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Das Bulldoggengesicht starrte auf mich. Die riesigen Schneidezähne hingen wie die Hauer eines Wildschweines aus dem Maul, was ihm einen noch gefährlicheren Eindruck verschaffte. Die kleinen Augen strengten sich an, um mich zu erkennen, mich, eine winzige störende Mücke, so schien mir. In der protzigen rechten Tatze schwang eine Keule. Die Hundenase schnüffelte. »Auf Nimmerwiedersehen...«, sagte ich nur noch... Als Liannas neuer Nachbar einzieht, malt sich ihre Fantasie schon aus, was das für ein geheimnisvolles Abenteuer werden wird... doch als sie dann tatsächlich ein Portal im Zimmer eines alten Magiers entdeckt und herausfindet, dass gerade sie ein Held sein soll, macht sie sich schon Gedanken. Aber natürlich stürzt sie sich mutig ins Geschehen, denn sie hat vor nichts Angst... oder doch? Ein Buch voller Fantasie und Kindheitsträume für begeisterte Abenteurer ab 10 Jahren.
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Seitenzahl: 683
Veröffentlichungsjahr: 2014
Der Held der Zeiten und die Sieben
von Emma Elisabeth Börner
Für mich, nachträglich zu meinem Geburtstag. Und für alle, die dieses Buch vielleicht auch zum Geburtstag bekommen und es mögen. Und für alle, die dieses Buch auch nur so bekommen, oder zu Weihnachten, Ostern, Nikolaus, …
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Kapitel - Der Neue in der Klasse
2. Kapitel - Entschuldigung und Dokumente
3. Kapitel - Katzenjammer
4. Kapitel - Die neue Welt
5. Kapitel - Auf Wanderschaft und ein komisches Ereignis
6. Kapitel - Geheimnisse
7. Kapitel - Wo ist Piyoko?
8. Kapitel - Das Weideland
9. Kapitel - Ein grausamer Kampf
10. Kapitel - Mensch und Tier zugleich
11. Kapitel - Die Pyramide
12. Kapitel - Monster
13. Kapitel - Kraftlos
14. Kapitel - Ein Traum wird klar
15. Kapitel - Glockengeläut
16. Kapitel - Quälende Bilder
17. Kapitel - Niemand
18. Kapitel - Der Meister
19. Kapitel - Der Osten
20. Kapitel - Der Norden
21. Kapitel - Der Westen
22. Kapitel - Der Süden
23. Kapitel - Das Portal
24. Kapitel - Die Zeit
Danksagung (und Nachwort)
Die Autorin über sich selbst
Vorwort
Ja, ein Vorwort. Und ja, das sind die meist langweiligen Dinger, in denen ganz ganz viiiel, seitenlang, etwas über die Entstehung des Buches steht.
Aber:
Das wird keine Bucheinführung. Und auch nichts über die Entstehung des Buches.
Obwohl… nur ganz kurz:
Ich habe, glaube ich, so um die vier bis fünf Jahre daran geschrieben, also sofort nachdem mein Wolfi-Buch (Buchkinderverlag) rauskam.
So, bitte gebt nichts mehr auf die alten Interviews und so, die sind veraltet und ich möchte nochmal sagen:
Bei dieser Podiumsdiskussion vor fünf Jahren, da habe ich das nicht so gemeint, dass ich jedem, der mein Buch nicht mag, eine reinhaue. Das war nur so: Als diese doofe Frage kam, was wir machen würden, wenn jemand unser Buch blöd findet, wusste keiner etwas zu sagen. Da habe ich mir meinen Erzfeind vorgestellt. So einer wie Raawi… nein, schlimmer…. Und da ich davor zufällig einen Freund von ihm gesehen habe, musste ich an ihn denken. Und da habe ich so… naja, „brutal“ geantwortet. Und dafür wollte ich mich noch einmal entschuldigen. Sorry!! Das war nicht so gemeint…
Aber jetzt mal eine Mahnung an den Kameramann bei dem blöden Interview: Wissen Sie, wie blöd ich im Fernsehen aussah? Hm? Haben Sie es gesehen? Und darum bitte ich Sie, zum Wohle aller anderen gefilmten Kinder: Bitte, FILMEN SIE NIE WIEDER VON UNTEN!! ICH HATTE VOLL DAS DOPPELKINN UND SAH FETT AUS!!!
Danke.
Ja, äähm.
Was ich eigentlich sagen wollte:
Bitte, liebe Leser,
diese ganzen Figuren in meinem Buch… (ich finde keine Worte. Mmmh, ich such mal unterm Sofa… Ahh ja!)
Bitte, denkt nicht, dass mein Klassenlehrer auch Liannas Klassenlehrer ist. Und dass Frau Blante meine Mathelehrerin ist. Denn an meiner Schule gibt es weder hornalte Lehrer (außer den Direktor…hihi… ups, das hätte ich wohl nicht erwähnen dürfen…) noch üüüüüübelst miiiiese Mathematiklehrerinnen.
Und auch Liannas Feinde sind nicht meine Feinde. Obwohl… als ich eine Skizze von Raawi malte, meinte meine Mutter: „Der sieht ja aus wie…… (Name aus Sicherheitsgründen nicht genannt, auf jeden Fall eine Person, die ich nicht, überhaupt nicht leiden kann)!“
Ja, natürlich kann man sich Personen, die man kennt unter den Namen der Buchfiguren vorstellen. Das verbietet niemand einen. Es ist bestimmt auch sehr lustig, wenn dann meine bösen Figuren die Namen meiner oder deiner Feinde tragen.
So, mehr will ich euch nicht nerven, denn ganz hinten kommt noch eine Danksagung ;D …
Viel Spaß beim Lesen!!!!
1. Kapitel - Der Neue in der Klasse
Heute früh war etwas anders als sonst. Die Klasse war viel lauter und alle tuschelten wild umher. Ich merkte erst später, was los war. Jemand Neues war in die Klasse gekommen. Immer mal drehten sich die Schüler und Schülerinnen um und musterten ihn. Dazwischen flüsterten sie miteinander. Ich hatte die Wahl: ›Entweder geselle ich mich zu meinen Klassenkameraden und mache es wie sie und tuschele und drehe mich nur mal kurz um, oder ich gehe ganz einfach zu meinem Platz und bin freundlich zu dem Neuen.‹ Ich überlegte. Wie würde ich mich in einer neuen Klasse fühlen, wenn sich alle nur kurz zu mir umdrehen würden und alles über mich reden würde? Ich würde in Grund und Boden versinken vor Scham, weil mich alle so komisch mustern. Also entschied ich mich dafür, lieber zum einzelnen zu gehen und mich nicht der Gruppe der Angaffer und Anglotzer anzuschließen.
Der Junge saß verträumt auf seinem Platz, ganz hinten links. Einen Platz hinter mir. Als ich langsam zu meinem Platz ging, hörte die Gruppe der Angaffer und Anglotzer plötzlich auf, zu tuscheln und alle schauten auf mich, manche sahen mich voller Abscheu an, andere sahen mich wie ein Alien an und einer ließ seinen Mund soweit offen stehen, dass eine Monsterfliege dreimal Platz darin gehabt hätte.
Ich blieb vor meinem Platz stehen, war einen Moment lang still. Mein Herz klopfte laut. Der Junge schaute mich etwas erwartungsvoll aber auch etwas überrascht an. Gerade als er den Kopf mit den wuschelig rot-orangefarbenen Haaren wieder senken wollte, lächelte ich und sagte: »Hallo.« Er antwortete mit einem leichten Zittern in der Stimme: »Hi.«
Sofort ging das große Getuschel wieder los und ich hatte nicht mehr dieses Gefühl, dass sich tausende von Blicken in meinen Rücken bohrten. Ich setzte mich leise hin und packte meine Sachen aus. Von hier hinten betrachtet wirkte die Gruppe da vorne schon etwas kleiner und das Getuschel erschien mir etwas leiser. Immerhin, wenn auch nur etwas.
Wenig später wurde der Junge uns vorgestellt und bekam seine neuen Bücher. Er hieß Carmon und kam von Stralsund hierher. Ich wusste nichts über ihn, aber trotzdem kam er mir so geheimnisvoll vor. Vielleicht lag es gerade daran, dass ich nichts über ihn wusste. Vielleicht war es aber auch nur meine wuchernde Fantasie, die mir sagte, ich säße vor einem Jungen, dessen Vater oder Großvater ein Zauberer ist. ›Ich werde es schon noch erfahren‹, dachte ich.
