Der Himmel über dem Alentejo - Ana Veloso - E-Book
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Der Himmel über dem Alentejo E-Book

Ana Veloso

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Beschreibung

Eine Liebe, die heller leuchtet als ein Stern: Der berauschende historische Roman »Der Himmel über dem Alentejo« von Ana Veloso als eBook bei dotbooks. Portugal, Anfang des 20. Jahrhunderts – sie ist die Tochter reicher Großgrundbesitzer, er der Sohn armer Bauern … Die schöne Jujú und der zwei Jahre ältere Fernando müssen ihre Liebe heimlich, fernab des prunkvollen Familienanwesens »Belo Horizonte« leben: Nur im Schatten der duftenden Olivenbäume können sie von der Hoffnung an eine gemeinsame Zukunft träumen. Doch dann soll Jujú gezwungen werden, den Erben einer angesehenen Familie zu heiraten. Hin- und hergerissen zwischen ihrem Glück und der Ehre ihrer Familie trifft sie eine folgenschwere Entscheidung, die nicht nur ihr Leben, sondern auch das Schicksal ihrer Nachfahren auf ewig verändern wird … Eine mitreißende Familiensaga vor der prachtvollen Kulisse Portugals zur Zeit der Jahrhundertwende – und das ergreifende Zeugnis einer verbotenen Liebe: »Eine Geschichte – so melancholisch-schön wie der Fado!«, urteilt ›IN – Das Starmagazin‹. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der farbenprächtige Landschaftsroman »Der Himmel über dem Alentejo« von Bestseller-Autorin Ana Veloso, ursprünglich erschienen unter dem Titel »So weit der Wind uns trägt«, ist ein Lesevergnügen für alle Fans von Tara Haighs und Linda Belagos Sehnsuchtsromanen! Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 1006

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Über dieses Buch:

Portugal, Anfang des 20. Jahrhunderts – sie ist die Tochter reicher Großgrundbesitzer, er der Sohn armer Bauern … Die schöne Jujú und der zwei Jahre ältere Fernando müssen ihre Liebe heimlich, fernab des prunkvollen Familienanwesens »Belo Horizonte« leben: Nur im Schatten der duftenden Olivenbäume können sie von der Hoffnung an eine gemeinsame Zukunft träumen. Doch dann soll Jujú gezwungen werden, den Erben einer angesehenen Familie zu heiraten. Hin- und hergerissen zwischen ihrem Glück und der Ehre ihrer Familie trifft sie eine folgenschwere Entscheidung, die nicht nur ihr Leben, sondern auch das Schicksal ihrer Nachfahren auf ewig verändern wird …

Eine mitreißende Familiensaga vor der prachtvollen Kulisse Portugals zur Zeit der Jahrhundertwende – und das ergreifende Zeugnis einer verbotenen Liebe: »Eine Geschichte – so melancholisch-schön wie der Fado!«, urteilt ›IN – Das Starmagazin‹.

Über die Autorin:

Ana Veloso wurde 1964 geboren. Nach ihrem Studium der Romanistik arbeitete sie als Journalistin für mehrere namhafte deutsche Magazine. Ihr erster Roman, »Der Duft der Kaffeeblüte«, wurde ein großer Erfolg und in viele Sprachen übersetzt. Ana Veloso lebt als Journalistin und Autorin in Hamburg, verbringt aber jedes Jahr mehrere Monate im Ausland, um dort Eindrücke für ihre Romane zu sammeln.

Bei dotbooks veröffentlichte Ana Veloso ihre exotischen Love-and-Landscape-Romane »Der Duft der Kaffeeblüte«, »Das Leuchten der Indigoblüte« und »Die Frau vom Rio Paraíso«. Weitere Titel sind in Vorbereitung.

Die Website der Autorin: www.ana-veloso.de/

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eBook-Neuausgabe Januar 2023

Dieses Buch erschien bereits 2008 unter dem Titel »So weit der Wind uns trägt« bei Knaur

Copyright © der Originalausgabe 2008 by Knaur Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fb)

ISBN 978-3-98690-450-0

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In diesem eBook begegnen Sie möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. Diese Fiktion spiegelt nicht unbedingt die Überzeugungen des Verlags wider.

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Ana Veloso

Der Himmel über dem Alentejo

Roman

dotbooks.

Für meine Eltern

Està tudo na cabeça

Prolog

Beja/AlentejoSilvester 1899

Jujú zitterte.

Sie kauerte mit angewinkelten Knien an der Mauer des alten Kastells, die Arme um die Beine geschlungen. Vergeblich versuchte sie sich einzureden, dass sie schon ganz andere Gefahren gemeistert hatte. In dem Gestrüpp am Fuße der Mauer raschelte und knisterte es. Wenn das nur keine Ratten waren! Die Mondsichel, die hin und wieder zwischen den Wolken hervorblitzte, tauchte die unheimliche Szenerie in ein trübes Licht. Außerdem juckte sie die wollene manta, die Fernando ihr als »Verkleidung« umgehängt hatte. Doch weder wagte Jujú es, sich zu kratzen, noch das unsichtbare Getier zu verscheuchen. Sie verharrte reglos und traute sich kaum zu atmen. Denn am meisten fürchtete Jujú sich davor, erwischt zu werden. Allein beim Gedanken daran, welche Strafe ihr in diesem Fall drohte, schüttelte es sie durch und durch. Unter Aufbringung all ihrer Willenskraft gelang es ihr immerhin, zu verhindern, dass ihre Zähne klapperten.

»Hast du etwa Angst?«, flüsterte Fernando. Es klang herablassend, ganz so, als sei es für ihn – dank der Überlegenheit seines Geschlechts und seines reifen Alters von beinahe zehn Jahren – völlig selbstverständlich, sich mitten in der Nacht vor schaurigen Festungsanlagen herumzudrücken.

»Angst? Pah! Mir ist kalt.« Jujú wunderte sich selber, wie beherrscht ihre Antwort klang. Natürlich fürchtete sie sich, und wie! Aber den Teufel würde sie tun, Fernando gegenüber auch nur eine Silbe darüber zu verlieren. Nie wieder würde er sie mitnehmen, und um nichts in der Welt würde Jujú auf die Abenteuer verzichten, die sie nur in Fernandos Begleitung erlebte. Ihre einzige gleichaltrige Freundin, Luiza, hielt nichts davon, Baumhäuser in den Wipfeln von Korkeichen zu errichten oder im kniehohen Weizen Verstecken zu spielen. Und auch Jujús ältere Schwestern – Mariana, Isabel, Beatriz und Joana – waren kaum dazu zu bewegen, etwa das Flüsschen über glitschige und wacklige Steine hinweg zu durchqueren. Sie hielten sich für vornehme Damen. Nur sie selber, die jüngste der Carvalho-Töchter, schien aus der Art geschlagen, eine Tatsache, die Jujú in diesem Augenblick bedauerte: Wäre sie doch bloß zu Hause geblieben, in der Sicherheit ihres weichen Bettes, in den Schlaf gelullt von den regelmäßigen Atemzügen Marianas, mit der sie ein Zimmer teilte.

»Wann können wir endlich wieder hier weg?«, fragte sie leise. Fernando lag eine beleidigende Antwort auf den Lippen, doch er schluckte sie herunter. Warum sollte er Jujú seine Verachtung darüber spüren lassen, dass sie jünger als er und noch dazu ein Mädchen war? In Wahrheit hatte auch er Angst, und er war froh, dass er nicht ganz allein in diesem Versteck hocken musste. Dank seiner Freundin konnte er sich stark fühlen.

»Sobald die Luft rein ist. Ich sehe gleich mal nach.«

»Glaubst du, dass die Dona Ivone uns gesehen hat?«

»Ich glaube nicht. Und wenn, dann hat sie dich ganz bestimmt nicht erkannt. Mit diesem Umhang siehst du aus wie ein Bauernmädchen – und sie kennt dich ja nur in Spitzenkleidern.«

Dona Ivone war die Gouvernante auf der »Quinta do Belo Horizonte«, dem Gut von Jujús Eltern. Als die beiden Kinder beschlossen hatten, in der Nacht auszubüxen, hatten sie nicht bedacht, dass sich Bekannte ihrer Familien ebenfalls in Beja aufhalten könnten.

Wie dumm von mir!, schalt sich Fernando. Es war die Silvesternacht, da lag es doch auf der Hand, dass auch andere Leute sich das Feuerwerk ansehen wollten, das in der Kreisstadt stattfinden sollte. Für zusätzliche Schaulustige sorgte ein kleines Zigeunerlager vor den Stadttoren, in dem allerlei Lustbarkeiten geboten wurden. Es gab eine Wahrsagerin, einen Gewichtheber und sogar einen dressierten Affen. Am meisten war immer vor dem Zelt von »Mademoiselle Angélique« los. Manchmal standen die Männer dort Schlange, und Fernando hatte nur eine sehr vage Ahnung von dem, was im Innern des Zeltes passieren mochte. Er hatte es bisher nicht geschafft, dort hineinzuschauen. Fernandos Hauptaugenmerk jedoch galt ohnehin einer anderen Attraktion: einem Apparat, der durch einen Mechanismus, den Fernando unbedingt noch genauer erkunden musste, einen simplen, kupfernen tostão in eine schmucke Münze mit Prägestempel verwandelte.

»Komm. Ich glaube, wir können es jetzt wagen.« Er nahm Jujú bei der Hand und zog sie hoch.

