Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß - Hiromi Kawakami - E-Book

Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß E-Book

Hiromi Kawakami

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Beschreibung

Eine selbstbewusste Frau, ein alter, weiser Mann, reichlich Sake, etwas Walfischspeck und immer wieder Lotuswurzel - Zutaten dieser stillen, faszinierend fremden Liebesgeschichte aus Japan. Tsukiko ist achtunddreißig und lebt allein. Zur Liebe, glaubt sie, sei sie nicht begabt. Da trifft sie in einer Kneipe ihren alten Japanisch-Lehrer wieder, den sie nur den Sensei nennt. Auch er lebt allein, in einer etwas verwahrlosten Wohnung, wo er merkwürdige Gegenstände sammelt. Einer sucht die Nähe des anderen und scheint gleichzeitig vor ihr zu fliehen. Selten wurde die Annäherung zweier Menschen so subtil und zugleich eindringlich beschrieben.

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Über das Buch

Eine selbstbewusste Frau, ein alter, weiser Mann, reichlich Sake, etwas Walfischspeck und immer wieder Lotuswurzel - Zutaten dieser stillen, faszinierend fremden Liebesgeschichte aus Japan. Tsukiko ist achtunddreißig und lebt allein. Zur Liebe, glaubt sie, sei sie nicht begabt. Da trifft sie in einer Kneipe ihren alten Japanisch-Lehrer wieder, den sie nur den Sensei nennt. Auch er lebt allein, in einer etwas verwahrlosten Wohnung, wo er merkwürdige Gegenstände sammelt. Einer sucht die Nähe des anderen und scheint gleichzeitig vor ihr zu fliehen. Selten wurde die Annäherung zweier Menschen so subtil und zugleich eindringlich beschrieben.

Hiromi Kawakami

Der Himmel ist blau,

die Erde ist weiß

Eine Liebesgeschichte

Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Batterien im Mondschein

Zwei Küken

Zweiundzwanzig Sterne

Der Pilzausflug Erster Teil

Der Pilzausflug Zweiter Teil

Neujahr

Wandernde Seelen

Kirschblütenfest Erster Teil

Kirschblütenfest Zweiter Teil

Lucky Chance

Monsungewitter

Auf der Insel Erster Teil

Auf der Insel Zweiter Teil

Das Watt (ein Traum)

Die Grille

Im Park

Die Mappe

Glossar

Batterien im Mondschein

Offiziell müsste ich meinen alten Lehrer bei seinem vollen Namen nennen: Harutsuna Matsumoto-Sensei — Herr Lehrer Harutsuna Matsumoto —, aber für mich bleibt er einfach der »Sensei«. Statt einer Berufsbezeichnung oder Anrede ist dieses Wort für mich zu einer Art Eigennamen geworden.

Ich hatte an der Oberschule Japanisch bei ihm, aber da er nicht mein Klassenlehrer war und ich mich nicht gerade überragend für sein Fach interessierte, hatte er keinen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Nachdem ich mit der Schule fertig war, sah ich ihn lange überhaupt nicht mehr.

Vor ein paar Jahren bin ich ihm dann zufällig in einer Kneipe am Bahnhof begegnet; seither trafen wir uns hin und wieder.

Angefangen hatte es so: Er saß kerzengerade an der Theke, ich setzte mich neben ihn. »Eine Portion Thunfisch mit fermentierten Sojabohnen, einmal gebratene Lotuswurzel in süßer Sojasoße und eingelegte Perlzwiebeln dazu, bitte!« rief ich dem Wirt zu. Der ältere Mann neben mir bestellte nahezu gleichzeitig eben diese Gerichte.

Erstaunt über die Übereinstimmung zwischen mir und diesem Opa sah ich ihn mir genauer an. Auch er musterte mich. Sein Gesicht kam mir irgendwie bekannt vor.

»Sie sind doch Tsukiko Ōmachi?« sprach er mich an.

Als ich etwas verdutzt nickte, fügte er hinzu:

»Ich habe Sie schon öfter hier gesehen.«

»Aha«, antwortete ich unverbindlich und starrte ihn weiter an.