Erste Stunde, erster Tiefpunkt des Tages. Mathe bei Frau Blante. Genau die Frau, die jeden Tag versucht, uns die kompliziertesten Mathematik-Regeln und -Formeln in unsere Köpfe einzuhämmern, damit wir dann ganz schnell wieder eine Klassenarbeit schreiben können. Wir sind die einzige Klasse unserer Klassenstufe, die diese Lehrerin in Mathe bekommen hat. Unsere drei Parallelklassen haben alle andere Mathematiklehrer. Und sie sind auch zwei Themen weiter hinter uns, hängen also mindestens drei Monate zurück. Dafür haben die ihren Durchschnitt in Mathe gehalten oder verbessert, während unserer stetig fällt. Frau Blante schrieb eine komplizierte Rechnung an die Tafel. Sowas mit x= … oder 2y-x =300 + (90 * 3) - … ach.. Ich drehte mich kurz um, um zu sehen, ob Carmon diese Rechnung verstanden hatte, doch er blätterte irgendwo im Mathebuch herum. ›Mmmh… der hatte bestimmt noch nicht das Themengebiet, was wir jetzt haben…‹, dachte ich mir. Doch ich wusste ganz genau, dass das Frau Blante egal sein wird. Und meine Vermutung bestätigte sich. Nachdem sie etwas zu der Gleichung an der Tafel gesagt hatte, fragte sie laut: »Und, Carmon, was ergibt das dann?«
Carmon schreckte hoch und starrte zu der Tafel und dann zu Frau Blante. Und wieder zu der Tafel. Alle hatten sich zu ihm umgedreht. Auch ich. Langsam wurde er rot. Ich kippelte leicht und flüsterte zu ihm: »53!« Zu meinem Erstaunen und zu seinem Glück merkte er es sofort und antwortete halb fragend: »Ääähm, 53« »Glück gehabt.«, antwortete Frau Blante, mehr verärgert als zufrieden. Sie schrieb die Lösung an die Tafel und fachsimpelte noch etwas darüber, ehe sie die nächste Aufgabe nannte.
Während ich noch kippelte, ließ er sein Buch geräuschvoll zuklappen und ich fing mit meiner freien Hand einen kleinen Zettel. Es war eher ein Schnipsel. Darauf stand in einer mir völlig neuen Handschrift das Wort ›Danke‹. Das D war geschwungen, das a glich dem von mir, nur etwas schräg gestellt. die restlichen Buchstaben waren auch leicht schräg gestellt und ein winzig bisschen krakelig, aber auch leicht geschwungen. Mich faszinierte diese Handschrift. Schnell schrieb ich etwas auf die Rückseite des Zettels. Meine eigene Schrift kam mir immer so ungleichmäßig vor, weshalb mich die Handschriften anderer Leute auch faszinierten. Ich streckte mich und ließ den Zettel fallen und hörte danach, wie Carmon leise vorlas: »Keine Ursache, memelone?«
Ich schrieb schnell noch einen Zettel. »Das ist elbisch und heißt Freund. Kennst du ›Herr der Ringe‹?« Doch gerade als ich ihn rüberwerfen wollte, kam Frau Blante. Vor Schreck ließ ich den Zettel fallen und dieser schwebte ihr vor die Füße. Wahrscheinlich trat sie dann mit Absicht darauf, wodurch der Zettel dreckig wurde und weiter vorgeschoben wurde. Und nun konnte ich im Unterricht der wahrscheinlich strengsten Lehrerin der Welt nicht einfach aufstehen und mir den Zettel holen. Also musste ich bis zur Pause warten. Doch kaum klingelte es und der Junge hinter mir wurde ins Sekretariat gerufen. Also musste ich noch länger warten. Er kam erst Mitte der zweiten Stunde mit einem Packen Formulare wieder, wahrscheinlich alle für seine Eltern. Doch auch jetzt blieb nicht viel Zeit für Erklärungen, denn nachdem Carmon sich auch diesem Lehrer vorgestellt hatte, wurden wir alle für eine Gruppenarbeit in Gruppen eingeteilt und meine Gruppe war am einen Ende des Raumes, seine am anderen Ende.
In der Hofpause konnte ich es ihm erst erklären: »Mellon ist elbisch und heißt Freund. Das kommt von Herr der Ringe. Ich kann dir die Bücher dazu ja mal ausleihen. Ich heiße übrigens Lianna.«
»Achso…«, sagte er. »…heißt das jetzt, dass wir Freunde sind?«
»Naja, nur wenn du willst. Mal ganz ehrlich: In DER Klasse hast du keine Chance, irgendwelche Freunde zu finden. Die Jungs sind total eingebildet auf ihre angebliche Stärke. Die ärgern die Mädels immer und sind total ‚pubertär‘, so wie es meine Eltern sagen würden… Wahrscheinlich treffen sich die Jungs auch immer zu Festen und besaufen sich. Zutrauen würde ich das denen ja, so wie die sich benehmen.«
»Und die Mädels?«, fragte er darauf.
»Die Mädchen…. Tja, die meisten kümmern sich nur um Schminke und sind arrogant und rennen kreischend vor den Jungen weg. Und die machen auch immer Schminkpartys und Beauty-Partys. …ich muss immer an die armen Tiere denken, die wegen der Kosmetik gestorben sind. Du weißt schon. Ratten, Katzen, Affen. Ich hasse Tierversuche.«
»Ich liebe Tiere und hasse sowas auch. Nur leider habe ich richtig Angst vor vielen Meerestieren. Giftige Fische, nesselnde Quallen, riesige Kraken… da schaudert es mir. Obwohl ich sozusagen am Meer gelebt habe…«
Da fiel mir eine Frage ein: »Wie war es eigentlich in Stralsund? Und warum bist du hierher gekommen?«
Er erzählte mir die restliche Hofpause über Stralsund. Über seinen besten Freund damals, der dann nach Schottland zog. Wohl entfernte Verwandte. Er erzählte mir vom Meer, wenn die Sonne sich darin spiegelte, von seinem Onkel, der Seefahrer war und ein riesiges tolles Schiff hatte und ihn immer besuchte bis er sich auf einer ihm unbekannten Insel mitsamt Frau, Kindern und Crew niederließ, wo sie jetzt noch leben. Doch wahrscheinlich sei es nur eine ruhige Ecke einer deutschen Insel oder so, meinte Carmon. Außerdem erzählte er von einer Limo, die ein Freund seines Onkels selber machte und die unglaublich lecker schmecken soll und er erzählte mir vom Wassereis, das man daraus gefrieren konnte. Dann redete er über den Klabautermann und erzählte etwas gesponnenen Seemannsgarn, den die Crew seines Onkels erfunden hatte. Doch er erzählte weder etwas über seine Eltern noch darüber warum er hergekommen war. Er überlegte gegen Ende der Pause nur noch und war ganz still. Ich hatte das Gefühl, dass er traurig wirkte.
Sonst verging der Tag ohne besondere Merkmale. Ich fragte nicht nochmal über seine Eltern oder über den Grund warum er hier war.
In der Straßenbahn saßen wir nebeneinander und ich zeigte nur nach hinten. »Guck mal, unsere Klassenkameraden. Gleich gibt es bestimmt wieder Streit.« Die Mädchen trugen außer ihren normalen Ranzen auch noch »ultramoderne« Taschen, in denen Schminke war. Dann saßen sie in der Bahn mit ihren winzigen Spiegeln und schminkten sich. Die Jungen dagegen trugen ständig Bälle zum Fußball oder Basketball spielen, obwohl jeder wusste, dass Ballspielen in der Schule verboten waren. Doch meistens warfen sie einfach die Mädchen ab oder warfen die Bälle über die Tischtennisplatte hin und her. Und dann passierte es: Ein Junge spielte absichtlich einen Basketball auf ein Mädchen, die sich gerade schminkte. Sie ließ kreischend ihre Tasche fallen, während die Jungs schallend lachten. Das Schminkzeug breitete sich auf den Boden aus.
Ich drehte mich um und sagte zu Carmon: »Zum Glück muss ich jetzt aussteigen.«
Carmon sah durch die Scheiben der Straßenbahn und meinte dann erleichtert: »Oh, ja. Ich auch.«
Wir stiegen beide aus. »In welche Richtung musst du?«, fragte ich, denn ich stand schon an der Ampel und wartete auf das grüne Ampelmännchen.
»Ääähm… Moment mal…«, er kramte in den Taschen und zog dann einen zerknitterten Zettel heraus. Er gab ihn mir. Es stand in schräger Schrift eine Adresse darauf. Man konnte es nur schlecht lesen, doch ich konnte mir durch die Buchstaben, die ich lesen konnte, erschließen, welche Straße es war. Es war direkt neben mir.
Noch während ich ihn entgeistert anstarrte, kratzte er sich am Kopf und meinte: »Hehe… ich bin heute erst kurz nach sechs angekommen und da musste ich los und ich habe ein äähm… naja nicht sehr gutes mmmh… naja also kein Brieftauben-Gedächtnis, also kann ich mich nicht so daran erinnern und…«
Während er noch nach Wörtern suchte, war die Ampel längst grün und ich deutete ihm, dass er mitkommen sollte. Als wir an der anderen Straßenseite ankamen, sagte ich ihm: »Hey, weißt du was? Du wohnst direkt neben mir.«
Nun war er es, der mich entgeistert anstarrte. Das einzige, was er hervorbrachte, war: »D- du kannst diese Schrift entziffern?!«
»Naja. So ein bisschen.«
Dann zeigte ich ihm den Weg. Letztendlich blieben wir vor einer Villa stehen, einer nicht zu großen, aber auch nicht zu kleinen Villa. Also eher mittelgroß.
»Genau hier bin ich heute früh losgegangen. Ich bin so schnell gegangen, dass ich mir die Umgebung gar nicht einprägen konnte. Doch jetzt mal ehrlich… Von der Haltestelle bis hier geht es ja nur geradeaus mit ein wenig Kurven… Jetzt kenne ich den Weg.«, sagte er lachend, als er das kleine Tor aufschloss.