Sie lugten um die Ecke, schreckten jedoch gleich wieder zurück. Eine Gruppe lautstark palavernder Männer, offensichtlich angetrunken, schwankte über die Rua Principal in ihre Richtung. Sogleich verzogen sich die Kinder wieder in die Mauernische. Das war zu viel für Jujús Selbstbeherrschung. Ihre Zähne begannen zu klappern.

»Hier, du Mimose.« Fernando nahm sein Lammfell ab und legte es Jujú um die Schultern.

Dankbar sah sie ihn an. Sie wusste, dass er wusste, warum sie zitterte. Bestimmt nicht vor Kälte – es war zwar frisch, doch so eisige Temperaturen wie in der vergangenen Woche herrschten nicht mehr. Aber das Fell, unter dem beinahe ihr ganzer schmächtiger Körper verschwand, bot ihr mehr als nur wohlige Wärme. Wenn sie es über den Kopf zog, wäre sie in Sicherheit.

Einige Minuten lang schwiegen die beiden Kinder. Jujú dachte an das Festessen, das auf Belo Horizonte heute gegeben wurde, und es wollte ihr beim besten Willen nicht mehr einfallen, wie sie freiwillig darauf hatte verzichten können. In dieser »denkwürdigen Nacht«, wie ihre Mutter es genannt hatte, hätte sie ausnahmsweise einmal länger aufbleiben dürfen, doch sie hatte es vorgezogen, sich müde zu stellen. Mariana, die ein Jahr älter als sie war und die, wenn sie nicht gerade aß, immerzu schlief oder döste, hatte sich bereits ins Bett gelegt, und Jujú hatte den Eindruck, dass die Erwachsenen sowie ihre anderen beiden Schwestern insgeheim erleichtert waren, die beiden »Kleinen« los zu sein.

Es war lächerlich leicht gewesen, aus dem Fenster zu klettern und durch den Obstgarten zu dem Weg zu schleichen, an dem Fernando und sie sich verabredet hatten. Sogar ein paar Münzen hatte sie vorher aus der Börse ihrer Mutter stibitzen können, so wie Fernando es ihr aufgetragen hatte. Jujú wusste, dass das eine Sünde war. Das Abenteuer jedoch, das ihr Fernando für diese Silvesternacht versprochen hatte, war ihr jede Sünde wert gewesen. Jetzt allerdings zweifelte sie an der Richtigkeit – und dem Sinn – ihres Vorhabens.

Fernando war ebenfalls nicht mehr überzeugt von seinem eigenen Plan. War es ihm noch heute Nachmittag völlig unkompliziert erschienen, einfach das Maultier zu nehmen und darauf mit Jujú die wenigen Kilometer bis Beja zurückzulegen, so hielt er es jetzt für eine blöde Idee. Es war zwar unwahrscheinlich, dass seine und die Abwesenheit des Tieres bemerkt werden würden, doch das allein war ja kein Grund für einen Ausflug wie diesen. Sie wollten in Beja das Feuerwerk sehen, sie wollten die Kapelle spielen hören und sich bei den Zigeunern umsehen – und das alles war kaum zu bewerkstelligen, wenn sie sich vor Entdeckung fürchten mussten. Jujú würde Stubenarrest bekommen und er selber eine so heftige Tracht Prügel, dass er noch tagelang blaue und grüne Flecken hätte, für die ihn wiederum die anderen Kinder hänseln würden.

Selbst wenn es ihnen gelingen sollte, ein wenig von dem bunten Treiben in dieser Nacht mitzuerleben, so war das Abenteuer damit längst nicht überstanden. Der Rückweg würde noch beschwerlicher sein als der Hinweg. Der Mond spendete nur wenig Licht, das Maultier würde nach den ungewohnten Geräuschen eines Feuerwerkes noch bockiger sein als vorher, und Jujú würde sich so fest an ihn klammern, dass er kaum Luft bekam.

Aber sollten sie es wirklich bis hierher geschafft haben, ohne sich auch nur ein winziges bisschen zu amüsieren? Eine Idee nahm in Fernandos Kopf Gestalt an: Vielleicht konnte er allein kurz zu den Zigeunern huschen und wenigstens ein Andenken an diese Nacht mitnehmen. Jujú würde ihn dafür hassen, dass er sie allein ließ, und sei es nur eine Viertelstunde, aber mit ihr zusammen zu gehen wäre zu gefährlich.

»Gib mir einen tostão«, raunte er ihr zu.

»Wofür?« Jujú warf ihren langen Zopf nach hinten und starrte den größeren Jungen mit dem ganzen Stolz ihrer sieben Jahre an. Fernando erwiderte ihren herausfordernden Blick nicht. In gespieltem Desinteresse kratzte er mit einem Stöckchen Muster in den staubigen Boden. »Gute Frage. Gib mir lieber zwei tostões.«

In der Ferne hörte man die blecherne Musik der Blaskapelle, die vor dem Rathaus aufzuspielen begann.

»Was willst du denn damit?«

»Weißt du nicht, was heute für eine Nacht ist?«

»Es ist Silvester?«

»Ja, aber diesmal ist es ein besonderes Silvester. Morgen fängt ein neues Jahrhundert an.«

Jujú riss ihre Augen auf. »Und dafür muss man Eintritt bezahlen?!«

»Nein. Aber für zwei Kupfermünzen kaufe ich uns das ganze Jahrhundert.«

Teil 1

1908 – 1916

Kapitel 1

Schwerfällig sank José Carvalho in den Ledersessel vor dem Kamin. »Einen Brandy, schnell!«, rief er dem Dienstmädchen zu, das ängstlich an der Tür zum Salon auf Anweisungen gewartet hatte. Sie goss ihrem Patrão eine großzügige Dosis ein und reichte ihm das Glas mit zitternden Händen. Die Launen des Senhor Carvalho ängstigten sie zu Tode.

»Glotz mich nicht an, als wärst du eine Kuh! Los, verschwinde!«, herrschte er das Mädchen an.

Anunciação stolperte davon. Tränen waren in ihre Augen getreten, so dass sie nur schemenhaft die Senhora wahrnahm, die ihr auf dem Flur entgegenkam.

Dona Clementina ließ sich ihre Verwunderung nicht anmerken, weder die über das Verhalten des Dienstmädchens noch die über das frühe Erscheinen ihres Mannes. Normalerweise ließ er sich vor Sonnenuntergang nicht im Haus blicken. Es musste etwas wirklich Außergewöhnliches vorgefallen sein, wenn ihr Gatte sich freiwillig so zeitig von den anderen Schwadroneuren im Café »Luíz da Rocha« verabschiedet hatte. Wie um sich für die Begegnung mit ihrem offensichtlich aufgebrachten Mann zu rüsten, hob Dona Clementina das Kinn, strich in einem Reflex ihr dunkelblaues und makellos gebügeltes Wollkleid glatt und setzte eine verständnisvolle Miene auf. José hasste neugierige Frauen – mit keiner Silbe und mit keinem fragenden Ausdruck auf ihrem aristokratischen Gesicht würde sie ihm ihre wahre Gefühlslage preisgeben. Dona Clementina verging schier vor Neugier.

»Mein Lieber, wie schön, dass du schon zu Hause bist!«, begrüßte sie ihn. Sie beugte sich über die Kopflehne seines Fauteuils und hauchte die Andeutung eines Kusses auf seine Stirn.

»Muss ich mir Sorgen wegen deines frühen Kommens machen? Geht es dir gut? Deine Stirn fühlt sich heiß an.« Manchmal wunderte Clementina sich über sich selbst. Wie glatt ihr diese kleinen Lügen inzwischen über die Lippen gingen! Vor 24 Jahren, als Frischverheiratete, wäre sie nicht nur dabei errötet, sondern hätte anschließend ihr Vergehen auch dem Padre Alberto gebeichtet.

José Carvalho stierte auf die flackernden Holzscheite. Er nahm einen großen Schluck aus seinem Cognacschwenker, bevor er schließlich, wie zu sich selbst, sprach.

»Um mich brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Nur um die Monarchie. Dom Carlos ist tot. Und der Thronfolger ebenfalls. Am helllichten Tage erschossen, in ihrer Kutsche.«

»Mein Gott!« Dona Clementina bekreuzigte sich und sank in den zweiten Sessel, der vor dem Kamin stand. »Der König, tot! Und der Infante Luís Filipe! Heilige Muttergottes, was für eine Tragödie!« Sie erhob sich und goss sich ebenfalls einen Brandy ein, ein untrügliches Anzeichen dafür, dass die Nachricht sie zutiefst erschüttert hatte. Sie trank sonst nie etwas Stärkeres als Süßwein, und den auch nur bei besonders festlichen Anlässen. »Dieses Republikaner-Pack!« Hasserfüllt schüttelte José den Kopf.

»Wer sind denn die Mörder? Hat man sie schon gefasst?«

»Gefasst? Die königliche Garde hat sie auf der Stelle erschossen!«

Dona Clementina nickte und bemühte sich, ihre Selbstbeherrschung zurückzuerlangen. Sie würde sich nicht durch dumme Fragen den Unmut ihres Mannes zuziehen. Sie wusste, dass José ihr von sich aus früher oder später die ganze Geschichte erzählen würde. Er gab sich gern weltgewandt und politikerfahren, obwohl er von den Geschehnissen in Portugal und der Welt nicht mehr verstand als das, was ihm der Redakteur Isidoro Vieira vom Lokalblatt O Bejense erzählte. Und Isidoro wiederum, vermutete Clementina, schrieb alles aus den großen Lissabonner Zeitungen ab.

