Der Hipster von der traurigen Gestalt - Daniel Rodriguez Gascón - E-Book

Der Hipster von der traurigen Gestalt E-Book

Daniel Rodriguez Gascón

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Beschreibung

Die abenteuerliche Geschichte eines modernen Don Quijote, der voller Zuversicht und Tatendrang die Mission verfolgt, Nachhaltigkeit, Identitätspolitik und Wokeness in die Provinz zu tragen. Eine scharfsinnige Satire auf die Debatten unserer Zeit. Enrique zieht zu seiner Tante nach La Cañada, einem Dorf im Osten von Spanien, um dem Stadtleben zu entfliehen, einen Gemeinschaftsgarten anzulegen und seine Ex-Freundin zu vergessen. Morgens macht er Yoga im Hof, im Dorfladen sucht er vergebens nach Quinoa und auf den höchsten Punkten der Umgebung nach Handyempfang. Auch wenn sich zu seinem Workshop zum Thema Neue Männlichkeit vorerst nur seine Tante und vier weitere Frauen einfinden und die Drohne, die seine Amazon-Bestellung liefert, eine Scheune in Brand setzt – Enrique kämpft tapfer dafür, die Landbevölkerung in der Moderne zu verorten, und wird schließlich sogar zum Bürgermeister gewählt. Als jedoch ein Filmdreh über den Spanischen Bürgerkrieg die Mitglieder einer rechten Partei auf den Plan ruft, weil sie denken, es sei die anarchistische Revolution ausgebrochen, und ein amerikanischer Sänger der kulturellen Aneignung beschuldigt wird, weil er in der traditionellen Tracht von La Cañada auftritt, wird Enriques Idealismus auf eine harte Probe gestellt.

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Seitenzahl: 204

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DANIEL GASCÓN

DER HIPSTER VON DER TRAURIGEN GESTALT

Roman

Aus dem Spanischen von Christian Hansen

Verlag Antje Kunstmann

Inhalt

Tagebuch eines neuen Lebens

Abenteuer im Kampf der Kulturen

Unser Held erahnt neue Möglichkeiten und die Vergangenheit kommt zu Besuch

Ländlich Polyphonie, feministische Jotas, der Schafeflüsterer und ein Duell im Morgengrauen

Ende gut, alles gut

Wahlkampf in La Cañada

Der Tod des Hipsters

Der Bürgerkrieg und kein Ende

Die Erinnerungskultur ist voller Zukunft

Die Tracht von Tante Rosario

Die Liebenden von Teruel

Soziale Revolution im leeren Spanien

Die Nacht von Teruel

La Cañada auf dem Klimagipfel

Die Befreiung der Greta Thunberg

Danksagungen

TAGEBUCH EINES NEUEN LEBENS

18. Februar

Wie schön, hier aufzuwachen. Kurz vor sechs kräht der Hahn sein Lied. Wenig später dringen die ersten Klänge des erwachenden Dorfes an mein Ohr: Tomás mit dem Motorpflug, Javier mit dem Motorpflug, Rogelio mit dem Traktor, Paco mit dem Motorpflug.

Ich bleibe noch ein paar Minuten liegen und lese in Leeres Spanien. Als die Kirchenglocken läuten, bin ich schon auf dem Sprung nach draußen, mit einer Energie, wie ich sie lange nicht gekannt habe. Und dem Gefühl, etwas wirklich Wichtiges zu tun, in Einklang mit der Natur zu sein, aber auch mit mir selbst.

Ob es die Aufbruchstimmung ist? Das Wissen, mich fernab der Frivolität und leeren Geschwindigkeit des modernen Lebens zu befinden, mit einem echt bahnbrechenden Projekt vor Augen, einer noblen, transversalen Initiative?

Ich habe meine Tante gefragt, ob wir nicht Schafsmilch trinken könnten. Sie sagt Nein, anscheinend trinkt sie nur Milch aus dem Tetrapak, weil sie vor Jahren Brucellose hatte. Aber schon frühmorgens geht sie in den Stall, melkt das Schaf, und wenn ich runter in die Küche komme, steht meine Milch (dreimal abgekocht) schon da. Die einfachen Leute sind klasse.

