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Unsere jüngere Geschichte, dramatische Schicksale – und die zweite große Liebe Der historische Roman »Der Himmel am nächsten Morgen« erzählt authentisch und wunderbar romantisch von einer Frau, die sich ihr Glück nicht nehmen lässt. Wuppertal, 1945: Kurz vor Kriegsende entgeht die junge Lissi bei einem Bombenangriff nur knapp dem Tod. Zum Glück findet sie bei ihrer Tante und deren zwei Kindern ein neues Zuhause. Die schwere Nachkriegszeit ist geprägt von Hunger, Kälte und Wohnungsnot. Dann wird der siebzehnjährige Johann, ein Vertriebener aus Pommern, ausgerechnet in Lissis Rückzugsort einquartiert, in die versteckte Kammer unter dem Dach. Sie verliebt sich in den selbstbewussten Jungen, als dieser unerwartet an Tuberkulose erkrankt und weit weg zur Kur muss. Wuppertal, 1979: Lissis Mann Johann stirbt bei einem Verkehrsunfall. Sie bleibt allein mit ihrer achtzehnjährigen Tochter Miriam zurück. Ein Jahr darauf meldet sich ein alter Bekannter bei Lissi, erst jetzt erfährt dieser vom tragischen Tod seines Jugendfreundes Johann. Zu ihrer eigenen Überraschung ist sie von Georg und seinem unkonventionellen Lebensstil fasziniert... Ira Laudin hat sich für ihren historischen Roman von der Geschichte ihrer eigenen Familie inspirieren lassen. Ihr einfühlsamer Schreibstil macht die deutsche Nachkriegszeit erlebbar – ebenso wie den Lebensmut einer starken Frau.
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Seitenzahl: 433
Veröffentlichungsjahr: 2023
Ira Laudin
Roman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Wuppertal, 1945: Kurz vor Kriegsende entgeht die junge Lissi bei einem Bombenangriff nur knapp dem Tod. Zum Glück findet sie bei ihrer Tante und deren zwei Kindern ein neues Zuhause. Die schwere Nachkriegszeit ist geprägt von Hunger, Kälte und Wohnungsnot. Dann wird der siebzehnjährige Johann, ein Vertriebener aus Pommern, ausgerechnet in Lissis Rückzugsort einquartiert, in die versteckte Kammer unter dem Dach. Sie verliebt sich in den selbstbewussten Jungen, als dieser unerwartet an Tuberkulose erkrankt und weit weg zur Kur muss.
Wuppertal, 1979: Lissis Mann Johann stirbt bei einem Verkehrsunfall. Sie bleibt allein mit ihrer achtzehnjährigen Tochter Miriam zurück. Ein Jahr darauf meldet sich ein alter Bekannter bei Lissi, erst jetzt erfährt dieser vom tragischen Tod seines Jugendfreundes Johann. Zu ihrer eigenen Überraschung ist sie von Georg und seinem unkonventionellen Lebensstil fasziniert ....
Personenverzeichnis
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
Lissi Schneider – Hauptfigur
Helene Wilke – Lissis (Paten-)Tante
Paul Wilke – Helenes Sohn, Lissis Vetter
Ursula Wilke – Helenes Tochter, Lissis Cousine
Fritz Wilke – Helenes Mann
Anna Rösler – Lissis beste Freundin
Johann Sander – Bewohner der Dachkammer
Frau Meckenstock – Nachbarin aus dem 3. Stock
Frau Dreyer – Nachbarin aus dem 1. Stock
Ewald Dreyer – ihr Sohn
Familie Finke & Oma Metz, Eheleute Huppert, Familie Halbach, Frau Wulff – Nachbarn
Herr Reinhardt – Textilfabrikant und Tante Helenes Arbeitgeber
Frau Rösler – Annas Mutter
Fräulein Ackermann – Lissis Lehrerin
Oskar Schultheis – Johanns Kollege und Nachbar aus dem 3. Stock
Hilde Schultheis – Oskars Frau
Max – Pauls bester Freund
Herr und Frau Gräbe – Tanzlehrer
Jürgen Dietrich, Hermann Schmidtke, Rosemarie Keck, Ingeborg, Kurt und Manfred – Tanzschüler
Irmgard Sander – Johanns Mutter
Lissi Sander (geb. Schneider) – Hauptfigur
Miriam Sander – Lissis Tochter
Georg Freese – Johanns Jugendfreund aus Hamburg
Anna Dietrich (geb. Rösler) – Lissis beste Freundin
Jürgen Dietrich – Annas Ehemann
Felix, Franziska, Frederick, Frieda – ihre vier Kinder
Herr Borchmann – Inhaber der Buchhandlung und Lissis Chef
Frau Busch – Lissis Kollegin
Michael – Ursulas Mann
Evi – Pauls zweite Frau
Holger – Miriams Freund
Herr Bern – Lissis Fahrlehrer
Reinhold, Annette und Dieter – Georgs Mitbewohner in der WG
Albert und Mathilde Freese – Georgs Eltern
Edi – Angestellte im Hause Freese
März 1945
Opas Apfelbaum stand kahl und knorrig auf der Wiese hinter dem Haus. Die Rinde zerfurcht wie die Haut der Elefanten, die Lissi einmal im Zoologischen Garten gesehen hatte. Sie kannte jeden Klettergriff, wusste im Schlaf, an welcher Astgabel sie sich festhalten und wie sie ihre Füße setzen musste. Der Baum war ihr Schiff, das sie in ferne Länder trug.
Den linken Arm schlang sie um den Stamm und hielt sich daran fest. Mit den Fingern der freien Hand formte sie ein Fernglas, durch das sie blinzelnd den Horizont nach weiteren Schiffen absuchte.
Ingrid hatte sich ihre Puppe unter den Arm geklemmt und mühte sich ab, zu ihr auf den Baum zu klettern. Mit dem Nachbarskind spielte sie bei jedem Wetter im Garten hinter dem Haus. Kinder bräuchten Bewegung an der frischen Luft, behaupteten die Großen.
»Gib mir deine Annegret hoch, ich halte sie«, sagte Lissi und streckte ihre Hand nach der Puppe aus.
»Aber lass sie nicht fallen.« Ingrid reichte sie hinauf, kletterte hinterher und setzte sich auf den dicken Ast ihr gegenüber. Sie ließen die Beine baumeln. Im Gras unter ihnen wuchsen Schneeglöckchen und Krokusse.
Ingrid war zehn und damit zwei Jahre jünger als sie. Schon am ersten Tag hatte das Mädchen vor der Tür gestanden, nachdem Lissi mit ihrer Mutter in Großvaters weißes Häuschen in Wuppertal-Langerfeld eingezogen war. Kommst du raus zum Spielen?, hatte sie gefragt, und zusammen waren sie wie übermütige Fohlen hinausgelaufen.
Das war nach dem Tod des Vaters gewesen, der vor zwei Jahren in Stalingrad gefallen war. Lissi hatte nicht begreifen können, warum er nicht einfach wieder aufgestanden war. Sie hatte ihn sich vorgestellt mit aufgeschürften Knien, sie kannte das vom Stolpern draußen auf dem Asphalt. Erst später hatte sie es verstanden. Gefallene Soldaten blieben liegen und standen nie wieder auf.
Der kühle Märzwind zog auf und strich über ihre Wangen.
»Bald kommt der Osterhase«, sagte Ingrid und streichelte die strohblonden Zöpfe ihrer Annegret.
»Glaubst du noch an den Osterhasen?«
»Wie meinst du das?«
»Den gibt es nicht, die Erwachsenen verstecken die Eier.«
»Stimmt nicht, ich habe ihn selber gesehen. Hinten auf der Wiese bei Lehmanns.«
»Das war ein gewöhnliches Karnickel.« Lissi hatte letztes Jahr vom Fenster aus beobachtet, wie ihr Opa das Osternest für sie im Garten versteckt hatte. Ein gekochtes Ei hatte darin gelegen.
Ingrid zog die Stirn in Falten und warf ihr einen finsteren Blick zu. In diesem Moment heulten die Sirenen auf. Schon wieder Fliegeralarm. Lissi sprang vom Baum, und ihre Freundin tat es ihr nach. Wie die Hasen rannten beide zu ihren jeweiligen Häusern.
