Der Hund, der die Welt rettet - Ross Welford - E-Book

Der Hund, der die Welt rettet E-Book

Ross Welford

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Beschreibung

"Mein Hund heißt Mister Masch, weil er ein Mischling ist. Eine echte Promenadenmischung. Er stinkt fürchterlich und frisst wirklich alles, was ihm unter die Schnauze kommt. Er ist nicht mal besonders clever. Aber ich liebe ihn abgöttisch … und er wird die Welt retten, ob ihr's glaubt oder nicht." Scheinbar zufällig freundet sich die elfjährige Georgie, stets in Begleitung ihres Hundes Mister Masch, mit einer exzentrischen Wissenschaftlerin an, die eine spannende Erfindung gemacht hat: eine Virtual-Reality-Brille, durch die man eine völlig realistische 3D-Version der Zukunft sehen kann. Und Georgie darf sie testen! Doch plötzlich bricht in der Stadt eine tödliche Krankheit aus und bedroht alle Hunde. Bald wird auch Georgies geliebter Mister Masch krank! Den beiden bleibt nur eine Wahl: Eine Reise in die Zukunft soll alle Hunde der Erde retten. Und vielleicht sogar die gesamte Menschheit … Nach "Der 1000-jährige Junge" der neue Kinderroman vom britischen Erzähltalent Ross Welford.

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Seitenzahl: 338

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Bisher sind von Ross Welford im Coppenrath Verlag erschienen:

eISBN 978-3-649-62514-8

eISBN 978-3-649-62906-1

eISBN 978-3-649-63242-9

eISBN 978-3-649-63643-4

© 2020 für die deutschsprachige Ausgabe

Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG, Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

Originally published by HarperCollins Publishers under the title:

The dog who saved the world

© Ross Welford 2018

Translation © Petra Knese 2019 translated under licence from

HarperCollins Publishers Ltd

Ross Welford asserts the moral rights to be identified

as the author of this work.

Aus dem Englischen von Petra Knese

Umschlaggestaltung © HarperCollins Publishers 2019

Umschlagillustration © Tom Clohosy Cole

Übersetzung des Gedichts von Alfred Tennyson (S. 81)

© Werner von Koppenfels. Englische und Amerikanische

Dichtung 2, C. H. Beck 2000

Lektorat: Jutta Knollmann, Susan Niessen

Satz: Sabine Conrad, Bad Nauheim

www.coppenrath.de

Das Buch erscheint unter der ISBN 978-3-649-63124-8.

Ross Welford

Aus dem Englischen von Petra Knese

Inhalt

Whitley Bay in ein paar Jahren

Auftakt

1. Teil

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

2. Teil

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

3. Teil

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

4. Teil

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

75. Kapitel

76. Kapitel

77. Kapitel

Epilog

Danksagung

Über den Autor

Whitley Bay in ein paar Jahren

In meinem Zimmer hängt ein gerahmtes Poster, das ich von Dad zum Geburtstag bekommen habe. Da ich es jeden Morgen und jeden Abend sehe, kenne ich es mittlerweile auswendig.

Hundeweisheiten

Trau keinem, der keine Hunde mag.

Wenn du etwas haben willst, das vergraben ist,

musst du eben buddeln.

Beiß nicht, wenn ein Knurren reicht.

Hab die Menschen trotz ihrer Fehler gern.

Begrüße jeden neuen Tag mit wedelndem

Schwanz.

Sei mutig, egal wie groß du bist.

Lerne immer dazu, egal wie alt du bist.

Wenn jemand einen schlechten Tag hat, halt

die Schnauze und schmus ein bisschen mit

ihm.

Stimmt alles. Wort für Wort. Ist mir letzten Sommer klar geworden, als die Welt beinahe untergegangen wäre.

Auftakt

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mädchen und Jungs, darf ich vorstellen (Trommelwirbel …):

Mister Masch: Der Hund, der die Welt rettete!

Er ist mir das Liebste auf der Welt. Dad und Clem gegenüber klingt das vielleicht ein wenig hart, aber sie werden es verstehen, besonders nach diesem Sommer.

Wie alt er ist, wissen wir nicht, auch nicht, wie er zum Streuner wurde, nicht mal, was für eine Rasse er ist. Mister Masch hat zotteliges Fell – grau, braun und weiß – und Schlappohren. Und so ein süßes, aufgewecktes Gesicht wie ein Schnauzer; große, liebe Augen und einen kräftigen, sehr wedelfreudigen Schwanz wie ein Labrador. Sprich, er ist ein Mischmasch.

Als wir ihn nach ein paar Tagen offiziell aus dem Tierheim Sankt Bello geholt haben, meinte der Pfarrer, ich könnte ihm einen Namen geben. Und als ich »Mischmasch« sagte, verstanden alle Miss Masch, aber weil er ein Rüde ist, wurde aus ihm Mister Masch.

Mister Masch ist mein allerbester und allerdümmster Freund. Seine Zunge ist zu groß für sein Maul, deshalb hängt sie meist heraus, wodurch er noch bekloppter aussieht. Weil er einfach nicht lernt, was man fressen kann und was nicht, frisst er einfach alles. Das wiederum führt zu einem »Gasproblem«, wie es der Pfarrer nennt.

Wie recht er hat. »Lautlos, aber tödlich«, sagt Dad immer.

»Widerlich«, sagt Jessica, die den Hund noch nie mochte.

Aber ohne Mister Masch gäbe es die Welt jetzt vielleicht nicht mehr.

Kein Witz.

1. Kapitel

Es ist sechs Uhr an einem heißen Sommerabend. Ramzy Rahman und ich stehen vor dem Hintereingang des Vergnügungszentrums »Spanish City« und trauen uns nicht zu klopfen. Mister Masch hat gerade ein Magnum verschlungen, das jemandem runtergefallen ist. So wie er sich die Lippen leckt, könnte er glatt noch eins vertilgen. Sogar den Holzstiel hat er mitgefressen.

