DER HÖLLENEXPRESS - Christopher Fowler - E-Book

DER HÖLLENEXPRESS E-Book

Christopher Fowler

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Beschreibung

Ein Horrorabenteuer, wie es die Hammer-Film-Studios nie gedreht haben. Während des Ersten Weltkriegs treffen vier Passagiere­­ auf einer Zugreise durch Osteuropa aufeinander und sehen sich mit einem Mysterium konfrontiert, das gelöst werden muss, wenn sie überleben wollen. "Fowler schreibt teuflisch kluge und sarkastische Romane." - Val McDermid Was befindet sich in dem Sarg, vor dem jeder so viel Angst hat? Was verbirgt die verschleierte Roten Gräfin? Und was ist das Geheimnis des teuflischen Ärzengels selbst? Stellen Sie sich einen Roman im Stil jener klassischen Horrorfilme vor, den die Hammer Film Studios aber nie gedreht haben. Ein grandioses Meisterwerk aus den Hochzeiten jenes legendären Studios, eine Mischung aus den alten Dracula- und Frankenstein-Filmen und Dr. Terrors House Of Horrors … "Christopher Fowler ist ein preis­gekrönter Schriftsteller, der durchaus auch einen guten Serienmörder abgeben würde." - Time Out

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Ähnliche


Inhalte

Der Höllenexpress

Lesermeinungen

Widmung

Copyright

Impressum

Zitat

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Der Autor

Leseprobe

Der LUZIFER Verlag

DER HÖLLENEXPRESS

Christopher Fowler

übersetzt von

Stefan Mommertz

Lesermeinungen:

»Ich liebe dieses Buch! Die Reise im Höllenexpress hat mich von der ersten Seite an gefesselt und in den Bann gezogen.« [buchtrunken, lovelybooks]

»So ein Höllenexpress, aufpeitschend schnell und furchterregend … Der Leser kann nur zusehen, wie der gewaltige Zug vorbeidonnert, die Geschichten die er mitbringt bleiben beim Leser haften. Aussteigen ist da unmöglich.« [Rolf Ständeke, Echo Nord]

»Ein absolut zu empfehlendes Werk, dass nebenbei auch noch sehr viel Lust auf einen erneuten Genuss manch alter Klassiker des Horrorfilmgenres macht.« [Amazon Leser]

»Die Figuren sind durchdacht, der Schreibstil bzw. die Übersetzung gut - der kleine Luzifer Verlag leistete mit diesem Buch wirklich ganze Arbeit.« [Heifi, markt-aktuell.de]

»Wer einmal etwas anderes lesen will, anstatt der, meiner Meinung nach, immer schneller werdenden Horror-Thriller unserer heutigen Zeit, ist hier wirklich gut bedient. Hier handelt es sich teilweise wirklich um schönen alten Oldschool-Horror, mit einer Atmosphäre, wie sie besser nicht sein könnte.« [Amazon Leser]

»Ich hatte gehofft, das Buch könnte mich aus meiner schrecklichen Leseflaute holen, in die ich … gerutscht bin. Und ich hatte recht. Wo mich kein Buch begeistern konnte, flog ich beim Höllenexpress nur so durch die Seiten. Hier gibt es alles was das Horrorherz begehrt: Grusel, Geheimnisse, Kämpfe, Blut und auch ein paar eklige Szenen. Aber es ist kein hirnloses Gemetzel, sondern eine gute Story, die mir sehr viel Spaß gemacht hat.« [lord-byron, lovelybooks]

Für Kim Newman,

der unbeabsichtigt den Zug in Bewegung setzte.

Copyright © 2012 by Christopher FowlerAll rights reserved. No part of this book may be used, reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording, or by any information storage or retrieval system, without the written permission of the publisher, except where permitted by law, or in the case of brief quotations embodied in critical articles and reviews.

By arrangement with The Marsh Agency Ltd.incorporating Paterson Marsh Ltd and Campbell Thomson & McLaughlin Ltd

Dieser Roman ist ein fiktives Werk. Namen, Charaktere, Orte und Ereignisse entspringen der Phantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit zu tatsächlichen Ereignissen, Schauplätzen oder Personen, lebendig oder tot, ist rein zufällig.

Impressum

Deutsche Erstausgabe
Copyright Gesamtausgabe © 2014LUZIFER-Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover: Mark Freier
Übersetzung: Stefan Mommertz

ISBN E-Book: 978-3-95835-027-4

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

»In unserer komplexen und durchgeplanten Gesellschaft gibt es nur wenige Möglichkeiten für einen Menschen, die Fantasie spielen zu lassen.«