»Ich hab uns Butterbrote gemacht«, rief ihre Mutter gegen den Lärm an. Sie packte hastig ein paar Dinge in einen Korb. »Nimm rasch deine Sachen und ab in den Keller.«
Die Luftangriffe kamen jetzt immer öfter auch am Tage. Doch nachts war es besonders schlimm, da musste man aus dem kuscheligen Bett durch das eisige Haus. Licht durfte man nicht anmachen wegen der Verdunklungspflicht. Also am Geländer festklammern, damit man im Dunkeln nicht die Treppen hinunterfiel.
Die Sirene pausierte kurz und hob zu neuem Geheul an. Lissi ergriff ihren kleinen roten Koffer mit Kleidung und ein paar Habseligkeiten. Sie stieg die steile Holztreppe in den Waschkeller hinunter, wickelte sich in eine dicke Decke und setzte sich auf eine der zwei Holzbänke, die Opa aufgestellt hatte. Wassereimer und ein Sandhaufen standen im Keller zum Löschen bereit. Sollten sie Phosphorbomben abwerfen, half nur Sand. Hoffentlich war es schnell wieder vorbei. Unzählige Male hatten sie bereits zu dritt hier unten stundenlang ausgeharrt, bis endlich das lange Signal der Entwarnung ertönte.
Ihre Mutter und der Großvater mit seinem lahmen Bein stolperten die Treppenstufen hinab. Es blieb ihnen nur, hier zu sitzen und auszuharren. Zu warten, bis es vorbei war. Mutti betete. Opa starrte stumm vor sich hin und sah immer wieder nach oben. Die Sirene wechselte in die kurzen Heultöne der akuten Luftgefahr.
Das Dröhnen der Jagdbomber war zu erahnen, wurde lauter, steigerte sich zu einem tiefen Brummen, das die Mauern um sie herum zittern ließ. Ein Schauer rann Lissi über den Rücken, sie hielt ihren Koffer fest an sich gepresst. Man hörte das grässliche Pfeifen vor dem Einschlag der Brandbomben. Erst waren es Treffer in der Ferne, sie klangen dumpf. Dann wurden sie lauter, kamen immer näher. Lissi hielt den Atem an. Über ihnen erbebte das Haus, es klirrten und zerbarsten Fenster. Türen schlugen auf und zu.
Das Heulen der Bomben war unerträglich. Der Raum schwankte wie ein Schiff in stürmischer See. Von den Wänden bröckelte der Putz. Sie hielten sich nasse Lappen vor das Gesicht. Staub und Ruß fegten um sie herum. Lissi war aufgesprungen, die Hände ihrer Mutter tasteten nach ihr, schoben sie in die Ecke des Raumes. Die einzige Glühbirne an der Wand flackerte und erlosch. In diesem Augenblick stürzte vor ihr die Kellerdecke herunter.
Mai 1979
Am Morgen brach Johann zu einer Bekleidungsmesse nach Frankfurt auf. Er verabschiedete sich mit einem Kuss und lief mit seinem Handkoffer leichtfüßig die Treppe hinunter.
Vom weit geöffneten Fenster aus überblickte Lissi die ganze Straße. Sie blinzelte in die grelle Morgensonne, die sich in einer Fensterscheibe gegenüber spiegelte. Er winkte ihr, und sie hob die Hand. Ein letzter Blick von ihm zu ihr hoch, dann stieg er in seinen hellblauen Opel und fuhr los. Das gleiche helle Blau lag über den Häusern, dieser Himmel ließ den Sommer erahnen. Es war ein perfekter Tag, um später mit Miriam hinunter in die Stadt zu spazieren. Ihre Tochter war achtzehn und besuchte das nahe gelegene Gymnasium. Sie würden einige Besorgungen machen, Kaffee trinken, ein Eis essen. Für Johann würde sie nach einem ledernen Uhrenarmband schauen, das alte müsste dringend ausgetauscht werden.
Lissi räumte den Tisch ab und spülte das Geschirr vom Frühstück, im Radio lief Blondies Heart Of Glass. Sie summte mit und stapelte Teller und Tassen auf dem Abtropfgestell.
Die Vorfreude auf Italien stieg erneut in Lissi auf. Sie erinnerte sich an das Gefühl nackter Füße im sonnenwarmen Sand. An enge Gassen, durch die der Duft von Olivenöl und Fisch zog. Beim Frühstück hatte sie im Katalog des Reisebüros geblättert. Vor lauter Fernweh hätte sie am liebsten gleich die Koffer gepackt.
Die Nudelsuppe für den Abend könnte sie vorbereiten, bis Miriam aus der Schule nach Hause kam. Sie setzte einen Topf mit Wasser auf, schnippelte Gemüse und ließ es zugedeckt köcheln.
Zeit für eine Kaffeepause. Mit dem heißen Becher in der Hand, schlenderte sie zum Sofa, ließ sich im Schneidersitz nieder, nahm das Telefon auf den Schoß und wählte die Nummer ihrer Freundin Anna. Eine halbe Stunde lang plauderten sie ungestört über Kindersorgen und Arzttermine.
Am Mittag klingelte es an der Haustür. Zwei Polizisten schleppten sich die knarrenden Stufen des Treppenhauses zu ihr in den zweiten Stock hinauf. Der eine hager mit Schnurrbart, der andere schnaufend mit fülliger Körpermitte. Lissi stand in der Tür, ihre heitere Stimmung gefror augenblicklich. Sie sah die ernsten Mienen und straffte sich innerlich.
»Guten Tag, sind Sie Frau Sander? Die Ehefrau von Johann Sander? Dürfen wir eintreten?«, fragte der Dünne.
Sie nickte stumm und bat beide ins Wohnzimmer.
Der rundliche Beamte wandte sich ihr zu und sagte kurzatmig: »Es tut uns leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Mann mit seinem Auto tödlich verunglückt ist.«
Watte, in ihrem Kopf nur Watte, die Stimmen wie aus weiter Ferne.
»Setzen Sie sich … etwas Wasser … frische Luft … jemanden anrufen?« Man griff nach ihrem Arm, sie ließ sich auf einem Stuhl am Esstisch nieder.
Das konnte nicht sein, sie sprachen von einem anderen Mann. Ihrer war vorhin gut gelaunt in sein Auto gestiegen. Sie würden in den Urlaub fahren. Hinter ihren Schläfen pochte es, ihr war schwindelig. Der hagere Polizist reichte ihr eines der gespülten Gläser mit Leitungswasser, es war noch feucht. Sie trank einen Schluck, und schon stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie tastete auf dem Tisch nach der blau-weißen Packung mit den Taschentüchern und zog an der offenen Seite eines heraus. Das war sicher alles ein Irrtum. Nur langsam begriff Lissi die ungeheure Nachricht, die ihr die Luft abschnürte. Ohne Johann war alles sinnlos, ein Leben ohne ihn – undenkbar.
Die beiden Polizisten redeten beruhigend auf sie ein, berichteten von einem hellblauen Opel, und ihr wurde klar, dass sie von Johanns Wagen sprachen. Doch die Worte ließen sich nicht in einen vernünftigen Zusammenhang bringen. Das wollte sie alles nicht hören, sich keine Bilder dazu im Kopf ausmalen müssen.
Waren Stunden, Minuten oder nur Sekunden vergangen? Vom Flur her hörte sie das vertraute Geräusch des Schlüssels im Türschloss. Miriam. Ihr Gesicht erschien im Türrahmen. Sie erstarrte in der Bewegung, als sie die Beamten bemerkte. »Mama, was ist passiert?«
Lissi schüttelte den Kopf, keine Worte. Die Polizisten wiederholten ihren Text, als hätten sie ihn vorher einstudiert. Wie auf einer Bühne, sie war eine Marionette. Ohne Fäden. Nicht in der Lage, sich zu rühren. Alles vorbei. Eine banale Fahrt zu einer Messe an einem sonnigen Maitag. Lächeln, winken, fahren. Doch er würde nie mehr wiederkommen.
Miriam fiel ihrer Mutter um den Hals und weinte fassungslos. Die beiden Beamten standen eine Weile mit betretenen Gesichtern herum, dann sprachen sie ihnen erneut ihr Beileid aus und verabschiedeten sich endlich.
Mutter und Tochter blieben zurück, hielten sich fest, gaben sich Halt. Weinten stumm. Zwei verlassene Seelen. Zusammen und doch allein.
So saßen sie lange beieinander, wie von dichtem Nebel umgeben. Am Abend kam Anna vorbei, nahm Lissi wortlos in den Arm. Reglos standen sie da, im Türrahmen, halb im Treppenhaus. Es brauchte keine Erklärungen. Ihre Freundin bugsierte sie auf das Sofa und sah kurz nach Miriam, die inzwischen in ihrem Zimmer auf dem Bett lag, Musik hörte und niemanden sehen wollte.
