Der Honigbus - Meredith May - E-Book
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Der Honigbus E-Book

Meredith May

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Beschreibung

Ein rostiger alter Bus im Garten des Großvaters und seine Bienen werden für Meredith ihr einziger Halt. Denn sie ist erst fünf, als sie von ihren Eltern nach deren Trennung vollkommen sich selbst überlassen wird. Der Großvater nimmt sie mit in die faszinierende Welt der Bienen – und rettet ihr so das Leben. Die Bienen werden Meredith zur Ersatzfamilie: Wenn sie sich verlassen fühlt, zeigen sie ihr, wie man zusammenhält und füreinander sorgt. Wenn sie über ihre depressive Mutter verzweifelt, bewundert sie die Bienen dafür, ihre Königin einfach austauschen zu können. Die Bienen lehren Meredith, anderen zu vertrauen, mutig zu sein und ihren eigenen Weg zu gehen. »Der Honigbus« ist eine starke Geschichte über das Leben und die Weisheiten der Natur.

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Seitenzahl: 421

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Meredith May

Der Honigbus

Aus dem amerikanischen Englisch von Anette Grube

FISCHER E-Books

Inhalt

MottoSchwarmFluchtwegDer HonigbusDie geheime Sprache der BienenHeimkehrDie Königin von Big SurDer BienenhalterDer falsche GroßvaterDie erste ErnteAlleinreisendes KindFaulbrutEltern ohne PartnerDas soziale InsektHeißes WasserBienentanzVerstreuter ZuckerEpilogAnmerkung der AutorinDankLesevorschläge

So arbeiten die Honigbienen, Wesen,

Die von Natur aus für der Menschen Reiche

Ein Vorbild ordentlichen Waltens sind.

 

William Shakespeare, König Heinrich der Fünfte

(übersetzt von Erich Fried)

Prolog

Schwarm

1980

Eine Bienenlektion in Tapferkeit

Die Schwarmzeit kündigte sich immer über das Telefon an. Jedes Frühjahr erwachte das rote Wählscheibentelefon zum Leben, weil verzweifelte Anrufer Honigbienen in ihren Mauern, Kaminen oder Bäumen meldeten.

Ich verteilte Grandpas Honig auf meinem Maisbrot, als er aus der Küche kam, mit diesem schlitzohrigen Lächeln, das besagte, dass wir unser Frühstück wieder einmal würden stehenlassen müssen. Ich war zehn und hatte fast mein halbes Leben lang Bienenschwärme mit ihm eingefangen, deswegen wusste ich, wie es weitergehen würde. Er trank seinen Kaffee in einem Zug aus und fuhr sich mit dem Arm über den Schnurrbart.

»Wir haben wieder einen«, sagte er.

Dieses Mal stammte der Anruf von einem privaten Tennisclub, ungefähr eine Meile entfernt an der Carmel Valley Road. Als ich mich auf den Beifahrersitz seines klapprigen Pick-ups setzte, trat er mehrmals aufs Gaspedal, um ihn anzulassen. Schließlich sprang der Motor an, und wir fuhren kreischend aus der Einfahrt und wirbelten Kies auf. Er raste an den Schildern mit der Geschwindigkeitsbegrenzung vorbei, auf denen fünfundzwanzig stand, wie ich von Fahrten mit Granny wusste. Wir mussten uns beeilen, um den Schwarm zu erwischen, weil den Bienen womöglich einfallen könnte, woanders hinzufliegen.

Grandpa schlingerte auf das Gelände des Tennisclubs und trat neben einem Weidezaun auf die Bremse. Er stemmte sich mit der Schulter gegen die klemmende Tür und drückte sie ächzend auf. Wir traten in einen Minizyklon aus Bienen, ein laut brummender Tintenfleck am Himmel, der wie ein Vogelschwarm nach links und rechts abdrehte. Mein Herz raste mit ihnen, ängstlich und ehrfürchtig zugleich. Die Luft schien zu pulsieren.

»Warum tun sie das?«, rief ich über den Lärm.

Grandpa ging auf ein Knie und neigte sich zu meinem Ohr.

»Die Königin hat den Stock verlassen, weil es drin zu eng wurde«, erklärte er. »Die Bienen sind ihr gefolgt, weil sie ohne sie nicht leben können. Sie ist die einzige Biene im Volk, die Eier legt.«

Ich nickte, um Grandpa zu zeigen, dass ich verstanden hatte.

Der Schwarm hatte sich einem Kastanienbaum genähert. Alle paar Sekunden löste sich eine Handvoll Bienen aus dem Schwarm und verschwand zwischen den Blättern. Ich trat näher, schaute hinauf und sah, dass sich die Bienen als Ball, ungefähr so groß wie eine Orange, an einem Ast sammelten. Mehr Bienen dockten an, bis die Kugel so groß wie ein Basketball war und pulsierte wie ein Herz.

»Die Königin ist dort gelandet«, sagte Grandpa. »Die Bienen beschützen sie.«

Als sich die letzten Bienen der Gruppe angeschlossen hatten, wurde es still.

»Warte beim Wagen auf mich«, flüsterte Grandpa.

Ich lehnte mich an die vordere Stoßstange und sah zu, wie er auf eine Stehleiter stieg, bis er mit dem Kopf auf gleicher Höhe mit dem Schwarm war. Dutzende Bienen krochen über seine nackten Arme, während er anfing, mit einer Säge den Ast abzusägen. In diesem Augenblick ließ ein Platzwart einen Rasenmäher an, die Bienen erschraken und flogen in Panik auf. Ihr Summen wurde zu einem durchdringenden Heulen, und sie schlossen sich zu einem engeren, schnellen Kreis zusammen.

»Verdammt nochmal!«, hörte ich Grandpa fluchen.

Er rief dem Platzwart etwas zu, und der Rasenmäher verstummte. Während Grandpa darauf wartete, dass sich der Schwarm erneut am Baum sammelte, spürte ich, wie mir etwas über den Kopf krabbelte. Ich langte hinauf und berührte Flaum, dann spürte ich, wie sich Flügel und kleine Beinchen in meinem Haar verfingen. Ich warf den Kopf hin und her, um die Biene abzuschütteln, aber sie verhedderte sich nur noch mehr und wurde verzweifelter, ihr Summen steigerte sich in die hohe Tonlage eines Zahnbohrers. Ich holte mehrmals tief Luft, um mich für das zu wappnen, von dem ich wusste, dass es kommen würde.

Als die Biene ihren Stachel in meine Haut bohrte, raste der brennende Schmerz von meiner Kopfhaut in meine Backenzähne, und ich biss die Kiefer zusammen. Ich tastete erneut hektisch mein Haar ab und erstickte einen Schrei, als ich eine zweite Biene darin fand, dann noch eine. Angst breitete sich weiter und weiter in meinem Brustkorb aus, als ich mehr pelzige Körper spürte, als ich zählen konnte, ein kleines Geschwader Honigbienen, die mit der gleichen Angst zu kämpfen hatten wie ich.

Dann roch ich Bananen – den Geruch, den Bienen verströmen, um nach Unterstützung zu rufen –, und ich wusste, dass ich angegriffen wurde. Ich spürte einen brennenden Stich an meinem Haaransatz, gefolgt von einem heftigen Schmerz hinter dem Ohr, und ich ging auf die Knie. Ich wurde ohnmächtig, oder vielleicht betete ich auch. Ich dachte, dass ich womöglich sterben würde. Innerhalb von Sekunden hielt Grandpa meinen Kopf in den Händen.

»Versuch, dich ganz still zu halten«, sagte er. »Da sind noch fünf drin. Ich hole sie alle raus, aber vielleicht wirst du noch mal gestochen.«

Eine weitere Biene stach mich. Jeder Stich verstärkte den Schmerz, bis sich mein Kopf anfühlte, als würde er lichterloh brennen, und ich griff nach dem Autoreifen und hielt mich daran fest.

»Wie viele sind es noch?«, flüsterte ich.

»Nur noch eine«, sagte er.