Peter Cushing

»Eine Zeit lang waren wir wirklich eine Familie.«

Christopher Lee

Erstes Kapitel

Das Drehbuch

Das Haus sah aus wie aus einem Horrorfilm, und das völlig zu Recht.  Während der rote MG die schmale Landstraße entlang holperte, wischte Shane Carter die angelaufene Windschutzscheibe frei und der Landsitz Down Place erschien vor ihm wie ein leicht heruntergekommenes Märchenschloss.   In dem feuchten Straßenatlas aus dem Handschuhfach hatte die Seite gefehlt, die er am meisten benötigte. Die abgelegene Straße, die von Windsor und der A4 wegführte, war nicht ausgeschildert und überaus schwierig zu finden gewesen, aber an ihrem Ende erschien nun ein außergewöhnliches Herrenhaus aus dem siebzehnten Jahrhundert mit bogenförmiger Frontseite. Das an den Ufern der Themse gelegene Haus war von Ulmen und Weiden umgeben und wurde von Brachvögeln, Krähen und Gänsen umkreist. Die mit Zinnen versehenen Mauern hatten vor einiger Zeit einen neuen weißen Anstrich bekommen und man hatte das Gebäude zu Bray Studios umbenannt – offenbar hatte Hammer Films wieder einmal eine Möglichkeit zu sparen gesucht und es zu einem Filmstudio umgestaltet.   In der letzten Zeit hatte das herrschaftliche Haus so oft vor der Kamera gestanden, dass es fast an ein Wunder grenzte, dass es im Kino nicht wie ein alter Bekannter von den Besuchern begrüßt wurde, wenn sie zusahen, wie wieder einmal ahnungslose Opfer die Zufahrt entlangfuhren und nervös auf die dunklen Fenster blickten, während der mit Gewitterwolken überzogenen Himmel nichts Gutes ankündigte. Er hatte gehört, dass sich Hammer darauf verstand, Gebäude so umzugestalten, dass sie immer wieder aufs Neue verwendet werden konnten.   Er fuhr langsam näher und genoss den Anblick des Gebäudes durch die Windschutzscheibe. Bernard Robinson, der Ausstatter des Studios, war ein Meister darin, die Räume des Herrenhauses für alle seine Filme zu verwenden, indem er sie mit neuen Vorhängen und Möbeln leicht veränderte. Treppen wurden verdeckt und Gänge halbiert, der Garten wurde mit Grabsteinen gefüllt und zu einem Friedhof gemacht, Schlafzimmer dienten als Leichenhallen und Bibliotheken, Keller und Grabhäuser wurden zu Laboratorien und Operationssälen. In ein paar Stunden ließ sich ein gewöhnliches Wohnzimmer so umgestalten, dass es als schauerliches Irrenhaus vor die Kamera treten konnte. Die Männer und Frauen, die für die Hammer Films arbeiteten, vollbrachten kleine Wunder.   Aber Hammer, auch das hatte er von seinen Freunden bei Universal in Los Angeles gehört, war nicht mehr das Studio, das es einst gewesen war. Seine Stunde hatte geschlagen. Der Horrorboom neigte sich dem Ende zu; die Zuschauer durchschauten die alten Tricks. Sie lachten, anstatt sich zu fürchten. Sogar die Kritiker hatten damit aufgehört, entsetzt die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen, und fertigten die Filme mit ein paar gelangweilten Zeilen ab.   Shane fuhr seinen gemieteten MG in den mit Kies bedeckten Innenhof, war ehrfürchtig darauf bedacht, einen Steinhagel zu vermeiden, und zog die Handbremse an. Er nahm seine Ledermappe vom Beifahrersitz und machte sich auf den Weg zum Haupteingang des Gebäudes.So was gibt's nur in England, dachte er und legte den Kopf in den Nacken. In Hollywood protzte MGM mit einer aufdringlichen Fassade, aber eines der führenden Filmstudios Großbritanniens – zumindest jetzt, wo es so schien, als ob Rank die Produktion zurückfuhr – hatte seine Heimat in einem alten Haus auf dem Land gefunden. Und nicht – das gefiel ihm besonders –, weil man sich auf irgendeine Art von Tradition berufen oder die eigene überzogene Aufgeblasenheit zur Schau stellen wollte, sondern einfach, weil es billiger war, hier zu sein, und die Bosse in weniger als einer Stunde von ihren Heimen in Knightsbridge herüberfahren konnten.Hier draußen fühlt man sich wie im Jahr 1935, dachte er,nicht wie im Herbst 1966. Die Welt verändert sich überall, nur nicht im guten alten England.Für ein arbeitendes Studio schien es seltsam ruhig zu sein. Es gab keine anderen Geräusche als den fallenden Regen und den Lärm der Krähen. Es gab niemanden, der ihn in der kühlen, holzgetäfelten Empfangshalle begrüßte, weshalb er sich in den ersten Stock begab. Er sah keinen Sicherheitsdienst. Oben wurde er von einer hochgewachsenen jungen Frau begrüßt, die sich von ihrem Schreibtisch erhob, um seine Hand mit überschwänglicher Begeisterung zu schütteln.   »Sie müssen Mr. Carter sein. Es freut mich so sehr, Sie kennenzulernen. Wir bewundern Ihre Filme über alle Maßen. Bitte, kommen Sie herein. Ich bin Emma Winters, die Assistentin von Mr. Carreras. Sie sind etwas früher angekommen, als wir erwartet hatten. Können wir Ihnen eine Tasse Tee anbieten?«   Er hatte gehört, dass es unhöflich war, in England Tee abzulehnen. »Ja, gerne«, sagte er und setzte sich. Es war seltsam, wie sie den Plural gebrauchte, wenn sie von der Firma sprach, als ob es sich um eine gewöhnliche englische Familie handeln würde, bei der er für einen Nachmittagsbesuch vorbeigekommen war. Eine erfrischende Abwechslung zu den Spaziergängen über das Studiogelände in die klimatisierten Kühlschränke der Hollywoodstudios, bei denen er mit Männern, die ihn am liebsten tot sähen, falsche Höflichkeiten austauschen musste.  Er ging in dem von Eichenbalken durchzogenen Raum umher und blieb vor einer Reihe gerahmter Schwarz-Weiß-Fotografien stehen, die bekannte Gesichter zeigten. Peter Cushing als Dr. Frankenstein, Christopher Lee als Dracula und neben diesen Königen des Horrors eine fürstliche Galerie von Charakterdarstellern und Filmsternchen: Nigel Hawthorne, André Morell, Ingrid Pitt, Veronica Carlson, Barbara Shelley und der allgegenwärtige, liebenswerte Michael Ripper, der jeden Diener und jeden Gastwirt in der Hammer-Welt zu spielen schien und hier in einem grotesken Piratenkostüm inDie Teufelspiratenzu sehen war. Shane stellte sich vor, wie er am Morgen die Studiokantine betreten und sie alle dort vorfinden würde, versammelt, um mit der Arbeit an einem weiteren Mumien-, Werwolf- oder Vampirfilm zu beginnen.  Shane war mit den Monsterfilmen der Fünfzigerjahre aufgewachsen und hatte schließlich als Dramaturg bei den Edgar-Allan-Poe-Adaptionen von Roger Corman für AIP gearbeitet. AIP hatte sich von Hammer den Kniff der Wiederverwendung üppiger Breitbildkulissen und das Schaffen einer festen Garde an Stars abgeschaut. Statt des onkelhaften Peter Cushing gab es dort den augenrollenden Vincent Price, und anstelle von Hammers Stichwortgeber Francis Matthews hatte man sich für den Newcomer Jack Nicholson entschieden.   Wie Hammer griff AIP auf einen ständigen Stamm an Regisseuren, Kameramännern, Ausstattern, Maskenbildnern, Requisitenbauern und Kostümbildnerinnen zurück, um den Filmen ein vertrautes Aussehen zu geben. Die beiden Studios waren gewissermaßen Spiegelbilder voneinander, deshalb hatte es nahegelegen, hierher zu kommen, vor allem, weil er nun nicht mehr für Cormans Firma arbeitete. Er hatte sich einmal zu oft über die kostensparenden Maßnahmen des Studios beschwert und feststellen müssen, dass er doch nicht so unersetzbar war, wie er gedacht hatte.   Shane hatte sowieso vorgehabt, nach England zu reisen, um seine Schwester zu besuchen, die einen englischen Architekten geheiratet hatte und nun in Hampstead lebte. Dann war er auf die Idee gekommen, bei dieser Gelegenheit Hammer aufzusuchen, um herauszufinden, ob es eine Möglichkeit gab, für das Studio zu arbeiten. Hammer war berüchtigt dafür, eine Art geschlossener Gesellschaft zu sein, aber er hatte mit einer alten Freundin gesprochen, die als Stenografin in London im Filmgeschäft tätig war und ihn direkt mit Michael Carreras in Kontakt gebracht hatte. Carreras schien der geschäftsführende Produzent des Studios zu sein, auch wenn sich niemand an seine exakte Stellenbezeichnung erinnern konnte.   »Mein lieber Freund, es tut mir aufrichtig leid, dass Sie warten mussten!« Carreras entpuppte sich als Mann mit heiterem, rötlichem Gesicht, einer Brille mit dickem schwarzem Gestell, einem dichten Schopf grauer Haare und einem schwarzen Schnurrbart, durch den er leicht verrucht aussah. Er war geschniegelt gekleidet in einen graugestreiften Anzug mit Seidenkrawatte. Während er mit ausgestreckter Hand fröhlich auf Shane zu stolzierte, hielt er in der anderen eine dicke Zigarre. »Wir hatten heute Morgen ein wenig Theater mit dem Zensor – aber wann haben wir das nicht?«   »Ich habe ein paar Geschichten über die britische Zensur gehört«, sagte Shane. »Aber glauben Sie mir, bei uns gibt es die gleichen Probleme.«  »Ja, unser Oberzensor John Trevelyan ist ein netter Mann, total von der Filmwelt begeistert, auch wenn er das nie zugeben würde, aber wir sind gezwungen, ein ziemlich absurdes Spiel mit der Behörde zu spielen. Sie regen sich immer über die Menge an Blut auf, die zu sehen ist, seine Zähflüssigkeit, seine Farbe und so weiter. John hat sich absolut geweigert, beiNächte des Grauensnachzugeben, und in der letzten Zeit wird er immer reizbarer. Wahrscheinlich sitzt ihm die Regierung im Nacken. Deshalb hab ich mir ein paar überarbeitete Szenen ansehen müssen.«  »An was arbeiten Sie gerade?«, fragte Shane, während er Carreras in dessen Büro folgte.  »Wir waren in diesem Jahr sehr beschäftigt. Vor ein paar Monaten haben wirFrankenstein schuf ein Weibfertiggestellt und nächste Woche sollten wirDer Fluch der Mumieabgedreht haben. Es gibt Schwierigkeiten mit der letzten Szene. Wie man den Kopf einer Mumie zerdrückt. Wir experimentieren schon seit Wochen damit herum. In der Werkstatt herrscht ein ziemliches Chaos, kann ich Ihnen sagen. Bitte, setzen Sie sich. Hat man Ihnen Tee angeboten?«  »Ja, danke.«   »Prima.« Carreras setzte sich Shane gegenüber. »Wir versuchen, vier Horrorfilme pro Jahr zu drehen, aber die Planung ist immer sehr kompliziert. Und gerade jetzt scheinen wir einen vollen Stall, aber keine Reiter zu haben.«   Shane war mit schiefen Sportmetaphern dieser Art nicht vertraut, weshalb Carreras gezwungen war zu übersetzen. »Alle sind hier, darauf erpicht zu arbeiten. Freddie Francis juckt es in den Fingern, einen neuen Film zu machen, Peter und Chris drehen sozusagen Däumchen – Peter befindet sich in Whitstable, aber das ist nur ein paar Stunden entfernt. Und wir haben ein paar hübsche Mädels im Visier für das Kreischen; die weiblichen Rollen. Nur: es gibt kein Drehbuch. Weshalb ich mich sehr freue, Sie heute hier zu sehen.«Habe ich mich verhört?,fragte sich Shane.Bietet man mir einfach so einen Job an?»Ich weiß nicht, ob Sie mit meiner Arbeit vertraut sind«, fing er an. »Ich hatte keine Zeit, meinen Lebenslauf aufzufrischen.«   »Aber natürlich«, erwiderte Carreras. »Wir sind große Bewunderer der Poe-Adaptionen. All diese herrlichen, prächtigen Farben. Roger ist ein Mann ganz nach unserem Geschmack. Sehr schlau, wenn es darum geht, an allen Ecken und Enden zu sparen, um Geld zu machen.« Es klang wie ein zweischneidiges Kompliment. »Ich bin mir niemals ganz sicher, wo diese Filme spielen sollen – in Italien vielleicht? Die Kulissen sehen aus wie eine Mischung aus Verona und Las Vegas.«   »Bei diesen Filmen habe ich nur die Drehbücher überarbeitet«, räumte Shane ein. »Aber ich hab ein paar andere geschrieben, mit denen ich ganz zufrieden bin.«  »Ah ja,Am Rande der NachtundDie Kreatur im Leuchtturm. Beide hervorragend, meiner Meinung nach. Zu dumm, dass sie inLeuchtturmdie Kreatur zeigen mussten.«  Shane war erstaunt, dass überhaupt jemand von diesen Filmen gehört hatte. Sie waren nur in einer Handvoll Kinos gezeigt worden, und auch das nur in den weniger wählerischen Bundesstaaten. Er war sich ziemlich sicher, dass es keinen internationalen Vertrieb gegeben hatte. »Sie haben recht, wir hätten sie nicht zeigen sollen«, sagte er entschuldigend. »Das Licht war zu hell. Und der Laurel Canyon ist ein ziemlich schäbiger Ersatz für die spanische Küste. Man konnte die Nähte des Gummianzugs sehen. Ich schaudere immer noch, wenn ich an die letzten Szenen denke.«  »Oh, machen Sie mal halblang, guter Freund. Sie sind zu bescheiden. Wir sind jahrelang mit den fürchterlichsten Monstern über die Runden gekommen. Wir konnten uns immer mit klugen Kulissen und geschickter Beleuchtung retten. Wir verwenden absolut alles wieder und machen auch kein Geheimnis daraus. Roy Ashton, unser Mann fürs Make-up, hat uns mit Ach und Krach durchgebracht, obwohl ich denke, dass er die Gorgone inDie brennenden Augen von Schloss Bartimorenicht richtig hinbekommen hat. All die albernen Gummischlangen, die herumbaumelten. Wirklich schade, weil das Drehbuch meiner Meinung nach vorzüglich war. Und dann haben wir den Vorteil von James Bernards wunderbarer Musik.«  »Und Schauspieler, die die flachsten Dialoge mit Leben füllen können«, sagte Shane und fügte hastig hinzu: »Nicht, dass die Dialoge …«   Carreras hob die Hand. »Ich weiß, manchmal sind die Dialoge unser Schwachpunkt. Es fehlt an der Poesie, glaube ich. Freddie würde am liebsten Drehbücher völlig ohne Dialoge verfilmen. Ich bin davon überzeugt, dass er denkt, sie stören nur. Das ist der Grund, weshalb er so wunderbar Spannung aufbauen kann. Es gibt niemanden, der ihm das Wasser reichen kann, wenn es darum geht, in einer Szene Spannung zu erzeugen. Aber ich bin der Erste, der zugibt, dass er unter Taubheit leidet, wenn es um Dialoge geht. Und wir haben noch ein Problem.«   »Welches?«   Carreras blies Rauch aus und blickte Richtung Decke. »Ach, kommen Sie, als Mann vom Fach haben Sie bestimmt etwas gehört.«   »Nun, ich habe gehört, dass Sie Opfer Ihres eigenen Erfolgs geworden sind. Nachahmer angeregt und so etwas.«   »Bei Gott, in der Tat. Dann kennen Sie bestimmt unseren größten Konkurrenten, Amicus.«  »Haben die nicht vor ein paar JahrenDie Todeskarten des Dr. Schreckgemacht?«  »Ja, und sie hatten ziemlichen Erfolg damit. Einige der Episoden waren furchtbar abgeschmackt, die Schauspieler haben völlig übertrieben, aber die Idee an sich war nicht ohne. Dumm wie wir waren, haben wir ihnen einige unserer größten Stars ausgeliehen. Milton Subotsky hat sehr genaue Vorstellungen, wie Filme dieser Art funktionieren. Er produziert sie überaus billig.«   »Richtig, die Episoden-Sache.«   »Eine rein wirtschaftliche Erwägung, kann ich Ihnen versichern. Wenn man vier oder fünf Episoden dreht, die jeweils fünfzehn oder zwanzig Minuten lang sind, und sie durch eine Rahmengeschichte verbindet, müssen die Stars nicht während der gesamten Drehzeit anwesend sein, sondern nur für den Teil, in dem sie auftreten. Sehr leicht zu planen, und natürlich kann man die meisten von ihnen am Ende der Woche in bar ausbezahlen. Aber, wissen Sie«, er verzog das Gesicht, »schmuddelige Fünf-Pfund-Scheine in Umschlägen auszuhändigen und das sich ergebende Filmmaterial im Schneideraum zusammenzukleben, ist ganz und gar nicht unser Stil. Wir sehen uns ein paar Stufen über solchen Praktiken. Und dann gibt es Tony Tensers kleine Firma, Tigon. Er verwendet unser Geschäftsmodell, lässt aber an authentischen Drehorten drehen, um ein paar Pfund zu sparen. Einige seiner Sachen sind ziemlich gut. Wir müssen uns in Zukunft mehr als früher vor der Konkurrenz in Acht nehmen.«   »Aber Sie sind immer noch führend.«  »Stimmt, aber wie lange noch? Die Wahrheit ist, dass uns die Monster ausgegangen sind. Frankenstein, Dracula, die Mumie, Dr. Jekyll, das Phantom der Oper, der Wolfsmensch – nun, der war nie wirklich erfolgreich, meiner Meinung nach, auch wenn Ollie Reed furchtbar gut war als Werwolf inDer Fluch von Siniestro. Man kann nicht ewig immer nur die drehen. Ich habe das Gefühl, dass wir uns festgefahren haben.