Die Freundinnen saßen nebeneinander, sprachen kaum, aber es war tröstlich, Anna bei sich zu haben. Später gestand sie, dass sie vier zeternde Kinder und einen erstaunten Mann zu Hause am Abendbrottisch zurückgelassen hatte.
»Du musst doch etwas essen.« Anna reichte Lissi einen Teller mit bunter Brühe.
Richtig, der Nudeleintopf vom Mittag. Um zwölf hatte sie es noch nicht gewusst. Da hatte noch nicht alles in Scherben gelegen. Lissi rührte mit dem Löffel in der Suppe, bis sie kalt war, und stellte sie vor sich auf dem Couchtisch ab. Was waren seine letzten Worte an sie gewesen? Hatte sie ihm wie üblich zum Abschied gesagt, dass sie ihn liebte? Sie war sich diesmal nicht sicher.
Es war schon nach Mitternacht, als Anna sich mit einer langen Umarmung und tröstenden Worten verabschiedete. »Du weißt, du brauchst nur anzurufen.«
Wie betäubt blieb Lissi im Wohnzimmer zurück. Es gab in ihr keine Tränen mehr. Sie goss den letzten Rest der dunkelroten Flüssigkeit aus der Flasche in das bauchige Glas und nippte. Es schmeckte fruchtig herb und tröstlich. Sie war unfähig, in das leere Schlafzimmer hinüberzugehen. Eine dumpfe Schwere breitete sich in ihrem Körper aus. Irgendwann in der Nacht erhob sie sich, ohne zu wissen, wie spät es war.
Ein kurzer Blick in Miriams Zimmer, sie schlief, ein zusammengeknülltes Taschentuch in der Hand. Ihr Schmusetier aus Kinderzeiten fest an sich gedrückt. Sie wirkte wieder wie das kleine Mädchen damals, zart und zerbrechlich. Leise schloss Lissi die Tür. Im Bad mied sie den Blick in den Spiegel, wusch sich und putzte die Zähne. Das leere Bett ertrug sie jetzt nicht. Auf dem Sofa legte sie sich unter die Wolldecke, die Stehlampe ließ sie brennen. Sie fürchtete sich davor, allein in der Dunkelheit zu liegen. Der Kopf schmerzte, ihre Lider wurden schwer, die Müdigkeit erfasste sie wie eine Welle und zog sie hinunter in eine finstere Tiefe.
Als sie in den frühen Morgenstunden erwachte, drang trübes Licht von der Straße durch die hohen Wohnzimmerfenster. Lissi erinnerte sich an keinen einzigen Traum. Benommen knipste sie die Lampe aus und setzte sich auf. Die Schläfen pochten, ihr Mund war wie ausgetrocknet. Dann fiel es ihr wieder ein. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Johann war fort. Seine Stimme hatte sie im Ohr. Seine Bartstoppeln kratzten sie am Kinn, wenn er sie morgens mit einem Kuss weckte. All das war mit ihm verschwunden. Unvorstellbar. Ein nicht enden wollender Albtraum.
Durst trieb sie in die Küche, sie trank ein Glas Wasser, setzte Kaffee auf, alle Handgriffe liefen ab wie ferngesteuert. Es war völlig unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen.
Ihr Blick fiel auf den Esstisch, auf dem der Reisekatalog lag. Unter der Garderobe im Flur standen seine abgetragenen Hausschuhe, die er nicht mitgenommen hatte. Er lächelte ihr aus dem Bücherregal zu. Den Bilderrahmen für das Familienfoto hatten sie damals zusammen ausgesucht. Miriams breites Kinderlachen gab den Blick auf eine Zahnlücke frei. Wohin Lissi sah, überall strömten Erinnerungen auf sie ein. Die Verzweiflung lag auf ihr wie ein schwerer Stein, der jedes Fünkchen Energie zermalmte. Jegliche Lebensfreude war ausgelöscht. Der Schmerz nahm ihr die Luft zum Atmen. Was war sie denn ohne Johann? Es kamen wieder Tränen, und sie liefen hemmungslos.
Freitag. Drei Tage war es her. Heute wäre er zurückgekommen aus Frankfurt. Pfeifend hätte er den Flur betreten, seine Frau geküsst und seine Tochter in den Arm genommen. Nie wieder würde er das tun. Lissi schlich durch die Wohnung wie ein Geist, blass und körperlos.
Miriams Augen waren rot und verquollen wie zuletzt vor einem halben Jahr, da hatte sich ihr erster Freund von ihr getrennt. Es gab keine Messlatte für Trauer. Doch im Gegensatz zu ihrer Mutter hatte sie sich besser im Griff: »Mama, ich weiß, du willst darüber nicht nachdenken, aber ich kann das nicht allein entscheiden. Welchen sollen wir nehmen?«
Der Prospekt des Beerdigungsinstituts lag aufgeschlagen auf dem Esstisch. Auf Hochglanz polierte Holzkisten. Lissi drehte sich der Magen um. Ein Hotel mit Strand hatte sie aussuchen wollen und keinen widerwärtigen Sarg.
Miriam stand auf und sagte: »Ich mach uns einen Kaffee.« Die alltäglichen Geräusche gaben Sicherheit. Das Sprudeln des Kranwassers in die Kanne mit Plastikdeckel, das Zischen und Gurgeln. Der Duft von Kaffee. Alles war wie immer. Denke nicht dran, Lissi, alles ist gut. Die Nächte waren schlimm, die Tage grässlich, denn da musste sie funktionieren und ansprechbar sein.
»Wir müssen am Tag der Beerdigung Tante Helene mit dem Taxi abholen, hörst du, Mama?«
»Ist gut.« Zwei Wörter auf einmal, ein Fortschritt. Diese letzten drei Tage hatte sie erschreckend einsilbig geantwortet. Aber es war unfair gegenüber Miriam, die sich alle Mühe gab, ihrer Mutter zu helfen, obwohl sie selbst Trost brauchte.
»Weiße Lilien oder Rosen«, sagte Lissi, »die hätten ihm gefallen.«
Miriam stellte Tassen auf den Tisch und nickte. »Das glaube ich auch.«
»Und den nehmen wir.« Sie zeigte auf einen beliebigen Sarg und kritzelte mit dem Kugelschreiber ein schiefes Kreuz daneben.
»Die Trauerrede hält Pastor Lorenz?«, fragte ihre Tochter, offenbar froh über das vernünftige Gespräch mit ihr.
Lissi nickte und presste kurz die Lippen aufeinander.
»Musik?«
»Darf er aussuchen, er kannte ja deinen Vater. Und er weiß besser als wir, was angemessen ist.«
Miriam holte die Kaffeekanne, setzte sich und schenkte ein. Schwarz. Passend zur Stimmung.
Ein zu vertrautes Gefühl. Der Verlust war wie ein verhasster Gast, der ungebeten vorbeikam und dem man am liebsten die Tür vor der Nase zugeschlagen hätte. Am Morgen half Kaffee, um aufzustehen, am Abend Rotwein, um einzuschlafen. Vor Lissi erhob sich eine dunkle Steilwand und unter ihr lag eine tiefe Schlucht, die unüberwindbar schien. Sie hing dazwischen hilflos in der Luft, es gab kein Entkommen.
März 1945
Der Weg nach Elberfeld war nicht einfach zu bewältigen, denn es fuhren keine Straßen- oder Schwebebahnen.
»So viele Brücken und Schienen sind zerstört, Kind, man glaubt es kaum«, berichtete die Tante, als sie Lissi abholte. Helene Wilke war die jüngere Schwester ihres Vaters und Lissis Patentante. Die Familien hatten sich früher in regelmäßigen Abständen gegenseitig besucht, bevor 1943 die ersten Luftangriffe gekommen waren.
Ein Bekannter von Tante Helene nahm sie beide auf seinem Lastwagen mit. Man hätte den sonnigen Märztag genießen können, doch auf der Fahrt starrten sie in den Himmel und lauschten auf das Brummen von Flugzeugmotoren. Jederzeit musste man mit Tieffliegern rechnen, die alles abschossen, was sich bewegte. Auf freiem Feld sah man die Kuhlen der Bombentrichter. Sie waren erst einmal erleichtert, als sie die Stadt erreichten.