Er trug ein gebügeltes Oberhemd und eine graue Weste. Das weiße Haar hatte er ordentlich zurückgekämmt. Vor ihm auf der Theke standen ein Fläschchen Sake, ein kleiner Teller mit einer Scheibe Walfischspeck und ein Schälchen mit einem Rest Seetang in Vinaigrette. Während ich mich noch wunderte, dass der alte Mann einen so ähnlichen Geschmack für Häppchen hatte wie ich, dämmerte es mir: Der Mann hatte einst vor meiner Klasse in der Oberschule gestanden. Er war mein alter Sensei. Jetzt sah ich ihn genau vor mir, wie er, in der einen Hand den Schwamm und in der anderen die Kreide, klassische Zitate wie Im Frühling ist mir die Morgendämmerung das liebste … an die Tafel schrieb, um die Zeile fünf Minuten später wieder auszuwischen. Den Schwamm legte er nie aus der Hand, nicht einmal, wenn er mit dem Rücken zur Tafel stand und den Schülern etwas erklärte. Man hatte fast den Eindruck, der Halteriemen des Schwamms sei mit seinem Handrücken verwachsen.

»Also, dass Sie als Frau ohne Begleitung in eine solche Kneipe gehen.« Er nahm mit seinen Stäbchen das letzte Scheibchen Walfischspeck auf, tunkte es in die Essig-Miso-Soße und führte es anschließend elegant zum Mund.

»Na ja«, antwortete ich und goss mir mein Bier ein. Immerhin wusste ich jetzt, dass er ein Lehrer von mir gewesen war, selbst wenn mir sein Name partout nicht einfallen wollte. Daher rief es Verlegenheit, fast Bewunderung in mir hervor, dass er sich so mühelos an den Namen einer ehemaligen Schülerin erinnerte. Ich trank mein Bier aus.

»Sie trugen früher Zöpfe, nicht wahr?«

»Ja.«

»Ich habe Sie gleich erkannt.«

»Aha.«

»Sie sind dieses Jahr achtunddreißig geworden, stimmt’s?«

»Nein, erst siebenunddreißig.«

»Oh, entschuldigen Sie.«

»Macht nichts.«

»Ich habe im Namensregister und im Jahrgangsalbum nachgeschaut. Sie haben sich gar nicht verändert.«

»Sie auch nicht, Sensei.«

»Sensei« sagte ich natürlich, weil mir sein Name nicht einfiel, aber seitdem ist es dabei geblieben.

An diesem Abend tranken wir zusammen ungefähr anderthalb Liter Sake, und er übernahm die Rechnung. Als wir uns das nächste Mal in derselben Kneipe trafen, bezahlte ich. Seit unserer dritten Begegnung beglich jeder seine Rechnung selbst. Wahrscheinlich erwies sich unsere Freundschaft als so dauerhaft, weil der Sensei und ich uns in vieler Hinsicht ähnlich waren. Nicht nur bevorzugten wir zum Sake die gleichen Häppchen, auch unsere Vorstellung von der Distanz, die ein Mensch zum anderen halten sollte, stimmte überein. Obwohl er dreißig Jahre älter war als ich, fühlte ich mich ihm näher als manch gleichaltrigem Freund.

Ein paarmal war ich auch bei ihm zu Hause. Mitunter verabschiedeten wir uns gleich nach der ersten Kneipe, und jeder ging seiner Wege. Ab und zu zogen wir auch weiter ins nächste Lokal, manchmal sogar in ein drittes und viertes. Bei solchen Gelegenheiten gingen wir meist noch zu ihm, um den Abend mit einem letzten Schälchen Sake zu beschließen.

Das erste Mal, als der Sensei mich einlud, noch kurz bei ihm vorbeizuschauen — sein Haus sei ganz in der Nähe —, zögerte ich. Ich hatte gehört, dass seine Frau gestorben war, und hatte Hemmungen, zu einem alleinstehenden Mann nach Hause zu gehen. Andererseits gehöre ich zu den Menschen, die, wenn sie einmal angefangen haben zu trinken, so leicht kein Ende finden. Also ging ich schließlich doch mit.

Es war unordentlicher, als ich vermutet hätte. Eigentlich hatte ich mir sein Haus peinlich sauber vorgestellt. Statt dessen türmte sich in allen Ecken irgendwelches Gerümpel. Der Raum direkt hinter der Diele, der mit einem Teppich und einem alten Sofa ausgestattet war, wirkte zwar wie unbewohnt, dafür lagen auf dem Boden des etwa acht Tatami großen Wohnzimmers nebenan massenweise Bücher, Papiere und Zeitungen herum.