Yanis hüpft vor Freude, er wartet schon im Hof, als wir rauskommen. Ich bin froh, ihn hier so glücklich zu sehen.

19. Februar

Heute Bestandsaufnahme im Dorf.

Zum Kaufladen gehen macht Spaß. Man grüßt, hängt dort morgens eine Weile rum, die Frauen kommen und erzählen ihre Geschichten. Die Leute hier verstehen viel von Zeit. Es gibt zwei Läden. Der eine heißt hier Estanco, obwohl es eigentlich ein normaler Kiosk ist. Beim anderen steht der Name Dardo an der Tür, aber alle nennen ihn den Laden von Lucía, obwohl die Frau, der er gehört, nicht Lucía heißt (das war die Mutter, glaube ich).

Ich habe eine Weile nach dem Regal mit den Bioprodukten gesucht, es aber nicht gefunden. Auch Hola Coffee konnte ich nirgends entdecken. Ich werde morgen fragen. Die Verkäuferin redete gerade mit einer Kundin, offenbar ein wichtiges Gespräch.

Ich habe mit der Sekretärin vom Rathaus gesprochen (sie nennen sie die Vorsteherin), um mich zu erkundigen, ob ich den Bürgermeister sprechen und ihm das Projekt erläutern kann. Sieht aus, als wäre er im Sägewerk sehr eingespannt.

Die Bekanntmachungen kommen über die Lautsprecheranlage des Rathauses. Die Sekretärin verliest die Durchsagen. Zur Ankündigung erklingt jedes Mal eine dieser aragonesischen Volksweisen, die sie Jota nennen.

Zwei Bars gibt es, die an der Hauptstraße und die von Lorenzo. Die von Lorenzo heißt Tropezón, aber alle nennen sie die Bar von Lorenzo. Fast sämtliche Männer des Dorfes sind in Rente oder arbeitslos. Am Nachmittag gehen die einen erst in die Bar an der Hauptstraße und dann in die von Lorenzo, die anderen erst in die von Lorenzo, dann in die an der Hauptstraße. Ich bin noch unentschieden, welcher Gruppe ich mich anschließen soll. Wird es mir hier so ergehen wie damals mit meiner Clique, wo ich für einen dritten Weg plädierte und mich schließlich im Niemandsland wiederfand?

Am Nachmittag unternehme ich einen Spaziergang. Die Alten (allesamt Männer) spielen Petanca, werfen ihre Kugeln auf einer Esplanade, die manche die Großelternschaukel nennen, andere das Mahnmal der Gefallenen. Kaum zu glauben, dass das polarisierende und feindselige Klima sozialer Netzwerke selbst so einen abgelegenen und friedlichen Ort erreicht.

Die Abenddämmerung ist hier wunderschön. Ich habe versucht, ein Foto von mir und Yanis zu machen, um es auf Instagram hochzuladen, aber ich hatte keinen Empfang. Morgen werde ich es noch mal versuchen.

Ich würde lügen, wenn ich behauptete, dass ich die Dächer von Madrid nicht vermisse, die ich immer von Linas Mansarde aus sah. Aber die Luft ist sauber und erfrischend, und nachts sieht man alle Sterne.

20. Februar

In der Bar. Kameradschaft. Rauer, herzlicher Humor. Einer der Arbeiter vom Sägewerk hebt die Hand (an der er nur zwei Finger hat) und sagt: »Fünf Bier für die vom Sägewerk.« Wir lachen alle, obwohl es mir fast so vorkommt, als hätte er den Witz gestern und vorgestern auch schon erzählt. Der Bürgermeister, dem das Sägewerk gehört, war auch da. Ich habe versucht, mit ihm zu sprechen, aber er hat gesagt, das sei jetzt nicht der Moment. Die ehemaligen Bergleute und heutigen Rentner sind nett. Sie verbringen ihre Nachmittage damit, eine Flasche Bier nach der anderen zu trinken. Zwei von ihnen, Javier und Ramiro, haben mir Anekdoten von der Jagd und von ihren Hunden erzählt, vor allem von einem, den sie Santi getauft haben und der sehr cholerisch ist. Sie jagen Rebhühner, Wachteln und Füchse. Am liebsten aber Wildschweine. Ich habe ihnen gesagt, ich sei kein großer Freund der Jagd und dass wir meines Erachtens die Tiere mehr respektieren, sie als fühlende Wesen anerkennen müssten, obwohl ich verstehen würde, dass es erforderlich sein könne, die Populationen zu kontrollieren, weil das ökologische Gleichgewicht durch den Eingriff des Menschen in die Natur bereits gestört sei.