Als es vorbei war, nahm mich Grandpa in die Arme. Ich legte meinen pochenden Kopf an seine Brust, die muskelbepackt war, weil er sein Leben lang fast fünfzig Pfund schwere Bienenstöcke voller Honig gehoben hatte. Er legte mir sanft die schwielige Hand in den Nacken.

»Schnürt sich dir die Kehle zu?«

Ich atmete so tief ein und aus, wie ich konnte. In meinen Lippen prickelte es seltsam.

»Warum hast du mich nicht gerufen?«, fragte er.

Ich hatte keine Antwort darauf. Ich wusste es nicht.

Meine Beine zitterten, und ich ließ mich von Grandpa zum Wagen tragen und auf die Sitzbank legen. Ich war früher schon gestochen worden, aber nie von so vielen Bienen auf einmal, und Grandpa machte sich Sorgen, dass mein Körper in einen Schockzustand fiel. Sollte mein Gesicht anschwellen, sagte er, müsste ich in die Notaufnahme. Er wies mich an zu hupen, sollte ich keine Luft mehr kriegen, und ich wartete, bis er den Ast fertig abgesägt hatte. Er schüttelte die Bienen in einen weißen Kasten aus Holz und trug ihn zur Ladefläche des Pick-ups, während ich die heißen Schwellungen auf meinem Kopf betastete. Sie waren fest und hart, und sie schienen größer zu werden. Ich hatte Angst, dass mein Kopf bald so aufgebläht wäre wie ein Kürbis.

Grandpa stieg ein und ließ den Motor an.

»Einen Moment«, sagte er, nahm meinen Kopf in die Hände und fuhr mit den Fingern über die Kopfhaut. Ich zuckte zusammen, als würde er Murmeln in meinen Schädel drücken.

»Einen habe ich übersehen«, sagte er und zog einen schmutzigen Fingernagel seitlich über meine Kopfhaut, um den Stachel zu entfernen. Er erklärte immer, dass es falsch war, den Stachel zwischen Daumen und Zeigefinger herauszudrücken, weil er dann das gesamte Gift in den Stich abgab. Er hielt mir die Handfläche hin, um mir den Stachel mit der stecknadelgroßen Giftblase zu zeigen, die noch daran hing.

»Sie arbeitet noch«, sagte er und deutete auf das weiße Organ, das Gift pumpte und nicht wusste, dass seine Dienste nicht mehr gebraucht wurden. Es war ekelhaft und erinnerte mich an ein Huhn, das ohne Kopf herumlief, und ich rümpfte die Nase. Er warf ihn aus dem Fenster und schaute mich dann erfreut an, als hätte ich ihm gerade mein Zeugnis mit lauter Einsern gezeigt.

»Du warst sehr tapfer. Du bist nicht ausgerastet und so.«

Mein Herz schlug Räder in meinem Brustkorb, und ich war stolz auf mich, weil ich mich von den Bienen hatte stechen lassen, ohne wie ein Mädchen zu schreien.

Wieder zu Hause, stellte Grandpa den Kasten mit den Bienen neben seine Sammlung von einem halben Dutzend Bienenstöcken an den Zaun hinten im Garten. Der Schwarm gehörte jetzt uns und würde sich bald an sein neues Zuhause gewöhnen. Bienen flitzten bereits aus dem Eingang und flogen in kleinen Kreisen herum, um die neue Umgebung zu erkunden und sich Orientierungspunkte einzuprägen. In ein paar Tagen würden sie Honig produzieren.

Als ich zusah, wie Grandpa Zuckerwasser für sie in ein Einweckglas füllte, dachte ich darüber nach, dass er gesagt hatte, die Bienen würden der Königin folgen, weil sie ohne sie nicht leben konnten. Sogar Bienen brauchten ihre Mutter.

Die Bienen in dem Tennisclub hatten mich angegriffen, weil ihre Königin aus dem Stock geflüchtet war. Sie war verletzlich, und sie versuchten, sie zu beschützen. Verrückt vor Sorge, hatten sie das erste Ziel angegriffen, das sich ihnen in den Weg stellte – mich.

Vielleicht hatte ich deswegen nicht geschrien. Weil ich sie verstand. Bienen verhalten sich manchmal wie Menschen – sie haben Gefühle, und manche Dinge jagen ihnen Angst ein. Man sieht, dass es so ist, wenn man ganz stillhält und beobachtet, wie sie sich bewegen, ob sie auf der Wabe mühelos zusammenströmen wie Wasser oder ob sie zitternd darüber rennen, als würde es sie überall jucken. Bienen brauchen die Wärme einer Familie; eine einzelne Biene überlebt die Nacht wahrscheinlich nicht. Wenn ihre Königin stirbt, rennen Arbeiterbienen verzweifelt durch den Stock und suchen nach ihr. Das Volk schrumpft, und die Bienen werden mutlos und niedergeschlagen, kriechen langsam durch den Stock, statt Nektar zu sammeln, schlagen die Zeit tot, bevor die Zeit sie umbringt.

Ich kannte das nagende Bedürfnis nach einer Familie. An einem Tag hatte ich eine, dann war sie über Nacht nicht mehr da.

Kurz vor meinem fünften Geburtstag ließen sich meine Eltern scheiden, und ich fand mich plötzlich an der anderen Küste wieder, in Kalifornien, beengt in einem Schlafzimmer mit meiner Mutter und meinem kleinen Bruder im winzigen Haus meiner Großeltern. Meine Mutter schlüpfte unter die Bettdecke und in eine endlos andauernde Melancholie, und mein Vater wurde nie wieder erwähnt. In der leeren Stille, die folgte, versuchte ich zu verstehen, was passiert war. Während meine Liste von Fragen an das Leben länger wurde, wusste ich nicht, wer sie mir beantworten würde.

Ich begann, Grandpa überallhin zu folgen, stieg morgens in seinen Pick-up und fuhr mit ihm zur Arbeit. So begann mein Unterricht bei den Bienen von Big Sur, wo ich lernte, dass ein Bienenstock um ein Prinzip kreiste – die Familie. Grandpa lehrte mich die verborgene Sprache der Bienen, die Bedeutung ihrer Bewegungen und Geräusche, das Unterscheiden zwischen den verschiedenen Gerüchen, die sie absondern, um mit Gefährtinnen aus dem Stock zu kommunizieren. Seine Geschichten über die Shakespeare’schen Plots in einem Volk, das die Königin absetzen will, und über die Hierarchie von Aufgaben trugen mich fort in ein geheimes Reich, wenn die Situation in meinem eigenen zu schwierig wurde.

Je mehr ich im Lauf der Zeit über die innere Welt der Honigbienen erfuhr, umso mehr verstand ich die äußere Welt der Menschen. Während meine Mutter tiefer in Verzweiflung versank, vertiefte sich mein Verhältnis zur Natur. Ich lernte, wie sich Bienen umeinander kümmern und hart arbeiten, wie sie demokratisch entscheiden, wo sie nach Futter suchen und wann sie schwärmen sollen, und wie sie für die Zukunft planen. Ihre Stacheln lehrten mich, was es heißt, tapfer zu sein.

Ich fühlte mich von den Bienen angezogen, weil ich ahnte, dass die Stöcke uralte Weisheiten enthielten und mich Dinge lehren würden, die meine Eltern mir nicht beibringen konnten. Von den Honigbienen, einer Spezies, die die letzten 100 Millionen Jahre überlebt hat, lernte ich durchzuhalten.

Fluchtweg

Februar 1975

Eine Bienenlektion in Umsiedelung

Ich habe nicht gesehen, wer sie geworfen hat.

Die Pfeffermühle flog in einem schrecklichen Bogen über den Esstisch und landete mit einer Explosion schwarzer Pfefferkörner auf dem Küchenboden. Entweder versuchte meine Mutter, meinen Vater umzubringen, oder umgekehrt. Es wäre möglich gewesen, hätte er oder sie besser gezielt, denn es war eine dieser schweren Mühlen aus dunklem Holz, länger als mein Unterarm.