Das Stahltor vor uns ist so gigantisch, dass es zusätzlich mit einer normal großen Tür versehen ist. Mitten an dieser normalen Tür befindet sich ein Türklopfer, der eher zu einem verwunschenen Schloss passt: ein grün angelaufener Wolfskopf, der die Zähne fletscht.

Mister Masch blickt zu dem Wolfskopf auf und zieht die Lefzen hoch, knurrt aber nicht.

Hinter uns, am Meer, schieben Männer in Shorts Kinderwagen über die Promenade, Autos mit getönten Scheiben rollen über die Küstenstraße und auf dem Radweg strampeln Leute auf Leihrädern. Ramzy stößt mich an, um mich auf Saskia Hennesseys große Schwester aufmerksam zu machen, die nur in Bikini und Flip-Flops mit ein paar Freunden zum Strand flattert. Ich halte den Kopf gesenkt, um nicht erkannt zu werden.

Über uns ein strahlend blauer Himmel, es ist noch so heiß, dass sich sogar die Möwen in den Schatten verzogen haben. Ramzy ist furchtbar aufgeregt und vollführt mal wieder seinen üblichen Tanz.

»Ramzy«, sage ich beschwichtigend. »Wir besuchen bloß eine alte Dame. Wahrscheinlich ist sie einsam und will uns nur bei Tee und Scones Fotos von ihren Enkeln zeigen. Und wir sind einfach höflich und bringen die Sache schnell hinter uns. Kein normaler Mensch würde das für ein Abenteuer halten.«

Ramzy schaut mich an, als wolle er sagen: Ich bin aber nicht normal!

Schließlich hebe ich die Schnauze des Wolfs und schlage sie einmal kurz und kräftig nach unten. Es dröhnt lauter, als ich dachte, und Ramzy zuckt zusammen.

Seine Augen leuchten vor Aufregung und er flüstert mir zu: »Tee, Scones, Wölfe und Abenteuer!«

Frau Dr. Pretorius muss uns erwartet haben, denn sofort werden mehrere Riegel zurückgeschoben und die Tür öffnet sich mit einem zufriedenen Seufzen. (Ramzy grinst. Er wäre enttäuscht gewesen, wenn die Tür nicht geseufzt hätte.)

Wäre es nach ihm gegangen, hätte es geblitzt und gedonnert, und Dr. Pretorius hätte uns in einem langen schwarzen Cape begrüßt: »Willkommen, Sterbliche!« Oder so ähnlich.

Stattdessen ist es noch immer sonnig hell und kein bisschen stürmisch, und Dr. Pretorius, die so lang und dürr ist wie ein Katzenschwanz, trägt noch denselben Strickbademantel wie heute Morgen.

Sie sagt bloß: »Hi«, in ihrem kehligen amerikanischen Akzent. Bloß das: »Hi.«

Dann dreht sie sich um und taucht in das Innere eines dunklen Lagerraums. Mit ihrem buschigen weißen Schopf auf dem dunklen schmalen Körper erinnert sie mich an einen Zauberstab.

Nach ein paar Schritten bleibt sie stehen und sieht sich zu uns um. »Worauf wartet ihr? Braucht ihr ’ne schriftliche Einladung? Kommt schon. Den Köter könnt ihr mitbringen, wenn’s sein muss.«

Am Ende des vollgestopften Lagerraums führt eine schmale Metalltreppe hinauf zu einer Galerie mit Geländer. Da Dr. Pretorius nicht auf uns wartet, sondern weiterläuft, kann ich mich in dem hohen schmuddeligen Raum unbemerkt umsehen. Hier stapeln sich Pappkartons, Ziegelsteine, Zementsäcke, Leitern, Bretter, eine kleine Zementmischmaschine, ein hochkant gestelltes Sofa und ein Container mit Bauschutt. Daneben gibt es aber auch noch Dinge wie einen Pferdesattel, einen Autositz, Barhocker, ein Trimm-dich-Rad, eine riesige Espressomaschine und etwas von der Größe eines alten Wagenrads, das halb verdeckt von einer staubigen blauen Plane auf der Seite liegt.

Ramzy stupst mich von hinten an. »Psst. Guck dir mal den Multi-Copter an!«

Natürlich habe ich schon von Drohnen gehört und mir auf YouTube angeschaut, wie man sie steuert, aber in echt habe ich noch keine vor der Nase gehabt. Clem würde sterben vor Neid, wenn er wüsste, dass ich noch vor ihm eine gesehen habe. Dann fällt mir wieder ein, dass ich ja keinem erzählen darf, dass ich hier bin.

Dr. Pretorius sagt gerade: »… grüner Wolfsklopfer, gefällt der euch? Nennt sich Verdigris. Altfranzösisch für ›das Grün Griechenlands‹. Durch die salzige Luft bildet sich auf dem Messing eine Patina aus Kupfercarbonat. Wie bei der Freiheitsstatue. Aber das wusstet ihr sicher längst, oder etwa nicht?«

Dazu sagen wir nichts, folgen ihr bloß die Treppe hoch und linsen immer wieder zurück zum Lagerraum und der Drohne, die vielleicht oder sogar wahrscheinlich gar keine ist.

Oben bleibt Dr. Pretorius stehen und dreht sich um. »Oder etwa nicht?«

»Doch, doch. Klar.« Ramzy nickt eifrig.

»Lügner!«, faucht sie und reckt ihm ihr spitzes dunkles Kinn entgegen. Mir fällt auf, dass ihr weißer Afro bebt, wenn sie spricht, und stillsteht, sobald sie schweigt. »Wie lautet die chemische Formel für Kupfercarbonat?«

Der arme Ramzy! Ihm fällt die Kinnlade runter. Ramzy ist zwar klug, aber so klug nun auch wieder nicht. »Ähm … ähm …«

Dr. Pretorius wendet sich ab und marschiert mit wehendem Bademantel einfach weiter. »CuCO3«, ruft sie über die Schulter. »Was bringen die euch in der Schule nur bei? Seid ihr immer noch bei Selbstvertrauen und Klimawandel? Ha! Kommt, keine Müdigkeit vorschützen!«

Während wir hinter ihr hertrotten, klackern Mister Maschs Krallen über den Metallboden.