Javier hat gefragt, ob ich eventuell ein bisschen schwul bin. Lourdes, die Kellnerin, hat zu ihm gesagt: »Eventuell bist du ein bisschen grob!«, und alles hat sich in Wohlgefallen aufgelöst.

Ich habe versucht, das Foto auf Instagram hochzuladen, vergeblich.

21. Februar

Auf dem Hof mit meinem Onkel Rafael. Ein kleiner Betrieb. Er hat mich gebeten, ihm zur Hand zu gehen, und so mache ich mich nebenbei mit den Dingen vertraut. Yanis hatte seinen Spaß, ist rumgesprungen. Der Hund von meinem Onkel hat ihm ein bisschen Angst gemacht, aber am Ende haben sie sich vertragen.

Wir haben eine Weile im Gemüsegarten gearbeitet. Dann habe ich ihm bei den Tieren geholfen. Mich erstaunt die heteropatriarchalische Ordnung im Hühnerstall. Es ist schon barbarisch, wie unsere Kultur das Leben der Tiere auf den Kopf gestellt hat. (Ich musste an Walter Benjamin denken.)

Ich weiß nicht, ob Rafael mich richtig verstanden hat, als ich ihm das sagte. Jedenfalls ist das etwas, das wir ändern müssen, wenn wir unser Projekt starten.

Ich habe Rafael gesagt, ich würde lieber zu Fuß nach Hause gehen, was ich dann auch tat. Ich finde wirklich, dass man in La Cañada zu viel Auto fährt. Ich halte das für nicht besonders rücksichtsvoll der Umwelt gegenüber. Es wurde irgendwann dunkel, und ich habe mich verlaufen. Das war aber nicht schlimm. In kaum drei Stunden bin ich auf die Hauptstraße gestoßen, und noch eine Weile später habe ich ein Auto kommen sehen. Es hat angehalten, und darin saß Lourdes, die Kellnerin aus der Bar an der Hauptstraße.

Sie hat mir gesagt, in der Nähe des Repeaters, auf der Tenne, gebe es eine Stelle mit gutem Empfang. Sie hat mir auch eine Creme für meine Hände gegeben, die vom Hacken im Garten voller Schwielen waren. »Meine Güte. Was für schöne Hände du hast. Vom nicht Arbeiten«, hat sie gesagt.

Mein Onkel Rafael hat sich kaputtgelacht, als ich ankam.

22. Februar

Eine Dunstglocke wie über Madrid gibt es hier nicht, aber abends, wenn der Wind von Osten kommt, zieht oft ein strenger Geruch auf. »Der Schweinewind weht«, sagt meine Tante dann. Es ist der Geruch der Ställe.

23. Februar

Endlich hat mich der Bürgermeister empfangen. Es lief ganz gut. Ich habe ihm in groben Zügen unser Projekt erläutert. Die Idee, etwas zu tun, das man im neoliberalen Jargon ein Start-up nennen könnte, aber mit dem Ziel, den organischen Zusammenhalt und die tiefe Verbundenheit aller Lebewesen untereinander sowie mit ihrer Umgebung zu stärken, ausgehend vom Respekt zwischen den Geschlechtern und Arten und einer auf kollaborativer Horizontalität gegründeten, nachhaltigen Entwicklung, die eine dynamische Wechselbeziehung zwischen Althergebrachtem und Modernem abseits der tyrannischen Triebkräfte des Spätkapitalismus, dessen operative Logik sich verheerend auf den Planeten und die Menschheit auswirke, ermöglichen könnte.

»Und warum das alles?«, hat er gefragt.

Ich hab’s ihm noch genauer erklärt, aber er hat skeptisch geguckt.

»Ihr wollt doch bestimmt irgendwelches Geld.«

Als ich ihm versicherte, dass wir nichts dergleichen bräuchten, nur das Placet des Rathauses, schien ihn das etwas zu beruhigen. Als ich ging, hörte ich, wie er zu der Sekretärin sagte:

»Der will irgendwas.«

In meinen Augen ein Zeichen, dass er an das Projekt glaubt.