Der Sensei stellte ein Esstischchen auf, kramte eine 1,8-Liter-Flasche mit Sake aus einer Ecke hervor und füllte zwei unterschiedlich große Teeschalen bis zum Rand.

»Nehmen Sie schon mal einen Schluck«, sagte er und verschwand in der Küche. Das Acht-Tatami-Zimmer ging zum Garten. Ein Laden war geöffnet, und durch die Scheibe erkannte ich schemenhaft die Zweige von Bäumen. Da sie um diese Jahreszeit nicht blühten, konnte ich nicht sagen, um welche Sorte es sich handelte. Botanik war noch nie meine Stärke.

»Was sind denn das für Bäume in Ihrem Garten?« fragte ich den Sensei, der gerade mit einem Tablett Lachsschnitzel und Reiskräcker erschien.

»Kirschbäume.«

»Alle?«

»Ja, alle. Die Kirsche war der Lieblingsbaum meiner Frau.«

»Im Frühjahr sieht das bestimmt hübsch aus.«

»Sie sind anfällig für Schädlinge, im Herbst liegt der ganze Garten voller Laub, und im Winter hat man nur kahle Äste vor der Nase«, erklärte der Sensei nicht sonderlich unwirsch.

»Oh, der Mond ist aufgegangen.« Der Halbmond stand jetzt hoch am Himmel, von einem Dunstschleier fast verhüllt.

Der Sensei nahm sich eine Handvoll Kräcker und trank einen Schluck Sake aus seiner Teeschale.

»Meine Frau war kein Mensch, der gern plante oder vorausschaute.«

»Aha.«

»Sie wusste immer genau, was sie wollte und was nicht.«

»Aha.«

»Die Kräcker sind aus Niigata. Pikant und schmackhaft, was?«

Die scharfen Reiskräcker passten tatsächlich ausgezeichnet zum Sake. Schweigend aß ich ein paar. Aus den Wipfeln der Bäume war Flügelschlagen zu hören. Ob es im Garten Vögel gab? Ich vernahm auch ein schwaches Piepsen in den sich wiegenden Zweigen und Ästen. Danach trat wieder Stille ein.

»Haben Sie im Garten ein Vogelnest?« fragte ich, bekam aber keine Antwort. Als ich mich umwandte, sah ich, dass der Sensei Zeitung las. Allerdings nicht die von heute. Offenbar hatte er sich nach dem Zufallprinzip eine von den vielen gegriffen, die auf dem Boden herumlagen. Konzentriert las er eine Seite, auf der man zwischen Meldungen aus dem Ausland das Bild einer Frau im Badeanzug plaziert hatte. Meine Anwesenheit schien er vergessen zu haben.

»Sensei«, sprach ich ihn nochmals an. Wieder keine Antwort, so vertieft war er in seine Lektüre.

»Sensei!« rief ich noch einmal lauter. Endlich hob er den Kopf.

»Tsukiko, soll ich Ihnen mal was zeigen?« fragte er unvermittelt. Ohne meine Antwort abzuwarten, schob er die Tür auf und ging ins Nebenzimmer. Die Zeitung ließ er einfach liegen.

Beladen mit irgendwelchem Keramikgeschirr, das er aus einem alten Schrank geholt hatte, kam er zurück. Dann ging er noch einige Male zwischen den beiden Zimmern hin und her.

»Da, schauen Sie.« Die Augen vergnügt zusammengekniffen, stellte der Sensei die kleinen Tongefäße, alle mit Deckel, Henkel und Tülle, behutsam auf dem Tatami-Boden ab.

Was waren das für Dinger? Irgendwie kamen sie mir bekannt vor. Ich starrte darauf. Alle waren von sehr einfacher Machart. Waren das Teekännchen? Obwohl sie dafür eigentlich ein bisschen zu klein waren.

»Das sind Eisenbahn-Teekännchen«, erklärte der Sensei.

»Eisenbahn-Teekännchen?«

»Wenn ich früher mit dem Zug fuhr, habe ich mir am Bahnhof immer Reiseproviant besorgt, und dazu Tee. Heute wird der Tee ja in Plastikflaschen verkauft, aber früher bekam man diese Tonkännchen.«

Er hatte über zehn von diesen Kännchen, einige honigfarben, andere etwas heller. Auch in der Form unterschieden sie sich, bei manchen war die Tülle breiter oder sie hatten größere Henkel, kleinere Deckel oder waren dickbäuchiger.