Ich ging ihm ein bisschen hinterher. »Ich bin heute mit dem Auto gebracht wurden, doch sonst fahre ich immer mit der Bahn. Wir können ja morgen dann zusammen zur Bahn gehen. So, dann muss ich aber auch mal los. Ich wohne in der anderen großen Villa. Falls du was brauchst, klingel einfach… es ist das unterste Klingelschild.«, sagte ich und zeigte noch mal zu der anderen Villa, diese war als Mehrfamilienhaus ausgestattet und lud nur wenig zu Abenteuern ein… solange man einziges Kind im Haus ist. Der Garten ist toller, doch nach etwa zwei Stunden wird einem da alleine auch langweilig.
› Anders ist es bei der Villa, in der Carmon jetzt lebt.‹, ich schwelgte während des kurzen Weges in Gedanken. ›Für mich ist sie neu und abenteuerlich… weil ich sie nicht kenne. Doch ich glaube ich sollte nicht zu viel erwarten. Richtige Abenteuer gibt es doch nur in Geschichten…oder?‹ Ich schloss die Tür auf und ging die Treppenstufen hoch. Es waren genau 61. Ich hatte sie schon viel zu oft gezählt, doch heute tat ich noch einmal. Die Treppen sind unterschiedlich. Die erste ist eine mittelgroße Treppe, sie ist aus Stein. die zweite, dritte und vierte sind mit Holz ausgelegt, wobei die dritte Treppe nur vier Stufen hat. Die letzten beiden haben eine Art Linoleum, eines mit geometrischen Mustern. Die letzte Treppe ist mit 18 Stufen die Größte. Danach geht es durch zwei Türen in einen etwas kühlen Vorraum, wobei genau gesehen das ganze Treppenhaus (auch im Sommer) schön kühl ist. Ich schloss schließlich unsere Wohnungstür auf, hatte aber dann doch herzlich wenig Lust, mich hinzusetzen und Hausaufgaben zu machen. So stellte ich nur meinen Ranzen ab und rannte alle Treppen nochmal runter.
Ich ging in den großen Garten und schöpfte ein paar Gießkannen mit Wasser aus der Regentonne voll. Doch gerade, als ich die Möhren gießen wollte, wälzte sich etwas kleines Schwarzes darin herum. »Ach, Luzie! Nicht in die Möhren!«, ich nahm die kleine Nachbarskatze aus dem Beet heraus, wobei sie sich krümmte und fauchte. Sowas mag sie garnicht. Dennoch ließ sie sich dann von mir streicheln. Doch nach ein paar Minuten entfloh sie mir und ging ihre eigenen Wege. So ist und war es schon immer. Früher, als sie noch ein Baby war, mochte sie mich noch nicht. Bis ich sie dann vor Leo beschützte. Leo ist ein schwarzer Kater mit weißem Latz. Der kann mich seitdem gar nicht leiden. Doch ich musste Luzie helfen! Sie wurde von Leo die ganze Zeit gejagt, bis ich die verzweifelte Mieze nahm und mit ihr Leo anfauchte, um ihn anschließend selbst wegzujagen. Das klingt zwar reichlich verrückt, doch es ist wahr.
Gerade als ich noch überlegte, ob ich hochgehen sollte, oder mal zu Carmon schauen sollte, da kam er schon angerannt.
»Hier bist du ja. Ich wusste gar nicht mehr, wo ich klingeln sollte. So viele Namen! Wieviele Familien wohnen hier denn? Ach egal, kannst du mir mal helfen?«, es ging alles so schnell, dass ich nicht mal mehr zu Wort kam, er redete schon weiter. »Ääähm… ich bräuchte mal deine Hilfe. Du sagtest ja, ich solle klingeln, falls ich Hilfe brauche und… ich brauche Hilfe.« Ich hätte jetzt sagen sollen: »Jaja, du wiederholst dich.«
Doch dazu kam ich nicht. »Jaa… also äähm. Ich habe ein Problem. Ich finde mein Zimmer nicht.«
Nach all diesem Gerede von Hilfe und Problem kam der letzte Satz dann doch so überraschend, dass ich mindestens drei Minuten vollkommen still war. Ich war sehr verwirrt, doch schließlich starrte ich ihn nur komisch an und fragte: »Wie bitte?! Du findest dein Zimmer nicht?!!«
»Naja, wie gesagt, ich bin heute nur kurz dagewesen und die Villa ist so riesig, mein Großvater schläft, und…ääh…«, stotterte und gestikulierte er.
»Na gut, ich komme mit und helfe dir.«, ich gab schließlich nach, obwohl mir das ganze ziemlich seltsam vorkam.
»Warum wohnst du eigentlich bei deinem Großvater? Und wo sind deine Eltern?«, fragte ich, so begeistert von dem Inneren der Villa, dass ich vergaß, was ich mir vorgenommen hatte. Schon nur das Erdgeschoss schien aus tausenden kleinen und großen Räumen zu bestehen und mit einer aufgemalten Kuppel abzuschließen, an der ein uralter Kronleuchter hing. Er wog sich ein wenig im Wind, der durch die offene Tür kam. An manchen Stellen war er verrostet, sonst glänzte er. Als ich durch den Raum schaute sah ich die verschiedensten Sachen: ein kleiner alter Schrank, ein Bild, das so mit Staub überzogen war, dass man nichts erkannte, eine Wanduhr, die stehengeblieben war… und dann sah ich die Tränen in Carmons Augen. Er hatte sich in eine Ecke gesetzt und schluchzte.
Ich rannte sofort zu ihm. Ich hatte es getan. Ihn nach seinen Eltern gefragt. ›Ich Dummkopf!‹, sagte ich mir selber. »Es tut mir Leid, Carmon! Wirklich! Ich wollte dich nicht danach fragen….«
»Ich- ich wohne bei meinem Großvater, w-weil mei-meine Eltern bei ein-einem Unfall ge-gestorben sind…«, sagte er mit einer zittrigen und stotternden Stimme.
Ich kam mir ziemlich doof vor, denn immerhin war ich es, die ihn zum Weinen gebracht hatte. »Oh…das… ääh… tut mir Leid…«, das war das einzige, was ich hervorbrachte. Es klang wahrscheinlich nicht so, als würde es mir leidtun, jedoch tat es mir wirklich, wirklich Leid. »Entschuldige nochmal wegen der Frage, ich konnte ja nicht ahnen, dass…«, begann ich noch einmal, um mich etwas zu verbessern, doch dann sagte er: »Ist schon okay. Freunde sollten keine Geheimnisse voreinander haben, oder? Naja, es ist besser, wenn du es weißt. Nun lass uns meine Koffer suchen.«
Ich half ihm hoch. Seine Augen waren noch gerötet, jedoch hatte seine Stimme gerade nicht mehr gezittert, sondern sie wurde langsam normal. Wir gingen ein wenig durch die Villa und durchsuchten viele Räume. Manche waren mit Möbeln ausgestattet andere nicht. Als wir gerade in einem Raum mit einem großen Fenster waren, begann er ganz plötzlich, etwas zu erzählen.
»Ich fühle mich schuldig. Irgendwie…«, die Sonne erhellte sein Gesicht, doch es wirkte nur trüb und müde. Ich schritt mit zu ihm an das Fenster und beobachtete die Sonne, die langsam von ihrer hohen Position abfiel, um sich in ein paar Stunden zur Ruhe zu betten. »Ich weiß nicht… dieser Unfall…i- ich war dabei.«, es war eine Zeit lang ruhig und die Worte schwebten noch in der Luft. Sie schienen tiefe Wunden in ihn hineinzureißen. Ich wollte diese Stille weder unterbrechen, noch ihn dazu antreiben, seine Geschichte weiterzuerzählen. Er sollte den Zeitpunkt finden, den er zum Weitererzählen am besten fand.
»Nein…ich kann es nicht erzählen…es…«, er schluchzte wieder und drehte sich vom Fenster weg. Er hielt beide Hände vor das Gesicht und schüttelte den Kopf.