24. Februar

Ich habe geträumt, ich würde mir in der Filmothek Uzala, der Kirgise ansehen.

25. Februar

In der Bar. Ramiro sagt, die Politiker seien alle gleich und wollten sich nur bereichern. Ich habe zu relativieren versucht, indem ich sagte, er ziehe vielleicht voreilige Schlüsse, man müsse das differenzierter sehen. Er hat mich gefragt, ob ich ihn für bekloppt halte. Überhaupt nicht, habe ich gesagt, ich würde ihn bitten, nicht gleich so empfindlich zu reagieren. »Was hat er gesagt, soll ich ihn kaltmachen?«, hat er seinen Bruder Javier gefragt. Lourdes hat die Wogen etwas geglättet.

Ramiro bestand darauf, alles zu zahlen.

Ich habe in Lucías Laden keine Quinoa gefunden. Auch keinen Hola Coffee. Er steht nicht bei dem anderen Kaffee. Mal sehen, ob ich morgen mit der Verkäuferin reden kann. Sie redete gerade mit derselben Frau wie neulich, wieder war es offenbar ein wichtiges Gespräch.

Auf dem Marktplatz hat Pascual zu mir gesagt: »Wenn dein Hund weiter den Hündinnen nachsteigt, wird man ihn dir kastrieren.«

Ich muss eine Leine kaufen.

Keine Nachricht vom Bürgermeister.

26. Februar

Ich habe geträumt, ich sähe einen Film von Chris Marker.

27. Februar

Ich habe von Lina geträumt.

Wer hat bei einem solchen Himmel schon Lust auf Uzala, den Kirgisen?

28. Februar

An diesem Morgen war ich schon wach, ehe der Hahn krähte. Ich habe meiner Tante gesagt, ich wolle doch lieber keine Schafsmilch. Irgendwas behagt mir nicht am Schafemelken. Es ist und bleibt doch eine Form sexueller Belästigung.

Meine Tante hat es gut aufgenommen. Anfangs schien sie den Tränen nahe, aber dann hat ihr mein Standpunkt eingeleuchtet. »Dieser Junge«, hat sie gesagt. Ich glaube, im Grunde ist sie stolz auf mich.

1. März

Bis spät mit Ramiro und Javier in der Bar Karten gespielt und getrunken.

Auf dem Nachhauseweg schrieb ich Lina eine Nachricht. Ich ging zur Tenne, um sie ihr zu schicken. Aber es gab keinen Empfang.

2. März

Der Hahn hat mich geweckt. Ich ging rüber zur Tenne. Es gab Empfang. Ich habe mir Hola Coffee bei Amazon bestellt. Nach langem Zögern, aber ich konnte nicht anders.

Ich bin froh, Lina die Nachricht nicht geschickt zu haben.

3. März

Ich habe beschlossen, mich ans Werk zu machen. Ich kann nicht warten, bis der Bürgermeister sich pro oder contra äußert. Ich habe mir gedacht, ich muss bei null anfangen, und werde einen Workshop zur neuen Männlichkeit anbieten.

Ich bin zur Sekretärin gegangen und habe sie gebeten, über die Lautsprecheranlage des Rathauses Folgendes zu verbreiten:

Hiermit wird bekannt gegeben, dass für alle, die Lust haben, ab jetzt immer dienstags ein didaktisch-lebenspraktischer Workshop zur neuen Männlichkeit aus genderkritischer Sicht stattfindet.

Der Workshop verfolgt das Ziel:

Männer für die verschiedenen Formen von Gewalt gegen Frauen und anderweitige geschlechtsspezifische Ungerechtigkeiten zu sensibilisieren;

die Textur männlicher Subjektivität unter Berücksichtigung der Frage der Macht als strukturierendem Faktor von Männlichkeit genauer kennenzulernen;

die mit verdeckten und vermeintlich naturgegebenen Privilegien von Männlichkeit verbundenen Vorteile deutlich sichtbar zu machen;

bestimmte, männlich-patriarchalischer Subjektivität dienende Praktiken in den Bereichen zwischenmenschliche Beziehung und Sexualität, emotionale Gesundheit und Care-Arbeit zu entlarven;

theoretische und praktische Werkzeuge anzubieten, die den Gesinnungswandel der Männer hinsichtlich einer größeren Geschlechtergerechtigkeit vorantreiben helfen.