»Sammeln Sie die?«

Der Sensei schüttelte den Kopf. »Ich habe sie mir einfach nur für unterwegs gekauft.«

Dann deutete er mit dem Finger auf die einzelnen Kännchen und erzählte mir ihre Geschichte.

»Das da habe ich in meinem ersten Studienjahr auf dem Weg nach Shinshu gekauft. Und das hier, als ich mal in den Sommerferien mit einem Kollegen nach Nara reisen wollte. Ich ging auf den Bahnsteig, um noch schnell eine Wegzehrung für uns zu holen, und als ich wieder einsteigen wollte, fuhr mir der Zug vor der Nase weg. Dieses hier habe ich auf unserer Hochzeitsreise in Odawara gekauft. Meine Frau wickelte es in Zeitungspapier und legte es zwischen die Wäsche, damit es nicht zerbrach. Sie hat es die ganze Reise lang aufgehoben.«

Mir blieb nichts anderes übrig, als immer wieder »aha« und »ach ja« zu wiederholen.

»Ich habe gehört, manche Leute sammeln so was«, sagte der Sensei.

»Sind Sie auch ein Sammler?«

»Nein. Für solche Marotten habe ich nichts übrig.« Er hebe einfach nur auf, was sich so angesammelt habe, erklärte er mit selbstzufriedenem Lächeln.

»Ich kann eben nichts wegwerfen.« Wieder ging er ins Nebenzimmer. Diesmal kehrte er mit mehreren kleinen Plastiktüten zurück. Er knotete eine davon auf, und eine Menge mit schwarzem Filzstift beschrifteter Batterien kam zum Vorschein: »Rasierer«, »Wanduhr«, »Radio«, »Taschenlampe«. Er griff eine A2-Batterie heraus.

»Die stammt aus dem Jahr, in dem der große Taifun in der Bucht von Ise gewütet hat. Auch in Tokio gab es so starke Unwetter, dass wir die Batterie in einem einzigen Sommer verbraucht haben.«

»Diese hier gehörte zu meinem ersten Kassettenrekorder. Man benötigte acht Stück davon, die sich aber sehr schnell verbrauchten. Nachdem ich eine Kassette mit Symphonien von Beethoven mehrmals gehört hatte, waren die Batterien nach ein paar Tagen leer. Da ich nicht alle acht aufheben wollte, fasste ich mir ein Herz und griff mit geschlossenen Augen eine heraus, um sie aufzuheben.«

Schließlich könne man Batterien, die einem so brav gedient hätten, nicht einfach wegwerfen. Das wäre herzlos. Es sei nicht anständig, sie, die bis dahin Licht und Töne erzeugt hätten, in den Müll zu schmeißen, nur weil sie leer seien.

»Sind Sie nicht auch dieser Meinung, Tsukiko?« Der Sensei sah mir ins Gesicht.

Eigentlich hatte ich dazu keine Meinung, rang mir aber zum fünfzehnten oder sechzehnten Mal an diesem Abend ein Ja ab. Ich strich über eine der vielen unterschiedlichen Batterien. Sie war rostig und fühlte sich feucht an. An der Seite stand »Casio-Rechner«.

Der Sensei schaute nach oben. »Der Mond neigt sich schon, nicht wahr?«

Der Mond sah hell leuchtend hinter dem Dunstschleier hervor.

»Der Tee aus den Eisenbahn-Kännchen hat bestimmt gut geschmeckt«, murmelte ich.

»Dann werde ich uns mal einen kochen.« Der Sensei streckte den Arm aus und wühlte aus dem Durcheinander, in dem auch die Sakeflasche gestanden hatte, eine Teedose hervor. Kurzerhand füllte er ein paar Teeblätter in ein honigfarbenes Eisenbahn-Kännchen, schraubte die alte Thermoskanne neben dem Esstischchen auf und goss heißes Wasser darüber.

»Die Thermoskanne hat mir ein Schüler geschenkt. Es ist eine alte amerikanische, aber das Wasser, das ich gestern hineingefüllt habe, ist immer noch heiß. Ganz erstaunlich.«

Er goss mir Tee in die Schale, aus der ich den Sake getrunken hatte. Dann streichelte er zärtlich die Thermoskanne. Der Tee schmeckte ein wenig merkwürdig, in der Schale musste wohl noch ein Rest Sake gewesen sein. Plötzlich spürte ich seine Wirkung, und alles sah viel heiterer aus.