«  »Es gibt doch bestimmt noch andere viktorianische Horrorgeschichten, die bisher nicht verfilmt wurden?«   »Ja, aber wir befinden uns im Jahr 1966. Niemand will heute Filme sehen, die auf Büchern beruhen, die unsere Großeltern gelesen haben. Durch die Beatles haben sich die Verhältnisse geändert. Milton bildet sich ein, dass man mit einem Horrorfilm für Teenager Geld machen könnte – er geht mit einem schrecklichen Treatment über eine untote Popgruppe hausieren. Aber wir fühlen uns etwas gehobeneren Produkten verpflichtet. Was halten Sie von unseren Filmen?«   »Ich denke, ich habe sie immer als Fabeln betrachtet. Sie besitzen eine gewisse Art von Eleganz.«   »Ganz genau. Haben Sie jemals richtige Märchen gelesen? Ich meine Hans Christian Andersen, Grimm und so weiter. Die sind unglaublich grausam; Vögel picken Augäpfel aus, Mädchen schneiden sich Zehen ab, um in Pantoffeln zu passen. Der einzige Grund, weshalb John Trevelyan uns so viel Kunstblut durchgehen lässt, ist, dass wir uns an ein gewisses Niveau halten. Und natürlich sind wir normalerweise sorgfältig darauf bedacht, dass unsere Geschichten nicht in England spielen. Es ist weniger anstößig, wenn man die Handlung irgendwo am anderen Ende von Europa ansiedelt, wo die meisten Kinobesucher noch nie gewesen sind.«   »Warum übernehmen Sie nicht etwas von der Konkurrenz und führen neue Monster ein? Das Ganze in dem Stil, mit dem Sie berühmt geworden sind?«   »Das redet sich leicht, mein Freund, ist aber ziemlich schwer machbar, befürchte ich.«   »So etwas lasse ich mir schon seit geraumer Zeit durch den Kopf gehen.«   Carreras nahm die Zigarre aus dem Mund und untersuchte das Ende, um sich zu vergewissern, dass es noch glühte. »Wirklich? Und was denken Sie? Wäre das etwas für Sie? Man muss eine bestimmte Art von Geist haben, um so etwas zu schaffen. Wären Sie der Aufgabe gewachsen?«   »Sie meinen, ein Drehbuch schreiben? Ob ich das machen würde? Aber natürlich.«   »Es tut gut, hier zur Abwechslung mal auf etwas Eifer zu treffen. Wir sind eine sehr enge Gemeinschaft, aber manchmal kann das auch ein bisschen bedrückend sein. Immer auf einem Haufen, sozusagen. Allerdings ist da ein Haken.«   »Und der wäre?«   »Wir haben ein paar Projekte in der Entwicklung. Dreharbeiten für zwei Filme sind zwischen Winter und Frühjahr geplant, aber Peter und Chris wollen an Weihnachten zuhause sein, und deshalb schließen wir dann normalerweise. Weshalb uns eigentlich nur jetzt bleibt.«   »Ich arbeite zur Zeit an nichts konkretem«, sagte Shane. »Ich könnte sofort anfangen.«   Carreras warf einen Blick in den Produktionskalender auf seinem Schreibtisch. »Nun, heute ist Montag, also sagen wir bis Freitag?«   Shane war verdutzt. »Für was?«   »Das fertige Drehbuch.«  »Fünf Tage?«Viereinhalb, wenn man diesen Morgen mit einbezieht, dachte er von Panik ergriffen.  »Dann könnten wir es Freddie und den Schauspielern übers Wochenende für Feedback geben – wir müssten es vor den Dreharbeiten auch bei John im Soho Square einreichen, um sicherzugehen, dass wir keine Zeit mit Szenen verschwenden, die dann herausgeschnitten werden müssen. Obwohl Sie vielleicht ein paar besonders grausame Szenen einbauen sollten, damit seine Schere etwas zu tun hat – damit er denkt, dass er die Moral der Nation schützt. Dann bringen wir es zu den Künstlern in der Wardour Street, um zu sehen, welche Ideen die fürs Marketing haben. Normalerweise lassen wir zuerst die Poster anfertigen, damit alle auf der gleichen Wellenlänge sind. Manchmal fällt unseren Künstlern etwas wirklich Haarsträubendes ein, das dann im Film landet. Oh, und dann müssen auch die Amerikaner bei Laune gehalten werden, aber wenn denen die Idee gefällt, werden sie uns ihre Zustimmung am Telefon geben.«   »Und was ist mit dem Budget?«, fragte Shane, der von der nebensächlichen Art, in der das Geschäft in Angriff genommen wurde, etwas irritiert war.   »Das ist bereits festgelegt. Sie müssen sich um solche Sachen keine Sorgen machen. Schreiben Sie einfach das verflixte Teil und dann sagen wir Ihnen, was wir davon machen können und was nicht.« Carraras zog geräuschvoll an seiner Zigarre. »Hören Sie, Sie müssen sich nicht sofort entscheiden. Nehmen Sie sich eine halbe Stunde Zeit oder so. Trinken Sie noch eine Tasse Tee. Ich bin mir sicher, dass Miss Winters ein paar Kekse für Sie auftreiben kann. Oder wenn Sie nach Ihrer langen Fahrt etwas Kräftigeres haben möchten, Mrs. Thompson führt eine ziemlich gute Kantine.«   »Ich übernachte bei meiner Schwester und ihrer Familie, habe also keinen Ort, an dem ich arbeiten kann.«   »Nun, wir haben ein paar annehmbare Gasthöfe in der Gegend, wirklich reizende Häuser in Shepperton: das King's Head und das Red Lion. Alle Autoren steigen dort ab. Sie können bleiben, wo immer es Ihnen gefällt, solange es nicht mehr als zehn Pfund die Nacht kostet. Und ich denke, wir können Ihnen ein Büro zur Verfügung stellen.« Er ging zur Tür und öffnete sie. »Miss Winters, können wir Mr. Carter irgendwo unterbringen?«   Emma Winters hatte den Lippenstift erneuert und ihr goldbraunes Haar gelöst. Ihm wurde plötzlich klar, dass sie die Sternchen an den Wänden ihres Büros nachahmte. Vielleicht träumte sie davon, eines Tages für die Firma vorzusprechen. Ihre Beine waren vielleicht eine Spur zu dick geraten, aber ihre Augen hatten etwas Dramatisches. Sie warf ihm plötzlich einen strengen Blick zu. Er fragte sich, ob sie seine Gedanken lesen konnte. »Was benötigen Sie, Mr. Carter?«, fragte sie.   Shane überlegte für einen Augenblick. »Nun, Quellen für Recherche.«   »Wir haben eine gut ausgestattete Bibliothek, und natürlich können Sie den Vorführraum nutzen, wenn Sie sich ein paar unserer früheren Filme in Erinnerung rufen möchten«, bot sie an. »Es gibt ein leeres Büro nebenan, und ich bin mir sicher, dass wir irgendwo noch eine alte Imperial herumstehen haben. Das heißt, können Sie tippen?«   »Natürlich.«   »Einige unserer Autoren bevorzugen es, mit der Hand zu schreiben, und das macht alles viel schwieriger.«   Shane fühlte sich, als ob er durch einen Zauberspiegel in ein Land geraten war, in dem Filme auf der Basis von höflichem Händeschütteln und guten Absichten entstanden. Er wandte sich Carreras zu, der strahlte und sichtlich zufrieden mit sich selbst war. »Gibt es irgendeinen bestimmten Inhalt, der Ihnen vorschwebt?«, fragte er.   Carreras dachte für einen Moment nach. »Nun, vermutlich sollten unsere Markenzeichen enthalten sein«, antwortete er. »Ein exotischer Schauplatz, junge Liebende, furchterregende Kreaturen, eine düstere Warnung, Rituale und Flüche sowie schreckliche Konsequenzen. Übernatürliche Erscheinungen sind immer willkommen – sie geben den Beleuchtern Gelegenheit, ihr Können unter Beweis zu stellen. Wir mögen Regeln; ›Gehen Sie in der Nacht nicht zum Schloss‹ und so was von der Art. Es müsste etwas für Christopher geben. Er ist furchtbar groß und ernst, und nicht wirklich für komödiantische Rollen geeignet. Dafür hat er eine wunderbare Ausstrahlung. Er singt einen wirklich guten Bariton, aber wir haben nie die richtige Gesangsrolle für ihn finden können. Der Rest ist hauptsächlich Atmosphäre, und die können wir tonnenweise anbieten. Sie wissen schon, was ich meine, dichter Nebel, umgekippte Särge, Dorfbewohner, die sich im Wald verlaufen haben, Damen, die in tief ausgeschnittenen Miedern in Ohnmacht fallen. Natürlich jede Menge Blut, obwohl Sie diese Teile mit mir absprechen müssen. Ich habe eine ziemlich gute Vorstellung davon, womit wir durchkommen werden.«   »Haben Sie irgendeine Vorstellung von der Geschichte?«   »Nun, Peter und ich haben uns kürzlich darüber unterhalten und uns gefiel die Idee eines Zuges ganz gut«, sagte Carreras schließlich. »Denken Sie, dass Sie das schaffen können?«   »Ich werde noch heute anfangen«, antwortete Shane.