Alle Interessierten sind herzlich eingeladen, sich um sechs Uhr abends in der Garage von Tante Pilar, der vom Mesonero, einzufinden.

Seit Langem habe ich mich nicht mehr so gut gefühlt.

Das könnte morgen ein großer Tag werden.

ABENTEUER IM KAMPF DER KULTUREN

4. März

Die erste Sitzung des Workshops Neue Männlichkeit war ein Erfolg.

Anfangs war ich etwas besorgt, weil nur meine Tante und ihre Freundin Pura gekommen waren. Aber dann kamen noch zwei weitere Frauen, und es wurde lebhafter. Die Sitzung diente ja dazu, einander kennenzulernen und sich mit den Grundlagen vertraut zu machen.

Hinterher ist mir aufgefallen, dass ein paar Männer auf dem Platz herumstanden. Sie schauten neugierig. Man soll das Fell des Bären nicht verteilen, ehe er erlegt ist, aber ich halte das für ein gutes Zeichen. Möglicherweise melden sie sich in den nächsten Tagen an.

Ich weiß, man sollte lieber keine zynegetischen Vergleiche verwenden. Andererseits ist das vielleicht ein Anzeichen dafür, dass ich mich anpasse.

5. März

Ich habe schon meine kleine Routine. Ich stehe morgens auf und mache im Innenhof Yoga. Jeden Tag kommt eines der Kinder auf dem Weg zur Schule vorbei und schaut von hinter dem Tor aus zu, wie ich den Sonnengruß mache.

Ich frühstücke mit meiner Tante. Mein Onkel ist dann immer schon aus dem Haus. Einmal hat er gesagt, ich könne ihn aufs Feld begleiten, wenn ich mich körperlich betätigen wolle, dann könne ich mir dieses schwule Getue sparen. Ich bin ihm für sein Angebot dankbar, aber ich finde, für die Arbeit auf dem Feld ist es um die Zeit noch zu früh; ich glaube, man muss der Natur Gelegenheit geben, langsam wach zu werden.

Mit dem Rad und Yanis fahre ich runter nach Valdepinar. Dort, auf den Terrassenfeldern meines Großvaters, könnten wir mit unserem Zentrum anfangen. Die Baulichkeiten dort (sie nennen sie Abferkelbuchten) sind relativ gut in Schuss.

Ich esse zu Hause bei Tante und Onkel. Meine Tante kocht. Ich habe auf sie eingeredet, ja nicht dem Druck nachzugeben, ihre Kochgewohnheiten zu globalisieren, sondern an der traditionellen Küche festzuhalten. Andererseits habe ich schon den Eindruck, dass wir zu viel Fleisch essen. Eine Gratwanderung.

Nachmittags gehe ich meistens in die Bar. Ich gehe lieber gleich in die an der Hauptstraße. Fast immer treffe ich da Xavier und Ramiro. Zu Abend esse ich dann zu Hause, so gegen neun. An zwei Abenden in der Woche koche ich. Um für etwas Abwechslung zur traditionellen Küche zu sorgen, versuche ich mich an exotischen Gerichten. Manchmal fehlen mir dafür die Zutaten. Aber Borretsch passt erstaunlich gut zu indischen Rezepten.

Mein Onkel sagt, er wolle lieber ein Omelett. Was nach Ansicht meiner Tante genauso exotisch ist, schließlich sei der Name ausländisch. Manchmal gehe ich anschließend wieder runter in die Bar. Meistens sind Javier und Ramiro noch da. Am Wochenende kommt auch Mohammed, ein Marokkaner, der im Dorf als Schafhirte arbeitet. Es gibt keine einheimischen Hirten mehr, erfahre ich, und die Schafscherer sind Rumänen. Er bestellt ein Bier. (Ich sage nichts, aber es gefällt mir nicht, dass er seine religiösen Prinzipien aufgibt, um sich einer feindlichen Umgebung anzupassen. Ob man will oder nicht, es ist doch eine Identitätsverstümmelung.) Nachts schreibe ich mein Tagebuch.