Wenn ich hätte raten müssen, hätte ich auf Mom getippt. Sie ertrug das Schweigen in ihrer Ehe nicht mehr, und um seine Aufmerksamkeit zu erregen, warf sie nach ihm, was immer sich in ihrer Reichweite befand. Sie riss Vorhänge von der Stange, schleuderte Matthews Bausteine an die Wand und warf Geschirr auf den Boden, damit wir wussten, dass sie es ernst meinte. Auf diese Weise weigerte sie sich, unsichtbar zu werden. Es funktionierte. Ich lernte, den Rücken immer der Wand zuzuwenden und sie nicht aus den Augen zu lassen.

An diesem Abend verströmte ihr Körper die aufgestaute Wut in Wellen, ihre alabasterweiße Haut glühte rosa. Ein vertrauter Schrecken sammelte sich in meinem Bauch, während ich den Atem anhielt und die Tapete studierte, auf der sich Efeu um Kupferkessel und Nudelhölzer rankte. Ich hatte Angst, dass schon das leiseste Geräusch meinerseits den unsichtbaren weißglühenden Strahl zwischen meinen Eltern auf mich lenken und eine weiße Rauchwolke zurücklassen würde, wo zuvor ein fünfjähriges Mädchen gesessen hatte. Ich kannte diese Ruhe vor dem Sturm, dieses kurze Innehalten des erhobenen Bestecks vor dem verbalen Zusammenstoß. Niemand rührte sich, nicht einmal mein zwei Jahre alter Bruder, der erstarrt vor seinen Cheerios auf dem Hochstuhl saß. Dad legte ruhig die Gabel ab und fragte Mom, ob sie vorhabe, das Chaos aufzuräumen.

Mom ließ die Papierserviette in ihr unberührtes Abendessen fallen; wir aßen wieder einmal amerikanisches Chop Suey – ein billiger Mischmasch aus Hörnchennudeln, Rinderhack und was immer für ein Dosengemüse wir hatten, darüber Tomatensoße. Sie zündete sich ganz langsam eine Zigarette an und blies Rauch in Dads Richtung. Ich rechnete damit, dass er wie üblich in seiner ganzen Größe vom Stuhl aufstehen, ins Wohnzimmer verschwinden und die Beatles so laut aufdrehen würde, dass er sie nicht mehr hören konnte. Doch an diesem Abend blieb er sitzen, verschränkte die Arme und starrte Mom durch den Rauch aus seinen kohlefarbenen Augen an. Sie stippte die Asche auf ihren Teller, ohne den Blick von ihm zu wenden. Er sah ihr zu, Ekel ins Gesicht graviert.

»Du hast versprochen aufzuhören.«

»Ich hab’s mir anders überlegt«, sagte sie und inhalierte so tief, dass ich den Tabak knistern hörte.

Dad schlug auf den Tisch, dass das Besteck klimperte. Mein Bruder erschrak, dann fiel ihm das Kinn nach unten, und er atmete stoßweise, während er in ein Ganzkörperschreien ausbrach. Mom blies wieder Rauch in Dads Richtung und kniff die Augen zusammen. Meine Nerven hüpften wie Wassertropfen in einer heißen Bratpfanne, während ich nervös mit den Fingern auf den Oberschenkel tippte und die Sekunden zählte, bis einer von beiden aufsprang. Als ich bei sieben war, bemerkte ich, wie sich Moms Mundwinkel zu einem sarkastischen Lächeln verzogen. Sie drückte die Zigarette in ihrem Teller aus, stand auf, ging um die Pfefferkörner und stapfte in die Küche. Ich hörte, wie sie mit Töpfen knallte und dann einen Deckel, der zu Boden fiel und ein paarmal klapperte, bevor er liegen blieb. Sie hatte etwas vor, und das war nie gut.

Mom kehrte mit einem heißen, dampfenden Topf an den Tisch zurück. Sie hob ihn über den Kopf, und ich schrie auf, weil ich Angst hatte, dass sie Dad verbrühen würde. Er schob seinen Stuhl zurück, stand auf und forderte sie heraus, den Topf zu werfen. Mir drehte sich der Magen um, als hätten sich der Tisch und die Stühle plötzlich vom Boden erhoben und kreisten so schnell wie ein Teetassenkarussell.

Ich schloss die Augen und wünschte mir eine Zeitmaschine, die mich in das Jahr zuvor zurückbringen würde, als meine Eltern noch miteinander redeten. Wenn ich nur genau den Zeitpunkt festmachen könnte, als alles schiefging, könnte ich es irgendwie richten und diesen Tag verhindern. Vielleicht würde ich ihnen die vergessene Schachtel mit Dias im Keller zeigen, den Beweis, dass sie sich einmal geliebt hatten. Als ich die kartongefassten Quadrate zum ersten Mal ins Sonnenlicht hielt, sah ich, dass Moms Gesicht einst gelacht hatte, und sie hatte kurze Kleider und glänzende weiße Stiefel getragen und Zigaretten durch einen langen Stab geraucht wie ein Filmstar. Sie hatte noch immer den kurzen Haarschnitt, aber damals war das Rot einen Ton heller gewesen, und ihre Augen wirkten grüner. Auf jedem Dia lächelte Mom oder zwinkerte Dad über die Schulter zu. Er machte die Fotos, kurz nachdem sie ihm aufgefallen war, als sie sich für Kurse am Monterey Peninsula College einschrieb. Er lud sie zu einer Autofahrt die Küste hinunter nach Big Sur ein.

Er hatte sie im Sommer schon auf ein paar Partys gesehen. Sie war diejenige mit dem lauten Lachen, die Witzige, die naturgegeben immer ein Publikum im Schlepptau hatte. Er bemerkte, wie mühelos sie sich unter Fremden bewegte, und das holte meinen stillen Vater aus der Ecke. Er war dazu erzogen worden, nur etwas zu sagen, wenn jemand ihn ansprach, und studierte die Leute, bevor er sich entschloss, mit ihnen zu reden. Das umgab ihn in den Augen meiner Mutter mit einem kleinen Geheimnis, und sie fühlte sich herausgefordert, den großen Fremden mit dem dramatisch spitzen Haaransatz und den rauchigen Augen aus sich herauszuholen. Als er ihr von seinem Plan erzählte, zur Marine zu gehen und ins Ausland zu reisen, war Mom, die noch nie außerhalb von Kalifornien gewesen war, restlos begeistert.

Sie heirateten 1966, und nach vier Jahren stationierte die Marine sie in Newport, Rhode Island, wo Matthew und ich geboren wurden. Nach dem Militärdienst arbeitete Dad als Elektroingenieur und entwickelte Maschinen, die andere Maschinen justierten. Mom ging mit uns zum Metzger und zum Lebensmittelladen und sorgte dafür, dass um fünf das Abendessen auf dem Tisch stand. Nach außen wirkte unser Leben geordnet, organisiert, auf dem richtigen Weg. Wir lebten in einem holzverschalten Reihenhaus, mein Bruder und ich hatten jeweils ein eigenes Zimmer im ersten Stock, verbunden von einer Spur Lincoln-Bauklötzchen, Pinnwandnadeln und bunten Plastelinklumpen, die wir fallengelassen hatten. Dad hängte auf der Veranda vor dem Haus eine Schaukel auf, und wir spielten mit den Nachbarskindern, die in den drei identischen Häusern neben unserem wohnten. Am Wochenende kam Dad morgens in mein Zimmer, und wir betrachteten die Wolken, die an meinem Schlafzimmerfenster vorbeizogen, identifizierten Dinosaurier, Pilze und fliegende Untertassen. Vor dem Einschlafen las er mir aus Grimms Märchen vor, und obwohl jede Geschichte mit einem gewaltsamen Tod endete, hielt er mich nie für zu jung, solche Dinge zu hören.

Es schien, als wären wir glücklich, doch die Ehe meiner Eltern bröckelte bereits.