Sie selber hatte nicht viel für Politik übrig, wie sie sich auch für sonst nichts sonderlich interessierte, was nicht direkt sie selber, ihre Familie oder ihren Besitz betraf. Dieses Attentat jedoch empfand sie als unmittelbare Bedrohung. Wenn, wie sie es bereits 1892 erlebt hatte, ein Staatsbankrott die Folge der Umsturzversuche wäre, dann würden auch sie es zu spüren bekommen. Ihre Réis wären dann im Ausland so wertlos, dass sie bei ihren Reisen nach Paris, London oder in andere europäische Metropolen nicht mehr jedes Stück würde kaufen können, das ihr oder einer ihrer Töchter gefiel. Aussteuertruhen von Louis Vuitton, Tafelsilber von Christofle, Waterford-Kristallkelche, die zarte, spitzengesäumte Leibwäsche aus dem Hause Montfort, gewagte Hüte von der renommiertesten Hutmacherin in ganz Berlin oder handgeschöpftes Büttenpapier aus Zürichs elegantester Papeterie – all das müssten sie sich dann verkneifen. Ganz zu schweigen von den luxuriösen Etagen, die sie für die Dauer ihrer Aufenthalte in den feinsten Häusern anzumieten pflegten, sei es im Hotel de Crillon, im Sacher oder im Savoy. Das war einfach unausdenkbar!

»Mãe, Isabel weigert sich, mir ihren grünen Hut zu geben! Dabei hatte sie es mir fest versprochen. Ich habe ihr letzte Woche ja auch meinen gelben Seidenschal geliehen, und ...«

»Still!«, wurde Mariana abrupt in ihrem Redeschwall gebremst. Erst jetzt bemerkte die pummelige 16-Jährige, dass sie anscheinend einen ungünstigen Zeitpunkt erwischt hatte, um ihre Mutter um Hilfe zu bitten. Ihr Vater schaute sie an, als sei sie ein Gespenst. Um einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen, verließ sie den Salon so schnell, wie sie hereingeplatzt war.

In der Halle erwartete Isabel sie mit einem hämischen Gesichtsausdruck. »Das Petzen hat dir wohl nichts als Ärger eingebracht, was?«

»Du eingebildete Pute! Glaub bloß nicht, dass ich dir jemals wieder etwas leihen werde. Und du kannst dir ab sofort auch einen anderen Dummen suchen, der dir deine Aufsätze schreibt. Oder deine Liebesbriefe.« Obwohl Mariana zwei Jahre jünger war als Isabel, hatte sie nicht nur die schönere Handschrift, sondern auch das bessere Sprachempfinden, eine Gabe, mit der sie sich bei ihren Schwestern gerne den einen oder anderen Gefallen erkaufte.

»Was ist denn da drin los?«, wollte Isabel wissen. »Seit wann sitzen Papá und Mamã tagsüber allein vor dem Kamin?«

»Ich habe nicht den leisesten Schimmer. Wenn du nicht so feige wärst und Angst hättest, dass Mamã dich zwingt, mir den Hut doch zu leihen, würdest du selber hineingehen und fragen.«

»So wichtig ist es nun auch wieder nicht.« Mit einem schnippischen Grinsen drehte Isabel sich um und stolzierte davon.

Marianas Unterlippe zitterte bedenklich. Von allen Menschen auf der Welt schaffte es nur Isabel, sie mit einer kleinen verächtlichen Geste oder einem gemeinen Wort derart aus der Fassung zu bringen. Als sie erneut Stimmengemurmel aus dem Wohnzimmer hörte, vergaß sie jedoch für einen Moment ihren Ärger auf die ältere Schwester. Auf Zehenspitzen schlich sie sich an die Tür und hielt das Ohr daran.

»Prinz Manuel ist gerade einmal 18«, hörte Mariana ihre Mutter sagen, »so alt wie Isabel. Wenn er ebenso unreif ist wie sie, dann gnade uns Gott.«

Mariana kicherte still vor sich hin. Über die Implikationen des Gesagten verlor sie keinen weiteren Gedanken. Allein die Tatsache, dass ihre Eltern Isabel für unreif hielten, drang in ihr Bewusstsein. Der Nachmittag war gerettet. Der 1. Februar 1908 würde in ihrem Tagebuch als Festtag gekennzeichnet werden.

Am Abend jedoch war Marianas gute Laune einer betretenen Stimmung gewichen, wie sie die ganze Familie erfasst hatte. Schweigsam saßen alle sechs – Joana lebte seit ihrer Hochzeit im vergangenen Herbst nicht mehr bei ihnen – an der langen, ovalen Tafel. Dona Clementina hatte in ihrem Tischgebet für die Seelen des ermordeten Königs und seines Sohnes gebetet, den lieben Gott darüber hinaus aber auch um Erbarmen gegenüber den verirrten Attentätern angefleht. José Carvalho hatte daraufhin das Gebet mit einem Schlag seiner Faust auf den Tisch unterbrochen, etwas, das noch nie vorgekommen war und seine Frau wie seine Töchter gleichermaßen verunsicherte.

Außer Mariana war allen der Appetit vergangen. Dona Clementina stocherte lustlos in ihrem Essen herum, während ihr Mann sich mit widerwillig verzogenem Gesicht eine Gräte nach der anderen aus dem Mund zog. Nach einigen Bissen hatte er genug davon und legte das Besteck auf den Tellerrand. Die älteste der im Haus lebenden Töchter, die 19-jährige Beatriz, tat es ihm sofort nach. Sie imitierte ihren Vater ständig, wohl in der Hoffnung, ihm damit zu Gefallen zu sein und von ihrem wenig einnehmenden Äußeren abzulenken. Doch wie sie es auch anstellte, nie war es richtig.

»Iss, Beatriz«, forderte er sie nun auf. »Schlimm genug, dass du so eine große Nase hast. Da musst du nicht auch noch zum Klappergestell werden. So finden wir nie einen Bräutigam für dich.« Mit einem Seitenblick auf die sehr schlanke, drahtige Dona Clementina fügte er hinzu: »Die Männer mögen wohlgerundete Frauen.«

Beatriz schluckte eine wütende Antwort herunter und nahm tapfer ihr Besteck wieder auf.

»Ich kenne wenigstens einen Mann, der Beatriz so mag, wie sie ist«, platzte Mariana heraus. Jujú und Isabel verdrehten die Augen. Unter den Schwestern war es ein offenes Geheimnis, dass der schielende Sohn des Verwalters Beatriz den Hof machte. Aber die Eltern mussten ja nicht unbedingt etwas davon erfahren. Anders als befürchtet jedoch hakte José Carvalho nicht weiter nach, sondern beschränkte sich auf eine herabwürdigende Antwort, die der Wahrheit unfreiwillig nahe kam.

»Mit der Sehkraft des Trottels scheint es nicht zum Besten zu stehen.«

Jujú und Isabel unterdrückten ein Lachen, während Mariana laut losprustete. Beatriz starrte mit regloser Miene auf ihren noch halb vollen Teller. Sie runzelte die Brauen über ihren eng zusammenstehenden Augen und schluckte an den Beleidigungen ihres Vater ebenso schwer wie an dem Essen. Vielleicht sollte sie doch mit João durchbrennen? Sie war es langsam leid, dass immerzu auf ihr herumgetrampelt wurde. Was konnte sie dafür, dass sie kein Puppengesicht wie Jujú hatte, nicht das sonnige Gemüt Marianas, nicht die kokette Art Isabels und nicht die natürliche Eleganz Joanas? Warum hatte ausgerechnet sie die Nase ihres Vaters und die dürre Statur der Mutter geerbt? Warum vereinten sich gerade in ihr das spröde Wesen der Alentejo-Bauern mit einem scharfen Verstand, der ihr diese Ungerechtigkeit in aller Klarheit vor Augen führte?

»Es gibt heute Abend wahrhaftig keinen Grund zum Lachen«, rügte Dona Clementina ihre Töchter. Sie tätschelte Beatriz’ Arm: »Und du brauchst den Teller nicht leer zu essen, wenn du satt bist.« Sie hatte größtes Verständnis für die Appetitlosigkeit ihrer zweitältesten Tochter, und insgeheim gefiel ihr der hochgewachsene, schlanke Körper von Beatriz viel besser als etwa die gedrungene Gestalt Marianas.

»Darf ich deine Kartoffeln haben?«, fragte Letztere nun. Die Schüssel war leer, der Teller vor ihr bis auf den letzten Tropfen Sauce ausgewischt.

»Wenn du weiter so viel Essen in dich hineinstopfst, wird dich auch kein Mann wollen«, herrschte José das Mädchen an.

»Aber hast du nicht eben selber gesagt, dass ...«

»Üppige Rundungen an den richtigen Stellen, ja. Aber mit einem Doppelkinn und der Form eines Weinfasses wirst du keine gute Partie machen.«

»Was sind denn die richtigen Stellen?«, wollte Mariana wissen, nicht im Geringsten getroffen und mit unvermindertem Appetit auf den Teller ihrer Schwester schielend.

Wieder lachten Jujú und Isabel verhalten, doch Dona Clementina beschied sie zu schweigen.