Vor einer Flügeltür mitten in einer hohen, gewölbten Wand bleibt Dr. Pretorius stehen und dreht sich zu uns um. Gerade holt sie tief Luft, da wird sie von einem Hustenanfall geschüttelt, der Ewigkeiten dauert. Beim Husten biegt und krümmt sie sich. Es verdirbt ein wenig den dramatischen Moment, aber der Husten verschwindet genauso plötzlich, wie er gekommen ist. Dr. Pretorius richtet sich auf und ihre Züge werden weicher. »Ach herrje! Schaut nicht so erschrocken. Ich werde alt, das ist alles. Wie heißt ihr?«

»R-Ramzy Rahman. Ma’am.«

Leise lacht sie in sich hinein, dabei zieht sie einen Mundwinkel nach oben. »Ma’am? Ha! Du hast ja bessere Manieren als ich, Junge. Habe euch einfach zu mir eingeladen, ohne dass wir uns ordentlich vorgestellt haben. Da haben wir also Ramzy Rahman und …?«

»Georgina Santos. Oder kurz Georgie.« Das mit Ma’am lass ich bleiben. So wie Ramzy habe ich das nicht drauf.

»Okay, Oder-kurz-Georgie und Ramzy-Ma’am. Damit wollte ich euch auf die Probe stellen. Ab jetzt wird nicht mehr gelogen, klar? Ab sofort vertraue ich euch. Habt ihr irgendjemandem erzählt, dass ihr hier seid?«

Ramzy und ich schütteln den Kopf und sagen beide: »Nein.«

»Neeeeein«, sagt sie gedehnt und nimmt ihre dicke Brille ab, um uns mit ihren seltsam blassen Augen anzuschauen. »Also ist es abgemacht?«

Ramzy und ich nicken, wobei ich nicht ganz sicher bin, was abgemacht ist.

»Abgemacht«, sagen wir zusammen.

Scheinbar zufrieden stößt sie die Türflügel auf und knurrt: »Ist das nicht prima? Wir haben eine Abmachung! Willkommen in der Zukunft, meine Täubchen. Hahahahaaa!« Ihr Lachen klettert die Tonleiter immer höher hinauf und endet in einem vergnügten Kreischen.

Ramzy fängt meinen Blick auf und grinst. Wenn Dr. Pretorius einen auf verrückt macht, übertreibt sie es ein wenig. Bloß … dass es wohl nicht gespielt ist.

Mister Masch jault leise. Er will nicht durch die Tür gehen. Kann ich gut verstehen.

2. Kapitel

Ich habe krampfhaft überlegt, womit die ganze Sache anfing. Mit »ganze Sache« meine ich Dr. Pretorius’ Zukunftskuppel, den abgefackelten VW-Bus, die Hundeseuche, den Millionen-Jackpot … einfach alles. Und ich glaube, es fing mit Mister Masch an.

Trau keinem, der keine Hunde mag.

Das ist die Nummer eins auf meinem Hundeposter. Klingt ziemlich drastisch, deshalb mache ich ein paar Ausnahmen:

1. Menschen aus Ländern und Kulturen, in denen Hunde nicht als Haustiere gehalten werden (wie Ramzys Tante Nush zum Beispiel). Dafür können sie ja nichts.

2. Briefträger und Paketzusteller, die von Hunden angegriffen wurden, wobei daran eigentlich der Besitzer schuld ist, weil er den Hund nicht richtig erzogen hat.

3. Leute mit Hundeallergie. Das muss ich wegen Jessica sagen. Von ihr hört ihr gleich mehr.

Doch abgesehen von den Ausnahmen finde ich die Regel ziemlich gut. Hunde sind gern mit uns zusammen. Wusstet ihr, dass Hunde schon mit den Menschen zusammenleben, seit es uns gibt? Deshalb nennt man sie ja auch den besten Freund des Menschen.

Ich kam schon mit dem Wunsch nach einem Hund zur Welt. Das behauptet Dad zumindest. Angeblich waren meine ersten Worte: »Kann ich einen Hund haben?«

Bestimmt macht er nur Spaß, aber mir gefällt die Idee.

Neben dem Hundeposter kleben Bilder von berühmten Leuten mit ihren Hunden. Meine Lieblingsbilder sind:

•Robby Els und sein Pudel

•G-Topp und sein (sehr niedlicher) Chihuahua

•die amerikanische Präsidentin und ihre Deutsche Dogge

•unser König mit seinem Jack Russel Terrier (Als ich klein war, bin ich dem König mal begegnet, aber da war er noch kein König. Seinen Hund hatte er allerdings nicht dabei.)

•die alte Königin mit ihren Corgis

Jedenfalls bekamen wir einen Hund. Es war im vergangenen März, kurz nachdem Dads Freundin Jessica bei uns eingezogen ist. (Zufall? Glaube ich nicht.)

Ich wusste, dass was im Busch ist. Dad hatte einigeAnrufe von seinem Freund Maurice bekommen, der früher mal Pfarrer war und jetzt das Hundeheim Sankt Bello in Eastbourne Gardens führt. Ist eigentlich nicht so seltsam, bloß dass er jedes Mal: »Ah, Maurice! Warte mal kurz«, sagte und aus dem Zimmer ging. Und einmal hat er beim Zurückkommen bis über beide Ohren gegrinst. Natürlich habe ich es nicht mal zu hoffen gewagt.