Ich denke, dass sie anfänglich versuchten, ihre Zwistigkeiten beizulegen, doch schließlich vervielfachten sich ihre Meinungsverschiedenheiten und breiteten sich aus wie ein Krebsgeschwür, bis sie in einem großen Streit gefangen waren. Moms Geschrei drang jetzt durch die Mauern, die wir mit den Nachbarn gemeinsam hatten, und ihre Probleme waren zweifellos öffentlich geworden.

Ich öffnete die Augen und sah Mom dastehen, bereit, den Topf mit amerikanischem Chop Suey zu werfen. Ihrer beider Drohungen flogen wie Pfeile hin und her, hin und her, sein zurückhaltender monotoner Tonfall vermischte sich mit ihrem immer höheren Falsett, bis ihre Worte in meinen Ohren zu einem lauten Klingeln verschmolzen. Ich versuchte es zu verscheuchen, indem ich leise »Yellow Submarine« summte. Es war das Lied, das Dad und ich gemeinsam sangen, wobei wir uns Kochlöffel als Mikrophone vor den Mund hielten. Damals, als Musik noch unser Haus erfüllte. Dad nahm alle Beatles-Songs im Radio oder von Schallplatten auf Tonbänder auf, die er in knochenfarbenen Plastikgehäusen im Bücherregal aufbewahrte, aufgereiht wie Zähne. Er hörte die Bänder auf seinem Tonbandgerät, und in letzter Zeit zog er »Maxwell’s Silver Hammer« vor, das Lied, in dem ein Mann seine Feinde totschlägt, er drehte es im Wohnzimmer auf volle Lautstärke, bis Mom ihm unweigerlich sagte, er solle den Krach leiser stellen.

Ich war ungefähr in der Mitte der zweiten Strophe, als ich sah, wie sie den Arm hob und sich der Griff des Topfs wie in Zeitlupe aus ihrer Hand löste. Dad duckte sich, und der Rest unseres Abendessens flog durch die Luft und klatschte gegen die Wand, an der er hinunterglitt und einen schmierigen Streifen hinterließ. Er sammelte sich am Boden zwischen den Pfefferkörnern. Dad hob den Topf neben seinem Fuß auf und stand am ganzen Körper zitternd da. Er knallte den Topf auf den Tisch und dachte nicht daran, ihn auf die Warmhalteplatte zu stellen, wie von ihm erwartet wurde. Matthew jammerte jetzt, hob die Arme, weil er aus dem Stuhl gehoben werden wollte, und Mom ging zu ihm, als wäre nichts passiert. Sie schaukelte Matthew und wisperte ihm ins Ohr, er solle still sein, den Rücken Dad und mir zugewandt. Dad drehte sich um und flüchtete auf den Dachboden, wo er die Nacht damit verbrachte, Morsezeichen in sein Amateurfunkgerät zu tippen und sich mit höflichen Fremden zu unterhalten.

Ich fragte nicht, ob ich aufstehen durfte. Ich rannte zur Treppe, nahm zwei Stufen auf einmal, lief in mein Zimmer und knallte die Tür zu. Ich riss die Tagesdecke mit dem Flintstones-Muster vom Bett und zog sie unter mein Hüpfpferd. Es war aus Plastik und stand auf vier Sprungfedern – eine unter jedem Lauf. Ich drückte mit den Füßen gegen seinen mit Filz bezogenen Bauch, bis ich einen beruhigenden Rhythmus gefunden hatte. Dann schob ich meine schulterlangen Haare über die Augen, schloss die Realität aus, so dass ich fast glauben konnte, ich wäre sicher im Inneren eines gelben Unterseeboots, unter der Wasseroberfläche, allein und so weit unten, dass ich keine Stimmen mehr hören konnte.

Obwohl ich nicht verstand, warum meine Eltern so oft stritten, wusste ich zuinnerst, dass sich etwas Bedeutsames in unserem Haus veränderte. Dad gebrauchte seine Wörter nicht mehr, und Mom benutzte zu viele. Ich versuchte, mir einen Reim darauf zu machen, indem ich Informationen sammelte, wann immer meine Patentante Betty vorbeikam, wenn Dad auf der Arbeit war. Mom und Betty saßen auf der Couch und sprachen über alles Mögliche, während Betty mit meinen Haaren spielte. Matthew hielt seinen Mittagsschlaf, und ich saß auf dem Boden zwischen ihren Beinen, so dass Betty hinunterlangen und geistesabwesend lange Strähnen meines braunen Haars um ihre Finger wickeln konnte. Sie verdrehte meine Locken zu verknoteten Schlangen und entrollte sie wieder, immer wieder, während sie und Mom ihre Probleme bearbeiteten. Verdrehen, ziehen, loslassen. Verdrehen, ziehen, loslassen. Es fühlte sich an, als würde ein heftiges Jucken gekratzt, wie eine prickelnde Kopfmassage, die manchmal solange dauerte, wie sie brauchten, um eine Schachtel Zigaretten zu rauchen.

Sie verplauderten die Nachmittage, und ich war so still, dass sie mich vergaßen und über Dinge diskutierten, die ich wahrscheinlich nicht hätte hören sollen. Vor allem erfuhr ich, dass Männer eine Enttäuschung waren. Dass sie dir den Himmel auf Erden versprachen und dann nicht genügend Geld für Lebensmittel nach Hause brachten. Ich hörte Mom sagen, dass Dad vielleicht seine Stelle verlieren würde, weil sein Chef sich »gesundschrumpfen« wollte.

»Entlassungen?«, sagte Betty. Verdrehen, ziehen, loslassen.

»Offenbar«, sagte Mom. »Sie werfen alle jungen Ingenieure raus.«

»Ach du meine Güte.«

»Du sagst es.«

»Was wirst du tun?« Verdrehen, ziehen.

»Keine Ahnung.«

Betty zog noch einmal an meinen Haaren und ließ sie von ihrem Zeigefinger gleiten. Ich blieb reglos wie eine Statue sitzen, ganz Ohr. Sie schwiegen eine Weile, und Betty ging dazu über, mir den Kopf zu massieren, Kaulquappen der Ekstase schlängelten sich meinen Nacken hinunter. Mom stand auf und holte zwei weitere Dosen mit Limonade aus dem Kühlschrank, riss sie am Ring auf und reichte Betty eine. Dann ließ sie sich wieder auf die Couch fallen und legte die Füße auf die durchhängende Ottomane. Sie seufzte so schwer, dass es sich anhörte, als würde alle Luft aus ihr entweichen.

»Ehrlich, Betty, ich glaube nicht, dass es mit der Ehe weit her ist. Ich bin neunundzwanzig und fühle mich wie zweiundneunzig.«

Betty bewegte die schweren Beine, löste sie vom Kunstleder der Couch und streckte sie aus. Sie versuchte, sich nach vorn zu neigen, kam jedoch mit den Händen gerade bis zu den Knien. Sie stöhnte vor Anstrengung und lehnte sich wieder zurück. Sie schob den Vorhang zur Seite und schaute aus dem Fenster.

»Glaubst du etwa, dass es der Himmel auf Erden ist, allein zu sein?«

Mom blies Rauch aus einer Seite des Mundes und ließ die Kippe in eine leere rosa Limonadendose fallen, wo sie zischend erlosch. »Jedenfalls geht es nicht mehr«, sagte Mom. »Ich würde gern mit dir tauschen.«

Betty wandte sich ihr zu und schaute Mom direkt an, um sicher zu sein, dass sie ihre ganze Aufmerksamkeit hatte. »Manchmal bin ich sehr einsam.«

»Besser allein und einsam als verheiratet und einsam.«

Betty zog eine Augenbraue in die Höhe, als wollte sie einen Beweis für die Aussage. Mom entschied sich für Beweisstück A – sie war mit mir im Buggy von einem Spaziergang zurückgekehrt, und Dad hatte ihr aus einem Fenster im ersten Stock zugeschrien, sie solle sich beeilen. Voller Angst, dass mit Matthew etwas passiert war, ließ sie mich im Buggy auf dem Gehweg stehen, stürzte ins Haus und rannte hinauf, nur um herauszufinden, dass es sich bei der Krise um eine Windel handelte, die gewechselt werden musste.