»Das reicht jetzt. Ich glaube nicht, dass das ein angemessenes Thema für ein Tischgespräch ist. Juliana«, wandte sie sich an ihre Jüngste, »berichte uns doch von deinen Fortschritten am Pianoforte. Ich habe dich gestern spielen gehört, es klang schon sehr gefällig.«

»Ja, Mãe, ich denke, ich habe bei Senhor Geraldo viel gelernt. Inzwischen spiele ich die Arpeggien der Etüde No. 11 in Es-Dur schon sehr flüssig.« Das war eine maßlose Übertreibung, aber Jujú wusste, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, sich über die Schwierigkeiten von Chopin, den langweiligen Klavierunterricht oder gar die Blicke des Lehrers zu beklagen, die weniger auf ihren Fingern als vielmehr auf ihrem Dekolleté lagen.

»Das wurde auch Zeit«, warf ihr Vater ein. »Dieser Kerl kostet mich ein Vermögen – und das ewige stümperhafte Geklimpere war kaum noch zu ertragen.«

»Nun, mein Lieber, allzu oft musstest du es dir in letzter Zeit ja nicht anhören, nicht wahr?« Kaum, dass sie es ausgesprochen hatte, ärgerte Dona Clementina sich über ihren Mangel an zur Schau gestellter Sanftmut. Sie wollte ihren Mann nicht für seine Eskapaden zur Rechenschaft ziehen, schon gar nicht vor den Kindern. »Ich meine, bei deinen vielen Verpflichtungen bist du ja kaum zu Hause. Denn sonst hättest du vielleicht auch schon bemerkt, dass nicht nur Juliana, sondern auch Isabel sich einer bemerkenswerten musikalischen Neigung erfreut.«

José Carvalho sah Isabel zweifelnd an. Er bekam zwar nicht viel von dem mit, was seine Frau und seine Töchter den ganzen Tag zu Hause trieben, doch ein Narr war er nicht. Und eines war sicher: Wenn es einen Menschen auf der Welt gab, dem jedes Talent für die Musik abging, dann war es Isabel.

Diese sah ihren Vater aus den Augenwinkeln an, schaute jedoch sofort wieder weg, als sie seine Skepsis wahrnahm. Nervös nestelte sie an ihrer Serviette herum. Wenn ihr Vater herausbekam, was es mit ihrer plötzlichen Musikalität auf sich hatte, nähmen die Klavierstunden ein abruptes Ende. Und der gute Geraldo auch. Dabei waren die Stunden mit ihm das Einzige, was Isabel ihr ereignisloses Leben in der Provinz als halbwegs erträglich erscheinen ließ.

Seit sie im letzten Jahr aus dem Internat nach Hause zurückgekehrt war, hatte sie um sich herum nichts als Bauerntrampel in unmodischen Kleidern gesehen. Der Blick auf endlose Hügel mit Weizenfeldern, die andere als »goldene Pracht« empfinden mochten, tat ihren Augen weh. Die Schafe, die sich an den Olivenhainen tummelten, oder die Schweine, die unter den Kork- und Steineichen nach Eicheln stöberten, empfand sie als persönlichen Affront gegen ihren verfeinerten Geschmack. Und mit ihren Schwestern konnte sie schon gar nichts anfangen. Ihr Vater hatte völlig recht: Beatriz war eine verknöcherte alte Jungfer, die, wenn sie auch nur ein bisschen Würde an den Tag legen würde, ins Kloster gehen sollte, anstatt sich dem Werben eines Burschen auszusetzen, der weit unter ihr stand; Mariana war fett, träge und so arglos, dass es einem davon speiübel werden konnte; und Jujú, die sie seit deren fünfzehntem Geburtstag in Gegenwart der Eltern immer Juliana zu nennen hatten, war ja noch ein Kind. Eines allerdings, gestand Isabel sich eifersüchtig ein, das ihr bei Geraldo ernsthaft Konkurrenz zu machen schien. Die lüsternen Blicke, die ihr Verehrer Jujú zuwarf, waren ihr durchaus nicht entgangen.

»Ja, die Fortschritte, die Isabel bei Senhor Geraldo macht, sind ganz und gar erstaunlich«, befand Jujú nun mit einem spöttischen Lächeln. Besonders die in Anatomie, fügte sie im Geiste hinzu. Sie hatte die beiden einmal gesehen, wie sie in verkrampfter Umarmung auf der Klavierbank saßen, hatte sich jedoch schaudernd abgewandt, bevor ihre Anwesenheit bemerkt wurde. Von all ihren Schwestern mochte sie Isabel am wenigsten. Nie würde sie verstehen können, warum Isabel, die Hochmütigkeit für eine erstrebenswerte Tugend hielt, ihren vermeintlichen Stolz so weit vergessen konnte, dass sie sich von einem Widerling wie Senhor Geraldo küssen ließ. Genauso wenig konnte sie nachvollziehen, warum Isabel ständig auf Mariana herumhackte und diese bei jeder sich bietenden Gelegenheit drangsalierte. Der heutige Vorfall mit dem Hut war ganz typisch gewesen. »Du dicke Qualle wirst ihn mir nur ausleiern«, hatte Isabel behauptet, und Mariana hatte den Kopf, der natürlich auch keinen größeren Umfang als der von Isabel hatte, vor Scham abgewandt, weil sie wieder einmal mit den Tränen kämpfte. »Wenn Heulen schlank machen würde, wärst du dünn wie ein Streichholz«, hatte Isabel der flüchtenden Mariana nachgerufen, die sich jedoch schon kurz darauf, dank einer Hand voll Pralinen, wieder im Griff hatte.

Warum war Mariana aber auch so ein Naschmaul? Jujú fand es schade, dass der Leibesumfang ihrer Schwester in den letzten Jahren solche Ausmaße angenommen hatte. Sie hätte wirklich hübsch sein können, mit ihrem Kussmund, den großen braunen Augen, dem herzförmigen Gesicht und den herrlichen schwarzen, glatten Haaren, um die sogar sie selbst Mariana manchmal beneidete. Jujús eigenes Haar war gelockt und störrisch und hatte sie schon manches Mal zur Verzweiflung getrieben, weil es sich nur unter größter Mühsal glätten oder zu seidigen Wellen legen ließ.

»Nun ja, meine Fortschritte bei Senhor Geraldo«, griff Isabel nun die süffisante Bemerkung ihrer Schwester auf, »müssen dir ja ›erstaunlich‹ vorkommen – für einige Stücke fehlt dir sicher noch die nötige Reife, liebste Juliana.« Sie legte einen so ironischen Ton in »Juliana«, wie sie es auch bei einem Kind getan hätte, das sie hätte siezen müssen.

Jujú lag eine beißende Antwort auf der Zunge, doch Beatriz kam ihr zuvor. »Von den Kostproben deiner ›Reife‹, Isabel, haben wir alle für heute genug.«

»Das trifft sich ausgezeichnet, da ihr mehr davon auch nicht mehr werdet genießen können.« Damit stand Isabel auf und verließ, ohne die Erlaubnis ihrer Eltern abzuwarten, das Speisezimmer.

»Isabel!«, brüllte José ihr nach, doch das Mädchen ließ sich davon nicht aufhalten.

Dona Clementina legte ihre schmale Hand auf den Unterarm ihres Mannes. »Lass nur. Ich kümmere mich später darum.«

Das egozentrische Wesen ihrer mittleren Tochter war ihr schon immer ein Dorn im Auge gewesen, war jedoch zugleich ein Grund, sich gerade um ihre Zukunft wenig Sorgen zu machen. Isabel war eigennützig und ehrgeizig, zwei Charakterzüge, die ihr in der Verbindung mit dem jungen Lissabonner Anwalt Raimundo de Saramago zugutekommen würden. Zudem war sie recht hübsch – noch jedenfalls, denn Dona Clementina erkannte an den oft zusammengekniffenen Lippen und dem allzu häufigen Runzeln der Stirn einen vorzeitigen Verfall dieser jugendlichen Aura. Isabel würde in zehn, höchstens fünfzehn Jahren streng und verbittert aussehen.

Viel mehr Grund zur Besorgnis bestand derzeit bei Juliana. Sie war zweifelsohne die schönste ihrer Töchter, obendrein war sie mindestens so intelligent wie die arme Beatriz. Sie würden für Juliana einen hervorragenden jungen Mann finden, aus noch besserer Familie womöglich als Isabels Doutor Raimundo, von älterem Adel als ihr Schwiegersohn Gustavo, der mit Joana in Porto lebte, und mit mehr Vermögen, als sie selbst es hatten.

Seit Juliana endlich aufgehört hatte, wie ein Bauernlümmel auf Bäume zu klettern oder mit lehmverklumpten Schuhen zum Nachmittagstee aufzukreuzen, waren ihre Chancen bei den möglichen Bewerbern um ein Vielfaches gestiegen.

Wenn Juliana nur nicht so geheimniskrämerisch wäre! Dona Clementina ließ sich nicht von dem Liebreiz, dem unschuldigen Augenaufschlag und der neuerdings beinahe damenhaften Art ihrer Jüngsten hinters Licht führen. Irgendetwas heckte Juliana aus, das spürte Dona Clementina. Hoffentlich hatte nicht wieder dieser unmögliche Junge aus dem Dorf damit zu tun. Aber nein, selbst Juliana war mittlerweile alt genug, um zu erkennen, dass ihr Freund aus Kindertagen heute nicht mehr viel mit ihr gemein hatte. Ein ungehobelter Kerl ohne Manieren und ohne Bildung, das war er, noch dazu, so hieß es, das Ergebnis eines Fehltritts seiner Mutter. Heilige Jungfrau Maria – und so einer hatte es gewagt, sich überhaupt in der Nähe von Juliana aufzuhalten! Wenn sie ihr nicht im vergangenen Jahr den Umgang mit dem Burschen verboten hätten, würde Juliana ihn wahrscheinlich immer noch auf dem Rücken eines Maultieres begleiten, sich Flöhe holen und mit aufgeschrammten Knien herumlaufen. Doch obwohl sie dem schlechten Einfluss anscheinend erfolgreich entgegengewirkt hatten, führte Juliana irgendetwas im Schilde. Und Dona Clementina würde herausfinden, was es war.