Daraufhin habe ich Clem gefragt, aber der hatte da schon angefangen, sich in sein Zimmer, auch Teenagerhöhle genannt, zurückzuziehen (dieser Rückzug ist jetzt mehr oder minder komplett). Clem zuckte nur mit den Schultern, und um ehrlich zu sein, war das mit dem Hund auch immer eher meine Sache gewesen und nicht die meines Bruders. Solange es keinen stinkigen Dieselmotor hat, ist es Clem egal.

Nicht zu hoffen, ist super, super schwer, vor allem, wenn man wie verrückt hofft. Immer wieder schaute ich mir den Kalender Mit Hundebabys durch das Jahr an und fragte mich, ob wir wohl eines bekämen. So sah meine Liste aus, die ich in meiner Nachttischschublade aufbewahrte:

1. Golden Retriever (kinderlieb)

2. Cockapoo

3. Schokoladenfarbiger Labrador

4. Deutsche Dogge (Schon klar, die sind riesig. »Da kannst du gleich ein Pferd kaufen«, sagt Dad immer.)

5. Border Collie (sehr klug, brauchen eine gute Ausbildung)

Ich habe sogar versucht, mir vorzustellen, was in Dad vor sich geht. So nach dem Motto: Jessica zieht ein, Clem wird erwachsen, über beides ist Georgie unglücklich, kaufen wir ihr einen Hund.

Wogegen ich absolut nichts hatte. Und dann … spazierte ich eines Freitags nach der Schule in die Küche, wo Dad saß. »Mach die Augen zu!«, rief er, doch da hatte ich schon das Winseln hinter der Tür gehört.

Ich bin noch nie so glücklich gewesen wie in dem Moment, als Dad die Tür zum Wohnzimmer öffnete und ich dieses Fellbündel sah, dessen Schwanz so wedelte, dass der gesamte Rücken wackelte. Ich fiel auf die Knie, und als der Hund mir das Gesicht leckte, verliebte ich mich auf der Stelle unsterblich in ihn.

Dad hatte ihn aus Sankt Bello, und wir wussten nicht, wie alt er war. Der Pfarrer, der sich damit ganz gut auskennt, schätzte ihn auf fünf Jahre. Natürlich erfüllte er auch sonst keine Kriterien meiner Lieblingshunderassen.

Also habe ich eine neue Liste geschrieben, auf der Mischlinge an erster Stelle stehen.

Es hat einen Monat gewährt. Siebenundzwanzig Tage, um genau zu sein. Siebenundzwanzig Tage reinen Glücks und dann war es vorbei. Zerstört von Jessica. Ich versuche echt, sie zu mögen – vergeblich.

3. Kapitel

An Mister Maschs »Gasproblem« lag es nicht.

Also, ich wäre damit auf jeden Fall klargekommen. Obwohl einem der Geruch schon mal die Tränen in die Augen treiben konnte, hielt er nie lange vor. Nein, es lag hundert Prozent an Jessica.

Erst kam der Husten, dann der pfeifende Atem und dann der Ausschlag an ihren Händen. Jessica reagierte total allergisch.

»Hast du das denn nicht gewusst?«, jammerte ich.

Jessica schüttelte den Kopf. Ob ihr’s glaubt oder nicht, Jessica war einfach noch nie zuvor lange genug mit Hunden in engem Kontakt gewesen, um zu wissen, dass sie auf die Haare, den Speichel oder sonst was allergisch reagierte. Oder vielleicht hat sie es auch erst als Erwachsene entwickelt. Ich glaube nicht, dass sie uns was vorspielt. So gemein ist sie auch wieder nicht.

Okay, manchmal habe ich das schon gedacht. Aber nachdem Jessica einen Asthma-Anfall hatte und sie anschließend völlig erschöpft war und ihr Haar ganz verschwitzt, war klar, dass Mister Masch zurück ins Tierheim musste.

Dass man den besten und den schlimmsten Tag seines Lebens innerhalb eines Monats hat, kommt wohl nicht oft vor, zumal ich da erst zehn war.

Eine Woche lang habe ich nur geweint. Jessica hat immer wieder beteuert, wie leid es ihr tut, und wollte mich in ihre knochigen Arme nehmen, aber ich war stinksauer. Manchmal bin ich es immer noch.

Mister Masch landete wieder im Sankt Bello. Und das einzig Gute ist, dass er noch da ist. Der Pfarrer erlaubt mir auch, ihn jederzeit zu besuchen.

Ich arbeite jetzt nämlich ehrenamtlich im Sankt Bello. Offiziell bin ich natürlich viel zu jung dafür, aber Dad hat seinen Freund überredet, die Regeln ein wenig zu beugen.

Dass Mister Masch nach wie vor da ist, ist eigentlich nicht das einzig Gute. Gut ist auch, dass es in Sankt Bello ganz viele Hunde gibt und ich sie alle gernhabe.

Aber am liebsten habe ich Mister Masch und ohne ihn hätten wir anderthalb Jahre später nie Dr. Pretorius kennengelernt.

4. Kapitel

Es war morgens so gegen neun. Über dem Strand hing noch ein kühler Nebelschleier. Da waren ich, Ramzy, Mister Masch und noch zwei Hunde aus Sankt Bello.

Ich hatte Mister Masch von der Leine gelassen und er war die Stufen hinunter zum Strand gelaufen, denn er frisst so gern die weißen Schaumkronen der kleinen Wellen. Ramzy hielt den hässlichen Dudley, den man nicht frei laufen lassen kann, weil er null Rückruf hat, das heißt, wenn man ihn ruft, kommt er nicht. Einmal ist Dudley bis zum Leuchtturm gelaufen, und er wäre wahrscheinlich auch noch weitergerannt, wenn die Flut nicht gekommen wäre.

Mister Masch war also unten am Wasser, Dudley zog an der Leine und Sally-Ann, die Lhasa Apso Hündin, beschnüffelte widerwillig die Steinstufen. Sally-Ann ist ein »zahlender Gast« im Sankt Bello, ich glaube echt, dass sie sich den anderen Hunden überlegen fühlt, wie eine Herzogin, die in einem billigen Hotel gestrandet ist. Am Ende der Stufen stand eine hochgewachsene alte Dame, die sich ihre weiße Mähne unter eine gelbe Gummibadekappe stopfte.