Am Döppersberg ließ der Bekannte sie aussteigen, weiter kam sein Laster nicht. Lissi erkannte Elberfeld nicht wieder, der Stadtteil zeigte sein neues schauriges Gesicht. Hohle Fassaden ragten in den Himmel über Wuppertal. Die Häuser dahinter verbrannt und zerfallen. Wenige Gebäude waren heil geblieben, einsam zwischen Schuttbergen. Kaum eine Straße war zu erkennen, vergraben unter losen Steinen und grauem Staub. Notdürftig waren Pfade durch das Pflaster freigeräumt worden. Einmal verliefen sie sich, weil Tante Helene eine Straßenkreuzung nicht gleich wiedererkannte. Menschen hasteten an den Trümmern vorbei, niemand hielt sich lange auf. Jederzeit war mit Alarm zu rechnen.
In einiger Entfernung stürzte eine Hausfassade ohne jede Vorwarnung krachend um und verschwand in einer Staubwolke. Lissi umklammerte die Hand ihrer Tante. Sie schlugen sich durch, stets bereit, Deckung zu suchen, sobald über ihnen das gefürchtete Dröhnen ertönte.
Das Haus lag in der Nordstadt auf dem Ölberg. Hier oben wirkte alles friedlich. Die Straßen waren unversehrt, einige Gebäude mit den hohen Fenstern zierten prächtige Säulen, Engelsköpfe und Blumenkränze, andere sahen verwittert und schäbig aus. Dazwischen gab es uralte schiefergraue Fassaden, wie man sie im Bergischen oft sah. Vor den Treppenstufen eines Hauses spielten zwei Mädchen und ein Junge Hüpfekästchen. Mit roten Tonscherben malten sie Zahlen auf den Asphalt. Ein Tiefflieger brummte heran, und die Kinder sprangen, ohne zu zögern, die Stufen hoch bis zur Haustür. Lissi und Tante Helene suchten rasch in einem anderen Hauseingang Deckung und warteten, aber der Pilot kehrte zum Glück nicht um. Es wurde still, und sie liefen eilig weiter.
Lissi erkannte die massive Tür mit den Messingbeschlägen wieder. Das Treppenhaus war unverändert, es roch nach Kohlenstaub. Neben Tante Helene stieg sie stumm die Stufen in den zweiten Stock empor. Ihr Brustkorb schmerzte noch immer, und sie war unendlich müde.
Ursula saß am Esstisch in der Mitte des Raumes, als sie die Küche betraten. Lissi schätzte sie auf sechs Jahre. Ihren Pony bändigte eine Haarklemme, sie trug dunkelblonde, ordentlich geflochtene Zöpfe und musterte sie aus großen grauen Augen.
»Nun begrüße deine Cousine, Kind, wo sind denn deine Manieren?« Tante Helene stemmte ihre Fäuste in die schmalen Hüften.
Ursula erhob sich und gab ihr die Hand. Es war seltsam, sie kannten sich kaum. Das verschrammte rote Köfferchen stellte Lissi auf dem Dielenboden ab. Zum ersten Mal war sie allein hier. Die Küche sah aus wie die im Haus ihres Großvaters. Ein Kohleherd stand an der linken Wand. Auf der anderen Seite gab es einen Küchenschrank und daneben einen Spülstein.
»Komm, ich zeige dir deinen Schlafplatz«, sagte ihre Tante und durchschritt die Küche zur hinteren Tür, die in den angrenzenden Raum führte. Dort gab es zwei einzeln stehende Betten und einen Kleiderschrank.
»Du teilst dir dieses Bett mit Ursula. Im anderen schlafen der Paul und ich.« Der Paul war Ursulas älterer Bruder.
»Und was ist mit dem Zimmer?«, fragte Lissi und deutete auf eine weitere Tür, vor der ein Tischchen mit allerlei Krimskrams stand.
»Unsere Stube, aber dahinter wohnen jetzt Ausgebombte, die Küche müssen wir uns mit ihnen teilen. Das stille Örtchen ist auf halber Treppe, erinnerst du dich, Lisbeth?« Tante Helene wartete keine Antwort ab, sondern lief vorweg zurück zum Flur.
»Lissi«, korrigierte Lissi und trottete hinterher.
»Richtig, so hast du dich schon früher selbst genannt.« Sie lachte kurz auf und machte im Gehen eine flatterige Bewegung mit der Hand.
Sie stiegen zum Treppenabsatz hinab. Die dritte Stufe von oben knarzte. Die Tür auf halber Etage war nur angelehnt, dahinter ein Klosett mit Kette, daneben hingen aufgereiht an einer Schnur Zeitungsabschnitte. Über dem Waschbecken war ein kleiner Spiegel.
»Das benutzen alle Bewohner unserer Etage. Mit dir sind wir zu neunt. Für nachts gibt es Töpfe unterm Bett.«
Unten fiel krachend die Haustür ins Schloss, und ein Junge kam die Treppe herauf.
»Erinnerst du dich an Paul?«, fragte Tante Helene.
Er zog die Mundwinkel kaum merklich nach oben und reichte Lissi eine schlaffe Hand. Er war ein halbes Jahr jünger als sie, trug den typischen Seitenscheitel, einen Pullover und kurze Hosen mit langen Strümpfen. Früher hatten sie mit Bauklötzen und Pauls kleinen Soldaten gespielt, die immer umfielen. Hinter jener Tür dort oben, die jetzt verschlossen war, in dem verbotenen Zimmer. Wo die Ausgebombten wohnten. Es klang wie ein fremdes Volk, das grau und staubig den Trümmern entstiegen war. Lissi fröstelte bei dem Gedanken.
Zu dritt nahmen sie die Stufen nach oben, und Tante Helene bereitete in der Küche ein spärliches Abendbrot.
In der ersten Nacht war alles ungewohnt fremd. Wenigstens hatten sie nicht in den Keller gemusst. Ein paar Schüsse hatte man kurz in weiter Ferne knallen hören, dann blieb es still. Eine gespenstische Ruhe lag über der Stadt. Sie waren in ihren Kleidern zu Bett gegangen, Lissi war das gewohnt. Sich nachts bei Fliegeralarm erst anzuziehen, kostete unnötig Zeit.
Sie hatte unruhig geträumt. Vom knorrigen Apfelbaum, in dem lauter Segel hingen. Von verkohlten Häusern mit riesenhaften Schuttbergen, die ihr unheimlich waren und sie erdrückten. Schwer atmend wurde sie wach, um sie herum war es düster. Sie lauschte dem gleichmäßigen Atem der anderen.
Ihre Cousine regte sich erst, als es dämmerte. Sie hielt den Zeigefinger an den Mund und fragte im Flüsterton: »Darf ich dir die Haare flechten?« Sie durfte. Beide setzten sich auf, und Ursula teilte vorsichtig Strähne um Strähne. Kurz darauf erwachte Tante Helene und lächelte ihnen zu. Sie rüttelte an Pauls Schulter und verließ das Schlafzimmer. Er gähnte, stand auf und folgte seiner Mutter in die Küche. Die Mädchen öffneten zaghaft das Fenster und beobachteten die Straße, kein Mensch war unterwegs.
Zum Frühstück gab es einen Rest Brot mit wenig Butter und Tee. Tante Helene besprach mit den Kindern, was zu erledigen war: »Morgens teilen wir uns auf, jeder bekommt ein Geschäft zugeteilt und stellt sich dort an. Finkes, das sind die Nachbarn, die unsere Küche mitbenutzen, kochen ihr Essen um zwölf Uhr, anschließend wir, merke dir das, Lissi. Wir teilen uns die Kohlenrationen. Für den Herd seid ihr Kinder zuständig, ihr könnt euch abwechseln. Ausfegen und die Asche in den Hof hinuntertragen.«
Das kannte sie. Schon in Opas Haus hatte sie diese Aufgabe übernommen.
Tante Helene räumte den Tisch ab und bat Lissi, ihr beim Abwasch zu helfen. Liebevoll strich sie ihr über den Kopf. »Alles wird gut, du wirst sehen. Wir schauen nur nach vorne, nicht mehr zurück. Was vergangen ist, ist vorbei.«
Später nahm sie Maß, denn Lissi brauchte dringend Kleidung. Es existierte nur das wenige, was sich in ihrem roten Koffer fand. »Stell dich mal gerade hin«, sagte ihre Tante, zückte ihr Maßband und notierte lauter Längen, Breiten und Umfänge auf einem Zettel.
»Was für Kleider bekomme ich denn?«, fragte Lissi.
»Leibchen, eine Schürze, Rock und Bluse. Erst einmal beantrage ich schnellstens eine neue Kleiderkarte für dich, Kindchen, du hast ja praktisch nichts mehr am Leib.«
Lissi war enttäuscht.