»Dürfen wir uns jetzt auch zurückziehen?« Mariana leckte sich die Finger ab, mit denen sie sich den letzten Happen ihres Tortenstückes einverleibt hatte. An dem Dessert, dem letzten Versuch der Köchin Leonor, die Familie heute doch noch zum Essen zu verführen, hatte sich außer ihr niemand beteiligt.

José Carvalho nickte ungeduldig und gab seinen Töchtern mit einer Handbewegung, die dem Wegwedeln eines Insektes fatal ähnelte, die Erlaubnis zu gehen. Dona Clementina nickte ebenfalls. »Ja, das dürft ihr. Und vergesst nicht, den armen König und seinen Sohn in euer Abendgebet mit einzuschließen. Und den jungen Manuel, auf dessen Schultern jetzt alle Verantwortung für das Fortbestehen unseres Königreiches liegt.«

Mariana sah ihre Mutter ernst an. Ja, für den Prinzen würde sie gerne beten. Sie hatte Bilder von ihm in ihrem Tagebuch gesammelt, Fotografien, die sie aus den ausgelesenen Zeitungen ihres Vaters ausgeschnitten hatte. Er war ein unbestreitbar hübscher junger Mann, mit einem weichen Gesicht, warmen braunen Augen und einer Miene, aus der Sensibilität und Vernunft gleichermaßen sprachen.

Beatriz hob die Augenbrauen, eifrig bemüht, Gehorsam in ihre Mimik und Gestik zu legen. »Aber ja. Gute Nacht, Pai, Mãe.« In Wahrheit grübelte sie darüber nach, wie sie unauffällig das Haus verlassen konnte, während ihre Eltern im Salon saßen, die Dienstboten noch in der Küche oder im Haushaltstrakt beschäftigt waren und ihre Schwestern die Zimmer in der ersten Etage bevölkerten und dort womöglich gerade aus den Fenstern sahen. Warum auch waren Jujú und Mariana nicht ins Internat gekommen, so wie Joana, sie selbst und Isabel?

Auch Jujú nickte beflissen. »Ja. Schlafen Sie gut, Mamã.« Sie ging zu ihrem Vater und gab ihm ein Küsschen auf die Wange. »Ihnen auch eine gute Nacht, Papá.« Sie hatte gelernt, wann es angebracht war zu widersprechen und wann zu schweigen. Und jetzt war es eindeutig klüger, sich still zurückzuziehen. Sie wäre gerne noch länger hier bei den Eltern geblieben und hätte die Gelegenheit wahrgenommen, endlich einmal mit ihnen allein zu sprechen, ohne dass Mariana dazwischenplapperte, Isabel sie verhöhnte oder Beatriz mit ihrer Erwachsenheit angab.

Sie zog sacht die Tür zum Speisezimmer hinter sich zu. In der Halle war es düster, doch Jujú fand auch so den Weg zur Treppe und zu ihrem Zimmer – sie hatte sich oft genug im Dunkeln aus dem Haus geschlichen. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte sie daran, welche Strafpredigt die Dienstboten erwartete, weil sie nicht die Lampen entzündet hatten. Oder hatte Isabel in ihrer Boshaftigkeit einfach das Licht gelöscht? Sie schüttelte diesen Gedanken gleich wieder ab. Was kümmerte es sie?

Leise betrat sie ihr Zimmer. Seit Joanas Hochzeit hatte Mariana deren Zimmer bekommen, und Jujú hatte endlich ihr eigenes Reich. Der Raum hatte sich seitdem völlig verändert. All die Puppen, Spitzenkissen und Schächtelchen, mit denen Mariana sich gerne umgab, waren verschwunden. Ihren Platz hatten jetzt Bücherregale eingenommen, bis auf den letzten Quadratzentimeter angefüllt mit Lyrikbänden, Romanen, Lehrbüchern, Atlanten, religiöser Literatur, Notenheften. Auch einige fremdsprachige Werke waren darunter, desgleichen Fachbücher über Technik, Wirtschaft und Ingenieurswissenschaften. Jeder, der einen Blick auf den Inhalt der Mahagoniregale warf, musste Jujú für eine sehr wissensdurstige junge Dame halten. Doch Gelehrsamkeit war nicht der Grund für die Vielzahl an Büchern. Jujú nutzte vielmehr ihr Privileg, sich so viele Bücher aus Lissabon schicken lassen zu können, um es mit jemandem zu teilen.

Sie setzte sich auf ihr Bett, streifte die Schuhe ab und ließ sich hintenüber auf die Matratze fallen. Sie starrte eine Weile an die Decke. Beten sollte sie. Aber was scherte sie das Gerede über Monarchie und Republik und Umstürze? Außerdem würde das halbe Land heute Nacht für das Seelenheil der Ermordeten beten.

Sie dagegen würde Gott um etwas ganz anderes bitten.

Kapitel 2

Jujú lag mit geschlossenen Augen im Schatten des Olivenbaums. Sie hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt und lächelte versonnen. Fernando kitzelte ihr Gesicht mit einem Grashalm. Er hätte stundenlang damit fortfahren können, hätte sich ewig am Anblick von Jujús gekrauster Nase, ihren leicht zuckenden Lidern und ihren süßen Grübchen berauschen können. Wie oft hatten sie sich hier schon getroffen, wie oft sich diesen harmlosen, verliebten Spielereien hingegeben – und doch glaubte Fernando, dass er nie genug davon bekommen würde. Auf der ganzen Welt konnte es kein hübscheres Mädchen geben, und ein schlaueres schon gar nicht. Deolinda mochte sich einbilden, das begehrteste Mädchen im Dorf zu sein, aber mit Jujú konnte sie es nicht aufnehmen.

»Ah, ich halte das nicht mehr aus, Fernando!« Jujú schlug die Augen auf und fuhr sich mit beiden Händen kräftig durchs Gesicht, um das kribbelige Gefühl hinwegzuwischen. Wie immer, wenn sein Gesicht dem ihren so unerwartet nahe war, durchfuhr sie beim Blick in seine Augen ein kleiner Blitz. Sie waren von einem unvorstellbar reinen Grün, das dank der langen dunklen Wimpern nur umso intensiver leuchtete. Fernandos Augenfarbe war früher, als sie noch jünger waren, den anderen Kindern Anlass für hässliche Spötteleien gewesen. »Wechselbalg« oder »Bastard« hatten sie ihn gerufen, wahrscheinlich nur das dumme Geschwätz von zu Hause wiederholend. In der aldeia, im Dorf, hatte es noch nie jemanden mit so grünen Augen gegeben, und die Leute konnten sich diesen Umstand offenbar nur mit einem Seitensprung von Gertrudes Abrantes erklären. Obwohl Fernandos Mutter nicht müde wurde zu erzählen, dass ihr Urgroßvater den Spitznamen »olho verde«, Grünauge, getragen hatte, und obwohl sie eine gottesfürchtige Frau und treusorgende Mutter war, wurde sie den Makel des Verdachtes, eine Ehebrecherin zu sein, nie los.

Neben den Qualen, die Fernando als Kind deswegen auszustehen hatte, nahmen sich die Beleidigungen, mit denen Jujú gelegentlich bedacht worden war, geradezu lachhaft aus. »Dein Vater ist ja gar kein richtiger Mann«, hatten die Kinder gefrotzelt, »fünf Töchter und kein einziger Sohn!« Allzu oft war Jujú das nicht passiert, denn eine der ersten Lektionen der Dorfkinder war gewesen, dem Patrão und seiner Familie nie anders als unterwürfig gegenüberzutreten.

Ach, das war alles lange her. Und die wenige kostbare Zeit, die ihr heute noch mit Fernando blieb, wollte Jujú nicht mit solchen Erinnerungen verschwenden – genauso wenig wie mit störenden Gedanken an eine Zukunft, in der nach dem Willen ihrer Eltern kein Raum für Fernando mehr sein sollte. Sie wollte sich hier und jetzt ihren angenehmen Empfindungen hingeben. Sie wollte die Frühjahrssonne, die durch die silbrig schimmernden Blätter des Olivenbaums auf ihr Gesicht fielen, warm auf ihrer Haut spüren, wollte dem Gesang der Vögel lauschen, den Duft der aufblühenden Natur in sich aufnehmen und bei alldem die Zärtlichkeiten, mit denen Fernando sie bedachte, genießen. Sie schloss die Augen erneut.

Zuerst spürte sie seinen heißen Atem an ihrem Hals, dann seine Lippen. Als er zart an ihrem Ohrläppchen knabberte, bekam sie eine Gänsehaut. Er kannte ihre Schwächen und Vorlieben genau, wusste, wo und wie er sie berühren musste, damit sie vor Verlangen aufseufzte. Fernandos Hand, die er um ihre Taille gelegt hatte, wanderte vorsichtig nach oben. Jujú ließ ihn gewähren. Es war nicht das erste Mal, dass er ihre Brüste streichelte, und wäre sicher nicht das letzte Mal. Doch sosehr sie seine Liebkosungen genoss: Weiter würde sie ihn nicht gehen lassen. Auf keinen Fall wollte sie das Schicksal Luizas teilen. Ihre frühere Freundin war nach einem Techtelmechtel mit einem benachbarten Gutsbesitzersohn schwanger geworden. Vor kurzem hatte sie ihn geheiratet, nachdem sie, gerade 16-jährig, den Segen der Eltern, der Behörden und der Kirche für diese Ehe erhalten hatte. Luiza hatte bei der Hochzeit rotverweinte Augen und einen sichtbar gewölbten Bauch. Ihr Bräutigam, selber erst 19 Jahre alt, blickte wütend und trotzig drein.