Ich stieß Ramzy an. »Das ist sie, die Frau von Spanish City«, flüsterte ich. Zu dem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, wie sie hieß, gesehen hatten wir sie zwar schon, aber noch nicht kennengelernt.

Wir blieben oben an den Stufen stehen. Die alte Dame setzte sich eine Schwimmbrille auf, warf ihren langen Bademantel ab und lief über den Strand zum Wasser. Es war Flut, also musste sie nicht lange laufen, aber lange genug, dass wir ihr verwundert hinterherstarren konnten.

Ihr Badeanzug war farblich auf die knallgelbe Badekappe abgestimmt, wodurch ihre langen braunen Arme und Beine noch dunkler wirkten. Ihr Hintern war quasi nicht vorhanden, nur eine leichte Wölbung unter dem Rückenausschnitt des Badeanzugs. Langsam, aber selbstsicher lief sie, ohne stehen zu bleiben, ins Wasser, watete bis zur Taille hinein und schwamm dann in ruhigen Zügen die fünfzig Meter bis zur Boje.

Was eine Viertelstunde später geschah, war einzig Mister Maschs Schuld. Mittlerweile waren Ramzy und ich auch am Strand. Wir hatten beobachtet, wie die alte Dame aus dem Wasser gekommen und zu ihren Klamotten gelaufen war. Irgendwie sah sie ein wenig Furcht einflößend aus, und ich wollte auf dem Rückweg nicht noch mal an ihr vorbei, deshalb liefen wir unten am Wasser weiter.

Wie Mister Masch darauf kam, dass man eine gelbe Gummibadekappe fressen könnte, weiß ich nicht, aber er schoss ganz plötzlich den Strand hoch, wo die alte Dame die Kappe neben den Stufen hatte fallen lassen, und schon hatte er sie im Maul.

»Hey! Du! Lass das!«, rief sie. Und dann spurtete ich los.

»Mister Masch! Aus! Aus! Lass los!«, rief auch ich.

»Gib’s her!«, brüllte die alte Dame und damit nahm alles seinen Lauf. Mister Masch sprang mit der Badekappe im Maul an ihr hoch und warf sie um. Dabei knallte sie mit der Hand gegen die Stufen. Ein schürfendes Geräusch ertönte und die alte Dame schrie vor Schmerz auf.

»Tut mir leid, tut mir leid! Er freut sich nur so!«, rief ich.

Die alte Dame setzte sich auf, der Sand klebte ihr an der nassen Haut. Sie rieb sich das Handgelenk, während der verrückte Köter sich hinter ihr langsam die Badekappe einverleibte.

An ihrem Handgelenk prangte eine große Uhr, eine mit Ziffern und Zeigern, und darauf schaute sie. Dann zeigte sie mir den dicken Kratzer auf dem Uhrenglas.

»Das war dein Hund«, sagte sie. »Und was zum Teufel macht er da mit meiner Badekappe?«

»Tut mir wirklich leid«, mehr fiel mir in dem Moment nicht ein. Am liebsten wäre ich weggelaufen.

Ramzy rang die Hände und trippelte im Sand umher, als müsste er mal dringend aufs Klo, sein Mund war vor Angst zu einem schmalen Strich verzogen. Die Schulshorts schlackerten ihm um die dünnen Beine, so zitterte er. Dudley zerrte an der Leine und kläffte aufgeregt, während sich Sally-Ann demonstrativ abwandte, als ginge sie das ganze Theater nichts an.

Die Frau rappelte sich auf und schlang ihren Strickbademantel um sich, der ihr bis zu den Knöcheln reichte. Dabei musterte sie mich. »Da hast du aber Glück gehabt, dass die Uhr nicht kaputt ist«, sagte sie mit heiserem amerikanischem Akzent. »Habe ich euch beide nicht schon vor ein paar Wochen gesehen?«

Ich nickte. »Es … es tut mir leid wegen ihrem Handgelenk. Tut es weh?«

»Und ob es wehtut! Es schmerzt wie Hölle und im Uhrenglas ist ein riesengroßer Kratzer.«

»Tut mir sehr leid.«

»Ja, ja, ja, du wiederholst dich. Ich kapier’s schon. Es tut dir leid. Du liebe Güte, frisst die verdammte Töle etwa das komplette Ding auf? Hat ganz den Anschein.« Ihr gigantischer Afro wippte beim Sprechen. Als sie den sehnigen Hals reckte, um mich besser sehen zu können, muss ich beim Anblick ihrer blassblauen Augen überrascht gequiekt haben. Unwillkürlich starrte ich sie an, denn ich hatte noch nie eine Schwarze mit solchen Augen gesehen. Mühsam riss ich mich von dem Anblicklos und sah zu Mister Masch.

»Aus, Mister Masch!«, sagte ich. Ich versuchte, ihm die Badekappe zu entreißen, aber da war sie schon hinüber. »Tut mir leid!«, stammelte ich wieder. »Aus, Dudley!«, rief ich Dudley zu, der eine tote Möwe im Maul hatte. Es war ziemlich chaotisch.

Die alte Dame setzte sich ihre dicke Brille auf, dann verschränkte sie die dürren Arme mit der Pergamenthaut. Sie musterte mich von oben bis unten. »Wie alt bist du?«, knurrte sie.

»Ich bin elf.«

»Hhmm. Und Mr. Madrid da drüben?« Mit dem Daumen deutete sie auf Ramzy, der vor Angst noch immer von einem Bein aufs andere sprang. Er trug sein schwarzes Real-Madrid-Trikot, wobei er, soweit ich weiß, gar kein großer Fan ist. Es ist auch kein Original-Trikot, sondern eines von Adidas, aber Ramzy stört das nicht.

»Er ist zehn«, antwortete ich.