Mom schlug einen empörten Tonfall an. »Sollten sich nicht beide gleichermaßen an der Versorgung der Kinder beteiligen?«

Betty stieß einen leisen mitfühlenden Pfiff aus. Ich hätte gern gefragt, ob Mom wieder herausgekommen war, um mich von der Straße zu holen, aber ich wusste, dass es nicht der richtige Zeitpunkt war, sie daran zu erinnern, dass ich zuhörte.

»Betty, glaub mir. Heirate nie, ohne vorher eine entscheidende Frage zu stellen.«

Bettys Finger hielten in meinen Haaren inne, als sie auf das Geheimnis ehelicher Wonnen wartete.

»Frag, ob er gewillt ist, die Windeln zu wechseln. Je nach Antwort wird er dich als gleichberechtigt oder als Angestellte behandeln.«

Ich hob den Kopf wie eine Katze, um Betty an ihren Job zu erinnern. Ihre Finger fassten mechanisch nach einer Strähne und wickelten sie zu einem Knoten. Ich wusste, dass ich nichts von dem, was auf der Couch gesprochen wurde, wiederholen durfte. Es war mir nicht ganz geheuer, sie zu belauschen, aber ich mochte die Kopfmassage zu sehr, um darauf zu verzichten.

Ich musste unter dem Hüpfpferd eingeschlafen sein, denn ich erinnerte mich nicht daran, wie ich ins Bett gekommen war, als Mom mich aus dem Schlaf riss, weil sie die Zimmertür so heftig aufstieß, dass sie gegen die Wand knallte. Sie zerrte die Kommodenschubladen auf und warf meine Kleider in einen weißen Koffer mit seidigem orangefarbenem Futter. Ich setzte mich auf und versuchte, sie zu fixieren, doch sie bewegte sich so schnell, dass ich sie nur verschwommen wahrnahm.

»Fünf Minuten«, sagte sie und stand kurz still. »Ich hole jetzt deinen Bruder. Wenn ich zurückkomme, bist du angezogen.«

Mom flitzte aus dem Zimmer. Draußen war es dunkel. Mein Körper fühlte sich an, als wäre er aus Beton, und ich wollte nicht hinaus in die Kälte. Mom hatte das schon öfter getan. Sie weckte uns mitten in der Nacht, steckte uns hastig in Schneehosen, setzte uns Mützen auf und zog uns Fäustlinge an, rannte die Treppe hinunter und schrie, dass sie fortgehen würde. Dad ließ sie durchs Haus laufen und packen, bis sie erschöpft war, dann brachte er sie dazu, sich neben ihn auf die Couch zu setzen und zu reden. Er hatte eine leise beruhigende Stimme, und Mom klang wie ein zu lauter Fernseher. Ich hörte von oben auf der Treppe zu, bis sie nicht mehr schrien und ich sie schniefen hörte, das Signal, dass der Streit vorbei war und alle wieder ins Bett gehen und weiterschlafen konnten.

Ich entschied, dieses Mal zu warten. Als sie mit Matthew auf der Hüfte wieder in der Tür stand, saß ich noch immer wie ein Fragezeichen im Bett.

»Wohin gehen wir?«

»Nicht jetzt, Meredith. Ich bin nicht in der Stimmung.«

Mit meinem Bruder auf einem Arm zog sie mir mit dem anderen den Schlafanzug aus und steckte mich in meine Kleider. Mom schob mich zur Tür, als ich mich umdrehte.

»Kann ich Morris mitnehmen?«

Morris war eine rosa Stoffkatze mit einem Rock, die meine Eltern in einem Drugstore gekauft hatten, als sie nach meiner Geburt von dem Marinekrankenhaus nach Hause fuhren. Ich hatte sie Morris getauft nach der Katze in einer Fernsehwerbung, und sie war mein wertvollster Besitz. Ich war in letzter Zeit so abhängig von ihr geworden, dass ich nicht einschlafen konnte, wenn ich sie nicht im Arm hatte. Mom nickte, und ich suchte zwischen den Laken und fand sie, nur Sekunden, bevor Mom mich am Handgelenk aus dem Zimmer zog.

Als sie mir in der Diele in den Mantel half, ging Dad niedergeschlagen mit hängenden Schultern an uns vorbei. Er öffnete die Haustür und trat hinaus in die eisige Luft. Ich lief zum Wohnzimmerfenster und sah zu, wie er im Licht der Veranda den Volvo anließ. Sein Atem kam in silbernen Wölkchen, als er das Eis von der Windschutzscheibe kratzte. Er legte den Koffer in den Kofferraum und setzte sich auf den Fahrersitz, während Mom Matthew im Kindersitz festschnallte und dann zurückkam, um mich zu holen. Ich drückte Morris fester an mich und rieb mein Kinn am weichen Flausch seiner rosa Ohren.

»Wohin fahren wir?«, fragte ich wieder, dieses Mal leiser. Mom zog den Reißverschluss meiner dicken Jacke zu und legte mir die Hände auf die Schultern.

»Kalifornien. Zu Granny und Grandpa.«

Ihre Stimme zitterte, doch sie zwang sich zu einem Lächeln, und meine Stimmung heiterte sich ein kleines bisschen auf. Im Sommer zuvor hatten uns Granny und Grandpa besucht, und weil sie Gäste waren, hatte es eine ganze Woche lang keinen Streit in unserem Haus gegeben. Grandpa und Dad waren mit mir zum Strand gegangen und hatten mir das Bodysurfen beigebracht, ich ließ mich von den Wellen hochheben, in die zischende Brandung schleudern und auf dem Bauch weitergleiten, bis ich im Sand stoppte. Grandpa setzte mich auf seine Schultern und grub mit den Zehen braune Venusmuscheln aus dem Schlamm, zeigte mir die Spuren von Spritzern, wo die Muscheln Luft ansaugten. Wir brachten einen ganzen Eimer voll davon nach Hause und brachen sie in der Küche für das Abendessen auf. Vielleicht gab es in Kalifornien auch Venusmuscheln.

Im Auto wandte sich Mom von Dad ab und zeichnete mit dem Finger feuchte Linien auf das beschlagene Fenster. Matthew schlief wieder ein, den Kopf mir zugeneigt, das hellbraune Haar fiel ihm über die Augen, und seine kleinen roten Lippen pusteten Luft aus. Im Gegensatz zu mir, die ich schreiend auf die Welt gekommen war, wurde mein Bruder geboren, blinzelte zweimal und lächelte. Mom sagte immer, ich hätte offenbar die ganze Aufgeregtheit aufgebraucht und ihm nichts davon übrig gelassen. Es stimmte; Matthews Seele war ruhig und vertrauensvoll. Er war ein Junge, der jedem Gutherzigkeit unterstellte. Welcher Dreijährige lächelt schon, wenn man ihm eine Süßigkeit aus der Hand nimmt, weil er darauf vertraut, dass das Spiel für ihn mit etwas noch Besserem enden wird? Ich spürte Matthews Vertrauen in die Menschheit, wenn sich seine Hand um meinen Zeigefinger schloss und er in schwankendem Gleichschritt neben mir ging, überzeugt, dass ich ihn nicht stürzen lassen würde. Er folgte mir überall hin, pflückte Wörter aus meinen Sätzen und wiederholte sie wie mein ganz persönlicher Backgroundsänger. Wegen dieser Dinge liebte ich ihn leidenschaftlich, auch wenn er kein großer Gesprächspartner war. Doch er wusste ein Wort, das mich mein Leben lang an ihn binden wird. Wann immer er erwachte und mich in sein Zimmer kommen sah, stand er auf und streckte die dicke Seesternhand nach mir aus.

»Mare-miss!«, rief er.

Ich hatte einen Superfan, und seine grenzenlose Liebe gab mir ein Gefühl großer Bedeutung.