***

  »Die Bibliothek«, sagte Emma, als sie eine große Eichentür im Erdgeschoss öffnete und dadurch den Blick auf einen Raum freigab, der wie ein Herrenklub aussah: Getäfelte Wände, an denen Bücherregale aufgereiht waren, und zwei Ohrensessel aus rotem Leder, die vor einem riesigen Kamin standen.  »Das sieht aus wie der Ort, an dem Jonathan Harker zum ersten Mal auf Graf Dracula traf«, sagte Shane erstaunt.   »Oh, wahrscheinlich ist er das auch«, meinte sie unbestimmt. »Ich lasse Ihnen die Schreibmaschine runterbringen, und wir beschaffen Ihnen ein paar neue Farbbänder. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie etwas benötigen. Egal was.«   Sie lächelte ihn geheimnisvoll an – flirtete sie etwa mit ihm? – und schloss leise die Tür hinter sich.

Zweites Kapitel

Das Spiel

Sie war allein zu Hause und langweilte sich fürchterlich.  Ihre Mutter war zum Bäcker gegangen und hatte wahrscheinlich angefangen, sich mit Frau Malik zu unterhalten. Wann immer sich die beiden trafen, tratschten sie fast eine Stunde lang. Sie hatte keine Ahnung, worüber ihre Mutter sprach; über Kochrezepte, Ehemänner, den neuen Pfarrer mit den meerblauen Augen, der die Peterskirche übernommen hatte. Ihr Vater war bei der Arbeit in der Gießerei und tat dort, was auch immer die Männer dort taten. Er würde erst heimkehren, wenn es schon dunkel war. Er kam immer spät nach Hause, und dann roch er nach Eisenspänen, Feuer und Schweiß.   Sie saß am Fenster und blickte in den herabstürzenden Regen. Sie hatte ihr blondes Haar gebürstet und es zu Zöpfen geflochten, und sie hatte Memory mit einem Satz Karten gespielt, aber die Pikdame hatte gefehlt und so das Spiel verdorben. Ihre Mutter besaß ein Puzzle, das ein farbenprächtiges Gemälde von London ergab, aber es waren schon zu viele Teile verloren gegangen.   Sie blickte sich in dem vollgestopften Wohnzimmer um. Die Luft im Zimmer war abgestanden und muffig, weil sich hier kaum je etwas bewegte. Auf der Kommode befand sich das Gedenkbuch ihrer Schwester, hochkant aufgestellt und geöffnet. Sie war im Alter von fünf Jahren an Tuberkulose gestorben, und für die letzten Fotografien hatte man der kleinen Leiche ihre beste Kleidung angezogen und sie inmitten der Familie, die sie geliebt hatte, platziert. Neben dem Gedenkbuch stand die Spieldose ihrer Mutter mit einer starren Ballerina, die zu Leben erwachte, wenn man einen Schlüssel drehte, und sich dann zum Klang des Kaiserwalzers im Kreis drehte. Es gab auch ein Rätselbuch, aber die meisten der Rätsel waren schon vor langer Zeit gelöst worden; die Antworten waren wiederholt mit Bleistift eingetragen und dann wieder ausradiert worden.   Ihr fiel ein, dass es auf dem Dachboden noch andere Spiele gab; alte Spiele, die ihrem armen, verrückten Großvater gehört hatten, und obwohl sie nicht hochgehen sollte, erinnerte sie sich, dass ihre Eltern den Messingschlüssel auf der Küchenanrichte aufbewahrten. Er war schwer zu erreichen, weshalb sie einen Stuhl herüberschob, auf ihn kletterte und sich auf die Zehenspitzen stellte, bis ihre Finger ihn endlich zu fassen bekamen. Sie würde nur einen kurzen Blick wagen und dann den Schlüssel zurücklegen, sodass ihre Mutter es niemals bemerken würde.   Das Haus hatte ein Giebeldach, unter dem sich ein langer, enger Dachboden voller mit Spinnweben bedeckter Wunder verbarg. Es gab kein Licht hier oben, aber sie wusste, wo sich befand, was sie suchte. Hinter der purpurfarbenen Schneiderbüste und dem Schmetterlingskescher, neben den beiden alten Sesseln, die wie eine riesige Muschel verkehrt herum aufeinandergestapelt waren, fand sie die Spiele: Vier bunte Pappschachteln, die mit Gipsstaub bedeckt waren.   Beim ersten handelte es sich um eine Sammlung von Spielen, wie Jungs sie mögen: Puste-Fußball, ein Leiterspiel, Dame und Astragaloi. Nichts, was sie interessierte.   Das zweite war eine Schachtel mit Zaubertricks, auf deren Deckel ein Mann mit Schnauzbart abgebildet war, der einen weißen Hasen aus einem glänzenden Zylinder zog, aber die Anleitungen waren schon lange verloren gegangen, und außerdem musste man für die meisten der Zaubertricks wochenlang proben, bevor man sie aufführen konnte.   Das dritte nannte sich ›Strategische Invasion‹ und schien davon zu handeln, dass man Armeen auf einer Karte von Russland aufstellen musste – was für eine langweilige Idee für ein Spiel!   Aber die letzte – und bei Weitem größte – Schachtel war am vielversprechendsten. Das fing schon damit an, dass die Schachtel mit einer Schnur zugebunden war, an der eine Karte hing, auf der stand: NICHT ÖFFNEN.   Sie trug die Schachtel vorsichtig hinunter in ihr Zimmer, ließ sich auf dem Flickenteppich nieder und studierte den Deckel. Die Illustration zeigte eine viktorianische Lokomotive mit einem Kuhfänger und einer brüllenden Teufelsfratze mit roten Hörnern. Aus der Lok traten Feuerwellen hervor, die aussahen wie böser Atem. Die kunstvolle Aufschrift unter dem Bild lautete: »Wagst du die Fahrt mit dem Höllenexpress?«   Es war seltsam, dass sie es noch nie zuvor bemerkt hatte. Nachdem sie sich feierlich vor das Spiel gesetzt hatte, schob sie die Schnur von der Schachtel, nahm den Deckel ab und entnahm das Spielbrett. Sie faltete es vorsichtig auf, legte es flach vor sich hin und entnahm die Figuren ihren Behältnissen.   Es gab keine Würfel, keine Spielmarken und keine Anleitung, aber je länger sie die Anordnung studierte, desto mehr schien sich alles von selbst zu erklären. Sie stellte die Passagiere – kleine bemalte Bleifiguren, die Koffer trugen – zu dem Bahnhof, der seltsamerweise den Namen ihrer eigenen Heimatstadt, Chelmsk, trug. Es gab sogar die gleichen Ziegelsteinkamine, den gleichen Marktplatz, die gleiche große Gießerei im Zentrum. Tatsächlich glich die gesamte Gestaltung einer Miniaturausgabe ihrer Stadt. Vielleicht hatte der Künstler hier gelebt und während des Malens zur Inspiration aus dem Fenster geblickt.   Im Spielbrett befanden sich auch die Schlitze eines mechanischen Schienenwegs, der durch niedliche Abbildungen ländlicher Idyllen führte und ein halbes Dutzend kleine Bahnhöfe erreichte.   Am unteren Rand der Spielfläche entdeckte sie eine seltsame Beschriftung.   »Als der Teufel auf die Erde gerufen wurde, schuf er einen Zug, um die Verdammten in die Hölle zu bringen.«   Ein ziemlich ernster Leitspruch für ein Kinderspiel, das war sogar ihr klar. Ihre Mutter würde bestimmt nicht gutheißen, dass sie sich mit so einem Spiel beschäftigte, wodurch es noch viel aufregender wurde. Was für einen Schaden konnte es denn groß anrichten?   Sie blickte noch einmal in die Schachtel. Was gab es da noch?  Mit großer Vorsicht entnahm sie das größte, detaillierteste und schönste Stück – eine Spielzeuglokomotive zum Aufziehen. Ihr Name war auf dem Kesselblech eingraviert:ÄRZENGEL. Das Mädchen warf einen Blick in die minutiös ausgearbeiteten Waggons mit ihren Sitzen und Lampen und Gepäckablagen. Dann verband sie die sechs Waggons mit einander, darunter die Abteile der ersten, zweiten und dritten Klasse. Der letzte Waggon hatte einen Bereich mit privaten Suiten und eine kleine Aussichtsplattform am Ende.  Sie wählte die am wenigsten abgenutzten Figuren – sie waren aus Blei und hatten schon etwas von ihrer bunten Lackierung verloren –, entschied sich schließlich für zwei gut aussehende junge Männer und zwei hübsche Damen mit Hüten und Reifröcken – eine blond, die andere dunkelhaarig – und stellte sie an Bord des Zuges in den ersten Waggon. Das würden ein Ehepaar und zwei junge Liebende sein.   Es waren noch zwei merkwürdige kleine Figuren übrig, die sie in den zweiten Waggon gab. Zunächst ein dicker kleiner Mann, bei dem etwas mit dem rechten Bein nicht stimmte; das Blei war zerquetscht worden, wodurch sein Fuß missgestaltet war. Sie beschloss, dass er ein Handelsreisender mit einem Musterkoffer sein würde. Der andere Mann trug einen Zylinder, hatte einen Kotelettenbart und trug eine große Schachtel. Er sah aus wie ein Schausteller.  Funken sprühten an den Rädern desÄrzengels,als sie den Motor mit einem Blechschlüssel aufzog. Dann stellte sie den Zug auf seine schlitzförmige Spur und ließ ihn seine Reise beginnen.  Sie beobachtete gebannt, wie der Zug über das Spielbrett tuckerte, leise Dampflokgeräusche von sich gab und durch schön gemalte ländliche Szenen mit Engelchen, sonnenbeschienene Brücken und Schluchten mit Regenbogen fuhr.   Der Zug hielt an einem Bahnhof an und schien darauf zu warten, dass sie etwas tat. Sie fand einen kleinen Fahrkartenautomaten aus Blech, der Karten ausgab, und nachdem sie den Hebel betätigt hatte, entnahm sie die erste.   Auf ihr stand: »Frömmigkeit«. Aber was sollte sie damit tun?   Am Ende des Bahnsteigs befand sich ein Stellwerk mit einem Schlitz im Dach. Sie schob die Karte dort hinein und einen Moment später wurden die Weichen verstellt. Der Zug nahm wieder Fahrt auf.  Es war wunderbar gestaltet, aber was war dasZieldes Spiels?  Die Uhr auf dem Kaminsims schlug drei. Draußen war die Straße menschenleer und vom fallenden Regen dunstig. Als sie wieder auf das Spiel blickte, sah sie, dass der Zug auf dem nächsten Teilstück der Strecke rollte und ein gemaltes Spruchband passierte, auf dem »Folge den Regeln & Beschäme den Teufel« geschrieben stand.Das Leben, sagte ihre Mutter ihr immer,ist eine Reise, die man selbst bestimmen muss.  Das ist es, beschloss sie.Ein Spiel über das Leben.Das Schema wiederholte sich, und an jedem Bahnhof gab sie eine weitere Fahrkarte für die nächste Etappe der Reise aus.   Auf den neuen Karten stand zu lesen: »Ehrlichkeit« und »Anständigkeit«.   Aber während der Zug sich fortbewegte und das Spiel weiterging, kam ihr das Glück mit den Karten abhanden. Die nächsten Karten waren »Alkohol«, »Begierde«, »Gewalt« und »Gottlosigkeit«.   Mit jeder neuen Anweisung wurden Weichen verstellt und der Zug fuhr weiter. Nun entfernte er sich jedoch von den sonnigen, ländlichen Motiven und bewegte sich auf die entfernte linke Seite des Spielbretts zu. Sie sah, dass er sich vom »Pfad der Rechtschaffenheit« entfernte und eine düstere Nebenstrecke nahm, die mit Gefahren gespickt war: Umstürzende Bäume, eine wackelige Brücke über eine Schlucht, ein dichter, finsterer Wald, große schwarze Krähen, sogar etwas, das ein ausbrechender Vulkan zu sein schien. Diese Strecke hieß: »Der sündhafte Weg zu ewiger Verdammnis«.   Wenn es ein Spiel über das Leben war, so schien es auch eines über den Tod zu sein.Das ist nicht fair, dachte sie.Meine Passagiere haben keine andere Wahl, als an Bord zu bleiben. Die Entscheidungen liegen nicht bei ihnen, sondern werden vom Schicksal getroffen. Woher wissen sie, ob sie gut oder böse sind? Wer hat das Recht, sie einer Prüfung zu unterziehen?Es war zum Verzweifeln. Warum mussten Spiele immer eine Moral haben?   Die Aufziehlokomotive schien nun von selbst zu laufen. Hinein in den dunkelsten, finstersten Teil des Spielbretts. Die Funken, die die Lokomotive schlug, drohten, die Papplandschaft anzuzünden. Aber wohin war sie unterwegs? Der Name der Endstation im linken unteren Bereich des Spielbretts war beschmutzt und unlesbar.  Als sie sich hinabbeugte, um den Weg des Zuges aus der Nähe zu verfolgen, bemerkte sie, dass sich die Räder desÄrzengelswirklich zu drehen begannen. Er wuchs und wuchs, donnerte an ihren verdutzten Augen vorbei mit einem Ausstoß von feurigem Dampf und schien von den Gleisen springen zu wollen.  Der Zug wurde mit jeder Sekunde größer. Mit einem Stöhnen und einem Sprühregen aus Stahl und Dampf dehnte er sich aus, um den Raum zu füllen, bis es schien, als ob er aus dem Kamin herausdonnerte. Die Bilder auf dem Kaminsims wackelten und zersplitterten. Das Porzellan zitterte. Eine Vase fiel herab und zerbrach. Der Lärm der Lokomotive dröhnte gegen die Wände und füllte ihren Kopf aus, bis sie nichts anderes mehr hören konnte. Der Zug donnerte durch das Esszimmer.  An den Wänden huschten Rechtecke aus Licht vorbei; die Gemälde wurden von ihren Befestigungen gerissen, während die Waggons vorbeibrausten. Der Schornstein der Lokomotive spuckte Kohlenstaub und Ruß an die Decke und über die Möbel, die Glocke des Zuges bimmelte frenetisch, die Pfeife der Lok gab einen schrillen Schrei von sich, der drohte, die Fensterscheiben zu zersplittern. Durch den Fahrtwind wurden die Notenblätter ihrer Mutter in die Luft gewirbelt. Vom Kuhfänger desÄrzengels