Tante Helene lächelte. »Du hattest auf ein schönes Kleid gehofft, wie? Na, wird schon werden, aber dazu brauche ich erst einmal Material, und auch das bekommen wir über die Karte.« Sie unterbrach sich. »Wenn es denn Stoffe gibt.«
In den folgenden zwei Tagen ertönte immer wieder der Alarm, und sie hörten die Flugabwehrkanone, kurz Flak genannt, feuern. Alle Bewohner des Hauses hatten sich im Keller dauerhaft eingerichtet. Es wurde eng dort unten mit vierzig Leuten. Nachts bekam Lissi kein Auge zu, sie erwartete stündlich das nächste Sirenengeheul. Wenn sie in den Keller hinunterstolperten, umklammerte sie ein weiteres Mal ihren roten Koffer und schmiegte sich eng an Tante Helene und Ursula. Bei jeder Entwarnung hörte man ein Aufatmen durch die Reihen. Einmal mehr waren sie davongekommen.
Finkes behielten auf der Etage die ehemalige Stube, das größere der beiden Zimmer, und rückten zusammen, denn in das andere zogen die Eheleute Huppert. Von ihrer alten Wohnung war beim letzten Angriff nurmehr ein Staubkorn übrig geblieben, hatten sie mit erstickten Stimmen erzählt. Von den neuen Nachbarn bekam man alles mit, denn er war schwerhörig. Seine Frau weinte ständig um den einzigen Sohn Otto, der sechzehnjährig mit dem dritten Aufgebot des Volkssturms in seinen Tod gezogen war. Mit verquollenen Augen rührte sie in einem Topf mit Brei, den sie ihrem Mann vorsetzte, sie selbst aß nichts. Tante Helene strich ihr tröstend über den Rücken.
Eines Nachmittags spielten alle Kinder aus dem Haus im Keller, und Lissi ging die Stufen hoch, um das WC aufzusuchen, da erkannte sie die Stimme ihrer Tante. Im Treppenhaus sprach sie mit der Nachbarin. Mucksmäuschenstill blieb Lissi auf der Treppe stehen und trat näher ans Geländer heran, um besser zu verstehen, was gesprochen wurde.
»… wenn nicht sofort Helfer gekommen wären, hätte man wohl niemanden mehr retten können. Sie hatte einen Schutzengel, wahrhaftig!«
»Das arme Mädchen«, hörte sie die Nachbarin sagen, die Frau Meckenstock hieß und schon seit dem ersten Krieg Witwe war.
»Es ist tragisch, meine Schwägerin und Lissis Großvater haben es nicht überlebt. In der Straße wurden sieben weitere Häuser dem Erdboden gleichgemacht, stellen Sie sich das vor«, fuhr ihre Tante fort.
Die andere senkte die Stimme: »Gott behüte. Dabei ist der Krieg so gut wie verloren, das munkelt die ganze Nachbarschaft hinter vorgehaltener Hand, wann hören die endlich auf mit dem Bombardieren?«
»Unter uns, das frage ich mich auch. Die Amerikaner marschieren doch schon überall ein«, sagte die Tante ebenfalls leiser. »In Köln sind sie schon. Die werden bald hier sein.«
Frau Meckenstock schnalzte mit der Zunge. »Man weiß nur nicht, ob man sich freuen oder ängstigen soll. Wenn mein seliger Rudolf das miterlebt hätte.«
»Wir warten mal in Ruhe ab«, sagte Tante Helene, da ertönte von unten Getrappel, und die Kinder sprangen die Treppenstufen hinauf.
Wie betäubt stieg Lissi die restlichen Stufen hoch und schloss sich im stillen Örtchen auf halber Etage ein. Sie kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an, doch sie ließen sich nicht aufhalten und rannen ihr über die Wangen. Wir schauen nur nach vorne, nicht zurück.
Niemand hatte mit Lissi über den schrecklichen Tag gesprochen, aber sie hatte geahnt, was passiert war, nachdem die Bomben auf das Haus ihres Großvaters niedergesaust waren. Sie waren alle drei verschüttet worden, und nur sie hatte man lebendig aus den Trümmern gerettet. Lissi war in einem fremden Bett aufgewacht, ein Arzt war gekommen. Die Nachbarn sprachen leise mit ihr. Sie erinnerte sich nicht, was geschehen war.
Am nächsten Tag wurde sie von Tante Helene abgeholt und sah es mit eigenen Augen. An der Stelle, an der Opas Haus gestanden hatte, lag ein Haufen loser Steine, Schutt und Asche. Mittendrin schwelten tiefschwarze Balken. Hitze und beißender Rauch lagen über dem, was kurz zuvor noch ihr friedliches Heim gewesen war. Auf der Straße lagen lauter Gegenstände, als hätte sie jemand achtlos weggeworfen.
Wie durch einen staubigen Schleier erkannte sie den Garten, und dort stand unversehrt der alte Apfelbaum. In seinen Zweigen hingen Kleidungsstücke und Stofffetzen. Wie die Segel des Schiffes in ihrer Fantasie. Tante Helene sprach mit den Nachbarn und dem Fahrer des Lastwagens, und Lissi lief derweil ein paar Schritte die Straße entlang. Neben einem verkohlten Lampenschirm und einer zerbrochenen Tasse hatte ein Puppenkopf gelegen, die strohblonden Zöpfe waren verbrannt. Und doch hatte sie das kleine starre Gesicht erkannt. Ohne jeden Zweifel war es Annegret gewesen, Ingrids Puppe.
Lissi schüttelte die Erinnerung ab. Wie betäubt saß sie auf dem schwarzen Klosettdeckel. Sie erledigte, was sie hier vorgehabt hatte. Zog die Kette, trat an den Spülstein, wusch mit eiskaltem Wasser ihr Gesicht und rieb sich die brennenden Augen. Die Kälte brachte sie zur Besinnung.
Draußen jaulte die Sirene auf, Lissi zuckte zusammen. Der Lärm schien durch jede Mauerritze zu dringen. Unmittelbar darauf polterten Schritte durch das Treppenhaus. Sie entriegelte die Tür, und mit hängenden Schultern stieg sie wieder in den Keller hinunter.
Die Versorgung wurde immer schwieriger. Tante Helene bunkerte Lebensmittel für das Osterfest. Mit der Fastenzeit bis Ostern nahm sie es genau. Lissi hatte sie dabei beobachtet, wie sie die wenigen Vorräte auf dem Kleiderschrank im Schlafzimmer versteckt hatte. Das vorösterliche Fasten einzuhalten, war nicht schwer, denn die Geschäfte bekamen kaum noch Ware. Transportmittel und Zufahrtswege in die Städte waren blockiert oder zerstört. Tante Helene und die Kinder klapperten in den frühen Morgenstunden die Umgebung nach Lebensmitteln ab. Die Schule fiel weiterhin aus. Für Lissi waren diese Wochen seltsam unwirklich, die neue Wohnsituation, die vielen anderen Menschen um sie herum. Dazu die ständige Angst vor den Bomben. Die Nerven aller waren zum Zerreißen gespannt.
Die Zuteilung von Kleidung über die Reichskleiderkarte ließ auf sich warten, überall schien es Engpässe zu geben. Tante Helene hatte Tauschgeschäfte mit Nachbarinnen arrangiert, so war sie an Stoffstücke gekommen. Sie lieh sich von Frau Meckenstock eine alte Nähmaschine mit Tischchen und setzte sich an zwei Sommerkleider, eine Schürze und Wäsche für ihre Nichte.
Endlich wurde es wärmer, und mit dem April kamen die Osterfeiertage. Ihre Freundin Ingrid hatte sich so auf den Osterhasen gefreut. Es gab Lissi einen Stich. In dem roten Köfferchen hatte sie ihr Lieblingsbuch aus unbeschwerten Kindertagen gerettet. Sie setzte sich mit Ursula an den Küchentisch und las ihr aus der Häschenschule vor. Die bunten Bilder, die Hasen mit Taschentüchern aus Kohlblättern. Ein Stück Heimat, gedruckt auf Papier.
»Heute machen wir das Beste aus dem, was wir eben haben«, sagte Tante Helene am Ostermorgen und buk Reibekuchen aus Kartoffelschalen. Das Brot wurde zugeteilt, zwei Scheiben pro Tag für jeden. Eier gab es keine. Sie klapperten alle Läden ab, aber es war nicht zu ändern.