Onkel und Tante sahen beim Essen fern. Die Nachrichten. Ich habe sie davon überzeugt, das nicht mehr zu tun. Zu dumm, dass es wegen der schlechten Verbindung hier nicht einfach ist, alternative Informationsquellen zu finden. Aber am Ende ist es ungleich gefährlicher, sich den Interessen der systemkonformen Medien ohne kontrastierende Sichtweisen auszuliefern.

Lourdes hat mich gefragt, wie es im Workshop gelaufen sei.

Vom Bürgermeister habe ich noch nichts gehört.

6. März

Das mit dem Fell des Bären habe ich nicht so ernst gemeint.

7. März

Die Dorfbewohner sind einfache, herzensgute Leute. Die Ärztin, Doña Carmen, lebt hier mit ihren drei Kindern (fast die Hälfte derer, die die Schule am Rand der Tenne besuchen.) Dreimal die Woche kommt eine Krankenschwester vorbei. Die Ärztin hält auch im Nachbarort Sprechstunde.

Ein paarmal die Woche öffnet auch die Bankfiliale. Ismael, den sie Onkel Junggeselle nennen, wobei eigentlich die meisten Männer im Dorf unverheiratet sind, geht am Ersten jedes Monats hin, um sich zu erkundigen, ob die Rente da ist. Er lässt sich das Geld geben, zählt es, gibt es zurück und geht wieder.

Mittwochs ist Obstmarkt, donnerstags Kleidermarkt. Dienstag und Donnerstag gibt es frisches Brot; es kommt aus Molinos; kaufen kann man es im Laden von Lucía. (Ich habe versucht, etwas über meine Bestellung von Hola Coffee in Erfahrung zu bringen, aber es gab keinen guten Empfang.)

Manchmal kommt der Pfarrer nachmittags in die Bar, Alejandro, der für mehrere Dörfer zuständig ist. Er parkt den Wagen in der Garage gegenüber der Schule. Man nennt ihn hier die 113, weil er immer dann kommt, wenn die 112, der Krankenwagen, nicht rechtzeitig eingetroffen ist. Er erzählt, er sei kürzlich bei einer Verkehrskontrolle von der Guardia Civil angehalten worden, nachdem er in mehreren Dörfern den Gottesdienst gehalten hatte. Bevor er ins Röhrchen blies, sagte er:

»Jetzt werden wir sehen, ob das mit der Wandlung funktioniert.«

Alejandro war früher Missionar in Afrika. Er erzählt Geschichten aus jener Zeit. Einmal sei ein Zwölfjähriger zu ihm gekommen, der über unerträgliche Schmerzen klagte. Der Kiefer war ihm aus dem Gelenk gesprungen. Alejandro fragte, wie das passiert sei. Man erklärte ihm, ein alter Mann aus dem Dorf habe eine Geschichte erzählt und der Junge sei darüber in ein so verzweifeltes Gähnen geraten, dass er sich den Kiefer ausgerenkt habe.

»Das ist die beste Zusammenfassung für die Weisheit der Altvorderen und ihre Lagerfeuergeschichten, die ich kenne«, hat er heute erzählt.

Eine interessante Geschichte. Mir ist nicht entgangen, dass die Anekdote darauf abzielt, mittels eines vorschnellen und einseitigen Empirismus und im Rekurs auf ein in jeder Hinsicht unzureichendes, trügerisch lebensnahes Argument sowie unter Berufung auf die klassische Dominanzstruktur, die der entmystifizierende Humor darstellt, die berechtigte Gültigkeit anderer Weltanschauungen in Misskredit zu bringen, in der kaum verhohlenen Absicht, einer eurozentristischen und insofern reaktionären Sichtweise das Wort zu reden.

»Mach aus einer Mücke keinen Elefanten, Junge. Das ist nur etwas, das ich erlebt habe«, hat Alejandro zu mir gesagt.

Aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass die Geschichte sich in gewisser Weise an mich richtete. Hat Alejandro im Äquatorialafrika der Achtzigerjahre nicht irgendwie so was Ähnliches gemacht wie ich? Und was sagt mir das jetzt für meine Situation hier?