Dad betätigte die Gangschaltung mit großer Wucht, und ich zog die Beine an die Brust, schlang die Arme darum und wiegte mich auf dem Rücksitz vor und zurück und wünschte inständig, einer von ihnen würde etwas sagen. Mom sprach während der neunzigminütigen Fahrt zum Flughafen von Boston nur ein einziges Mal; sie bat Dad, einen Umweg über Fall River zu fahren, damit sie sich kurz von einer Freundin verabschieden konnte. Als wir endlich auf den Parkplatz des Flughafens fuhren, ging plötzlich alles zu schnell. Türen öffneten sich und fielen zu. Wir hasteten schweigend dahin. Als wir zwischen den Glasscheiben einer Drehtür standen, hatte ich das Gefühl, als würde ich in einen Brunnen fallen. Ich verstand nicht, was passierte, abgesehen davon, dass es etwas Großes war und ich nicht danach fragen sollte. Ich fasste nach Moms Hand und hielt mich fest.

Dad kaufte unsere Tickets und gab der Frau hinter dem Schalter unseren Koffer, und ich sah zu, wie er auf einem Förderband davonglitt und durch eine Öffnung in der Wand verschwand. Als wir zum Gate kamen, ging Dad mit mir zum Fenster und deutete auf das Flugzeug, mit dem wir zu Granny und Grandpa fliegen sollten. Es schimmerte im Morgenlicht, ein geschmeidiger Vogel mit ausgestreckten Flügeln, und ich spürte etwas in mir flattern und stellte mir vor, wie wir darin abheben würden. Ich bombardierte Dad mit Fragen – wie hoch würde das Flugzeug fliegen, wie konnte es in der Luft bleiben, würde er neben mir sitzen? Als es an der Zeit war, einzusteigen, ging Dad auf die Knie und drückte mich so fest an sich, dass ich spürte, wie er zitterte.

»Sei ein braves Mädchen«, sagte er und zwang sich zu lächeln. »Ich hab dich lieb.«

Mein Körper wurde plötzlich kalt. Ich spürte, wie etwas in meinem Bauch riss, als Dad auf einen Stuhl sank und Mom mich zu der Tür zerrte, die zum Flugzeug führte. Es war nicht richtig. Dad sollte mit uns kommen. Mom zog mich am Arm, als ich mich in die entgegengesetzte Richtung stemmte, nicht gewillt, einen weiteren Schritt ohne Dad zu tun.

»Komm SCHON«, schnaubte sie.

»Was ist mit Dad?«, wollte ich wissen und gab nicht nach. Aber sie war stärker, und ich musste zwangsläufig in ihre Richtung hüpfen, während ich gegen ihr Gewicht kämpfte.

»Mach keine Szene.«

Ich wurde schlapp. Die Gespräche um mich herum hörte ich nur noch gedämpft, als wäre ich unter Wasser. Ich sagte nichts mehr, als ich in den überdachten Gang gezogen wurde, und als ich zurückschaute zu Dad, versperrten mir zu viele Menschen die Sicht. In meinem Kopf drehte sich alles, als mich Mom den Gang entlang zu einem Fensterplatz steuerte, wo ich die Stirn gegen das kalte Oval drückte, bis ich eine große Gestalt mit tintenschwarzem Haar in karierter Hose hinter der Glasscheibe des Gebäudes entdeckte. Dad sah aus, als wäre er in einem Fernseher. Ich hob die Hand, aber er sah mich nicht. Er rührte sich nicht von der Stelle, als das Flugzeug losfuhr. Ich schaute ihn unverwandt an, und er wurde immer kleiner, und dann drehte das Flugzeug ab.

Während des Flugs blies Mom Rauch gegen das herausklappbare Tablett vor ihr und kratzte zitternd an ihrem kupferfarbenen Nagellack herum. Sie schien zu zerfallen. Ich blickte immer wieder verstohlen zu ihr, während ich vorgab, in dem Malbuch zu zeichnen, das mir die Stewardess gegeben hatte. In meinen Augen sah Mom noch immer hübsch aus, doch in dem Lichtkegel von oben wirkte ihre Haut grau. Zu Hause hatte sie auf sich geachtet und war nie aus dem Haus gegangen, ohne zuvor ihre Sommersprossen mit einer beigefarbenen Creme zu verdecken und schimmernden blauen Lidschatten aufzutragen. Ich schaute ihr bei diesem Ritual gern zu und mochte die Utensilien, die sie dabei benutzte. Einen Föhn, der ihr kurzes lockiges Haar bauschte, dicke Pinsel, um rosa Puder auf den Wangen zu verteilen, und diese Zange, mit der sie ihre Wimpern aufbog. Manchmal ließ sie mich einen Lippenstift aus Dutzenden im Bad aussuchen. Der letzte Touch war eine Wolke duftenden Sprays um ihren Kopf, damit ihre Frisur an Ort und Stelle blieb.

»Es macht nichts, wenn du ein bisschen pummelig bist, solange du ein hübsches Gesicht hast«, sagte sie und schob sich goldene Ringe durch die Ohrläppchen. Sie verließ das Haus nie ohne ihre Filmstar-Sonnenbrille, zwei braune Kreise, so groß wie Untersetzer.

Mom hatte ein paar Rollen um die Taille, aber ihre Beine waren schlank. Sie versteckte ihre Figur unter stark und bunt gemusterten Kleidern. Die Kleider hörten über dem Knie auf, und sie sah aus wie ein Blumenstrauß auf zwei Stielen. Ich fand sie schön. Am liebsten sah ich ihr zu, wenn sie Schuhe auswählte. Auf dem Boden ihres Schrankes stand eine ordentliche Reihe Stöckelschuhe in allen Farben des Regenbogens, die Spitzen zeigten nach innen. Ich durfte ihre Sachen nicht anrühren, doch ich bewunderte ihre Schuhe und stellte mir vor, wie ich aufrecht wie eine Dame den Gehweg entlang zu meiner erwachsenen Arbeit ging. Wenn sie ausgehbereit war, drehte sie sich vor dem Spiegel nach links und rechts und fragte mich, ob sie dick aussah. Ich sagte immer nein, aber sie schien jedes Mal enttäuscht, wenn sie ihr Spiegelbild betrachtete.

Mindestens einmal im Monat putzte sie sich heraus, um zum Vanderbilt-Haus zu gehen. Der hoch aufragende »Sommersitz« aus Kalkstein hatte siebzig Zimmer, sah aus, als wären sechs Häuser zusammengeschoben worden, und stand auf einer Klippe, die auf den Atlantik hinausging. Es war fünf Minuten mit dem Auto von unserem Haus entfernt, und wir betraten das Gelände durch ein gusseisernes Tor, Moms Kleid raschelte leise, und hinter ihr schwebte eine Wolke Charlie-Parfüm. Sie schob Matthew im Kinderwagen an Hecken vorbei, die zu mathematisch präzisen Dreiecken geschnitten waren, der feine Kies knirschte unter unseren Füßen. Wir machten nie eine Besichtigungstour mit, doch wir hatten eine Lieblingsbank, von der aus Mom die Fenster im obersten Stockwerk sehen konnte. Mein Bruder hob Kieselsteine für mich auf, die ich in die Springbrunnen im Garten warf, und sie beobachtete die Fenster und hoffte, einen Blick auf einen der Erben werfen zu können, die angeblich im Dachgeschoss lebten.

Mom war vollständig versunken während dieser Besuche, als wollte sie sich mit Opulenz vertraut machen, damit sie bereit wäre, wenn der Wohlstand endlich einträfe. Sie las Bücher mit Pygmalion-Plots über ganz normale Leute, die aus Obskurität zu Größe aufstiegen, mochte Filme, in denen versteckte Schätze geborgen wurden, und jede Art von Spielshows. Mom war eine Träumerin ohne Plan, und als die Jahre vergingen, ohne dass sie sich vom Aschenputtel in eine Prinzessin verwandelte, fühlte sie sich um die Grandezza betrogen, die ihr ihrer Ansicht nach zustand, und war zunehmend enttäuscht von meinem Vater, weil er sie ihr nicht bieten konnte. Sie wartete ständig darauf, dass ihr das Leben endlich begegnete, und wurde immer verwirrter, da sie nicht verstand, warum es nicht passierte.