»Komm, wir suchen deine Koffer, Carmon. Ich glaube, es ist besser, wenn du etwas Ablenkung bekommst, oder?« Er nickte. Ich sah ihn an. Er ließ seine Hände fallen und schluckte. Zwar schossen immer noch kleine Tränen aus seinen Augen, jedoch schaffte er es, sich durch das Koffersuchen abzulenken. Wir durchsuchten viele Räume, doch nach einer halben Stunde hatten wir alles außer dem Boden und den Keller durchsucht. Und natürlich den Raum des Großvaters hatten wir nicht durchsucht, da er schlief und die Tür verriegelt war. Wir stiegen zuerst auf den Boden, es fröstelte uns auf der alten Treppe ein bisschen, denn sie sah nicht gerade sehr stabil aus und sie knackte, als wir hochstiegen. Nachdem wir gemeinsam die schwere Tür aufgedrückt hatten, konnten wir in den Raum spähen. An den Seiten war es dunkel, denn das Licht fiel nur durch die Fenster in die Mitte des Raumes. Und da standen sie: groß, bedrohlich schwarz und eckig - nur einer war rund. »Meine Koffer!«, rief Carmon, er war wieder gut drauf und hatte die Erinnerungen an seine Eltern erstmal verdrängt, wie es schien. Er machte sofort den größten Koffer auf. »Gut… alles noch da…«, er wühlte ein bisschen und schloss den Koffer wieder. Wie, als wäre sein Großvater hier, murmelte er noch: »Mensch, Opa!«
Schließlich ließen wir den Boden einen Boden sein, ignorierten das restliche Zeugs, das dort stand und begannen, die Koffer und Rucksäcke, die dort standen, in die Vorhalle zu tragen. Die Rücksäcke waren kein Problem, wir schnallten sie uns auf den Rücken. Doch da waren ja noch die Koffer. Sie waren schwer und manche sogar so groß, dass man sie zu zweit tragen musste. Man konnte sie kaum anheben und so schliffen und ratschten sie an der Treppe. Das veranstaltete einen Riesenlärm. Kaum waren wir mit dem größten Koffer in der Vorhalle angekommen, stand ein großer, stämmiger, jedoch alter Mann in der Tür. Ich sah ihn so plötzlich und war sehr erschreckt, sodass ich den Koffer losließ und laut nach Luft schnappte. Jedoch konnte Carmon, der noch weiter vorne als ich auf der Treppe stand, den Koffer alleine nicht halten und so ließ er ihn auch fallen. Es polterte und krachte. In ein paar großen Zügen war der Koffer unten angekommen. WUMMS! Wir zuckten zusammen bei dem Aufprall, während der Mann, der immer noch in seiner Tür stand und ohne die Miene zu verziehen zuerst auf den Koffer, dann auf uns starrte. Zuerst schaute er Carmon grimmig an, dann mich. Ich machte mich auf ein riesiges Donnerwetter gefasst. Jedoch sagte der Mann, der immer noch unverändert in seiner Tür stand nur das: »Soso…«
Dann kam lange nichts. Ich traute mich, langsam in den Raum zu sehen und mein verkniffenes Gesicht wandelte sich sofort. Ich hätte wohl den Mund aufgeklappt, wie als wäre aus dem Koffer jetzt ein Delfin gesprungen und als würde er dieses Haus in ein Wasserparadies verwandeln. Doch ich traute mich nicht, meine Miene zu verändern. Der Raum war voller komischer Apparate. Teleskope, Mikroskope, Reagenzgläser, solche Destillier-Geräte und und und. Dann gab es da noch diese Gläser, die ich aus der Schule kannte, in der immer so Frösche oder so in verschiedenen Stadien gezeigt werden. Froschlaich, Kaulquappe, größere Kaulquappe, noch größere Kaulquappe, Frosch. Doch da waren keineswegs Frösche drin. Die Dinger waren enorm groß und es schwammen riesige Schuppen darin herum und ein Wesen, welches einem Alligator und zugleich einer Schlange ähnelte. Irgendwie musste sich meine Miene doch verändert haben, denn sobald klappte die Tür zu und ich wurde von dem Mann leicht prüfend angestarrt. Mein Mund war trocken und ich schluckte.
Da muss sich irgendein Knoten gelöst haben und ich fing an zu reden:
»Also… Eigentlich ist das alles meine Schuld… ich habe den Koffer losgelassen und.…«
»Stell dich erstmal vor. Carmon, wer ist das?!«
Das war sein Großvater gewesen. Eine forsche Stimme. Ein wenig wütend klang sie und wie, als wäre sie nicht von hier. Also nicht von dieser Zeit. Sondern von einer Vergangenen.
Mein Herz pochte wild und ich schluckte wieder. Anfang des Donnerwetters - ich muss wohl unhöflich geklungen haben. Carmon schaute kurz zu mir hoch. Dann schaute er zu meinem Großvater. Er räusperte sich. »Ääähm… Das ist Lianna…«, mehr kam nicht.
»Aha. Und was sucht sie hier in meinem Haus, diese… ähm…Lianna?«
›Ist das ein so schwerer Name?‹, dachte ich mir.
»Wieso macht ihr beide überhaupt so einen Lärm??!«, er zeigte auf den Koffer.
»Sie…hat mir geholfen…bei der Suche. Koffersuche.«
Wieder war Stille, bis Carmon fortfuhr:
»Du weißt, ich bin neu hier. Und sie zeigt mir hier alles. Ich habe sie in der Schule kennengelernt. Sie….will mir noch Mathe erklären.«
Das stimmte. Ich hatte ihm das versprochen. Dass ich ihm bei Mathe helfe, sowohl dass ich ihm am Wochenende hier die Umgebung zeigte und alles erklärte. Er sah wieder verunsichert zu mir hoch und war ein bisschen rot.
Da kam der alte Herr uns entgegen. Er war kleiner und schwächer, als ich dachte. Er sah alt aus. Alt und weise. Er hatte längst graues Haar. und einen Bart. Jedoch konnte er den Koffer mit einem Handgriff wieder auf die »Beine« stellen.
»Und bevor ich es noch vergesse, dir zu sagen: Du kannst dir einen dieser Räume aussuchen. Nimm am besten einen großen, hellen Raum. Und nimm nicht den Dachboden! Dir ist es ebenso nicht erlaubt, ohne Grund in mein Zimmer zu spazieren und wehe es kommt dir oder einer deiner Freunde diese Idee!«, er hatte den Finger erhoben und schaute recht grimmig. »Ich möchte nicht, dass ich bei meiner Arbeit von dir abgelenkt werde. Wenn, dann klopfst du leise. Und wenn keine Antwort kommt, dann kommst du auch nicht rein! Hast du das verstanden?!«
Carmon nickte eifrig und der alte Mann verschwand leicht humpelnd, aber leise, wieder in sein Zimmer. Und als ich jetzt einen Blick riskierte, sah ich, dass die Reagenzgläser und Destilliergeräte nur Zubehör einer altmodischen »Chemie-für-Kinder«-Packung war und dass in den riesigen Glasgefäßen nur ein bemaltes Blatt Papier und ein Salamander waren. Doch das wars dann auch schon, denn die Tür wurde wieder geschlossen. Es klickte und klackte so oft, dass ich schon dachte, der Mann hätte tausende Schlösser an seiner Tür.
›Also doch nichts spektakuläres…‹, dachte ich mir insgeheim und dann fragte ich Carmon, als was sein Großvater arbeitete.
»Tja, wenn ich das wüsste. Ich denke nur mal daran, dass ich mir aus diesen Zimmern eines aussuchen soll. Außerdem habe ich vergessen, ihn zu fragen, wann meine Möbel mit dem Umzugswagen kommen.«
»Klopf doch einfach.«
»Du…ich glaub, das traue ich mir nicht.«
»Dann schreib’ halt ’nen Zettel.«
»Jaa, ich kann es ja mal versuchen…«
Ich schaute ihn kurz an, dann ging ich entschlossen zur Tür und klopfte. Keine Antwort. Carmon ging zu seinem Ranzen und fing an, den Zettel zu schreiben. Als er fertig war, ging er zur Tür und legte ihn davor.
»Nee, du musst ihn unter der Tür durchschieben.«
Dies tat er nach meiner Anweisung und gerade, als er sein Stiftzeug wieder wegbringen wollte, kam schon eine Antwort.
›Mittwoch oder Donnerstag‹, stand in zittriger Handschrift darauf. Und dann noch ›Jetzt lasst mich in Ruhe, bin beschäftigt.‹
Ich hob den Zettel auf und sagte zu Carmon: »Für zwei Tage musst du ohne Möbel auskommen. Vielleicht auch nur für einen.«
Wir hatten gerade Dienstag Nachmittag und Carmon seufzte. »Und wo soll ich nun Möbel herbekommen? Ich muss ja mindestens eine Nacht hier ohne mein Bett verbringen…«
»Hey, Kopf hoch. Hier steht doch überall was herum. Und auf dem Boden war auch noch was, glaube ich.«, versuchte ich ihn zu trösten.
»Sollten wir ihn nicht vorher fragen?«
»Er will nicht gestört werden….«, ich zeigte auf den Zettel.
»Warum braucht die Umzugsfirma denn so lange?«, war seine nächste Frage. Die konnte ich nur schulterzuckend beantworten.
Wir suchten zuerst nach einem Zimmer, denn es wäre sinnlos, alle Koffer in die Vorhalle zu bringen und dann ein Zimmer unterm Boden auszuwählen. Da wir schon einmal durch alle Zimmer gegangen waren, mussten wir nicht noch einmal zu allen. Jedoch wollte Carmon noch einmal alle Zimmer durchsuchen, nur um sicherzugehen. Diesmal brauchten wir etwas länger als beim ersten Schauen, denn immerhin musste es ein gutes Zimmer sein, am besten mit großem Fenster, jedoch nicht all zu groß, dann dürfte es auch keinen Schimmel oder Dreck geben. Jedoch musste Carmon sich selbst eingestehen, dass außer in den benutzten Räumen, wie Küche oder Bad, eigentlich überall eine dicke Staubschicht war. Nach langer Suche, nach Abwägung der Vor- und Nachteile, blieben nur noch ein paar Favoriten übrig. Schließlich entschied Carmon sich für ein großes Zimmer, so 15 bis 20 m2 groß, sogar noch größer, wenn man den anschließenden Raum dazuzählte. Es war genau das Zimmer, in welchem er mir vorhin von seinen Eltern erzählt hatte und geweint hatte. Der Raum war im zweiten Stock, ein riesiges Fenster mit ein wenig Bleiglas-Mustern gehörte dazu. Jedoch kein Balkon. Darauf musste Carmon verzichten, den gab es einen Stock tiefer und nochmal einen Stock höher. Wir schafften die Koffer hierher.