Ramiro hat mich zu einem weiteren Bier eingeladen.

Das mit dem Bären war ein leerer Signifikant.

8. März

Habe auf dem Marktplatz gewartet, dass mehr Leute an der Kundgebung zum Internationalen Frauentag teilnehmen. Schließlich ist meine Tante gekommen, sie hat mich gefragt, ob ich einen Happen essen will.

Am Abend habe ich in der Bar mit Mohammed gesprochen. Ich habe ihn gebeten, mir am Wochenende auf dem Terrassenfeld zu helfen. Vorerst keine große Sache, den Weg von Gestrüpp und Unkraut befreien. Er hat zugesagt, war etwas verwundert. Natürlich kriegt er dafür Geld.

Wir kommen voran. Es ist ein diverses Projekt.

9. März

Heute Morgen bin ich mit Ramiro und Javier nach Alcorisa gefahren, Werkzeuge für die Arbeit auf dem Terrassenfeld kaufen. Wir haben am Supermarkt gehalten, und ich habe Sachen für zu Hause besorgt. Ramiro und Javier bestehen darauf, dass ich sie mal zur Jagd begleiten soll; Tante sagt, sie würden alle Schießwettbewerbe in der Umgebung gewinnen. Es ist unklar, wer der treffsicherere Schütze von beiden ist.

Am Nachmittag habe ich zusammen mit Mohammed gearbeitet.

Es gab guten Empfang, und ich habe vom Carrefour-Parkplatz aus Edu angerufen. Ich habe ihm von meinen Fortschritten erzählt. Er hat gesagt, unsere Organisation sei auseinandergebrochen und habe dann mit einer anderen fusioniert. Die ursprüngliche Organisation gebe es nicht mehr, aber die aus der Fusion neu hervorgegangene habe ihren Namen übernommen, ihre politische Ausrichtung sei jedoch eine völlig andere; laut Edu handelte es sich um eine Neuausrichtung, die im Grunde sehr unserem ursprünglichen Projekt ähnelte. Im Zuge der Spaltung sei ich als Dissident ausgeschlossen worden, sagte Edu, aber bei der Fusion fand man, meine Person könnte dabei helfen, Animositäten abzubauen, sodass man mich mit im Wesentlichen identischen Funktionen wiederaufgenommen hat. Das könne sich noch ändern, hat er mir verraten, es gebe Gerüchte über eine erneute Kurskorrektur, aber ich soll mir keine Sorgen machen.

Ich habe ihn nach Lina gefragt. Er sagt, er habe sie schon länger nicht gesehen.

10. März

Morgens arbeite ich mit Mohammed.

Am Nachmittag bin ich schwimmen gegangen.

Am Stausee. Ich bin mit dem Rad hingefahren. Gerade als ich hineinspringen wollte (wegen der Dürre gab es wenig Wasser, und es war eisig, Yanis zeigte keinerlei Interesse, obwohl er doch so gern schwimmt), wurde ich durch lautes Geschrei aufgeschreckt.

Es war der Förster, Roberto. Er hat gesagt, es wäre sehr unklug, da reinzuspringen, wegen der derzeitigen starken Dürre sei das zu gefährlich, erst recht, wo es bald dunkel werde. Im letzten Jahr sei hier ein Junge aus dem Dorf umgekommen. Er hat darauf bestanden, mich in seinem Geländewagen nach Hause zu fahren, mit Yanis und dem Rad hintendrin. Während der Fahrt sprach er fast kein Wort, es lief Musik von La Ronda de Boltaña. Am Ortseingang ließ er mich raus, und ich habe mich bedankt.

Javier hatte mir gesagt, Roberto sei mit Lourdes zusammen, aber ich bin mir nicht sicher.

11. März

Im Workshop Neue Männlichkeit. Fünf Leute. Meine Tante, Pura, die beiden Frauen vom letzten Mal und die Tochter der Ärztin.

Das scheint wenig, aber prozentual gesehen ist es doch beachtlich. Stimmt schon, es wäre besser, wenn ein Mann mit von der Partie wäre. Aber ich will mich nicht mit Details verrückt machen.

Lourdes hat mich nach dem Erlebnis am Staudamm gefragt. Möglicherweise sind sie doch zusammen.