Das Flugzeug sackte kurz ab, als es auf Thermik stieß, und ich warf Mom einen weiteren verstohlenen Blick zu. Sie schien schläfrig, ihre Augen waren offen, aber ausdruckslos. Zusammengeballte Taschentücher lagen in ihrem Schoß, und schwarze Schminke lief ihre Wangen hinunter, verschmiert an den Stellen, wo sie versucht hatte, sie wegzuwischen, so dass sie aussah wie blaue Flecken. Hin und wieder stieß sie einen langen tiefen Seufzer aus, der sich anhörte, als würde sie alle Luft ausatmen. Ich tätschelte ihren Arm, und sie legte gedankenverloren die Hand auf meine. Ich wollte fragen, warum Dad nicht mit uns gekommen war, aber ich wusste, dass sie mir keine Antwort geben würde. Obwohl sie neben mir saß, waren ihre Gedanken ganz woanders. Ich öffnete den Metalldeckel des Aschenbechers in der Armlehne zwischen uns und klappte ihn wieder zu – auf, zu, auf, zu – in der Hoffnung, das Geräusch würde sie so irritieren, dass sie etwas sagen, mich ermahnen musste, damit aufzuhören.

Wenn Mom nur etwas sagen würde. Ich wünschte, sie würde weinen oder schreien oder etwas werfen, um mir zu signalisieren, dass alles noch beim Alten war. Doch sie war unheimlich still, und das jagte mir Angst ein. Bei einem Ausbruch wüsste ich wenigstens, was sie beschäftigte. Schweigen war nicht ihr Stil, und das hieß, dass etwas Ernstes geschehen war. Ich schmeckte die Angst in der Kehle, einen bitteren Geschmack wie von verbrannten Walnüssen.

Ich versuchte, auf sie aufzupassen, aber schließlich schläferte mich das Motorengeräusch in der Kabine ein. Ich träumte, dass sich neben meinen Füßen ein kleiner offener Behälter im Boden des Flugzeugs befand, aus dem ein langer Hebel ragte. Ich öffnete Matthews Sicherheitsgurt, stopfte ihn in die Öffnung und betätigte den Hebel. Zischender Dampf stieg auf, und als ich den Hebel losließ, war Matthew zu einem Totem aus blauem Glas geworden, ungefähr so groß wie eine Limonadendose. Er war darin gefangen, und ich hörte ihn schreien, dass er herausgelassen werden wollte. Ich steckte ihn in meine Tasche und versprach ihm, dass ich ihn wieder in einen Jungen verwandeln würde, aber bis wir bei Granny und Grandpa angekommen wären, wäre er so am sichersten.

Meine Intuition sagte mir, dass ich meinen kleinen Bruder beschützen musste. Während des Flugs spürte ich, dass sich Mom von uns zurückzog. Ich spürte, dass sie entglitt, konnte es jedoch nicht in Worte fassen, es war eine Veränderung, die sich so unmerklich vollzog, dass man sie erst wahrnehmen konnte, nachdem sie abgeschlossen war. Als wir landeten, war ihr Blick leer, und sie sah durch mich hindurch. Irgendwo zehntausend Meter über der Mitte Amerikas hatte sie es aufgegeben, eine Mutter zu sein.

Der Honigbus

Der nächste Tag – 1975

Eine Bienenlektion in Zauberei

Granny erwartete uns im Monterey Peninsula Flughafen. Sie stand da mit verschränkten Armen, in einem Wollrock und einer gestärkten Bluse mit hohem Kragen und Puffärmeln. Ihr gelbbraunes Haar war zu friseursalonstarren Wellen gelegt, und ein durchsichtiges Plastikkopftuch, unter dem Kinn gebunden, schützte ihre Frisur vor den Elementen. Sie war ein Ausrufezeichen perfekter Haltung, überragte die Masse der Reisenden mit weniger guten Manieren, die ihre Verwandten schamlos in aller Öffentlichkeit küssten. Sie verfolgte unsere Ankunft durch eine Cat-Eye-Brille, die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengekniffen. Als Mom sie sah, stieß sie einen gequälten Schrei aus und wollte Granny in die Arme fallen, als diese ein zusammengeknülltes Taschentuch aus dem Ärmel zog und es Mom hinhielt, um eine peinliche Szene zu vermeiden. Mom nahm es und blieb stehen, unsicher, was sie tun sollte. Granny hielt sich an Benimmregeln, und man heulte nicht in der Öffentlichkeit.

»Setzen wir uns«, sagte Granny leise, fasste Mom am Ellbogen und führte sie zu einer Reihe harter Plastikstühle. Mom putzte sich die Nase und schluckte Schluchzer hinunter, während Granny leise glucksende Laute von sich gab und ihr den Rücken rieb. Ich stand verlegen daneben, schaute zu und versuchte gleichzeitig, nicht hinzusehen. Granny gab mir und Matthew jeweils ein 25-Cent-Stück aus ihrer Geldbörse und deutete auf eine Reihe Stühle mit kleinen, auf die Armlehnen montierten Schwarzweißfernsehern. Hocherfreut liefen wir zu den Stühlen und sahen fern, während Mom und Granny ein »sehr wichtiges Gespräch« führten. Matthew und ich drängten uns zu zweit auf einen Stuhl, warfen die Geldstücke ein und drehten so lange am Knopf, bis wir einen Zeichentrickfilm fanden.

Als Granny und Mom endlich aufstanden, waren wir die letzten Personen in der Halle. Granny kam zu uns, und ich richtete mich instinktiv auf. »Eure Mutter ist nur müde«, sagte sie und neigte sich vor, um mich auf die Wange zu küssen. Sie roch nach Lavendelseife.

Matthew und ich saßen auf der Ladefläche des Kofferraums von Grannys senfgelbem Kombi, weit genug von Granny und Mom entfernt, um nicht hören zu können, was sie sprachen. Ich sah aus dem Heckfenster zu, wie Kalifornien an uns vorbeiglitt. Es war Februar, doch seltsamerweise lag kein Schnee. Wir fuhren über braune Hügel, auf denen Pferde-Ranches standen, und einen steilen Hang mit Haarnadelkurven hinauf. Der Wagen ächzte vor Anstrengung, und mir sank das Herz, als mir klarwurde, dass wir uns oben auf einem Ring von Bergen befanden, als würden wir am Rand einer riesigen Schüssel fahren. Unter uns fiel die Landschaft in tiefen Schluchten und Spalten ab bis hinunter ins Tal, und ich stellte mir vor, dass wir über Dinosaurier fuhren, die sich nach ihrem Tod in Berge verwandelt hatten.

Mir fiel zudem auf, dass die Bäume in Kalifornien anders waren – einzeln stehende, massive Eichen mit ausgestreckten Tintenfischarmen, die sich knapp über dem Boden verdrehten, ganz anders als die feuerroten Ahornbäume oder dichten Wälder schlanker Birken zu Hause. Als wir endlich wieder nach unten fuhren, sah ich das ganze Carmel Valley vor mir, ein gewaltiges grünes Becken, auf dessen einer Seite sich ein silberner Fluss schlängelte. In meinen Ohren knackte es auf der Fahrt hinunter, bis wir am Boden der Schüssel angekommen waren, die Berge jetzt eine hoch aufragende Festung um uns herum. Carmel Valley erschien mir wie ein geheimnisvoller Garten aus einem meiner Märchen, verborgen vor dem Rest der Welt. Hier war es wärmer, und die Sonne schien alles zu verlangsamen: die dahinzockelnden Pick-ups, die schläfrigen Krähen, den träge dahinplätschernden Fluss.