Wie in mehreren Zimmern war auch dieses ohne Möbel - nur eine kleine Bank stand gegenüber vom Fenster. Sie sah aus wie eine Parkbank aus Holz, aber unglaublich alt und schmal.
»Was macht die denn hier?«, fragte ich.
»Keine Ahnung. Aber mir gefällt es. So kann ich mich entspannt hinsetzten und…« er wollte es demonstrieren und sich sogleich setzten, doch kaum saß er, da knackte und krachte es. Ich dachte, es würden blaue Funken sprühen, als er aufstand, doch durch die Staubwolke die aufgewirbelt wurde, war das schwer zu sagen.
»Ups.«, meinte er nur.
»Was wolltest du nochmal sagen? Entspannt hinsetzten und…?«, ich musste kichern.
»Mach dich nur über mich lustig, ich werde das schon reparieren.«
Bei diesem Satz musste ich nun wirklich noch mehr lachen. Außerdem war sein Hintern voller Staub.
»Komm, ich brauche noch Möbel.«
Der Boden war stickig und die Luft schwebte lauwarm umher. Carmon hustete, er hatte wohl zu viel von dem Staub eingeatmet.
»Ich denke…hust, hust… es reicht erstmal ein Bett…und ein Schrank. Hust.«
»Und ein Besen…«, fügte ich hinzu und dachte an die dicke Staubschicht auf all den Möbeln und Böden.
Carmon hatte eine Taschenlampe mitgenommen, es war schon vorhin dunkel gewesen.
»Am besten, wir beeilen uns. Es ist kurz vor viertel sechs.«
Ich erschrak. »Was?! Ohh… Mist. Meine Eltern müssten bald kommen…«
Carmon sah mich traurig an. Ich merkte, man sollte am besten nicht zu oft über Eltern reden.
»Komm, lass uns dort anfangen.«, ich zeigte auf eine Ecke. Wir fanden dort jede Menge Hüte und Mäntel. Sommerhüte,Winterhüte, Pelzhüte, Maskenballhüte. Sommermäntel, Wintermäntel, Pelzmäntel, Maskenballmäntel. Und so weiter. Plötzlich kam mir ein Geistesblitz.
»Ich glaube, im Erdgeschoss gab es doch so einen kleinen Schrank… Also müssten wir nur ein Bett für dich finden…«
Er überlegte kurz, dann gab er mir Recht.
»Ja, daran hatte ich noch garnicht gedacht.«
Wir gingen in eine andere Ecke, doch da gab es auch kein Bett oder Sofa oder irgendwas ähnliches. Nach langer Zeit fanden wir ein zusammengeklapptes Feldbett, sowie, in einem Koffer verstaut, eine Bettdecke und ein Kissen. Auf dem Feldbett lag keine Matratze, aber Carmon sagte, er käme mit einer Isomatte schon klar.
Wir brachten das Feldbett in sein Zimmer und er legte eine aufblasbare, dicke Isomatte darauf.
»Sie bläst sich selbst auf, jedoch braucht sie etwas Zeit dafür.«, meinte er nur, dann machten wir uns daran, den kleinen Schrank nach oben zu schleppen. Schließlich gingen wir nochmal nach oben, um ein paar Bretter zu finden, durch die wir den Schrank besser durch die Treppen bringen könnten. Man könnte immer ein Brett drauflegen, einer würde oben ziehen, ein anderer unten schieben. So müssten wir das massive Holzmöbel nicht hoch schleppen.
Ich sah durch den Raum und suchte in den Ecken. Doch wir hatten nur eine Taschenlampe und uns aber aufgeteilt, damit das Suchen schneller ging. Ich ging in eine dunkle Ecke, da dort etwas aus dem Boden leuchtete. Ich fand eine kleine Nische, die wahrscheinlich zu einem unterem Raum führte. Ich hörte ein Gemurmel, dann schien es eine Explosion zu geben, doch ich sah nichts, außer einem grellen Farbspiel mit bunten Lichtern und schließlich hörte ich ein Kreischen, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließ, aber keinesfalls von einem Menschen zu kommen schien.
»Was ist da los?«, ich zuckte zusammen, denn Carmon war neben mich gekommen und hatte es ebenfalls alles gehört und gesehen.
»Ich glaub, das mit dem Schrank schaffen wir auch so. Komm lass uns gehen.«, meinte ich, denn ich hatte keine Lust, dass ein Drache oder sonstiges mich bei lebendigem Leib verspeist.
»Ich bin vollkommen deiner Meinung, Lianna…«, meinte Carmon, auch ihm war das nicht geheuer. Wir stürmten leise die Treppe herunter und schafften mit aller Kraft den Schrank ins Zimmer. Schließlich redeten wir noch über Drachen und so und dass sein Opa dort höchstwahrscheinlich nur bei einem Film eingeschlafen war und dass das alles nur im Fernsehen gewesen war.
Ich dachte gar nicht mehr an die Uhrzeit, aber als ich auf seine Uhr sah, stürmte ich los. Ich sagte nur noch, dass ich ihn morgen fünf nach halb sieben vorm Haus erwarten würde, wegen der Straßenbahn.
Als ich vor unserer Wohnung stand, überlegte ich mir schon eine Ausrede, jedoch war niemand da. Erst dann fiel mir ein, dass meine Mutter heute einkaufen war und mein Vater immer unterschiedlich kam. Jedoch kamen sie kurz nach mir.
»Und hattest du einen tollen Tag? Alles in der Schule war gut?«, fragte mein Vater.
»Jaa, alles klar in der Schule. Ich hatte einen tollen Tag.«, und fügte in Gedanken noch hinzu: ›Und einen sehr komischen Tag.‹
Dann erzählte ich ihnen noch von Carmon und von Frau Blante und so. Doch das mit dem »Monster« erzählte ich nicht.
2. Kapitel - Entschuldigung und Dokumente
Am nächsten Tag wachte ich spät auf. Ich aß schnell etwas und schnallte mir den über 10kg schweren Ranzen auf den Rücken und lief die Treppen herunter.
Vor der Nachbarvilla angekommen, sah ich niemanden. Ich warf einen kurzen Blick auf die Handyuhr meines ach so altmodischen Handys (Stellt euch vor es hatte noch TASTEN! Und keinen Touchscreen. Und darauf war ich stolz. Denn ich brauche so einen »Tatsch«-Screen nicht.).
6:35 Uhr
Ich klingelte bei dem Klingelschild, das als einziges auf dem Klingelbrett stand. Der Name darauf war alt und das Schild vergilbt, so dass man nichts lesen konnte. Ich spähte in den Garten hinein, ich hatte etwas gehört. Da war es wieder!
»Wer bist du?!«, sagte die selbe schroffe Männerstimme wie gestern.
Ich seufzte. ›Kurzzeitgedächtnis, wie?‹
»Ich bin Lianna!«, rief ich zu ihm. Er wiederholte den Namen und schnaubte. Vielleicht hatte er mich wieder erkannt.
»Was willst du?!«
»Carmon muss zur Schule. Ich hole ihn ab.«, ich kam mir fast lächerlich vor, so durch den Garten schreiend mit einem Mann zu diskutieren, der nur den Kopf aus dem Fenster streckte.
»Meine Güte! Brauchen alle jungen Leute heutzutage denn einen Abholdienst?! Ich geh ihn wecken.«
Zum Aufregen blieb keine Zeit, der Mann war vom Fenster verschwunden und schon bei dem Wort »wecken« hatte ich mich nicht mehr getraut zu atmen. Jetzt schnappte ich nach Luft. ›Carmon schläft noch?!‹, dachte ich mir und schaute zu dem großen Fenster, welches zu seinem Zimmer gehörte. Tatsächlich, da erschien nach einiger Zeit ein alter Mann und dann drückte Carmon die Nase an die Scheibe und schaute schließlich auf die Uhr.
Und dann, wie von einer Bienenschar gejagt rannte er durch den Raum, während der alte Mann zurück zu seinem Zimmer ging.
6:39 Uhr.
Ich sah noch einmal den Kopf des alten Mannes, hörte ein mürrisches: »Ist wach!« und dann stürmte Carmon heraus, er musste aber nochmal herein, da er noch Hausschuhe an hatte und die Zahnbürste im Mund.
6:42 Uhr
»Schnell!!!«, rief ich ihm entgegen, er rannte zu mir.
»Wann kommt die Bahn?«, keuchte er nur.
»In ein paar Minuten, vielleicht auch eher. Schnell jetzt!!!«
Wir beide rannten die Straße entlang, plötzlich rannte er noch über eine Wiese, auf der jede Menge Apfelbäume standen und sprang im Rennen dreimal hoch, bis er zwei Äpfel hatte. Zwar waren diese noch nicht ganz reif, sondern nur halb, doch was sollte ich ihm noch sagen? Jetzt war es sowieso zu spät.
Wir rannten solange, bis wir an eine Steigung kamen, vorher hatten wir die Straßenseite gewechselt und nochmal eine Straße überquert. An der Steigung rannten wir nicht mehr, sondern liefen zügig. Schließlich blieben wir oben vor der Ampel stehen und warteten auf grün. Doch da kam auch schon die Bahn. Ich schaute flüchtig auf die Straße, ob ein Auto kam und als keines kam, rannte ich einfach rüber und packte dabei Carmons Hand. Schließlich standen wir keuchend und schnaufend vor der Bahn, als deren Türen aufgingen. Ich stieg ein und glücklicherweise fand ich noch einen Zweierplatz.