»Und einssiebenundsechzig«, warf Ramzy ein und sah sofort beschämt drein. Er ist der Jüngste in unserem Jahrgang.

Auf dem Gesicht der alten Dame zeigte sich der Anflug eines Lächelns, ein Mundwinkel ging nach oben, mehr nicht. Da wusste ich noch nicht, dass ich diesen Ausdruck bald häufiger zu sehen bekommen würde. Sie bewegte ihr Handgelenk und verzog das Gesicht. »Einssiebenundsechzig, was? Mein lieber Scholli!« Dann nahm sie einen tiefen Atemzug durch die Nase, als müsste sie gut überlegen, was sie als Nächstes sagt.

»Ich möchte nur ungern eine Anzeige machen.« Ihr Blick war aufs Meer gerichtet, doch sah sie rasch zu mir, um meine Reaktion abzuschätzen. »Ihr wisst schon, eine gestohlene Badekappe, eine womöglich schlimme Verletzung, eine kaputte Uhr, ein Hund, der außer Kontrolle …«

»Oh, Mister Masch ist nicht außer …«

»Wie gesagt, ich möchte ungern eine Anzeige machen. Das wäre doch Mist. Aber ihr zwei könntet mir helfen.« Sie wandte sich uns beiden zu und stemmte die langen Hände in die schmalen Hüften. »Ihr kennt doch Spanish City?«

»Ja, klar.« Ich zeigte zur weißen Kuppel in nicht allzu weiter Ferne.

»Klar, kennt ihr Spanish City. Kommt da heute Abend um sechs hin. Vielleicht können wir dann all das hier … vergessen. Und zu niemandem ein Wort!«

Ramzy nickte wie wild, aber das lag bloß an seiner Tante Nush, bei der er lebt und die super viel Wert auf gutes Benehmen legt. Ich glaube, er kann sich keinen Ärger mehr leisten, da wäre er mit allem einverstanden gewesen. Ich allerdings …

Ich hob die Hand und sagte: »Ich möchte ja nicht unhöflich sein, aber wir sollen es keinem erzählen, sagen Sie. Nur kennen wir Sie doch gar nicht und …«

Ohne zu blinzeln, sah sie mich an, durch die dicken Brillengläser wirkten ihre blassen Augen noch größer.

»Es gibt eine Regel, die du kennen solltest, Herzchen. Wenn dich ein Erwachsener, den du kaum kennst, bittet, ein Geheimnis vor deinen Eltern zu bewahren, verheißt das nichts Gutes.«

Ich nickte. Warum hörte sie nicht endlich auf, mich anzustarren? Aber auch mir gelang es nicht, den Blick von ihr loszureißen.

»Es ist eine eiserne Regel«, sagte sie. Wieder nickte ich und schluckte. »Und ich bitte euch, sie zu brechen.«

Das mussten wir erst mal verdauen.

»Bis heute Abend um sechs.« In einer einzigen Bewegung sammelte sie ihre Sandalen und ihre gelbe Strandtasche ein und stakste zu den Treppenstufen. Da drehte sie sich noch mal zu uns um. »Pretorius. Dr. Emilia Pretorius. Hat mich gefreut.«

Neben mir würgte Mister Masch gerade die Badekappe in Einzelteilen hervor, nur um sie erneut zu fressen. (Später fügte ich noch Badekappe zu der immer länger werdenden Liste von Dingen hinzu, die Mister Masch gefressen hatte.)

»Was hältst du von ihr?«, fragte Ramzy und sah ihr hinterher.

Ich überlegte ein wenig und zeigte dann auf sein Fußballtrikot. »Wie viele Damen in ihrem Alter würden wohl das Auswärts-Trikot von Real Madrid erkennen?« Mich beeindruckte das. »Außerdem mag Mister Masch sie.«

Also war ich bereit, ihr eine Chance zu geben.

5. Kapitel

So sind wir also am Abend desselben Tages in Spanish City gelandet.

»Hahahahaaa!«, gackert Dr. Pretorius wieder, und ich glaube wirklich nicht, dass sie uns was vorspielt. Sie ist einfach aufgeregt.

Hinter den Flügeltüren ist es dunkel, komplett finster, bis Dr. Pretorius bellt: »Studiolicht!« Hoch, hoch über uns erwachen gleißend helle Strahler zum Leben, die an schmalen Metallschienen kreuz und quer im Gewölbe befestigt sind.

Wir stehen in einem riesengroßen runden Raum ohne Fenster, die Wände sind komplett – von oben bis unten – mit einem matten dunkelgrünen Zeug verkleidet … Schaumstoff? Wirkt schwammartig, aber ich traue mich nicht, es anzufassen. Die Decke und der Boden sind mattschwarz und in der Mitte des Raums steht ein einsamer Liegestuhl, so ein altmodisches Teil mit rot-weiß gestreiftem Segeltuch. Sonst nichts.

Wir befinden uns in der Kuppel von Spanish City, diesem auffälligen moscheeartigen Bau am Strand von Whitley Bay. Und diese Kuppel ist riesig.

»Gefällt’s euch?« Während ihre Stimme durch die gigantische Leere hallt, macht sie stolz eine ausholende Geste.

»Jaa!«, antworte ich, und Ramzy nickt, aber noch bevor meine Stimme verklungen ist, funkelt sie mich an.

»Lügnerin! Wie kann es dir gefallen? Du weißt ja nicht mal, was es ist. Ich habe euch gewarnt. Ihr müsst mir immer die Wahrheit sagen! Also noch mal von vorn. Gefällt’s euch?«

»Ähm …« Diesmal weiß ich wirklich nicht, was ich sagen soll, und ich habe Angst, was falsch zu machen. Diese Frau kann einen ganz schön einschüchtern. Ramzy rettet mich.