»Fernando, nicht.« Fernandos Hand war unter ihren Rock geglitten und bewegte sich langsam von der Wade hinauf zu ihren Oberschenkeln.

»Ja, ich weiß.« Widerstrebend ließ Fernando von Jujú ab. Er wusste, dass sie recht hatte, und er war dankbar, dass immerhin einer von ihnen beiden über genügend Willenskraft verfügte, ihrer Begierde einen Riegel vorzuschieben. Aber Himmel, er würde das nicht mehr lange aushalten. Jujús milchweiße Haut, ihre runden, nicht allzu üppigen Brüste und ihre samtige Stimme erregten ihn aufs Äußerste.

Er ließ sich enttäuscht auf den Rücken rollen und verschränkte ebenfalls seine Arme unter dem Kopf. Er war 18 Jahre alt, es wurde höchste Zeit, dass er endlich zum Mann wurde. Und diese Erfahrung, so hatte er sich bereits vor zwei Jahren vorgenommen, als Jujú aufhörte, nur eine kleine Freundin für ihn zu sein, wollte er mit keiner anderen als ihr teilen. Damals, nachdem seine Stimme tief geworden war und sein Barthaar zu sprießen begonnen hatte, nachdem er in die Höhe geschossen und sein Körper ihm fremd geworden war, hatte er Jujú plötzlich in einem ganz anderen Licht gesehen. Und ihr war es umgekehrt auch so ergangen. Sie, die zur ungefähr gleichen Zeit wie er eine körperliche Veränderung erlebt hatte, mit der ihr Denken und Fühlen noch nicht Schritt halten konnte, war ihm gegenüber zurückhaltender geworden. In ihre Freundschaft, die immer durch Komplizentum gekennzeichnet gewesen war, hatten sich Schamhaftigkeit und Distanziertheit eingeschlichen.

Bei ihren gemeinsamen Ritten auf dem Maultier hatten sie sich unbehaglich gefühlt – bis sie ganz darauf verzichteten. Das Baden im Stausee war mit einem Mal kein großer Spaß mehr, sondern eine äußerst beunruhigende Angelegenheit gewesen. Jujú hatte schließlich als Erste zugegeben: »Fernando, ich geniere mich zu Tode. Lass uns etwas anderes unternehmen.«

Doch bei den anderen Treffen war es kaum besser gewesen. Wenn er sie auf bestimmte Stellen in den Büchern hinwies, die sie ihm heimlich lieh, wurden sie sich ihrer Nähe schmerzhaft bewusst. Wenn sie nebeneinander herliefen und er wie zufällig ihren Arm streifte, zuckten sie beide zurück. Wenn sie einander dabei erwischten, wie sie den anderen aus den Augenwinkeln taxierten, schlugen sie die Blicke beschämt nieder. Und an manchen Sonntagen, wenn der Patrão und seine Familie die Dorfkirche mit ihrer Präsenz beehrten – meist blieben sie in der heimischen Kapelle, wo Padre Alberto eine Andacht für sie abhielt – und Fernando und Jujú dort einander entdeckten, konnte selbst die wortgewaltigste Predigt sie nicht in ihren Bann ziehen.

Fernando erinnerte sich nicht mehr genau, wann und wie sie schließlich zueinander fanden. Merkwürdig, dass er eine so entscheidende Wendung in seinem Leben nicht bewusst wahrgenommen haben sollte. War es während des Karnevals im vergangenen Jahr passiert, als die gesamte Familie Carvalho in Beja erschienen war, um sich den Umzug anzusehen, und Jujú einmal mehr die Gelegenheit ergriffen hatte, sich unter die Dorfleute zu mischen? Da hatten sie sich umarmt, das wusste er noch. Oder doch im letzten Mai, als er erstmals eigenhändig die Rinde einer Korkeiche abgelöst und Jujú danach stolz seine schwieligen Hände gezeigt hatte? Sie hatte daraufhin die Innenfläche seiner Hände geküsst, und zwar so zärtlich, dass die Botschaft unmissverständlich war.

Jujú hatte jede Einzelheit jenes Tages, an dem sie Fernando ihre Gefühle für ihn offenbart hatte, noch ganz deutlich vor Augen, und genau jetzt, da sie unter dem Olivenbaum lag und Fernandos noch immer beschleunigten Atem hörte, dachte sie daran. Ein Nachmittag im Spätherbst 1906: Die Störche flogen in großen Schwärmen Richtung Süden. Auch das Paar, das das Nest auf einem der Schornsteine von Belo Horizonte bewohnte, war schon in sein afrikanisches Winterquartier aufgebrochen. »Sie bleiben ein Leben lang zusammen«, hatte sie gesagt und Fernando dabei tief in die Augen geschaut. »Und jedes Jahr bauen sie an ihrem Nest, bis es ganz groß und ganz stabil ist.« Fernando hatte ihren vielsagenden Blick erwidert und nur geantwortet: »Ja.« Es war die kürzeste und schönste Liebeserklärung, die Jujú sich überhaupt denken konnte.

Fernando richtete seinen Oberkörper auf und stützte sich auf die Ellenbogen. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er die Uhrzeit auf dem Kirchturm abzulesen, der etwa 500 Meter Luftlinie von ihnen entfernt war.

»Ist es wirklich schon fast Mittag?«

»Ich fürchte, ja. Gleich werden wir es ja hören.« Jujú drehte sich auf die Seite, bettete den Kopf auf ihren angewinkelten Arm und musterte Fernandos Gesicht von unten. Wie männlich er geworden war! Sein Kinn war kantig und trug den dunklen Schatten eines Bartwuchses, der für sein Alter schon sehr ausgeprägt war. Seine Haut war, trotz des eben erst zu Ende gegangenen Winters, gebräunt, sein Haar tiefschwarz und glänzend. Jujú sah andächtig auf seinen Adamsapfel, der sich jetzt auf und ab bewegte. Fernando schluckte – und sie wusste bereits, was jetzt kommen würde. Sein Pflichtbewusstsein war wirklich zum Aus-der-Haut-Fahren.

»Ich muss los. Meine Mutter regt sich furchtbar auf, wenn ich nicht pünktlich zum Essen erscheine. Und meinem Vater habe ich versprochen, heute nach der undichten Stelle im Dach zu sehen.« Wenn er jetzt nicht ging, würde Fernando nicht länger für sich garantieren können. Abrupt erhob er sich. »Und außerdem kommt heute mein ältester Bruder zu Besuch und stellt uns seine Braut vor.«

»Ach, Manuel heiratet? Aber er kann doch höchstens ... 19 oder 20 Jahre alt sein.« Jujú erinnerte sich vage an den Burschen, der mit Muskelkraft wettmachte, was er an Geistesgaben nicht besaß. Ein stämmiger Kerl, beliebt bei seinen Saufkumpanen, unzuverlässig auf dem Feld. Er war vor einiger Zeit in den Ribatejo gegangen, wo ein entfernter Verwandter ihm Arbeit geben wollte. Hier fand er keine mehr.

»In unseren Kreisen«, Fernandos Ton troff vor Ironie, »ist das ein ganz normales Alter zum Heiraten.« Fernando reagierte immer ungehalten, wenn Jujú ihm zwischen den Zeilen zu verstehen gab, dass sie die Sitten in der aldeia befremdlich fand. In ihren Kreisen heirateten die Männer erst, wenn sie ein Studium abgeschlossen und vielleicht sogar eine Weile im Ausland verbracht hatten – von einzelnen Fällen abgesehen, in denen sie früher als geplant heiraten mussten.

»Ich habe doch gar nichts gesagt«, beschwerte Jujú sich. Dabei wusste sie genau, dass sie es sehr wohl gedacht und nur nicht ausgesprochen hatte. Sie zuckte mit den Schultern. »Na, dann beeil dich am besten. Wenn mich nicht alles täuscht«, damit sah sie zum Kirchturm, »ist es schon fünf vor zwölf.«

Doch Fernando wollte nicht gehen, solange diese leicht angespannte Stimmung zwischen ihnen herrschte. Er nahm Jujús Hand und zog sie hoch. Schwungvoll kam sie auf die Beine. Sie begann ihre Frisur zu ordnen, aus der sich einige Locken gelöst hatten. Fernando fand sie in diesem Moment unwiderstehlicher denn je. Er zog sie nah zu sich heran, um ihr einen Kuss zu geben, aber Jujú lehnte sich zurück und zwinkerte ihn an.

»Vier vor zwölf.« Wenn sie erst anfingen, sich zu küssen, würde es ihnen noch schwerer fallen, sich voneinander zu verabschieden.

Abrupt ließ Fernando sie los und drehte sich um. Er griff nach seinem Hut, den er auf einen Ast des Baums gehängt hatte, schüttelte die manta aus, auf der sie es sich bequem gemacht hatten, und stapfte davon. Er wandte sich nicht mehr zu Jujú um, auch dann nicht, als sie ihm nachrief: »Morgen Abend, am Erdbeerbaum?«

Die Glocken schlugen zwölf.

