder Abenteuer in den Tropen, bei denen ich eine angenehme Zeit verbringe. Die anderen sind das Gegenteil: Sie sind maximal metaphorisch, und das gibt mir die Rechtfertigung, sie nicht verstehen zu müssen.

In mein Schlafzimmer verkrochen, die Nase erfüllt von den Ausdünstungen der Sojasoße, warte ich auf meinen Traum.

Er lässt nicht auf sich warten, aber schon bei den ersten Bildern merke ich, dass er mir nicht gefallen wird. Die Kulisse ist weder romantisch noch tropisch. Und in Sachen Metapher begreife ich schnell, dass es eher ein Tiefflug wird als ein Abstecher in die Stratosphäre.

Ich träume von einer Kühlschranktür, die beim Öffnen quietscht wie altes Parkett. Ein klitschnasser Löwenhamster mit Brille springt heraus und schreit mit näselnder Stimme, dass drinnen ein Unwetter gewütet habe und man Psychotiker oder Bauer in der Sahelzone sein müsse, um den Regen zu vergöttern. Er rennt eine Weile durch die Küche, stößt die Wohnungstür auf, rennt die Treppe hoch und auf Mimiles Wohnung zu. Ich folge ihm auf allen vieren. Vor Mimiles Wohnung zieht der Löwenhamster eine Büroklammer aus seiner Mähne, um sich Zugang zu verschaffen, aber als er sie einführen will, stellt er fest, dass es kein Schloss gibt. Es gibt nicht einmal mehr eine Tür. Er dreht den Kopf zu mir, kratzt sich die Mähne und betritt die Diele. Sie ist leer. Ich vernehme ein ganz schwaches Hintergrundgeräusch. Wir kommen ins Wohnzimmer, wo Mimile vor dem Fernseher sitzt, in dem Casablanca läuft. Ingrid Bergman schaut in Schwarz-Weiß zum Klavier und sagt mit schmachtender Stimme ihren Kultsatz: »Play it once, Sam. For old times’ sake.« Am Klavier spielt ein lustloser Zwergpudel eine Melodie, die ich gut kenne, aber seit Ewigkeiten nicht mehr gehört habe. Der Löwenhamster macht mir Zeichen. In der Zimmerecke steht die in Weiß gehüllte Frau vom Lastkahn mit dem Rücken zu uns. Sie dreht sich zu mir um, aber ihr Gesicht bleibt verschwommen. Der Löwenhamster borgt mir seine Brille. Das Bild wird klarer. Die Frau lächelt, aber es ist nicht das Lächeln, das ich auf dem Kahn gesehen habe. Das Gesicht auch nicht: Es ist das Gesicht meiner Mutter. Als sie mich wahrnimmt, gehen ihre Mundwinkel nach unten, und sie sieht mich vorwurfsvoll an.

Am nächsten Morgen kümmere ich mich in der Werkstatt um das Problem mit der Löwenmähne. Nacheinander rufe ich meine Lieferanten an. Den ersten, die mich fragen, warum ich nicht die Mähne des Löwen benutze, den ich ausstopfen muss, erkläre ich, dass es nicht für einen Löwen, sondern für einen Dsungarischen Hamster sei, aber ich merke bald, dass es nicht ratsam ist, diese Wahrheit auszusprechen. Bei den nächsten erfinde ich diverse Geschichten, Beschädigung des Fells, Hautkrankheit, Schnitzer bei der Bearbeitung, frühzeitige Kahlheit, Wettereinflüsse infolge der Klimaerwärmung – sie stoßen auf weniger Sarkasmus, mehr Skepsis und ebenso wenig Mähne. Ich verschiebe das Problem auf immer später und mache mich erst mal an die Ausarbeitung des Grundkörpers.

Unter Ernestos aufmerksamem Blick schnitze ich den Polyurethanschaum in der Größe des Tieres zurecht. Ich stelle es auf allen vieren mit angespannten Beinen, vorgereckter Brust und erhobenem Maul dar. Dass der Körper so klein ist, macht die Arbeit schwierig, aber allmählich nimmt das Tier Gestalt an, und als der Grundkörper fertig ist, bin ich zufrieden. Er ist wirklich stattlich. Für einen Hamster meine ich.

Ich beschließe, eine Pause zu machen, ein bisschen rauszugehen. Aber kaum habe ich die Werkstatt verlassen, fällt mein Blick auf einen Mann, der im Hof auf der Bank sitzt. Es ist das erste Mal, das ich jemanden hier sitzen sehe.

Der Mann sitzt mit den Pobacken ganz vorn auf der Kante, als hätte er Angst, die Bank würde unter seinem Gewicht nachgeben. Er lässt den Kopf hängen und starrt auf den Bio-Coop-Beutel auf seinen Knien. Zwischen seinen Händen lässt sich durch den Stoff eine Tiergestalt wahrnehmen.

Ich kenne diesen Mann. Ich sehe zwar sein Gesicht nicht, aber seine ganze Erscheinung erinnert mich an irgendjemanden. Die Marke auf dem Beutel gibt mir den entscheidenden Tipp: Das ist doch der, der bei mir im ersten Stock wohnt.

Auf den ersten Blick gleicht der Nachbar einem typischen Pariser Mittdreißiger, Kategorie Bobo Standard: angegraute Schläfen, gepflegter Dreitagebart, feste, aber nicht übertrieben große Muskeln, T-Shirt mit V-Ausschnitt oder Hemd mit Mao-Kragen. Ein Mann mit friedfertiger Ausstrahlung. Normalerweise zumindest. Jetzt ist es anders: Er trieft vor Traurigkeit.

Er hat mich nicht kommen hören, ich habe also noch Zeit, festzulegen, wie ich das Gespräch eröffne. Ich zähle in Gedanken die Möglichkeiten auf und finde, dass es viel zu viele gibt. »Schönes Wetter, was?« Nein, es nieselt, das funktioniert nicht. »Ich wusste gar nicht, dass Sie eine Katze haben.« Ich bin nicht sicher, dass es eine Katze ist. »Was bringen Sie mir Schönes?« Irgendwie weiß ich, dass das unangebracht sein könnte. Mein Gehirn ist überhitzt. Panik bläht sich in mir auf. Nach diversen Volten entscheide ich mich für die traditionelle Formel: »Guten Tag«, gefolgt von seinem Vornamen. Aber als ich schon den Mund geöffnet habe und bereit zum Handeln bin, stelle ich fest, dass ich nicht mehr weiß, wie er heißt. Habe ich es überhaupt je gewusst?

Meine Neuronen schicken ein Notsignal an die Lippen, um sie zum Schweigen zu bringen, die aber ignorieren es ungeniert.

»Vincent? … Pardon, Julien? Nein, Laurent?«