»Sensei, darf ich mich ein bisschen umsehen?«

Ohne seine Antwort abzuwarten, wandte ich mich einer Ecke des Zimmers zu, in der aller möglicher Plunder ungeordnet durcheinanderlag. Alte Manuskriptseiten, leere Einwegfeuerzeuge, ein verrosteter Handspiegel und drei große, schwarze, abgewetzte und zerfurchte Aktenmappen. Alle vom gleichen Modell. Außerdem eine Blumenschere, ein Federkästchen und ein schwarzes Gerät aus Plastik mit einer Messskala und einem Zeiger.

»Was ist denn das?« fragte ich und hielt den schwarzen Kasten in die Höhe.

»Was? Ach so, das ist ein Batterieprüfer«, erwiderte der Sensei.

Behutsam nahm er mir das Kästchen aus der Hand und kramte in dem Durcheinander herum. Gleich darauf zog er ein schwarz-rotes Kabel hervor, das er an das Prüfgerät anschloss. An den Enden des Kabels befand sich jeweils eine Klemme.

»So!« Der Sensei befestigte die rote Klemme an einem Pol der Batterie mit der Aufschrift »Rasierer« und die schwarze am gegenüberliegenden.

»Schauen Sie her, Tsukiko.«

Da er keine Hand frei hatte, deutete er mit dem Kinn auf die Skala. Der Anzeiger zitterte. Als der Sensei die Klemme von der Batterie löste, stand er still. Sobald er sie wieder mit der Batterie verband, schlug die Nadel von neuem aus.

»Ein Rest Strom ist noch übrig«, sagte der Sensei ruhig. »Einen Motor kann sie zwar nicht mehr antreiben, aber ein bisschen Leben hat sie noch in sich.«

Nun überprüfte er jede einzelne seiner zahllosen Batterien. Bei den meisten rührte sich die Nadel nicht, wenn er die Klemme ansetzte. Sooft die Nadel ausnahmsweise doch einmal zuckte, stieß er ein leises »Ah« hervor.

»Es ist noch Leben drin«, sagte ich dann, und er nickte kurz.

»Aber irgendwann sind sie doch tot«, erklärte er ungerührt.

»Und den Rest ihres Lebens verbringen sie im Schrank.«

»So könnte man sagen.«

Eine Weile betrachteten wir schweigend den Mond. Dann fragte der Sensei aufgeräumt: »Sollen wir noch etwas trinken?« und goss Sake in die Teeschalen.

»Ach, da war ja noch Tee drin«, sagte er.

»Sake mit einem Schuss Tee.«

»Sake sollte man pur trinken.«

»Macht nichts, Sensei, macht gar nichts«, sagte ich und kippte den Sake in einem Zug hinunter, während der Sensei an seinem nur nippte. Der Mond schien jetzt sehr hell.

»Durch die Weiden

schimmert silbern der nächtliche Strom,

jenseits steigt Rauch aus den Wiesen«,

deklamierte er plötzlich mit sonorer Stimme.

»Was ist das?« fragte ich. »Hört sich an wie ein Sutra.«

»Tsukiko, Sie haben wohl im Japanischunterricht überhaupt nicht aufgepasst?« entgegnete er ein wenig streng.

»Das haben wir bei Ihnen nie durchgenommen«, verteidigte ich mich.

»Das ist doch von Seihaku Irako«, belehrte er mich.

»Nie im Leben von ihm gehört.«

Ich griff nach der Sakeflasche und schenkte mir selbst ein.

»Als Frau sollten Sie sich wirklich nicht selber einschenken«, schimpfte er.

»Seien Sie doch nicht so altmodisch, Sensei«, erwiderte ich trotzig.

»Lieber altmodisch als modrig«, brummte er und goss sich ebenfalls nach.

»Jenseits steigt Rauch aus den Wiesen,

leis erklingt ein Flötenton,

rührt des Wanderers Herz«

Er wiederholte das Gedicht mit geschlossenen Augen, als lausche er seiner eigenen Stimme. Geistesabwesend starrte ich auf die großen und kleinen Batterien, die still im fahlen Licht lagen.