Drittes Kapitel

Die Ankunft

Die Nieten waren weißgold und wurden purpur und blutbraun, bis sie endlich an ihren Platz gehämmert worden waren. Eisenplatten und gehärteter Stahl, Stangen und Schrauben, Feuer und Dampf im Kupfergestank von ausglühendem Metall. Das war schon immer die Welt der Lokomotiven gewesen.  Das Ergebnis war ein prächtiger Beleg handwerklicher Fertigkeit, aber vielleicht wurden sie bestraft, weil sie zu stolz darauf waren. Einem Arbeiter, der vom Betriebswerk abgestellt worden war, wurden nur wenige Stunden vor der feierlichen Übergabe vier Finger der rechten Hand von der Kupplung der Lok abgetrennt, und das billige russische Schmierfett, das sie auf den Scheiben verwendeten, infizierte die Wunde so sehr, dass der Arm bei der Ankunft im Krankenhaus bereits ein dunkelvioletter Giftsack war. Eine Amputation hätte die Ausbreitung stoppen sollen, aber dem war nicht so; sie begruben ihn neben den Schienen, weniger als vierundzwanzig Stunden, nachdem der Ärzengel aus seinem Schuppen gerollt war. Niemand behauptete, dass die Arbeit einfach war, aber Arbeitsplätze waren damals schwer zu finden, und die Bahnlinie verhieß Hoffnung, auch wenn die Mittel, mit denen solcher Wohlstand erzielt wurde, eine dauerhafte Schande mit sich brachten ...