Am Abend habe ich mit Onkel und Tante über Jared Diamond und seine These gesprochen, die Jungsteinzeit sei für die Menschheit eine Tragödie gewesen. Obwohl sie zu einem Bevölkerungswachstum geführt hat, haben sich Ernährungslage und Lebensbedingungen insgesamt verschlechtert. In Wirklichkeit, sagte ich und dachte dabei an Yuval Noah Harari, war es nicht der Mensch, der das Getreide, sondern das Getreide, das den Menschen domestiziert hat. Wir sind Gefangene der Landwirtschaft.

Mein Onkel ist bald ins Bett gegangen, für die Arbeit auf dem Feld muss er früh aufstehen. Aber ich glaube, die Sache hat ihn interessiert.

Ich überlege mir, einen Lesekreis zu gründen.

12. März

Ein unangenehmer Vorfall. Als ich heute Morgen zu den Terrassenfeldern fuhr, sah ich die Schmierereien. »Fick dich, Fremder.« Ich habe mir im Laden von Lucía Farbe besorgt. Weil ich den Pinsel vergessen hatte, musste ich zweimal mit dem Rad hin und her fahren. Als ich zu Hause ankam, um ihn zu holen, sagte meine Tante, ich hätte auch das Auto nehmen können, aber ich finde, wie gesagt, dass hier zu viel Auto gefahren wird. (Ich habe darüber nachgedacht, ob der öffentliche Nahverkehr eine Möglichkeit wäre, wobei mir natürlich klar ist, dass die geringe Bevölkerungsdichte ein Problem sein könnte.)

Den Nachmittag habe ich mit Pinseln verbracht und versucht, meinen Ärger mit körperlicher Arbeit zu besiegen. Etwas tun, Probleme in Angriff nehmen, nicht verbittern. Das sind einige der Strategien, die ich mit der Zeit gelernt habe. Im Übrigen sollte ich mir einen Namen für das Projekt ausdenken. Tatsächlich war der Platz für die Schmiererei gut gewählt. Man konnte sie vom Dorf aus sehen, fast den ganzen Weg über bis hierher.

»Fremder« habe ich übermalt. Morgen mach ich »Fick dich« weg.

Jetzt ist Brainstorming angesagt.

13. März

Nachhaltige Utopie?

Grenzenlose Gärten?

Projekt Überbau?

YIMBY Aragón?

Projekt Überbau gefällt mir ziemlich gut. Ein nettes Wortspiel:

Projekt Überbau, Projekt über Bau.

14. März

Ich habe einen Fehler gemacht.

Das kam wohl, weil ich etwas zu viel getrunken hatte. Wir, Mohammed und ich, waren von den Terrassen ins Dorf zurückgekommen, ohne zu Abend gegessen zu haben, und ich war gereizt, keine Ahnung, warum. In der Bar habe ich gesagt, ich hielte die Schmiererei für eine Schande, für verabscheuenswürdig. Das beweise meines Erachtens eine Fremdenfeindlichkeit, die nicht nur auf den zurückfalle, der das verbrochen hat, sondern auf das ganze Dorf. Wie könne man jemanden so behandeln, der unter uns lebt, der unseren Alltag mit uns teilt, dazu aus so atavistischen Beweggründen wie Rasse oder Religion? War uns nicht bewusst, wie viele Unterschiede schon zwischen uns Einheimischen bestanden, ohne dass das etwas an der Tatsache änderte, dass es eine gemeinsame Menschheit gab und wir die Fähigkeit besaßen, uns in das Leid und in die Freude anderer hineinzuversetzen? Stand uns unsere Einheit und Verletzlichkeit im täglichen Abenteuer der Existenz nicht deutlich vor Augen? Die traurigsten Episoden der Menschheit hatten doch genau so begonnen: Jemand rechtfertigte die Ausgrenzung im Namen religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit, im Namen eines Gottes, den man verehrte, einer Sprache, die man sprach, einer Hautfarbe, die man besaß, und die anderen, die sogenannten anständigen Leute, tolerierten dieses Vorgehen.

»Du, ich glaube, die Schmiererei geht nicht gegen den Araber«, hat Roberto gesagt. »Ich glaube, du bist gemeint.«