Wieder verhüllten Dunstschleier den Mond.

Zwei Küken

Der Sensei schlug einen Besuch auf dem Achter-Markt vor.

»Der Markt findet immer am 8., 18. und am 28. des Monats statt. Der 28. ist ein Sonntag. Das passt Ihnen sicher am besten«, sagte er mit einem Blick in sein Notizbuch, das er aus seiner unvermeidlichen schwarzen Ledermappe gezogen hatte.

»Am 28. …«, sagte ich und blätterte nachdenklich in meinem eigenen Kalender, obwohl ich genau wusste, dass ich an dem Tag nichts vorhatte.

»Ja, in Ordnung«, antwortete ich dann würdevoll.

»Achter-Markt, Verabredung mit Tsukiko, Bushaltestelle Minami-machi«, schrieb der Sensei in die Spalte vom 28. Er hatte eine schöne Handschrift.

»Wir treffen uns um die Mittagszeit.«

Er verstaute das Notizbuch wieder in der Mappe. Tagsüber hatten wir uns noch nie getroffen. Bisher waren wir uns immer mehr oder weniger zufällig in der dämmrigen Kneipe begegnet, wo wir uns wie jetzt im Sommer zu eisgekühltem oder im Winter zu heißem Tōfu einen Schluck Sake genehmigten. So kam es vor, dass wir uns ein paar Wochen lang gar nicht sahen oder aber gleich mehrere Abende hintereinander.

»Was ist das für ein Markt?« Ich schenkte mir selber Sake ein.

»Ein ganz gewöhnlicher Markt. Mit allem, was man für das tägliche Leben so braucht.«

Es war eine merkwürdige Vorstellung, mit dem Sensei einen Markt für Alltagsbedarf zu besuchen. Aber warum nicht? Auch ich notierte mir den Namen der Bushaltestelle.

Er trank sein Schälchen langsam aus und schenkte sich ebenfalls selber wieder ein. Dazu hielt er die kleine 180ml-Flasche ziemlich hoch und neigte sie nur ganz wenig, sodass der Sake in einem dünnen Strahl sachte und wie magnetisch angezogen in die Schale rann. Kein einziges Tröpfchen ging daneben. Sagenhaft. Als ich versuchte, es ihm nachzutun, verschüttete ich das meiste. Was für eine Verschwendung. Seitdem blieb ich lieber bei meiner wenig eleganten Methode, die Flasche mit der rechten Hand direkt an das Schälchen in meiner linken anzusetzen.

Übrigens hat mal ein Kollege zu mir gesagt, meine Art, Sake einzuschenken, sei nicht gerade betörend. Ich fand sowohl seine Wortwahl als auch die Idee, eine Frau solle »betörend« Sake einschenken, ziemlich von gestern und starrte ihn entgeistert an. Auf dem Heimweg fiel dem Knilch auch noch ein — weiß der Himmel, was er sich dachte —, mich im Dunkeln küssen zu wollen. Nicht mit mir. Mit beiden Händen wehrte ich sein Gesicht ab, das er mir im wahrsten Sinne des Wortes aufdrücken wollte. Während er meine Hände beiseite zog, um wieder auf mich anzusetzen, flüsterte er: »Du brauchst keine Angst zu haben.« Du liebe Zeit, dass es so was noch gibt. Fast hätte ich einen Lachkrampf bekommen. Nur mühsam beherrschte ich mich.

»Ach, heute ist kein guter Tag für so was …«, sagte ich mit Grabesstimme und ernster Miene.

»Wieso kein guter Tag?«

»Heute ist ein Unglückstag, schlimmer als Freitag, der 13. Und morgen sogar einer, der im chinesischen Kalender rot eingerahmt ist.«

»Ha?«

Ich ließ ihn mit offenem Mund stehen und flitzte die Treppe zur U-Bahn hinunter.

Unten angekommen, rannte ich zur Sicherheit noch ein Stück. Als klar war, dass er mir nicht folgte, ging ich auf die Toilette, pinkelte und wusch mir anschließend gründlich die Hände. Beim Anblick meines etwas zerzausten Spiegelbilds musste ich kichern.