»So«
»Endlich geschafft. Sag mal, Lianna,«, fing er an, während er am ersten Apfel kaute, »könntest du mir heute vielleicht etwas zu essen leihen? Diese Äpfel sind noch nicht reif, merke ich gerade. Doch es reicht erstmal für mich.«, er packte den zweiten Apfel in seinen Ranzen und schluckte. »Ach ja. Kannst du mir das mit der Essensbestellung erklären? Muss ich da einfach bestellen oder vorher einen Antrag schicken oder einfach so bezahlen oder….?«
Ich sah ihn an. Er kaute mit fragenden Blick an dem Apfel
»Einen Antrag musst du nicht schicken, soweit ich weiß. Sag mal, hast du schon die Fahrkarte entwertet?«, fragte ich, denn er war noch nicht zu dem kleinen Automaten in der Ecke gegangen.
»Ups.«, hieß es nur und er war kurz weg.
Als er wiederkam erklärte ich ihm, dass man sein Essen eigentlich nur so bestellt per Kontoüberweisung oder einen Zettel schickt, und sich vorher aber da anmelden musste. Er seufzte.
»Ich habe kein Konto.«
»Du kannst ja mal schauen, das steht bestimmt in den Formularen drin, die du gestern bekommen hast.«
Er schlug sich an den Kopf und murmelte was von »Vergessen«, doch nachfragen konnte ich nicht, denn in dem Moment kamen mit großen Gebrüll einige meiner Klassenkameraden in die Bahn und sagten etwas lautstark. Einer fragte: »Sagt mal, habt ihr Mathe kapiert?«
Darauf antworteten zwei andere:
»Nee, die kann mich mal, ich mach sowas doch nicht!«
»Darauf hatte ich sowieso kein Bock.«
»Ich hab’s auch nicht.«, sagte der, der am Anfang gefragt hatte. Ich merkte schnell, dass das Gespräch um Hausaufgaben ging. Einer sagte noch: »Wetten, dass die Hälfte der Klasse das nicht hat?«
Ich schluckte. Ich hatte es nicht. In all der Aufregung gestern hatte ich es vergessen. Ich fragte Carmon, ob er die Hausaufgabe hätte, und als er das verneinte, schlug ich mein Mathebuch auf.
»Mal sehen… Seite 207, Nummer 5a,b,c,d,e,f,g.«, ich überflog kurz die Hausaufgabe. Sie war zu lang und zu kompliziert, um sie jetzt schnell zu lösen.
»Na toll.«, sagte ich nur noch.
»Und was machen wir jetzt?«, Carmons grüne Augen sahen mich erwartungsvoll an. Ich überlegte. Nach einer Weile sagte ich: »Ich schätze, wir sollten jetzt vielleicht Entschuldigungen schreiben.«
»Aber das wäre doch Unterschriftfälschung! Wenn das der Direktor rausbekommt…«, warf Carmon ein.
»Stimmt… dann müssen wir uns was anderes einfallen lassen.«
Doch da hielt schon die Bahn und in all dem Gedränge wurden wir herausgequetscht, mitten in einer Masse von anderen Schülern.
Erste Stunde Deutsch. Da war alles noch okay. Carmon und ich, wir passten nur halb auf. Wir grübelten die ganze Zeit über eine Ausrede. Der Deutschlehrer hatte uns erlaubt, dass wir uns nebeneinander setzen könnten, er war gleichzeitig auch unser Klassenlehrer. Ein netter, älterer Herr. Er war garantiert schon über 60, doch er wollte seinen Job wahrscheinlich niemals aufgeben, vor allem bestimmt auch wegen dem Lehrermangel heutzutage. Jedoch hatte dieser Lehrer keine Spur von grauem Haar. Er hatte irgendwie seine ganz eigene Mode (einmal kam er sogar in Lederhose… Na gut, das war zum Fasching…), liebte die Berge (da kam er her) und war viel zu nett. Er gab manchen Schülern bei einem Durchschnitt von 1,63 sogar noch die Eins. Natürlich profitierten davon viele, die es eigentlich nicht verdient hatten.
Meine Idee war es, dass sich Carmon neben mich setzen sollte, so konnte ich ihm auch vieles noch erklären. Das schrieb unser Lehrer sogar ins Klassenbuch. Er schrieb hinein, dass wir uns in den ersten paar Monaten immer leise unterhalten durften, wenn Unterrichtsstoff für Carmon neu wäre, und dass auf in besonders gut geachtet werde.
Natürlich nutzten wir das aus, und wenn wir uns etwas Wichtiges mitteilen mussten, so sagten wir das einfach leise. Doch tatsächlich brauchte Carmon in manchen Fächern meine Hilfe. Wie in Mathe oder Physik. Auch in Englisch fragte er öfter mal nach. Dafür kapierte er Deutsch und Französisch gut. Und in Geschichte war er uns sogar ein bisschen voraus.
Es klingelte. Alle Schüler packten ihr Schulzeug in den Ranzen und gingen zum nächsten Raum. Mathematik bei Frau Blante. Mir wurde schwindelig, als ich in den Raum kam. Ich setzte mich auf meinen gewohnten Platz und Carmon stellte seinen Ranzen auf den Stuhl daneben. Wir packten schnell unsere Mathe-Sachen aus und gingen dann vor zur Lehrerin. Ich schluckte leise, als ich vor ihr stand. Frau Blante war eine Lehrerin zum Fürchten.
»Carmon darf neben mir sitzen.«, fing ich an. »Damit ich ihm was erklären kann, wenn er es nicht versteht.«
»Wenn er was nicht versteht, dann fragt er die Lehrerin.«, sagte Frau Blante blitzschnell und streng zu mir.
Ich sah sie an und dachte, dass ich gleich umfallen würde, wenn noch so ein Satz käme.
»Sie…sie hilft mir wirklich…«, sagte Carmon leise.
»Ja, das habe ich in der letzten Stunde gemerkt.«, kam wieder so ein Satz. Carmon trat ein Stück zurück.
»Wir haben die Hausaufgabe nicht verstanden…«, versuchte ich wieder, doch sie kam mir dazwischen.
»Aber ich hoffe ihr habt sie gemacht. auch wenn ihr es nicht verstanden habt.« ›Meine Güte! Wenn man was nicht versteht, wie soll man es denn dann lösen?!‹, meine Gedanken waren mutiger als meine Sprache.
»…nein…«, sagte ich leise, noch nach einer Erklärung suchend
»Wie bitte? Und ihr kamt nicht zufällig auf die Idee, einen Klassenkameraden anzurufen, wie?«
»Ich hatte aber keine Nummer….«, meinte ich, in der Hoffnung, sie würde Gnade walten lassen. Doch schon kam das Urteil.
»Ihr passt diesmal auf, im Unterricht! Sonst führe ich ein Gespräch mit euren Eltern! Die Hausaufgaben werden nachgeholt. Jetzt ab zu euren Plätzen und bereitet euch diesmal auf den Unterricht vor!«
Niedergeschlagen saßen wir da, nachdem ich Carmon einen Bruchteil des Stoffes erklärt hatte. Und in der Stunde wurden wir noch niedergeschlagener. Denn die Mathelehrerin ließ einen unangekündigten Test schreiben. Nach dem Test tippte ich auf eine 3 oder 4. Carmon dachte an 4 oder 5, denn die Zeit war zu kurz, er hatte nicht einmal alles verstanden.
Zum Glück war die nächste Stunde Kunst, doch davor kam noch eine Hofpause.
Ich weiß nicht, ob ihr euch vorstellen könnt, wie schlimm diese Mathelehrerin ist. Es ist allgemein bekannt, dass viele Mathelehrer streng sind, doch diese sind wenigstens außerhalb des Unterrichtes nett. Doch Frau Blante war das nicht. Sie ging sogar noch zum Klassenlehrer und diskutierte mit ihm, sodass er das ›Erklären im Unterricht‹ aus dem Klassenbuch strich und nur hineinschrieb, dass sich die Lehrer den Fragen Carmons widmen sollten und ihm das so gut wie möglich erklären sollten.
In der Hofpause sagte mir Carmon, er habe etwas zuhause bei sich entdeckt, was er mir unbedingt zeigen müsste. Doch er wollte nicht sagen, was es war. Ich bettelte die ganze Hofpause darum, jedoch sagte er nichts.
Der Schultag ging nur ziemlich schleppend vorbei, ich schaute immer wieder auf die Uhr. Ich konnte mich kaum konzentrieren und passte kaum auf. Ein Lehrer fragte mich, ob ich mich schlecht fühlen würde, da sagte ich nur: »Es geht. Ist nicht zu schlimm.«, denn ich fühlte mich wirklich irgendwie nicht gut. Fast so, als würde bald oder später eine Gefahr auf mich lauern.
Nach der Schule ging ich gleich zu Carmon. Er sagte ja, er müsse mir was zeigen. Er führte mich in sein Zimmer, in dem ein Koffer aufgeschlagen war und ziemlich zerwühlt aussah. Er errötete wegen der Unordnung.
»Ja, es ist hier ein bisschen unordentlich. Ich musste gestern dann noch den Staub rauskehren, zum Glück habe ich in einer Kammer einen Besen gefunden…«
Ich erinnerte mich daran, dass ich ihm mit dem Kehren gestern ja helfen wollte, es aber vergessen hatte, in der ganzen Eile.