Als Fernando zu Hause eintraf, saßen seine Eltern und seine jüngeren Geschwister bereits am Tisch. Schweigend löffelten sie ihre migas, die Brotsuppe, die in letzter Zeit fast ausschließlich auf dem Speisezettel stand. Seine Mutter bereitete sie immer auf andere Weise zu, mal mit Knoblauch, mal mit Disteln, doch auch das konnte nicht über die Dürftigkeit der Mahlzeit hinwegtäuschen. Fernando konnte sich kaum erinnern, wann es bei ihnen zum letzten Mal Schweinefleisch gegeben hatte. Er ließ sich auf seinen Holzstuhl fallen und goss sich aus dem Tonkrug einen Becher Wein ein. Die anderen würdigten ihn kaum eines Blickes.

Sein Vater löffelte mit mürrischem Gesicht seine Suppe, die kräftigen und stark behaarten Unterarme auf den Tisch gestützt. Er schlürfte dabei laut. Sein Kopf befand sich unmittelbar über dem Teller. Fernandos Mutter war aufgestanden, um eine weitere Portion aufzufüllen. Sie stellte den Teller vor ihrem zweitältesten Sohn ab. Fernando sah nicht auf. Sein Blick war auf ihre Hände gerichtet – starke, fleißige, geschickte Hände, Hände, mit denen Gertrudes Abrantes tagaus, tagein Wäsche wusch, den Boden scheuerte, die Hühner in ihrem Hinterhof fütterte oder sie, wenn an besonderen Tagen eines geschlachtet wurde, rupfte. Hände, mit denen sie früher die Köpfe ihrer Kinder gestreichelt hatte, als diese sich noch nicht zu alt für derlei Zärtlichkeiten gefühlt hatten, und Hände, mit denen sie die Schläge ihres Mannes abgewehrt hatte. Seit Fernando seinem Vater über den Kopf gewachsen war und die Mutter verteidigte, wagte João Abrantes es nicht mehr, seine Wut an seiner Frau auszulassen. Jedenfalls nicht in Gegenwart Fernandos.

Noch immer starrte Fernando auf die Hände seiner Mutter, die inzwischen wieder auf ihrem Platz saß, einen Laib Brot an ihren ausladenden Busen drückte und davon eine Scheibe abschnitt. Das Brot bestand mehr aus Schrot als aus feinem Weizenmehl – und das, dachte Fernando, hier in der Kornkammer Portugals. Es war genauso zäh und hart wie die Hände seiner Mutter, an denen das Leben verheerende Spuren hinterlassen hatte. Die Haut war spröde und rot, die Nägel waren rissig. Er dachte an Jujús zierliche, weiße Händchen, an die elegant manikürten Nägel, und mit einem kaum wahrnehmbaren, tonlosen Seufzer wandte er den Blick von seiner Mutter ab. Er würde Jujú nie heiraten können, solange er ihr nichts Besseres zu bieten hatte als eine Zukunft, in der sie solche Hände bekommen würde – Hände, an denen all die Entbehrungen und die ganze Hoffnungslosigkeit der kleinen Bauern abzulesen waren.

»Du bist spät. Hast du dich wieder mit diesem Mädchen rumgetrieben?«, murmelte sein Vater mit vollem Mund.

Fernando antwortete nicht. Er war achtzehn Jahre alt und seinen Eltern keine Rechenschaft schuldig über jeden der Schritte, die er unternahm. Er war der tüchtigste Arbeiter im Haus, der jeden schwer verdienten Réis daheim ablieferte, damit sein Vater ihn in der Schenke lassen konnte. Er hätte längst sein Recht auf größere Essensportionen einfordern können, oder er hätte fortgehen sollen, um im Norden oder sogar in Lissabon sein Glück zu versuchen. Aber wie konnte er? Die Familie würde hungern, seine Mutter würde halbtot geschlagen werden, und er selber würde ohne Jujú ohnehin kein lebenswertes Leben führen.

»Antworte mir gefälligst!« Endlich sah João Abrantes von seinem Teller auf. Was er sah, gefiel ihm nicht. Sein Sohn – wenn es denn seiner war – stierte ihn aus seinen teuflisch grünen Augen an und wirkte wie einer, der sich zu fein für dieses Haus geworden war. Die Mädchen im Dorf waren verrückt nach Fernando, weiß der Himmel, wieso. Jedenfalls hatten ihm schon zwei seiner Freunde, der Schuster Joaquim Tavares und der Korbflechter José Ferreira, beide Väter heiratsfähiger junger Mädchen, entsprechende Andeutungen gemacht. Und nicht genug damit, dass Fernando bei den Weibern einen Stein im Brett hatte, nein, er musste auch noch so ein Klugscheißer sein, der seinen Vater andauernd belehrte.

Fernando ließ sich schließlich zu der Andeutung eines bejahenden Nickens herab.

»Das ist nicht gut, Junge. Für dieses reiche Mädchen bist du nur ein Abenteuer, ein lustiger Zeitvertreib. Wahrscheinlich gibt sie bei ihren Schwestern und ihren Freundinnen damit an, dass sie mit einem Kerl aus der aldeia angebändelt hat, und dann kichern sie alle zusammen und finden das Ganze aufregend verdorben.«

Das war die längste zusammenhängende Ansprache, die Fernando in den letzten Jahren von seinem Vater gehört hatte – und eine der vernünftigsten. War er etwa um diese Zeit noch nüchtern? Obwohl Fernando einsah, dass die Worte seines Vaters nicht einer gewissen Lebensweisheit entbehrten, ärgerten sie ihn. So ein albernes, verwöhntes Geschöpf war Jujú nicht! Er kannte sie, kannte sie so gut und schon so lange, dass er an ihren echten Gefühlen für ihn nicht den geringsten Zweifel hatte.

»Und eines Tages«, fuhr sein Vater fort, »wird sie einen Mann heiraten, der zu ihr passt, und sie wird sich schämen, dass sie jemals einem Bauern wie dir Zudringlichkeiten erlaubt hat, und dann wird sie dich für ihr eigenes schlechtes Gewissen bestrafen. Sie wird dich behandeln wie einen Hund.«

Du liebe Güte, was war denn mit seinem Vater los? Das klang ja fast so, als spräche er aus eigener Erfahrung.

»Wird sie nicht«, stieß Fernando wütend hervor.

»Wenn sie ihn behandelt wie einen der Jagdhunde ihres Vaters, dann wäre das doch nicht das Schlechteste.« Sebastião klopfte sich auf die Schenkel, aber niemand sonst am Tisch fiel in sein Lachen mit ein. Der 16-Jährige bemerkte nicht, wie fehl am Platz sein Einwurf gewesen war. »Ha, dann dürftest du Wildschweinkeulen abnagen und ungestraft Kaninchen im Wald jagen. Und dich vor aller Augen von ihr streicheln lassen. Und dich an ihrem Bein reiben.«

»Still, du Nichtsnutz!«, meldete sich die Mutter zu Wort.

»Aber ich habe die beiden gesehen, wie sie ...«

»Das reicht.« João bedachte seinen jüngsten Sohn mit einem Blick, aus dem Ungeduld und väterlicher Stolz zugleich sprachen. Der Junge war zu vorlaut, aber ansonsten machte er sich prächtig. Von seinen drei Söhnen war Sebastião derjenige, der seinem Vater am meisten ähnelte.

»Ich habe es auch gesehen«, kam es leise aus Marias Ecke. Maria da Conceição war das Nesthäkchen und die einzige Tochter der Abrantes’. Alle vergötterten sie. Sie sah aus wie die Madonna auf den Heiligenbildchen, die sie sammelte, und sie benahm sich auch so. Nie erhob sie die Stimme, nie ließ sie sich von den Streichen ihrer älteren Brüder aus der Ruhe bringen, immer half sie der Mutter klaglos bei den Arbeiten im Haus und im Hintergarten. »Das ist eine Sünde, was ihr da macht«, sagte sie nun zu Fernando.

»Zuzusehen ist auch eine Sünde.«

»Ich habe es ja nicht mit Absicht getan.«

»Und ich habe nicht das getan, was du zu sehen geglaubt hast.«

»Schweig! Deine Schwester ist dreizehn! Was glaubst du wohl, wie viel sie sich eingebildet haben kann, hä? Wenn sie sagt, sie hat euch dabei gesehen, dann wird es wohl so gewesen sein.« João Abrantes rückte geräuschvoll seinen Stuhl vom Tisch ab.

»Und ich will nicht, dass sie es noch einmal sieht, verstanden? So, und jetzt an die Arbeit. Fernando, Sebastião, ihr repariert jetzt endlich das Dach. Demnächst regnet es.« Dieser Vorhersage widersprach niemand. Die Wetterprognosen ihres Vaters waren fast immer richtig. »Und Conceição, du hilfst deiner Mutter beim Abwasch.«

Dieser Aufforderung hätte es nicht bedurft. Das Mädchen war bereits aufgestanden und trug das Geschirr ab. Niemand sollte sehen, wie rot ihr Gesicht angelaufen war. Das derbe Gerede hatte ihr Schamgefühl verletzt – und sie war selber schuld daran. Jetzt tat es ihr leid, dass sie Fernando verraten hatte. Er war doch ihr Lieblingsbruder.

Nachdem João seine Anweisungen erteilt hatte, nahm er seinen Hut vom Haken im Eingang und verließ ohne ein weiteres Wort das Haus. Alle wussten, wohin es ihn zog.