Wir fuhren an einem öffentlichen Park und einem Schwimmbad vorbei, bogen dann rechts in die Via Contenta ein und kamen an einer Grundschule mit Tennisplätzen vorbei. Der Rest der Straße war gesäumt von einstöckigen Ranch-Häusern, die mit Wacholderhecken und Eichen voreinander abgeschirmt waren. Granny verlangsamte vor dem Gebäude der Freiwilligen Feuerwehr, vor dem ein paar Männer rote Maschinen wuschen, fuhr an einer kleinen Sackgasse vorbei, in der eine Handvoll identischer holzverschalter Bungalows stand, und erreichte dann ihr Ziel – ein kleines rotes Haus mitten auf einem Morgen Land, das auf allen vier Seiten von wuchernden Bäumen eingefasst war.

Granny ließ die Kieseinfahrt links liegen und bog stattdessen auf einen unbefestigten Weg, der den Zaun entlang auf die Rückseite des Hauses führte und von einer Reihe riesiger Walnussbäume mit Ästen, die bis zum Boden reichten, überdacht wurde und uns in einem Tunnel grüner Blätter umfing. Walnüsse barsten unter den Reifen, während wir auf dem gewundenen Weg zum Haus fuhren. Sie blieb neben einer Wäscheleine stehen, an der ihre tanzenden Unterröcke im Wind flatterten.

Granny war sehr stolz darauf, auf einem der größten Grundstücke in der Straße zu wohnen, und sie erinnerte jeden, der es vergessen hatte, daran, dass sie zu den ersten Bewohnern von Carmel Valley Village gehörte, da sie 1931 als Achtjährige mit ihrer Mutter aus Pennsylvania gekommen war. Sie fuhren in einem Nash Coupé Cabrio durch das Land, nachdem Grannys Vater plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben war. Ihre Mutter wollte die Tragödie an einem wärmeren Ort, wo man gut schwimmen konnte, überwinden. Granny war der Ansicht, dass diese Geschichte sie mit einem Stammbaum ausstattete, der es ihr erlaubte, sich während der nächsten vierzig Jahre über die vielen Neuankömmlinge zu beschweren. Trost zog sie aus der Tatsache, dass die Eichen, Walnuss- und Eukalyptusbäume, die ihr Grundstück begrenzten, so hoch gewachsen waren, dass sie die Nachbarn nicht mehr sah. Und den Nachbarn blieb der Anblick von Grandpas Schrotthaufen erspart, die sich auf dem großen Stück Land angehäuft hatten.

Ich stieg aus und sah mehrere heuhaufenhohe Stapel von abgeschnittenen Ästen, mindestens drei Werkzeugschuppen, Berge von Kies und Ziegeln, zwei rostende Militärjeeps, einen Lastwagen, einen Bagger und zwei kaputte Pick-ups. Ein mit Wein bewachsenes Spalier führte in einer abfallenden Linie von der Wäscheleine zum Zaun, wo eine kleine Stadt aus Bienenstöcken auf Betonsteinen stand, jeweils vier oder fünf aufeinandergestapelte Holzkisten. Aus der Entfernung sah es aus wie eine Minimetropolis aus weißen Aktenschränken.

Durch die flatternde Wäsche stach mir etwas ins Auge. Ich ging durch den Regenbogen sich bauschender Röcke und stand vor einem verblassten grünen Militärbus. Regen hatte um das Dach einen Ring aus Rostlöchern in das Metall gefressen und auf den Seiten braune Streifen hinterlassen. Unkraut umwucherte die Reifen, die Windschutzscheibe war gesprungen und trüb, und unter der vorderen Stoßstange wuchs eine große Rhabarberstaude. Er schien direkt aus dem Zweiten Weltkrieg hierher gefahren und neben Grandpas Gemüsegarten angehalten zu haben. Der Bus stammte aus einer Ära, als Fahrzeuge noch aus üppigen Kurven und nicht aus scharfen Kanten bestanden und sah nicht so sehr aus wie eine Maschine, sondern wie ein Tier. Die runde Motorhaube war geformt wie die Schnauze eines Löwen, Lüftungsschlitze waren die Nasenlöcher, und die kugelförmigen Scheinwerferaugen starrten mich an. Unter der Nase befand sich eine Reihe grinsender Kühlergrillzähne, und die verbeulte Stoßstange darunter sah einer Unterlippe schrecklich ähnlich. Über der Windschutzscheibe stand in abblätternder weißer Farbe U.S. ARMY20930527. Fasziniert von der inkongruenten Erscheinung konnte ich nicht anders, ich musste sie erforschen.

Ich bahnte mir einen Weg durch bauchhohes Unkraut und versuchte, hineinzuschauen, doch die Fenster waren zu hoch. Ich ging zum Heck des Busses und fand nahe dem Auspuff einen schiefen Stapel hölzerner Paletten, die als improvisierte Treppe zu einer schmalen Tür führten. Ich kletterte die wankenden Paletten hinauf und drückte die Nase gegen das schmutzige Glas.

Alle Sitzbänke waren entfernt, und an ihrer Stelle stand da eine Fabrik aus Kreiseln, Kurbelwellen und Leitungsrohren. Ein Metallbehälter so groß wie ein Bottich, stand auf dem Boden, darin befand sich ein großes Schwungrad, das mit Antriebsscheiben verbunden war, so groß wie Kanalschachtdeckel. Hinter dem Fahrersitz standen zwei schwere Stahlfässer, die mit Mulltüchern bedeckt waren. An Angelschnüren hing ein Netzwerk von galvanisierten Stahlrohren von der Decke.

Die Ausrüstung nahm eine Längsseite des Inneren ein, auf der anderen Seite hatte Grandpa Holzkästen gestapelt, jeder etwa zwanzig Zentimeter hoch, sechzig Zentimeter breit und weiß gestrichen. Jeder rechteckige Kasten, direkt den Bienenstöcken entnommen, war oben und unten offen und enthielt zehn herausnehmbare Holzrahmen mit wächsernen Waben. Die Rahmen hingen in ordentlichen Reihen hintereinander, gehalten von Kerben in den Kästen. Später lernte ich von Grandpa, dass es die »Honigraumzargen«, die abhebbaren oberen Kästen von Magazinbeuten waren, in denen die Bienen Nektar in wächsernen Waben lagerten und durch Flügelschlagen zu Honig verdickten. Die Honigraumzargen standen auf den größeren Brutraumzargen unten in den Stöcken, in die die Königinnen ihre Eier legten.

Es mussten drei Dutzend Zargen mit Honigwaben im Bus gestanden haben. Schimmernder Honig tröpfelte daran herunter und sammelte sich in glänzenden Lachen auf dem schwarzen Gummiboden.

Ich sah Einweckgläser auf dem Armaturenbrett stehen, die sich in der Sonne lila verfärbt hatten, und sonnenblumengelbe Ziegel aus Bienenwachs, die Grandpa gemacht hatte, indem er die wächsernen Honigwaben eingeschmolzen und durch eine Nylonstrumpfhose in Kastenformen gepresst hatte, wo sie hart wurden. Überall schlängelten sich elektrische Leitungen, und Baulampen baumelten von den Handläufen an der Decke. Ich schirmte die Augen gegen das helle Licht mit den Händen ab, und aus dem Schatten heraus drückte jemand im Bus seine Nase gegen meine. Ich erschrak und fiel beinahe nach hinten über, gerade als Grandpa aus der Tür kam.

»Buh!«, sagte er.

Bienen summten um seinen Kopf, und er schlug rasch die Tür zu, damit sie nicht in den Bus flogen. Er trug eine abgewetzte Jeans, die einige Zentimeter zu kurz für ihn war, und kein Hemd. Einsteinweißes Haar stand in alle Richtungen ab, als stünde es unter Strom, sein rundes Gesicht war kastanienbraun, und er blickte immer drein, als würde er sich über das Leben amüsieren oder müsste über einen Witz kichern. In einer Hand hielt er eine Dose, aus deren Tülle oben Rauch aufstieg. Er riss ein Büschel grünes Gras aus, stopfte es in die Tülle, um die Flammen zu