»Ach, mein Zimmer ist auch unordentlich. Ich glaube, jedes Kinderzimmer ist unordentlich. Egal ob bei großen oder kleinen Kindern. Also…meistens. Denke ich mal.«, meinte ich darauf. Und das stimmte, dass mein Zimmer unordentlich war.
»Ich habe mir auch einmal fest vorgenommen, aufzuräumen, doch kaum ist es aufgeräumt, da hält es keine zwei Wochen. Danach ist alles wieder unordentlich.«, sagte ich zu seinem Trost.
Er lachte mit mir darüber. Doch dann bedeutete er mir, ganz still zu sein und winkte mich zum Schrank. Mein Herz klopfte, da ich sofort erfahren wollte, was für eine Entdeckung er gemacht hatte. Er lauschte noch einen Moment, dann zog er einen kleinen aber feinen silberglänzenden Schlüssel heraus. Dieser sah aus, wie als wäre er frisch entrostet. Er lauschte noch einmal, nahm dann den Schlüssel und schloss ganz langsam den Schrank auf. Jedes Klicken war wie das Explodieren einer Zeitbombe in der angespannten Stille. Ich wagte kaum zu atmen. Immer wieder horchte Carmon, ob es ein anderes Geräusch als dieses gab. Zweimal klickte es noch, dann flüsterte er leise zu mir:
»Bist du bereit?«
Ich nickte. Er sah sich nochmals um, dann fügte er noch hinzu:
»Das, was gestern auf dem Dachboden war…das war mein Opa. Und vielleicht noch was anderes.«
Ich sah in seine hellgrünen Augen, welche kurz unter den Haaren hervorschauten, die bis zu seinem Mundwinkel gingen. Ich musste diese Worte erst verarbeiten, mir blieb das Herz stehen, als ich den Sinn erfasst und wiederholt hatte. Ich hatte das Gefühl, dass ich kurz nicht mehr gelebt hatte und jetzt plötzlich alles neu anfing.
Ich schnappte nach Luft.
»D-Dein Opa?!«,
Er öffnete den Schrank. Das Quietschen ließ mich zusammenfahren, obwohl es kaum hörbar war. Er nahm einen Schnipsel eines Zettels und gab ihn mir.
»Lies selbst. Als ich meinen Koffer in den Schrank stellen wollte, krachte es und ein doppelter Boden kam zum Vorschein. Dort lag nur dieser Schnipsel drin. Der Rest wurde wahrscheinlich von Motten zerfressen oder wurde mutwillig verbrannt.«
Da stand mit Schreibmaschine und eigener Handschrift folgendes geschrieben:
Dokument zur Einhaltung der Regeln des geheimen Al(der Rest war verbrannt) und der Drachenbeschützer und Züchter
Name: Scoot Gend Datum: 4. Juli 188(wieder ein Brandfleck) Unterschrift:ScootGend
Eigener Eid: Hiermit verpflichte ich mich dazu, niemanden von meinen Aktivitä(ten?) (war verbrannt) …Es wird immer geheim bleiben und ich werde ebenso (verbrannt) …Außerdem die Regeln der Drachengesellschaft und des Alc(verbrannt)
Mehr stand da nicht. Es war sonst alles verbrannt.
Ich las den Schnipsel einmal. Und noch einmal. Und noch einmal. Bis ich ihn viermal gelesen hatte. Er war kurz, behielt jedoch genug Informationen für uns.
»Und? Was meinst du?«, fragte mich Carmon.
Ich las den Schnipsel das fünfte Mal und sagte:
»Ich … weiß nicht … mir …. fehlen die Worte… das ist…. unglaublich…«, stotterte ich zusammen.
»Was denkst du, was sollten wir tun? Ihn zur Rede stellen? Oder so tun, als wüssten wir nichts? Oder …«, er überlegte noch weiter.
»Ich denke, wir …. sollten erstmal Hausaufgaben machen. Sonst vergessen wir das wieder. Und danach… mal gucken, was wir da tun.«
Carmon sah mich an, als könne er nicht verstehen, wieso ich jetzt an Hausaufgaben denken konnte.
Er holte tief Luft.
»Vielleicht hast du ja recht. Aber… zum Hausaufgaben Erledigen brauche ich noch einen Tisch. da müssen wir oben mal gucken. Früher oder später brauche ich sowieso einen. Am besten früher. Ach ja! Das Feldbett war übrigens ganz schön unbequem. Ich halte es keine Nacht länger aus, wir müssen was anderes holen.«, sagte er und streckte den Rücken. Ich lachte.
»Vielleicht kommt heute ja der Möbelwagen. Dann hast du dein eigenes Bett.«, versuchte ich, ihn aufzumuntern.
Er lächelte. »Ja… Vielleicht.«
Nachdem ich nur das Hausaufgaben-Zeugs in Carmons Zimmer gelassen hatte, meinen Ranzen zu mir nachhause gebracht hatte und eine Taschenlampe mitgenommen hatte, gingen wir los. Die Treppe klang genauso instabil wie am vorherigen Tag und wir liefen genauso vorsichtig.
Der Dachboden war riesig und zwar richtig riesig. Wir teilten uns auf und ich ging natürlich zuerst zu der Nische. Doch da war nichts. Nur Dunkelheit.
Carmon war weiter hinten. Drei riesige Schornsteine ragten vom Dachboden aus in die Höhe. Ich schlich gerade um den zweiten herum und beobachtete jede Menge Krimskrams, als ich ein »Juuuhu!« von Carmon hörte.
Ich ging zu ihm und sah, dass er einen schönen, alten Tisch mit vier zugehörigen Stühlen entdeckt hatte. Der Tisch war an den Ecken mit Mustern verziert und die Stühle waren ebenfalls mit den selben geschwungenen Mustern bedeckt. Natürlich machten wir einen Test mit allen Stühlen und mit dem Tisch. Dabei mussten wir feststellen, dass einer der vier Stühle morsch war und zusammenbrach. Doch genau genommen, brauchten wir sowieso vorerst nur zwei Stühle.
Wir entschieden uns dafür, zuerst den Tisch herunter zu schaffen. Mit höchster Behutsamkeit schafften wir ihn in Carmons Zimmer und nahmen das Feldbett gleich mit. Das Bettzeug legte Carmon auf seinen nun neuen Tisch.
Als wir das Feldbett wieder irgendwo auf dem riesigem Dachboden abgestellt hatten, waren wir so fertig, dass wir eine Pause brauchten. Ich schlich ein bisschen durch den Raum, da ich ein Glimmern aus der Nische wahrnahm, während Carmon auf einem der Stühle saß und die Augen geschlossen hatte. Ich kam der Luke näher und hörte einen undefinierbaren Laut. Er war so leise, dass Carmon ihn nicht hörte. Ich ging noch näher ran, obwohl die Angst in meinen Adern pulsierte und schaute in die Nische. Mein Kopf steckte also in der geheimnisvollen Nische und was ich da sah, grenzte an ein Wunder.
Ein wenig später saß ich in Carmons Zimmer, meinem Kopf auf dem Bettzeug von ihm ruhend. Nachdem es wieder gekreischt hatte, waren wir mit den beiden Stühlen in der Hand schreiend vor dem Ungewissem geflüchtet. Carmon hatte keine Ahnung von ihm, aber ich hatte es gesehen. Mein Kopf brummte ungeheuerlich wie eine immense Hornisse vor sich hin und meine Gedanken kreisten im Nichts. Die Angst pulsierte noch in meinen Adern und meine Ohren waren taub vom Hören des eigenen Herzschlages. Mir war extrem warm und schwindlig. Alles verschwamm vor meinen Augen, wenn ich es nur ansah.
»Was hast du gesehen?«, fragte Carmon in die lärmende Stille hinein.
Ich stöhnte vor Schmerz, denn mein Kopf hämmerte wie ein Vorschlaghammer, als er redete.
»Es hatte ein großes Horn… auf der Nase. Und kleinere Hörner auf dem Rücken.«, ich fing an, mir die Erinnerung zurück zu rufen. »Spitze
Zähne.… goldene Augen. Große, verhornte Ohren .…Schuppen. Und auch dünne Hautlappen, die von dem riesigen Maul hinab hingen…so wie… wie… Fühler. Dann spitze Krallen, ein langer Schwanz, der pfeilförmig endete. Und am Rücken auch zusammengefaltete Hautlappen…«, ich hatte sehr leise gesprochen und mein Kopf ruhte immer noch auf dem Kissen, während ich Carmon ansprach.
Carmon sah mich nun komisch an. »Was meinst du…? Was ist das für ein
Wesen?«
Mir ging es schon etwas besser und ich murmelte »…keine Ahnung…«
»Vielleicht hat es was mit dem Schnipsel zu tun, den…«
Ich hörte ihm nicht mehr zu, sondern dachte an den Schnipsel. Plötzlich wurde alles sonnenklar und in meinem Kopf ging plötzlich ein Licht auf.
»Ein Drache!!«, rief ich. »Natürlich! Was denn sonst! Es war ein Drache!!!!«
»Waaaaas?!«
»Jaa! Das erklärt alles! Es war ein Drache!«, ich war nun aufgesprungen und ballte die Fäuste.