»Das sind die Kartoffeln fürs Festessen später«, erklärte Tante Helene. Sie ließ sie einige Minuten auf dem Herd kochen und schleppte den dampfenden Kochtopf ins Schlafzimmer hinüber, steckte ihn unter ihre Bettdecke und legte ein Daunenkissen obendrauf. »Hier garen sie in aller Ruhe, bis sie weich sind, das spart Kohlen.«
So gab es am Abend Kartoffeln mit Fisch, den Lissi nicht sonderlich mochte. Wie vermisste sie das weiße Häuschen mit dem Apfelbaum. Vater, Mutter und den Großvater. Ob sie im Himmel waren? Sie hoffte es.
Am 16. April marschierten die Amerikaner in Wuppertal ein. Tageszeitungen gab es keine mehr, die waren verboten, aber die Nachbarschaft war trotzdem bestens informiert. Sie seien schon in der Südstadt, hieß es, niemand wagte sich auf die Straße. Artilleriefeuer war hin und wieder zu hören. Stumm und blass harrten alle in den Kellern und Bunkern aus und hofften, dass es bald vorbei sein würde. Womöglich ein Ende mit Schrecken, aber ein Ende.
Tante Helene schnappte sich einen weißen Bettbezug und hängte ihn von außen gut sichtbar aus dem Fenster. Das war bei Todesstrafe verboten. Und doch flatterten überall an den Fassaden der Häuserzeile weiße Tücher. Es sah aus, als ob alle die große Wäsche hätten. Lissi bewunderte die Tante für ihren Mut.
»Wozu ist das, Mutti?«, fragte Ursula.
»Das heißt, wir ergeben uns.«
Die Wuppertaler müssten bis auf den letzten Mann ihre Stadt verteidigen, hieß es, doch die deutschen Truppen waren längst auf dem Rückzug. Am Nachmittag fuhr ein Jeep durch die Straße. Zwei Soldaten in fremden ockerfarbenen Uniformen saßen darin. Sie trugen Helme und Sturmgewehre. Paul erfuhr von seinem Freund Max mehr über die Amerikaner.
»Stellt euch bloß vor, den Kindern haben sie Schokolade und Kaugummis von ihren Panzern aus zugeworfen.«
»Papperlapapp.« Tante Helene verschränkte die dürren Arme.
»Doch, das stimmt, er hat es selbst gesehen«, beharrte Paul.
»Jetzt warten wir erst einmal ab«, sagte sie und rannte im Stechschritt zu Frau Meckenstock hinauf, um nachzufragen, was sie mitbekommen hatte.
»Die kommen in die Häuser und durchsuchen alles«, hörten die Kinder die Nachbarin im Treppenhaus sagen.
Tante Helene betete ständig in diesen Tagen, und offenbar schien es zu wirken, denn die Amerikaner kamen kein einziges Mal. Paul setzte derweil alle Hebel in Bewegung, um schnellstmöglich Englisch zu lernen.
Am 1. Mai verbreitete sich die Nachricht vom Tod des Führers wie ein Lauffeuer.
»Nun zweifelt wohl niemand mehr an der Kapitulation«, sagte Tante Helene. »Hat sich was mit Endsieg.« Sie schickte ein Dankesgebet in den Himmel und tanzte mit den Kindern durch die Küche. Am Abend riss sie die Verdunklungsrollos herunter und erklärte: »Meine Lieben, ab sofort müssen wir nachts nicht mehr in Kleidern schlafen.«
Die Tage darauf blieb es in der Tat still. Paul brachte von einem Ausflug ein chewing gum mit nach Hause, das er von einem dunkelhäutigen Amerikaner geschenkt bekommen hatte. Lissi schnupperte am Papier, es duftete frisch und minzig. Sie teilten ihn genau durch drei. Die ungewohnte Süße explodierte förmlich in ihrem Mund.
Eine Woche später war der Krieg vorbei. Sie durften die Wohnung nur stundenweise verlassen, und fließendes Wasser aus der Leitung gab es nicht. Sie feierten dennoch mit trockenem Brot und Muckefuck.
Mai 1979
Der Kiesweg des Friedhofs knirschte unter zahlreichen Füßen. In kleinen Gruppen entfernten sie sich von der Grabstätte.
Wir schauen nur nach vorne, nicht zurück. Tante Helenes Devise hatte sich in ihrer Kindheit bewährt, um dem ersten Schmerz zu entkommen. Jetzt war es anders, alles erinnerte sie an Johann. Es war unmöglich, das Leben mit ihm hinter sich zu lassen und neu anzufangen.
Lissi hatte am Grab keine Tränen mehr, war müde und erstarrt. Sie würde die hölzerne Kiste sicher bis zu ihrem Lebensende in Gedanken vor sich sehen, obenauf ein Gebinde aus weißen Lilien und roten Rosen. Ihre Tante und Miriam hatten sie je links und rechts untergehakt. Es war nicht klar, wer hier wen stützte. Aber Helene brauchte seit ihrer Hüftoperation einen Gehstock. Ihre Tochter hatte die ganze Zeit über Lissis Hand gehalten.
»So schöne Worte hat er gefunden, findest du nicht, Kindchen?«, fragte ihre Tante und holte sie damit aus ihren Gedanken.
Lissi gab einen zustimmenden Laut von sich. Mit Miriam und Pastor Lorenz war sie vorher alles durchgegangen, was er sich für die Trauerrede überlegt hatte. Das heißt, genau genommen hatte bei dem Termin nur er die ganze Zeit über gesprochen, zu all seinen Vorschlägen hatten sie beide nur genickt.
»Der Blumenschmuck war eine wahre Pracht«, fuhr die Tante fort. Miriam murmelte etwas und Lissi antwortete einsilbig. Feiner Nieselregen setzte ein. Wie passend. Eine Beerdigung ohne Regen wäre womöglich gar nicht von oben abgesegnet. Schirme wurden aufgespannt, wer keinen hatte, lief schneller, um die Föhnfrisur oder Seidenbluse ins Trockene zu bringen. In der schwarz gekleideten Kolonne der Trauergäste gab es viele bekannte Gesichter. Sie bewegten sich zügig in Richtung Gaststätte, durch das Friedhofstor und auf die andere Straßenseite. Autos und Fahrräder eilten an ihnen vorbei. Lauter Alltägliches um sie herum, als wäre Lissis Welt nicht aus allen Fugen geraten.
Sie betraten den holzgetäfelten Raum. Der Kaffeeduft war tröstlich. Die Gastwirtin kondolierte und bat mit einladender Geste an die Tische. Ihre Miene war professionell mitfühlend. Auf silbernen Platten mit Tortenspitze lagen Kuchenstücke und belegte Brötchenhälften bereit. Die gedrückte Stimmung der letzten zwei Stunden verschwand, man unterhielt sich gedämpft und langte zu.
Mit Miriam und Lissi sprach man mit sanften Stimmen, als könne dies die Tragik der Umstände mildern. Erst hier zwischen all den teilnahmsvollen Gesichtern wurde ihr bewusst, sie war eine Witwe. Das Wort klang schrecklich.
Einzelne Gerbera in Blassrosa steckten in schmalen Porzellanvasen auf den Tischen. Blass wie die Gäste, denn wem stand schon Schwarz?
Lissi nahm ein Käsebrötchen und teilte sich mit Miriam ein Stück Kuchen. Sie knabberten kurz daran herum und ließen die Reste liegen. Die Tasse Kaffee dagegen wirkte wie ein Lebenselixier. Es erschien ihr, als hätte sie sich seit Tagen nur von aufgebrühten Kaffeebohnen ernährt.
Ihre Freundin Anna unterhielt sich mit Miriam und strich ihr dabei tröstend über die Schulter. Tante Helene mit ihrer pragmatischen Art hielt sich stets würdevoll, das war ihr Naturell. Um sie herum größte Not, aber sie blieb der Fels in der Brandung. Ihre weißen Haare trug sie kinnlang, sorgfältig in Wellen gelegt. Die feinen Gesichtszüge und die schlanke Statur hatte sie sich bewahrt.
Ursula trat an den Tisch und setzte sich neben Lissi. »Es tut mir so leid. Wie werdet ihr denn zurechtkommen? Benötigt ihr etwas? Michael kümmert sich um die Kinder, dann helfe ich euch.«
»Lieb von dir, Urselchen, aber die weite Fahrt zu uns möchte ich dir nicht zumuten.« Sie umarmten sich.