Der Sensei mag es nicht, wenn man ihm einschenkt. Ob Sake oder Bier, er übernimmt diese Aufgabe am liebsten selbst, und das mit äußerster Gewissenhaftigkeit. Einmal habe ich ihm das erste Glas Bier eingeschenkt. In dem Augenblick, als ich die Bierflasche über sein Glas neigte, zuckte er ein winziges bisschen zusammen, sagen wir, um eine Haaresbreite, oder na ja, vielleicht um drei Haaresbreiten. Aber er sagte nichts. Dann hob er das volle Glas ruhig an die Lippen, murmelte »Zum Wohl« und leerte es in einem Zug. Am Ende verschluckte er sich sogar ein wenig. Er muss sich sehr beeilt haben. Anscheinend wollte er möglichst schnell austrinken. Als ich mich anschickte, sein Glas erneut zu füllen, richtete er sich auf und sagte:

»Danke, nicht nötig. Ich gieße mir lieber selbst ein.«

Damals beschloss ich, nie wieder einen solchen Versuch zu unternehmen. Allerdings kam es öfter vor, dass er mir einschenkte.

Ich war fünfzehn Minuten zu früh an der verabredeten Bushaltestelle, musste aber nicht lange warten, denn der Sensei traf ebenfalls zehn Minuten vor der Zeit ein.

Es war ein schöner, heiterer Sonntag.

»Hören Sie die Zelkovien rauschen?« fragte er und sah zu den Bäumen an der Haltestelle auf. Die üppigen grünen Äste wiegten sich im Wind. Er war nicht stark, brachte aber die hohen Wipfel kräftig ins Schwanken.

Es war ein heißer Sommertag, doch wegen der trockenen Luft herrschte im Schatten eine angenehme Kühle. Wir fuhren mit dem Bus bis Teramachi und gingen von dort aus zu Fuß. Der Sensei trug einen Panamahut und ein Hawaiihemd in gedeckten Farben.

»Das Hemd steht Ihnen gut.«

»Ach, was reden Sie da«, erwiderte er unwirsch und beschleunigte seinen Schritt. Eine Weile eilten wir wortlos nebeneinander her, doch bald wurde er wieder langsamer und fragte, ob ich Hunger hätte.

»Nicht sehr. Aber ich bin ganz außer Atem.«

Er lachte.

»Vor Schreck über Ihre seltsame Bemerkung habe ich gleich die Geschwindigkeit gesteigert.«

»Was war denn daran seltsam? Sie sehen wirklich schick aus, Sensei.«

Er antwortete nicht und marschierte in einen Bentō-Laden um die Ecke.

»Einmal Bentō Spezial mit Schweinefleisch und Kimchi, bitte«, bestellte er bei der Verkäuferin. Dann warf er mir einen fragenden Blick zu: »Und Sie?«

Die Auswahl war so groß, dass mir der Kopf schwirrte. Anfangs neigte ich zu Bibimba mit Spiegelei, aber das Ei gefiel mir nicht. Ich mag nur Eidotter. Einmal ins Wanken geraten, wurde ich immer unentschlossener. Nach langem Zögern nahm ich ebenfalls ein Bentō mit Schwein und Kimchi. Wir setzten uns auf die Bank im Laden und warteten auf das Bestellte.

»Sie wussten gleich, was Sie wollten«, sagte ich.

»Das kommt daher, dass ich alleine lebe. Kochen Sie manchmal?«

»Ja, wenn ich einen Freund habe.«

Er nickte ernst. »Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Ich sollte mir vielleicht auch die eine oder andere Freundin zulegen.«

»Mehr als eine kann ziemlich anstrengend sein.«

»Zwei sind die absolute Obergrenze.«

Wir plauderten, bis die bestellten Speisen fertig waren. Die Verkäuferin packte zwei unterschiedlich große Kästen in eine Plastiktüte. »Die sind ja verschieden groß, obwohl wir das Gleiche bestellt haben«, flüsterte ich ihm zu. »Sie haben doch eine normale Portion bestellt«, flüsterte er zurück, »ich habe Spezial genommen.« Als wir aus dem Laden kamen, hatte der Wind aufgefrischt. In der rechten Hand trug der Sensei die Plastiktüte, mit der linken hielt er seinen Panamahut fest.

Allmählich wurden die Stände am Straßenrand zahlreicher. Einer verkaufte ausschließlich Handwerker-Tabi, ein anderer nur Taschenschirme. Es gab gebrauchte Kleidung und alte und neue Bücher. Auf beiden Seiten der Straße drängte sich Bude an Bude.