»Aber…das…geht doch gar nicht, das ist… unglaubhaft!«, Carmon sprang auf. » Das sind doch nur Fabelwesen! Du musst geträumt haben, das gibt es nicht!«
Ich war überrascht, wie er sich aufführte. Es war fast, als hätte er einen Wutanfall bekommen. Ich starrte ihn ungläubig an.
»Jetzt lass uns die Hausaufgaben machen.«, plötzlich war er wie ausgewechselt. Er war nun leise und hielt sich den Kopf. Er saß auch inzwischen wieder. Wir packten das Bettzeug auf die immer noch kaputte Parkbank, welche dabei leise knackte, und holten die Hausaufgaben hervor.
Nach seeeehr langem Mathe-Erklären, Mathe-Hefter-Abschreiben, Physik erklären und Hefter abschreiben usw. Sowie nach doppeltem Hausaufgaben erledigen, klingelte es plötzlich. Ich war gerade noch dabei, Carmon Englisch zu erklären, und sprang auf.
»Lianna!«, rief er, doch ich hörte ihn nicht. Ich hatte die Zeit vergessen. bestimmt suchten meine Eltern schon mach mir.
Ich stürmte mit meinem üblichem Schulzeug aus der Tür und staunte nicht schlecht, als ich den riesigen, weißen Umzugswagen sah. »Wir erledigen ihren Umzug!«, stand darauf. Carmon war neben mir aufgetaucht und seine Gesicht änderte sich vom »Staunen-und-Denkfalten-Gesicht« in das »Sorgen-und-Trauer-Gesicht.«
Es war, wie als würde der Möbelwagen eine schmerzhafte Erinnerung an seine Eltern wecken und er rückte noch etwas näher an die Wand des Hauses. Ich sah ihn an. Seine Augen waren stumpf und leer. Ich erinnerte mich nur an den fröhlichen Carmon mit glänzenden Augen und einem Lächeln im Gesicht. Doch das, was ich hier sah, war einfach nur traurig, auch für mich.
»Hey, ihr!«, rief ein muskelbepackter Möbelschlepper. »Wer nimmt diese Möbel an?«
In dem Moment stürmt eine Gestalt aus der Tür. Sie hatte einen weißen Chemiemantel an und die Haaren standen schwarz zu Berge. Sie glühten an den Spitzen.
Ich rieb mir die Augen wie ein Kind, dass vom Sandmann etwas Traumsand in die Augen bekommen hatte.
Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich, dass es Carmons Opa war, in einem weißen Morgenmantel und einer schwarzem Schlafkappe, auf der eine verrutschte Leselampe ein gespenstisches Licht warf.. Er redete vorne mit den Möbelleuten und kam dann wieder zurück. Sie fingen nun an, verschiedene Möbel heraus zu schaffen. Der Großvater von Carmon sah mich an und dann Carmon und fragte:
»Was macht die denn hier?!«
»Sie wollte gerade gehen.«, sagte Carmon hart und schubste mich vorwärts. Ich sah ihn entgeistert an und bemerkte die Tränen in seinen Augen. Ich stolperte langsam vorwärts und nachdem ich mich auf halber Strecke nochmal umgedreht hatte und leise »Morgen um fünf nach halb sieben, hoffe ich doch…« gesagt hatte, rannte ich einfach geradeaus, schlängelte mich mit Flinkheit an den Möbelleuten vorbei und dann nach Hause.
Abends machte ich mir Vorwürfe, ich hätte ihn irgendwie an seine Eltern erinnert. Ich machte ihm Vorwürfe, er hätte mich zu hart behandelt, doch dann schlief ich ein.
3. Kapitel - Katzenjammer
Heute wachte ich mit einem komischen Gefühl auf.
Als ich vor Carmons Tür stand, kam er bereits.
»Lianna….«, fing er an. »Lass uns das von gestern vergessen, ja?«
»Ja, aber den Drachen…«
»Es gibt keine Drachen!«, sagte er leise, aber hart.
»Aber das Dokument, es beweist doch, dass….«
»Lianna. Das angebliche Dokument ist von 1880. Es ist eine Fälschung.«
»Aber… Zauberer leben doch seehr lange.«
Wir wechselten die Straßenseite und überquerten nochmals eine Straße. Nun stieg die Straße etwas an. Carmon blieb stehen.
»Jetzt sag, nicht, dass du denkst, dass mein Großvater ein Zauberer ist!«, er war sehr hart und das überraschte mich.
»Aber du hast ihn doch selbst gesehen, gestern als…«, er ließ mich nicht zu Wort kommen.
»Drachen und Zauberer, na klar!! Und was hat mein Opa noch getan?! Das Elixier des ewigen Lebens erfunden oder den Stein der Weisen?!! Ja, wer weiß, im Geheimen besitzt er auch noch den heiligen Gral und ist Grabräuber aus Ägypten!!!«, jetzt brüllte er schon.
»Das meinte ich doch nicht!!«, brüllte ich zurück, wenn auch leiser als er.
»Komm mal aus deiner verwurmten Welt heraus!!!! Es gibt keine Drachen, noch Zauberer noch irgendwas … was.. Magisches!!! Es gibt nur dieses Leben. Nur die Realität. Und in der leben wir. Und wir müssen alles so hinnehmen, wie es ist und können uns nicht einbilden, Drachen und Magier zu sehen!!«, er war etwas weinerlich und seine stumpfen Augen glänzten voller Tränen. Ich war auf dem Boden gesunken und hielt mir die Ohren zu. Er stampfte davon. Tropfen fielen aus meinen Augen. Zuerst nahm ich es nicht war, doch die Lache auf dem Boden voller Tränen war meine. Jede einzelne glitzerte, wenn sie hinunterfiel. Und dann fing es an zu regnen. Ich stand auf und betrachtete die Wolken. Gerade eben waren sie noch schneeweiß gewesen, jetzt waren sie nur noch grau und es donnerte überall. Ich schlich den Weg zur Bahn hoch. Ich hatte noch Zeit, das wusste ich. Ich stellte mich so weit weg wie möglich von Carmon. Auch seine Augen waren rot und er rieb sich die Tränen weg. Dann kam die Bahn.
Selbst nach sieben Stunden Schule redeten wir kein Wort. Sieben Stunden Zeit für eine Entschuldigung. Doch kein einziges Wort fiel. Es regnete die ganze Zeit und in der unglaublichen Dunkelheit kam uns das Klassenzimmer wie ein Lichtschein vor.
Meine Gedanken kämpften gegeneinander.
›Du bist immer ohne einen Freund ausgekommen, all die Zeit in dieser Klasse. Also brauchst du auch jetzt keinen Freund!‹ ›Aber er war der einzige, der dir je zuhörte …‹ ›Ja! Um dich danach hinzustellen wie einen Dummkopf!‹ Ich verwischte mir die Gedanken, um im Unterricht aufzupassen. Zum Glück hatten wir erst morgen wieder Mathematik. Heute Frau Blante - das würde ich nicht aushalten.
Zwar fuhren wir zur selben Zeit zurück, doch wir saßen wieder ganz unterschiedlich in der Bahn. Ich vorne, er hinten. Zwar führte nur ein Weg geradeaus zu mir nach Hause, doch im Gegenteil zu Carmon besaß ich wenigstens Ortskenntnisse und konnte somit einen ganz anderen Weg gehen, der eigentlich ein Verlängerung war. Als die Ampel dann grün wurde und wir beide an der anderen Seite ankam, bog ich rechts und er links ab. Er blieb aber nochmals stehen, um mich mit verdattertem Gesicht anzusehen. Ich lief um dem Supermarkt herum und die Straße entlang. Dann bog ich rechts ab, während er eine Straße in der Nähe geradeaus ging. Als ich außer Sichtweite war, rannte ich einfach mit meinem Ranzen nachhause und siehe da: Durch das Rennen war ich doch schneller als er und sah ihn dann heimlich aus dem Gebüsch an. Doch er bemerkte mich nicht. Er schaute sich nur mal um und schüttelte den Kopf. Dann ging er ins Haus, doch ich sah genau, dass er nur am Fenster saß und schaute. Doch ich kam nicht. Kein Wunder, denn ich war ja schon da.
Ich schlich mit feinster Vorsicht das Gebüsch entlang. Eigentlich waren es nur tausende von Rosensträuchern, die an eine Hecke lehnte, die vor neugierigen Blicken schützte. Man konnte durch die Rosensträucher ganz schnell vom Garten zum Haus gelangen, ohne dass man den großen Umweg gehen musste. Jedoch musste man natürlich geübt darin sein, denn sonst könnte es wehtun. Es gibt einen kleinen Weg, eher eine Art Steg an der Außenwand des Hauses. Wenn man den entlanggeht oder -krabbelt, bekommt man nicht so viele Wunden durch die Rosen. Doch das letzte Stückchen geht quer durch die Rosen durch, da muss man mit Dornen vorsichtig sei.
Ich hatte keine Lust, in die Wohnung hoch zu gehen, ich wollte erst einmal noch mein Beet wässern und Unkraut wegmachen. Vielleicht waren meine Sachen nicht die Gartentauglichsten, jedoch musste das Unkraut irgendwann mal weg.
Während ich so zupfte und rupfte und über mir die Bienen in einer mir fremden Sprache redeten, hörte ich etwas. Ein Rascheln. ›Bestimmt ein Vogel‹, dachte ich und zupfte weiter. Dabei summte ich eine Melodie, die mir gerade in den Kopf gekommen war.
Wieder ein Rascheln, dann ein Miauen.