Nicholas Castleford schreckte aus dem Schlaf auf. Die Erinnerung an seinen Traum verschwamm und löste sich auf wie Rauch in der Luft.  Er blickte aus dem Fenster. Grün, Getreide, einspurige Straßen, Meilen über Meilen des Nichts. Wenn man diese idyllische Landschaft betrachtete, war es schwer, sich vorzustellen, dass sich die Welt im Krieg befand.   Nicholas hatte den Krieg nicht nach seinem Geschmack gefunden. Er war ausgerechnet nach Polen geflüchtet, wo er sich der uralten Kunst des Ausnehmens der Landbevölkerung widmete. Karten hatten sich als die besten Waffen in seinem Arsenal erwiesen, und er gebrauchte sie ohne Gnade, wenn er die verblüfften Dorfbewohner, die es eigentlich besser hätten wissen sollen, um immense Summen erleichterte.   Nach einer Reise nach London, wo er sein hart verdientes Geld deponierte und neue Anzüge bei seinem Schneider bestellte, war er zurückgekehrt, um weiter abzukassieren. Aber dieses Mal war er vom örtlichen Richter ertappt worden und konnte nur knapp der Prügelstrafe entgehen. Weil die Polizei alarmiert worden war, hatte er sich auf Umwegen durch das Land begeben und die Grenze überquert, sodass er sich nun im falschen Zug im falschen Land zum falschen Zeitpunkt der Geschichte befand.   Als er aus dem Fenster blickte, stellte er fest, dass der Name des Bahnhofs unverständlich war, aber ziemlich sicher falsch. Tatsächlich hatte Nicholas das Gefühl, dass die Namen des letzten halben Dutzends an Bahnhöfen nicht richtig gewesen waren.   Vielleicht hatte sich der Zug auf eine Nebenstrecke begeben. Nicholas verglich das Bahnhofschild mit der Bahnlinie in seinem Reiseführer und sah, dass so ziemlich keiner der Buchstaben identisch war. Es gab überall Akzente und Zirkumflexe. Warum mussten sie alles so verdammt kompliziert machen? Das britische Weltreich hatte den Gebrauch der englischen Sprache auf fast alle zivilisierten Länder ausgedehnt, also warum zur Hölle war sie nicht bis hierher vorgedrungen?   Der ramponierte grüne Zug hatte schon bessere Tage gesehen, aber es war immer noch die zuverlässigste Möglichkeit, durch das Land zu reisen. Auf vielen Straßen waren mit der Hilfe von Stacheldraht und Steinen Blockaden errichtet worden. Die Armee versuchte, die Wege für Zivilisten im Inneren des Landes zu beschränken.   Der Zug kam mit einem Kreischen der Bremsen und quietschenden Kolben zum Stehen. Es gab so viel Rauch und Dampf und verspritztes Öl, dass er dachte, der Zug sei einfach eingefahren und zusammengebrochen und würde niemals mehr Fahrt aufnehmen. Und doch hatte er es gerade noch geschafft, mit seinem Koffer auszusteigen, bevor der Zug seine Kräfte sammelte und die Flucht antrat, indem er langsam schnaufend den Bahnhof hinter sich ließ.   Nicholas stellte seinen Lederkoffer ab und blickte sich um. Er hätte niemals die Grenze zu den Karpaten überqueren sollen, vor allem nicht jetzt, zu dieser Zeit. August 1916, die schwache Neutralität neigte sich dem Ende entgegen, die Mittelmächte standen kurz vor der Invasion. Selbst ein Geschäftsmann von internationalem Ansehen wäre unter diesen Umständen nicht sicher gewesen. Und er war weit davon entfernt, ein solcher zu sein.   Nicholas betrachtete sich selbst am liebsten als Abenteurer. Das hatte einen schillernden, wenngleich nicht unbedingt seriösen Klang und schien angemessen zu sein. Obwohl er ein Londoner war, hatte er sich immer wieder ins Ausland begeben und Geld durch Glücksspiel, Spekulationen und gelegentlichen Diebstahl angehäuft. Er wusste, dass er sich auf dem falschen Weg befand, aber es war nicht an ihm gewesen, die Wahl zu treffen. Er war auf der Flucht vor Gläubigern, vor Mädchen und vor anderen Dingen ...   Als sich der Rauch verflüchtigt hatte, hörte er nichts als Grillen und Lerchen und sah niemanden mit Ausnahme eines ältlichen Mannes in einer fleckigen Uniform, der gerade seine grüne Flagge wegpackte. Außer Nicholas waren keine weiteren Passagiere ausgestiegen. Niemand war dumm genug gewesen.   Er glättete seinen schmalen braunen Schnurrbart und blickte sich um: Gestrüpp, hohe belaubte Buchen und unbestimmbare Büsche, an denen kärgliche gelbe Beeren hingen. Eine von Bäumen gesäumte Straße führte vom Bahnhof weg, eine unbefestigte Straße, kein Makadam. Eine Stadt mit grauen Mauern – womöglich von ihren Bewohnern aufgegeben – lag in der Ferne. Felder und noch mehr Felder. Das Geraschel der Weizengarben. Ein einsamer Hund bellte. Keine menschlichen Geräusche.   Er blickte auf seine silberne Taschenuhr und bemerkte, dass es nur noch eine Stunde bis zum Sonnenuntergang war. Wenn der verdammte Anschlusszug in Sofia pünktlich abgefahren wäre, hätte er vielleicht den richtigen Zug erwischt oder er wäre zumindest rechtzeitig zum Mittagessen irgendwo angekommen. Er fragte sich, was wohl der Bahnhofsvorsteher von ihm denken mochte: Ein schneidiger englischer Gentleman, achtundzwanzig, so robust und stattlich wie eines der neuen Automobile, die man nun in der Park Lane sehen konnte, in einer schwarzen Brokatweste, einem silbergrauen Anzug und einem Filzhut, viel zu elegant gekleidet für diese Einöde. Nicholas gehörte nach London, natürlich, und verhielt sich auch dementsprechend, aber er genoss es, auf die Damen Osteuropas einen guten Eindruck zu machen. Perfektion machte sie empfänglich und ermöglichte den Zugriff auf die Geldbeutel ihrer Ehemänner.   Er wartete, bis der Bahnhofsvorsteher bei ihm ankam, und stupste ihn unverschämt mit seinem Rattanstock an.   »He, Sie da. Haben Sie hier das Sagen?«   Alles, was ihm das einbrachte, war ein ausdrucksloser Blick.  »Ah.« Er schlug erneut seinen Reiseführer auf und sagte laut: »De tren mi-a laut pentru a gresit locul.«  Der alte Bahnhofsvorsteher verzog das Gesicht wie ein Wasserspeier. »Wir sprechen Englisch in unserer Stadt«, verkündete er.   »Wo bin ich?«   »Sie sind in Chelmsk.« Der Name klang wie das Ausspucken eines Klumpen Schleims.   »Nun, Ihr Zug scheint mich am falschen Halt abgesetzt zu haben.«   »Das geht mich nichts an.«   »Es gibt hier eine Stadt, oder? Ich gehe davon aus, dass hier Kutschen warten.«   »Sie können hier von gar nichts ausgehen.«   »Wo sind die Gepäckträger?«   Der Vorsteher blickte ihn herablassend an. »Wir haben keine Gepäckträger. Hier trägt jeder sein eigenes Hab und Gut.«   Nicholas wurde ungehalten. »Aber ich bin Engländer! So etwas mache ich nicht.«   »Wie Sie wünschen.« Der Vorsteher wandte sich ab, um zu gehen.   »Ah, ja. Die berühmte europäische Gastfreundlichkeit. Hören Sie, guter Mann, sagen Sie mir einfach nur, wann der letzte Zug zurück geht.«   »Heute fährt kein Zug mehr. Und ich bin nicht Ihr guter Mann.«   »Aber ich bin mir sicher, dass ich gehört habe, wie andere Passagiere von einem Zug sprachen, der um Mitternacht fährt.«   »Einen solchen Zug gibt es nicht. Verstehen Sie? Es gibt keinen.« Der Bahnhofsvorsteher spuckte knapp neben Nicholas’ Stiefel und marschierte davon.   »Merkwürdige Gestalt.« Nicholas seufzte und hob seinen Koffer. Das war wirklich überaus unangenehm.   Es gab keine wartenden Kutschen, nicht einmal ein bäuerliches Fuhrwerk. Es gab keine andere Möglichkeit. Er musste seinen eigenen Koffer tragen und sich auf der staubigen Straße auf den Weg machen, während die Nachmittagssonne in den Spalt zwischen seinem Kragen und seinem von Brillantine glänzenden Haar brannte. Den Hut abnehmend, hielt er vor einem großen Holzschild an, auf dem absolut unverständliche Worte geschrieben standen. Er versuchte, sie in seinem Reiseführer nachzuschlagen, sah sich aber schließlich gezwungen, die richtige Richtung zu raten.   »Lächerliche Bauernsprache«, murmelte er, während er Ziegenkot von seinem Stiefel entfernte.   Nach ein paar Minuten erreichte er eine Kreuzung. Wie um alles in der Welt sollte er wissen, wo sich die nächste Stadt befand? Wohin waren die grauen Mauern verschwunden? Er wusste, dass er sich die Richtung auf dem Bahnhof hätte merken sollen.   Als er eine Fahrradklingel hörte, trat er gewandt zur Seite und wurde von einer jungen Frau überholt, die ein rotes Dirndlmieder mit einem weißen Bauernrock trug. Der Rock war hochgesteckt, damit er nicht in die Speichen geriet, und ließ ihre wohlgeformten, gebräunten Beine sichtbar werden.   »He, Sie. Passen Sie auf!«, rief er und sie drehte sich überrascht zu ihm um.   Sie war überwältigend hübsch, mit großen blauen Augen und Haar, das wie Getreidegarben hinter ihrem Nacken hervorströmte – aber es war bereits zu spät sie anzuhalten, und einen Moment später war sie verschwunden.   Er benötigte eine weitere halbe Stunde, bis er die Mauern der Stadt erreichte. Aus der Nähe waren sie viel höher und abweisender, als er erwartet hatte. Nachdem er durch eines der großen Holztore geschritten war, befand er sich auf einer verlassenen Straße mit mächtigen hässlichen Kirchen, die praktisch keine Fenster hatten und in denen man beim Beten vermutlich immer am Erfrieren war. Ein Rudel räudiger, streunender Hunde fing an zu bellen. Einer von ihnen humpelte hinter Nicholas’ Rücken und sah aus, als ob er nach seinem Bein schnappen wollte.   Irgendwo zu seiner Linken läutete eine traurige Kirchturmglocke, als ob sie die Menschen abschrecken wollte. Er blickte auf die hohen grauen Steinmauern, die gepflasterten Straßen, die breit und leer waren, und die schmucklosen Häuser mit ihren geschlossenen grünen Fensterläden.