Paul kam dazu und schüttelte Lissis Hand. »Mein Beileid. Evi lässt herzlich grüßen, sie ist mit dem Kleinen in Köln geblieben. Beerdigungen mit Baby im Schlepptau sind doch etwas anstrengend.«
»Danke. Natürlich, das verstehe ich.«
Evi war seine zweite Frau und deutlich jünger als er. Im letzten August hatten sie ein Baby bekommen. Evis erstes, Pauls drittes. Mit Johann hatte Lissi die Taufe besucht. Welch heile Welt damals.
Tante Helene unterhielt sich angeregt mit einer alten Nachbarin vom Nebentisch. Sie kicherten leise. »Wissen Sie noch, Frau Dreyer, als wir direkt nach Kriegsende kein fließendes Wasser mehr hatten? War das ein Geschleppe, immer den Berg rauf.«
Die nickte heftig und schnaufte kurz wie zum Beweis. »Schlimme Zeiten, aber man hat mehr zusammengehalten, nicht wahr, Frau Wilke?«
»Oh ja, jeder kannte jeden, das war nicht so anonym wie heutzutage«, stimmte die Tante zu.
Frau Dreyer seufzte und ließ die Schultern hängen, dabei hatte sie zu allen Nachbarn im Haus regen Kontakt. »Und unsere Kinder waren damals noch klein, ach ja, an den Kindern merkt man, dass man älter wird.« Sie trank einen Schluck Kaffee und fuhr fort: »Wissen Sie noch, als sie einmal wie die Dreckspatzen heimkamen? Oh, was habe ich geschimpft, ich hatte gerade zuvor die große Wäsche erledigt. Mein Ewald hat so was sonst nie gemacht.«
Lissi schielte zu ihrem Vetter hinüber. Die liebe Frau Dreyer hatte ja keine Ahnung, wie faustdick ihr Söhnchen es hinter seinen Segelohren gehabt hatte.
Paul sah betreten auf die Papierserviette, die er zwischen den Händen drehte und knetete. Sie hatten sich damals geschworen, den Erwachsenen nichts zu erzählen. Und daran hielten sie sich, selbst nach über dreißig Jahren.
Am Nachmittag hatten sie es hinter sich gebracht. Paul fuhr die ganze Familie in seinem Mercedes zum Ölberg hinauf.
Tante Helene mühte sich mit ihrem Gehstock die unzähligen Stufen bis in den zweiten Stock. Früher war sie so flink treppauf und treppab gelaufen. Ursula und Miriam stützten sie. Paul hielt etwas unbeholfen die Handtasche seiner Mutter und trottete hinterher.
»Ihr kommt doch nachher mit zum Essen?« Lissi sah in die Runde. Zustimmendes Nicken und Murmeln. Alle ließen sich ächzend auf Sofa und Sesseln nieder. »Möchtet ihr Kaffee?«, fragte sie weiter.
»Ach Kindchen«, erwiderte Helene, »ich habe schon jetzt so viel Bohnenkaffee intus, ich werde heute Nacht kein Auge zutun. Aber man ist heutzutage ja verwöhnt, früher waren wir froh, wenn wir wenigstens Muckefuck hatten.«
»Was ist denn das?«, wollte Miriam wissen.
»So ein Ersatzkaffee. Aus irgendwelchen Pflanzenteilen oder Getreideresten. Schmeckte furchtbar.« Die Tante verdrehte die Augen. Dann erzählte sie Anekdoten von ihren Altenteilen, wie sie die drei Mitbewohner ihrer Wohngemeinschaft scherzhaft nannte. »Jeder Tag ein neuer Kampf, irgendwer hat immer ein Leiden. Ein Reißen im Rücken, ein Stechen im Knie oder ein Ziehen, was weiß ich wo. Wir schließen jeden Abend Wetten ab, wen es am nächsten Tag trifft.« Tante Helene schaffte es, binnen Sekunden die Stimmung zu heben.
Lissi zog sich in die Küche zurück und kochte Tee. Zwölf Jahre war es her, seit sie die Altbauwohnung von ihrer Tante übernommen hatte. Paul und Ursula wohnten damals mit ihren Partnern in anderen Städten und hatten kein Interesse gezeigt.
Für mich alleine lohnt das nicht, und dann im zweiten Stock, Kind, ihr habt jüngere Beine!, waren Helenes Worte gewesen. Lissi und Johann hatten die Räume renoviert, und das alte Wohnhaus auf dem Ölberg wurde wieder das einst so vertraute Zuhause ihrer Jugend.
Sie hob den Wasserkessel an, um den Tee aufzugießen, und ihr Blick fiel auf ihren Ehering. Seit dem Tag des Unfalls verlor sie regelmäßig die Fassung, sobald sie ihn ansah. Am Tag also Hunderte Male. Sie beschloss, ihn in die Kommode im Schlafzimmer zu legen und ab sofort nicht mehr zu tragen.
Am frühen Abend betraten sie zu fünft das chinesische Lokal am Döppersberg. Nur Anna fehlte. Lissi hätte auf das Essen gern verzichtet, Hunger hatte sie ohnehin keinen. Andererseits war es tröstend, die Familie um sich zu haben.
Der Besitzer mit seinem schütteren Haar begrüßte alle herzlich, nahm Lissis Hände kurz in seine und nickte ihr mit gutmütigem Blick zu. Eine mitfühlende Geste ohne viele Worte. Man kannte sich. Mit seiner zierlichen Statur in schwarzer Hose und Weste mit weißem Hemd schritt er voraus und wies ihnen einen runden Tisch in einer Ecke zu.
Vor zwei Tagen hatte sie vorbeigesehen. Volles Lokal, wenig Zeit. Sie hatte knapp und stockend von Johanns Tod berichtet und für heute reserviert.
Stühle rückten, alle setzten sich und studierten die Speisekarten. Wann hatten sie zuletzt hier gesessen? Im März oder April nach einem Stadtbummel? Geistesabwesend strich Lissi mit den Fingern über das dicke weiße Tischtuch. Die Gespräche um sie herum liefen schleppend an. Ursula erzählte von Mann und Kindern, Paul von seinem Kleinen. Miriam sah mit trübem Blick vor sich hin. Es war schmerzlich, sie so traurig zu sehen.
Lissi ergriff zögernd das Wort: »Ihr Lieben, ich danke euch für den Beistand, ich bin froh, dass ihr alle hier seid.« Sie hielt kurz inne. »Also fast alle.« Sie sah sich um, wo blieb Anna nur?
Tante Helene tastete nach Lissis Hand und drückte sie aufmunternd. »Das wird schon wieder, Kind. Die Zeit heilt die Wunden zwar nicht vollständig, aber sie verblassen zum Glück irgendwann.«
Verblasst waren alte Wunden, das stimmte. Und die Erinnerungen, sie wurden unscharf und dunkler, verschwanden schleichend aus dem Gedächtnis. Ob es ihr mit Johann ebenso erging? Nein, sicher nicht. Wie falsch es sich anfühlte, hier ohne ihn zu sitzen, sie sah ihn genau vor sich. Er hatte immer dasselbe zu dem pappigen Reis bestellt. Rindfleisch mit Zwiebeln.
In diesem Moment betrat Anna das Lokal, orientierte sich kurz und steuerte auf den Tisch zu. »Entschuldigt, ich kam nicht früher weg. Kind Nummer drei ist krank, irgendwas mit dem Magen.« Sie grüßte in die Runde, setzte sich auf den letzten freien Platz neben Paul und überflog die Karte.
»Was hat Frederick denn?«, fragte Lissi. So hieß Kind Nummer drei, benannt nach der grauen Feldmaus in dem Bilderbuch.
»Sicher nur was Falsches gegessen.« Anna verdrehte die Augen und winkte ab. Die Getränke wurden gebracht. Eine zierliche Bedienung hielt den Notizblock bereit, um die Bestellungen zu notieren.
Miriam beugte sich zu ihrer Mutter und fragte leise: »Wollen wir uns ein Gericht teilen?«
»Gern«, antwortete Lissi mit gesenkter Stimme, »ich hoffe nur, ich bekomme überhaupt einen Bissen hinunter.« Nie wieder könnte sie Rindfleisch mit Zwiebeln essen. Sie entschieden sich für Ente süßsauer, das hatten sie bisher nie bestellt.
Zum Glück näherte sich dieser Tag dem Ende. Und doch hatte der gemeinsame Restaurantbesuch eine heilsame Wirkung auf Lissi, sie entspannte sich zunehmend. Die geliebten Menschen, die ihr geblieben waren, gaben ihr den Mut, die nächste Zeit durchzustehen.