»Um ehrlich zu sein, Frau Dr. Pretorius«, sagt er, »da ist ja nicht viel zu mögen da. Aber es ist auf jeden Fall beeindruckend. Imposant. Ähm … außergewöhnlich.«

»Ha! Du lernst schnell! Weiter so. Du kennst eine Menge Wörter. Woher kommst du, mein Junge? In deinem Geordie-Dialekt schwingt noch was anderes mit, nicht wahr?«

Ramzy zögert. »Hhmm, mein Heimatland existiert nicht mehr. Es gab Krieg und …«

»Versteh schon, Junge. Wir suchen alle nach einem Zuhause, was? Das hier ist mein Zuhause. Willkommen in meinem Laboratorium. Ha! Kommt mit. Immer schön am Rand bleiben. Und … Moment mal.« Sie schnuppert. »Riecht ihr das? Wie verbranntes Gummi.«

»Tut mir leid. Das, ähm … das ist Mister Masch. Er hat ein kleines … Verdauungsproblem.«

Dr. Pretorius hält sich die Hand vors Gesicht und ihre Stimme klingt gedämpft. »Was du nicht sagst!« Ihr Blick wandert von Mister Masch zur Tür, als würde sie ihn am liebsten rausschicken, tut sie aber nicht. Womit sie in meiner Achtung steigt.

Während wir ihr am Rand des runden Raums entlang folgen, gewöhnen sich meine Augen an das Schummerlicht. Dr. Pretorius öffnet eine Tür und wir drei plus Mister Masch zwängen uns durch einen schmalen Durchgang.

»Kontrollraumlicht!«

Grelle Neonröhren erhellen einen lang gestreckten Raum mit weißen Fliesen an Boden und Wänden. Hier gibt es Arbeitsflächen aus Aluminium, mehrere Spülen, einen großen Kühlschrank, einen Herd mit acht Platten und einen schwarzen Eisengrill. Offensichtlich war das mal die Restaurantküche.

Über einem langen Schreibtisch aus Holz hängen drei riesige Bildschirme an der Wand, dazu gehört ein großes Pult mit Reglern und bunten Knöpfen. So eines haben wir auch in der Schule im Techniklabor. Und überall – auf jedem Regal, auf sämtlichen Flächen – liegt Zeug, unendlich viel Zeug. Kisten mit Kabeln, Ersatzteilen, winzigem Werkzeug, Rollen mit Klebeband, ein Lötkolben, Kästchen mit Nägeln und Schrauben, eine Auswahl an Schutzbrillen, Helmen, Handschuhen und Brillen für Virtual-Reality-Spiele. Manche sind so verstaubt, als hätten sie schon Jahre da herumgelegen. Auf den Brillen stehen Namen wie Google, Vis-Art, Apple, Ocean Blue, Samsung … Manche kenne ich, aber die meisten nicht.

Auf einer der Arbeitsplatten steht ein Computer mit Monitor, schon ziemlich alt, aus dem letzten Jahrhundert, die Innereien quellen aus dem Gehäuse, als wäre das Gerät mal heruntergefallen und niemand hätte sich die Mühe gemacht, die Teile zusammenzufegen. Hier hat überhaupt schon lange keiner mehr gefegt. Ehrlich gesagt, ist die ganze Bude ziemlich ranzig.

Unter dem Schreibtisch befinden sich etliche Schränke, in denen wohl die intakten Computer stecken. Ein paar Lichter blinken, aber es ist kein Geräusch zu hören, nicht mal ein Summen.

Auf einer weiteren Arbeitsplatte liegt ein Brett mit einem eingewickelten Brot, Butter, Käse und in der Spüle daneben stapeln sich dreckige Tassen. Mister Masch hat am Boden ein paar Krümel entdeckt und fahndet nun nach mehr.

Dr. Pretorius macht es sich mit ihren langen Gliedern in einem Schreibtischstuhl bequem, rückt ihre Brille zurecht und betätigt die Tastatur, woraufhin der mittlere Bildschirm anspringt.

»Entschuldigt die Unordnung«, sagt sie, aber es klingt nicht sehr reumütig.

Während sie eifrig tippt, öffnet sich eine Seite nach der anderen. Nun leuchten auch die beiden anderen Monitore auf. Eine Flut von Bildern rauscht vorbei, viel zu schnell, um was zu erkennen, bis ein Strand zu sehen ist.

Es ist ein bewegliches Bild, das aus drei verschiedenen Perspektiven aufgenommen wurde und jetzt über die Bildschirme ineinander projiziert wird.

Ich schaue zu Ramzy, der schon seit einer Weile nichts mehr von sich gibt. Mit offenem Mund starrt er auf die Monitore.

»Keine Sorge«, sagt Dr. Pretorius hinter uns, »das ist noch längst nicht alles. Da.« In jeder Hand hält sie einen Fahrradhelm und wartet, wie wir reagieren. »Macht schon, setzt sie auf«, sagt sie schließlich. »Stellt euch den Helm auf eure Größe ein und zurrt die Riemen fest, fester als sonst.«

Ein winziger Kopfhörer schmiegt sich bequem in jedes Ohr. Dr. Pretorius hilft uns mit den Riemen und Schnallen, zieht und zerrt, bis Ramzy ruft: »Au, das ist zu eng!«

»Kriegst du noch Luft?«

»Ja.«

»Dann ist es nicht zu eng. Okay, nun folgt mir. Der Hund bleibt hier.« Sie führt uns zurück in die Kuppel, wo wir mit dem Rücken zur grünen Schaumstoffwand stehen.

Als ich genauer auf den Boden schaue, merke ich, dass er in der Mitte anders ist und wir auf einer Art äußerem Ring stehen. Und dass die Scheibe in der Mitte nicht glatt ist, sondern …? Ich beuge mich dichter drüber.