Gertrudes Abrantes goss Wasser in die Spülschüssel und hing ihren eigenen Gedanken nach. Wenn Fernando und die kleine Juliana tatsächlich das taten, was alle zu glauben schienen, dann musste sie dringend ein ernstes Wort mit ihrem Sohn reden. Nachher würde er noch Schande über ihre eigene und über die Familie des armen Mädchens bringen, und wohin sollten sie dann gehen? Hier in Milagres hatten sie es gut. Sie bewohnten ein vergleichsweise geräumiges Häuschen mit einem Garten, in dem sie Aprikosen und Melonen, Kartoffeln, Zwiebeln, Karotten, Grünkohl und Tomaten zogen. Auch ein paar Rebstöcke hatten sie. Sie hatten keine Probleme mit dem Verwalter des Patrãos, er gab ihnen immer Arbeit und behandelte sie gerecht. Sie waren alle gesund und fleißig und verdienten mit vereinten Kräften genug, um sogar noch ein paar tostões für Marias spätere Mitgift zurückzulegen. Das heißt, zumindest Gertrudes sparte die wenigen Münzen, die sie in den Sommermonaten auf den Feldern verdiente – ihr Mann zog es vor, seinen Verdienst zu großen Teilen in den gierigen Schlund des Wirtes zu werfen.

Demnächst gäbe es auch wieder mehr Fleisch zu essen. Wenn erst der Juni kam und mit ihm die arbeitsreichste Zeit des Jahres begann, wenn der Weizen gemäht und gedroschen wurde und die Korkeichen geschält wurden, dann hätten sie wieder Geld genug, um ein Schwein zu kaufen, es zu schlachten, zu pökeln und davon bis in den Herbst hinein zu zehren. Dann die Weinlese, anschließend die Olivenernte – ja, jetzt ging es wieder bergauf. Wenn nur Fernando den Verstand besäße, endlich von diesem Mädchen abzulassen!

Gertrudes Abrantes wischte die nassen Hände an ihrer Schürze trocken. Sie band sich ein Kopftuch um und ging durch die Hintertür hinaus in den Garten, um die Wäsche von der Leine zu nehmen. Während sie prüfend die Laken betastete, in denen sie noch eine Spur Feuchtigkeit zu fühlen glaubte, betrachtete sie ihre Söhne. Sie hatten die Leiter ans Haus gelehnt. Fernando kniete auf dem Dach und löste vorsichtig einen zerbrochenen roten Ziegel. »Bestimmt vom Frost«, rief er seinem Bruder zu. Sebastião stand auf einer der mittleren Sprossen der Leiter, nickte und nahm die Scherben entgegen.

Gertrudes wurde von Wehmut ergriffen. Richtige Männer waren sie schon, beide mit tiefen, wohltönenden Stimmen, stämmig der eine, von schlankerem Wuchs der andere. Beide hatten breite Schultern und muskulöse Gliedmaßen, und beide neigten, das sah man schon jetzt, zu dem gleichen Übermaß an Körperbehaarung wie ihr Mann. Dabei war es doch noch gar nicht lange her gewesen, dass sie die Jungen an ihrer Brust genährt und auf ihrem Schoß geschaukelt hatte, dass sie ihre Kindertränen fortgewischt und ihnen mit alten Märchen Respekt vor dem lieben Gott sowie den Geistern der Ahnen eingeflößt hatte, dass sie ihre weichen Bäuchlein gerieben und in ihre roten Bäckchen gekniffen hatte.

Sebastião war als Kind unkompliziert und fröhlich gewesen, und daran hatte sich bis heute wenig geändert. Fernando dagegen erinnerte nur noch selten an den ständig lachenden kleinen Jungen von früher. Er war verschlossen und eigenbrötlerisch geworden. Es lag etwas in seinem Blick, das Gertrudes nicht verstand, ja, das ihr Angst einjagte. Doch genau darin lag das Geheimnis seiner Anziehungskraft. Sie mochte seine Mutter sein, aber sie war auch eine Frau, und sie erkannte durchaus, welche umwerfende Wirkung Fernando auf die Mädchen hatte.

»Du Dummkopf!«, beschimpfte er jetzt seinen Bruder vom Dach herab.

Sebastião betrachtete zerknirscht den neuen Dachziegel, der ihm heruntergefallen und dabei zerbrochen war.

»Los, hau ab. Ich kann dich hier nicht länger gebrauchen. Allein komme ich besser zurecht.« Fernando kletterte geschmeidig von der Leiter. Er ging zu dem Haufen mit den Ziegeln, der an der Hauswand aufgeschichtet war. Dann schien ihm einzufallen, dass er irgendetwas aus dem Schuppen benötigte, ein Werkzeug vielleicht. Er drehte sich auf dem Absatz um 180 Grad und ging an der Hauswand entlang in Richtung Schuppen.

Gertrudes sah es kommen und rief noch: »Halt!«

Doch ihre Warnung kam zu spät. Fernando war bereits unter der Leiter hindurchgeschritten.

Seine Mutter hob den Blick flehend zum Himmel: Bitte, Senhor, lass uns kein Unglück widerfahren! Doch darauf, dass der Herrgott sie erhören würde, schien Gertrudes nicht zu vertrauen. Als sie die klammen Betttücher von der Leine löste, zitterten ihre Hände.

Kapitel 3

Das Schicksal lässt sich nicht beschummeln.

Es mag sich eine Weile unsichtbar machen, aber nur, um dann mit doppelter Wucht zuzuschlagen. Es lauert immer hinter der Ecke, hinter der man es am wenigsten erwartet, und man darf es nie dadurch herausfordern, dass man seine Existenz ignoriert oder gar leugnet. Diese Lektion hatte Gertrudes Abrantes schon in jungen Jahren gelernt, und bis heute, da sie auf ihren 44. Geburtstag zuging und zwei Enkelkinder hatte, ließ sie sich nicht in diesem Glauben beirren. Mochte ihr Leben derzeit in ruhigen Bahnen verlaufen, mochten ihre Söhne auch noch so erfolgreich, ihre Tochter ein Goldschatz und ihre Enkel die reinste Freude sein – Gertrudes wusste mit unerschütterlicher Sicherheit, dass irgendein Unglück nahte. Die Zeichen waren nicht zu übersehen: Erst das Ausbleiben des Storchenpaares, das immer auf der Kirchturmspitze genistet hatte, dann das unheimliche Himmelsspektakel im Mai 1910, als ein Komet die Erde passierte. Ein drittes, ähnlich besorgniserregendes Ereignis dieser Art, und etwas Furchtbares würde passieren.

Fernando belächelte den Aberglauben seiner Mutter. Ihm selber schien das Schicksal durchaus gewogen – obwohl er dies weniger einer himmlischen Fügung als vielmehr seinem eigenen Ehrgeiz, Fleiß und Können zuschrieb. In den vergangenen beiden Jahren hatte er alles darangesetzt, sich auf dem Latifundium des José Carvalho unentbehrlich zu machen. Es gab kein Gerät, das er nicht reparieren konnte, keine Maschine, deren Funktionsweise er nicht kannte, keinen Motor, den er nicht genauestens untersucht hätte. Die Lektüre all der Bücher, die ihm Jujú über die Jahre mitgebracht und die er nachts bei Kerzenlicht gelesen hatte, wenn Sebastião längst schlief, trug nun Früchte. Weil er sich die Bücher nicht selber hatte aussuchen können und weil Jujú nicht viel von Technik verstand, hatte Fernando auch die abwegigsten Werke, die sie ihm manchmal gab, verschlungen – mit dem Ergebnis, dass er auf keinem speziellen Gebiet ein wirklicher Experte war, dafür aber umfangreiche Kenntnisse in den verschiedensten Bereichen besaß. In Lissabon hätte er mit seinem Wissen Furore gemacht, hätte Gleichgesinnte treffen und mit ihnen über Brückenkonstruktionen, Telefone, Lokomotiven, Aerodynamik, Dieselmotoren, Radioaktivität, Statik, Funkwellen oder die Errichtung von Staudämmen fachsimpeln können. Hier, in Milagres, galt er bloß als Verrückter.

Immerhin erkannte man, dass Fernandos naturwissenschaftliches Genie sowie sein technisches Verständnis durchaus hilfreich sein konnten und dass seine Verrücktheit nicht auf einem Mangel an Intelligenz, sondern auf einem Überschuss derselben beruhte. Viele nannten ihn daher – halb spöttisch, halb respektvoll – »engenheiro«, Ingenieur. Nicht, dass er allzu viele Gelegenheiten gehabt hätte, seine Begabung unter Beweis zu stellen. Weit und breit war noch nicht ein einziges Telefon in Betrieb. Es gab immerhin eine Eisenbahnlinie, und es gab in den Dörfern rund um Beja ein einziges Automobil, nämlich das des Patrão, das immer, wenn es über die ungepflasterten Wege rumpelte, einen kleinen Volksaufstand verursachte – und dabei wussten die Leute nicht einmal, dass es sich um einen veritablen »Silver Ghost« handelte. Nur auf dem monte, dem Gutshof der Carvalhos, umgab man sich mit allerlei technischen Errungenschaften, die aus England oder Frankreich importiert wurden. Wusste man mit einem der Geräte nicht weiter, rief man Fernando. Bezahlt wurde er für diesen Zusatzdienst selbstverständlich nicht – es hatte ihm eine Ehre zu sein, die kostbaren Spielzeuge des Patrão instand zu halten.