Daheim wartete anklagend das Sofa. Im Schlafzimmer zu übernachten, war nach wie vor unmöglich. Nur ihr Bettzeug hatte sie mit hinübergenommen. Auf den abendlichen Rotwein verzichtete sie heute. Schluss mit Alkohol.
»Mama, wie lange willst du noch auf dem unbequemen Sofa schlafen?«, fragte Miriam.
»Ich bekomme im Schlafzimmer keine Luft«, behauptete Lissi und schlüpfte unter die Decke.
»Dann mach halt das Fenster auf, du machst dir den Rücken kaputt. Na ja, musst du wissen, Nachti.« Miriam verschwand im Flur.
»Nachti, mein Schatz.« Vertrautes Abendritual, über die Jahre hinweg eingekürzt. Früher hatte Lissi mit ihrer Tochter abends ein Bilderbuch gelesen. Ein Schluck Fencheltee und ein Gutenachtkuss. Die Tür zum lichtdurchfluteten Flur stets einen Spalt geöffnet, um jeden Zentimeter wurde gefeilscht wie auf einem Basar. Nur ein Stückchen noch, Mama!
Wie schnell war ihre Kleine erwachsen geworden. Aber zu jung für ein Leben ohne Vater. Ihr Abitur stand bevor, und jetzt gab es keinen Johann mehr, der Miriam beim Pauken half. Stets hatte er sie unterstützt. Ob Blockflötenunterricht, Eislauf oder Ballettunterricht in der Stadthalle auf dem Johannisberg, alles hatte ihre Tochter nur kurz begeistert. Doch er hatte gemeint, dies gehöre zum Erwachsenwerden dazu. Er hatte darin die Chance gesehen, Miriams wahre Begabungen herauszufinden.
Lissi fragte sich, ob sie womöglich eifersüchtig gewesen war. Sie selbst konnte sich kaum an ihren Vater erinnern. Sie hatte Johann und Miriam um die Zeit zusammen beneidet, das gab sie zu. Sie war außen vor geblieben wie das fünfte Rad am Wagen, hatte die geflügelten Worte nicht verstanden, die sich beide gegenseitig wie beim Pingpong zugespielt hatten. Wie eine Geheimsprache, die Lissi nie gelernt hatte.
Sie rückte sich zurecht, schüttelte das Unbehagen der letzten Gedanken ab. Das Sofa gab nur wenig nach. Sie nahm das Buch in die Hand, das neben ihr auf dem Couchtisch lag, und blätterte darin. Beim Lesen war sie stets schnell eingeschlafen, sanft von der Geschichte in einen Traum hinübergeglitten. Doch jetzt tanzten die Buchstaben vor ihren Augen. Sie las die Sätze erneut, verstand keinen. Ständig kamen neue Gedanken und alte Erinnerungen in ihr hoch und schoben sich vor die gedruckten Zeilen. Die letzten und die kommenden Tage wie im Buch überblättern, wäre das nur möglich. Zu einem späteren Zeitpunkt wieder einsteigen, wenn der Schmerz ein wenig abgeklungen war.
Die Trauer hatte Lissi in meterhohen Wellen und eiskalt erwischt, ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Schon damals als Kind, sie hatte es nur verdrängt. Morgen würde sie Johanns Bettzeug wegräumen und wieder in ihrem Bett schlafen, das nahm sie sich fest vor. Spät in der Nacht hörten die Grübeleien endlich auf, und sie schlief ein.
Am nächsten Tag hatte Lissi Rückenschmerzen. Das Sofa war eben keine Matratze und sie nicht mehr zwanzig, sondern fast siebenundvierzig. Übermorgen. Aber sie würde ihren Geburtstag ausblenden, es gab nichts zu feiern.
»Ich hab es dir ja gesagt«, meinte Miriam knapp und löffelte dabei einen Joghurt. »Brauchst du Hilfe?«
Lissi schüttelte wortlos den Kopf, fasste sich endlich ein Herz, raffte ihr Bettzeug vom Sofa auf und trug es zurück ins Schlafzimmer. Entschlossen zog sie alle Bezüge ab und stopfte sie in die Wäsche. Jedes aufsteigende Gefühl schluckte sie fort, nur jetzt nicht nachdenken. Sie zerrte die kleine Trittleiter aus einer Nische hervor. Polternd klappte sie auseinander, Lissi stieg hinauf, hievte Johanns Bettdecke und sein Kissen in das oberste Fach des Wandschrankes. Schob das weiße dicke Bündel bis nach hinten. Weit weg, als könne sie damit die Erinnerungen von sich fortschieben. Sie stieg wieder herunter, riss das Schlafzimmerfenster auf, schloss die Augen und atmete tief ein wie ein Ertrinkender, der an die Wasseroberfläche gelangt. Im Hof flatterten ein paar Kleidungsstücke auf einer Leine im Wind, der Duft von Waschmittel wehte zu ihr empor. Aus den Fenstern der Hinterhausfassaden hallten Stimmen. Die Tauben gurrten von den Dächern, und eine tiefe Ruhe überkam sie. Sie blinzelte ins Licht, ein Motorrad heulte in einer Nebenstraße auf. Sie empfand kurz einen Funken Freude über den sonnigen Tag, doch unvermittelt stieg ein Gefühl von Verrat in ihr auf.
Dezember 1945
Man nehme drei Eier«, las Ursula stockend aus Tante Helenes altem Kochbuch vor.
Lissis Magen meldete sich. Wie sollte man etwas nehmen, wenn man nichts hatte? Sie saßen zu dritt am Küchentisch. Die Kinder besuchten wieder die Schule. Ein Stück Normalität kehrte zurück. Paul beugte sich über seine Hausaufgaben und schrieb vor sich hin. Die losen Blätter waren einseitig bedruckt, man musste auf die leere Rückseite schreiben, denn es gab zu wenig Papier. Die meisten der Schulbücher waren jetzt verboten.
Ursula versuchte sich weiter an den Wörtern im Kochbuch. »Man schlage die Butter mit feinstem Zucker auf und …«, las sie, schlug das Buch zu und seufzte. »Ich mag nichts vom Essen lesen, ich bekomme immer mehr Hunger. Ich würde lieber mit der Häschenschule üben.«
Lissi strich ihr über den Kopf. »Die kannst du mittlerweile auswendig, das zählt nicht. Außerdem ist bald Weihnachten, nicht Ostern.« Ihre Schularbeiten hatte sie erledigt und häkelte an einer Mütze und Handschuhen. Der Wollfaden war störrisch und wellig. Paul hatte in den Ruinen des Theaters am Wall alte Kinderschuhe gegen ein Stück Butter und einen weiten Pullunder eingetauscht. Diesen hatte Lissi kurzerhand aufgeribbelt und die losen Fäden zusammengeknotet. Geglättet und aufgewickelt ließ sich die Wolle erneut verarbeiten.
Paul stand auf und sagte: »So, fertig! Ich treffe mich mit Max.« Er packte die wenigen Schulsachen in seinen Lederranzen.
»Warte mal.« Lissi erhob sich, öffnete die Schublade vom Küchenschrank und schnitt Lebensmittelmarken für Brot ab. Sie sahen ähnlich aus wie vor Kriegsende, nur der Reichsadler mit dem Hakenkreuz fehlte. »Hier, nimm die mit und pass bloß gut drauf auf.«
»Ich weiß«, sagte Paul in genervtem Tonfall, steckte sie in seine Jackentasche und war schon aus der Tür.
Ursula zog auf ihrer Schiefertafel Kringel und Schleifen und bekam vor Anstrengung rote Ohren. Sie übte die Schreibschrift. Lissi sah sich selbst vor Jahren an einem ähnlichen Küchentisch. Sie musste im gleichen Alter gewesen sein. Damals in der Wohnung in Vohwinkel, bevor sie zum Großvater in das Häuschen gezogen waren. Ihre Mutter war wie eine emsige Biene um den Tisch gelaufen. Summend hatte sie in den Töpfen auf den Herdplatten gerührt und Lissi über die Schulter geguckt. Mit dem Zeigefinger mahnend auf die Tafel getippt, wenn sie einen Fehler entdeckt hatte. Die Schiefertafel war zusammen mit der Häschenschule in ihrem roten Koffer gewesen, doch sie hatte den Weg nicht überlebt, war in grauen Scherben herausgefallen. Den Holzrahmen hatten sie verheizt.
»Du?«, fragte Ursula in ihre Gedanken.
»Ja?«
»Kannst du mir ein H vormalen?«
»Malen nicht, aber schreiben.«