»Vor vierzig Jahren wurde bei einem Taifun das ganze Viertel überflutet und verwüstet.«

»Vor vierzig Jahren?«

»Und viele Menschen kamen ums Leben.«

Den Markt habe es schon damals gegeben, erzählte der Sensei weiter. Im Jahr nach dem Taifun sei er kleiner gewesen, aber dann Jahr für Jahr gewachsen, bis er schließlich dreimal im Monat stattfand. Inzwischen blieben die meisten Stände zwischen den Haltestellen Teramachi und Kawasuji-West immer geöffnet, nicht nur an den Achter-Tagen.

»Hier lang, hier lang.« Der Sensei steuerte auf einen kleinen verlassenen Park zu, der etwas abseits lag. Die Straße war voller Menschen, doch hier, nur wenige Schritte entfernt, herrschte Stille. Aus Getränkeautomaten am Parkeingang zog er zwei Dosen gekühlten Genmaicha — Röstreis-Tee.

Wir setzten uns auf eine Bank und öffneten die Deckel unserer Bentō-Schachteln. Der Geruch von Kimchi stieg mir in die Nase.

»Ihres ist also ein Spezial-Bentō.«

»Stimmt.«

»Und worin besteht der Unterschied zu einem normalen?«

Wir steckten die Köpfe zusammen und verglichen die Beilagen.

»Groß ist er jedenfalls nicht«, folgerte der Sensei vergnügt.

Genussvoll trank ich meinen Genmaicha. Es war zwar windig, aber immerhin Hochsommer, und der Tee rann mir angenehm kühl die ausgedörrte Kehle hinunter.

»Ihnen scheint es ja richtig zu schmecken, Tsukiko«, sagte er, während er begehrlich zusah, wie ich Reis in einen Rest der Soße vom Kimchi tunkte. Er hatte sein Bentō schon verzehrt.

»Entschuldigung, dass ich so unfein esse.«

»Ja, vornehm sieht das nicht gerade aus. Aber offenbar schmeckt es«, wiederholte er, während er den Deckel seiner leeren Schachtel mit einem Gummi befestigte.

Aus den hohen Zelkovien und Kirschbäumen zu schließen, musste der Park schon ziemlich alt sein.

Lebensmittel lösten die Haushaltswaren ab. Einige Stände hatten nur Hülsenfrüchte, andere nur Muscheln, Bananen oder Körbchen mit kleinen Garnelen. Der Sensei blieb mit geradem Rücken und leicht zurückgelegtem Kopf in einigem Abstand vor den einzelnen Ständen stehen und betrachtete das Angebot.

»Die Fische da sehen ganz frisch aus, Tsukiko.«

»Aber es sitzen Fliegen drauf.«

»Das liegt in der Natur der Fliegen.«

»Sensei, wollen Sie nicht ein Hähnchen kaufen?«

»Ein ganzes Hähnchen! Wie soll ich das denn rupfen?«

Plaudernd bummelten wir an den Ständen entlang, die immer dichter wurden. Die Verkäufer überboten sich im lauten Anpreisen ihrer Waren.

»Mama, die Karotten sehen aber lecker aus«, sagte ein Kind zu seiner mit einem Einkaufskorb bewehrten Mutter.

»Du magst doch sonst gar keine Karotten«, entgegnete diese überrascht.

»Aber die hier sehen so schmackhaft aus«, sagte das Kind altklug.

»Schlaues Kerlchen! Du weißt, was Qualität ist«, rief der Verkäufer.

»Ob diese Karotten wirklich so besonders gut schmecken?« Der Sensei nahm sie prüfend in Augenschein. »Eigentlich sehen sie ganz normal aus.«

»Hm.«

Sein Panamahut war ein wenig verrutscht. Die Menschenmenge schob uns voran. Sobald ich den Sensei im Gedränge aus den Augen verlor, brauchte ich nur nach dem Hut Ausschau zu halten. Offenbar kümmerte er sich nicht darum, ob ich mitkam oder nicht. Aber dafür blieb er an jeder Bude stehen, die sein Interesse erregte — wie ein Hund an jedem Telefonmast.

Die Mutter und das Kind waren an einem Stand mit Pilzen angekommen. Der Sensei stand hinter ihnen.