»Ein Millimeter große mattschwarze Kugellager«, sagt Dr. Pretorius neben mir. »Millionen davon. Sie reichen einen halben Meter tief. Ihr könnt ruhig drauf laufen, kein Problem. Die Kugellager liegen dicht an dicht. Ihr versinkt schon nicht.«

Nachdem Dr. Pretorius noch mal die Helme kontrolliert hat, klappt sie einen gebogenen Stahlbügel herunter, der sich wie ein Visier vor die Augen schiebt. »Das ist der 3-D-Generator«, sagt sie. »Am Anfang blendet es ein wenig. Und wahrscheinlich kribbelt es auch auf der Kopfhaut, aber kümmert euch nicht drum.«

Ramzy sagt: »Ist ja wie im Virtuellen Erlebnisraum in Disneyland!«

Ich habe den Eindruck, dass er das lieber nicht hätte sagen sollen, aber sicher weiß ich es nicht. Dr. Pretorius blinzelt ein paarmal und atmet tief durch die Nase, als würde sie die Antwort gut abwägen. Endlich sagt sie: »Stimmt haargenau, Kleiner. Ist nur vieeel besser. Dieses Spiel wird die Welt verändern. Gut, da geht’s lang.«

Sie führt uns zum Liegestuhl. Über die Kugellager läuft es sich wie über weichen Schotter. Merkwürdig.

»Wenn das Programm startet«, sagt Dr. Pretorius, »bewegt sich der Untergrund ein wenig. Anfangs fühlt es sich vielleicht seltsam an, aber daran gewöhnt ihr euch schnell.« Damit marschiert sie zum Kontrollraum und schließt krachend die Tür. Bei mir knistert es im Ohr und ihre Stimme ertönt: »Bereit? Okay, dann mal los!«

Erst in dem Moment wird mir klar, dass ich überhaupt keinen Schimmer habe, worauf ich mich da einlasse. Ich habe alles blind mitgemacht, habe mir diesen kuriosen Fahrradhelm aufsetzen lassen, bin über ein Bett aus winzigen Kugeln gelaufen und stehe nun unter einer riesigen dunklen Kuppel, während andere Leute draußen in der Sonne Eis essen und …

Genauso erging es mir, als ich das erste Mal Achterbahn gefahren bin. Ich muss so sechs gewesen sein. Dad und ich saßen im ersten Wagen. Und erst nachdem wir die Steigung hochgekrochen waren und ganz oben standen, wurde mir klar, dass ich so hoch nie sein wollte.

Vor nicht mal fünf Minuten habe ich mit einem Wolfskopfklopfer an ein Stahltor geschlagen und jetzt teste ich … ja, was überhaupt? Ein neues Spiel? Wer ist diese Frau?

Ich habe eine Heidenangst. Wie bin ich da nur reingeraten?

»Ramzy? Mir gefällt das nicht.«

Ich greife nach Ramzys Hand und rufe: »Stopp!« Und noch mal lauter: »STOPP!«

Aber zu spät. Die Deckenstrahler gehen aus und alles wird dunkel.

6. Kapitel

Genau hier, wo wir jetzt stehen, befand sich vor einer Weile noch ein Restaurant, in dem ich allerdings nie gewesen bin. Jahre davor war es mal ein Tanzpalast, dann eine Disco mit Cafés und Spielhallen. Draußen gab es einen Vergnügungspark, der das ganze Jahr geöffnet hatte, und mittendrin diese riesige weiße Kuppel. Das Ganze hieß dann Spanish City.

Grandpa, der hier aufgewachsen ist und gelebt hat, bis er mit Gran nach Schottland gezogen ist, erinnert sich noch an eine uralte, klappernde Holzachterbahn, die Großer Wagen hieß. Seit den 90ern ist Spanish City mehr oder minder eine Ruine gewesen und das blieb auch eine ganze Zeit so.

Vor ein paar Jahren wurde dann alles runderneuert und der Große Wagen und der Vergnügungspark existieren seitdem nicht mehr. Aber in den Arkaden, dem Ladenbereich von Spanish City, gibt es nach wie vor Eisdielen und Cafés, so teure Schickimicki-Läden wie Polly Donkin Tea Rooms, bei denen Grandpa aufschreit: »Soll das ein Witz sein? So viel Geld für eine Kanne Tee? Als ich klein war, also das kann ich euch sagen …«, und so weiter.

Einmal hat der König Spanish City einen Besuch abgestattet, bevor er König wurde. Da war ich noch ein Baby. Und es gibt ein Foto von Mum und mir, auf dem es aussieht, als würde mich der König anlächeln, dabei liegt es wohl nur an der Perspektive. Das Lächeln galt nicht mir. Jedenfalls hängt das Foto bei uns im Flur.

Und im letzten Winter schloss das Restaurant in der Kuppel dann urplötzlich. Niemand wusste, warum. Saskia Hennesseys Mutter arbeitete da als Kellnerin und verlor von einem Tag auf den anderen ihren Job. Doch dafür … bekam sie einen Riesenbatzen Geld; die ganze Familie machte Urlaub in Florida, und als sie zurückkamen, hatten alle neue Laptops, und Mrs Hennessey fand gleich einen Job bei Polly Donkin Tea Rooms.

So erging es wohl allen Angestellten, das behauptet Sass zumindest.

Heute: belebtes Restaurant. Morgen: Umzugswagen, die Tische und Stühle abholen. Die Woche darauf: Arbeiter mit Vorschlaghämmern und Containern.

Von außen sieht es noch genauso aus. Aber was drinnen vor sich geht, weiß keiner. Zumindest wusste es keiner, bis Ramzy und ich Dr. Pretorius kennengelernt haben.

Irgendwann kurz vor den Herbstferien liefen Ramzy und ich von der Schule nach Hause, und ich erzählte ihm alles, auch meine Begegnung mit dem König, und ich dachte laut darüber nach, was in Spanish City wohl vor sich geht, da stapfte Ramzy einfach auf einen Typen mit orangefarbener Weste und Schutzhelm zu, der am Hintereingang eine Schubkarre mit Ziegeln und kaputten Brettern schob.

»Entschuldigen Sie, Sir. Was passiert da drinnen?«, fragte Ramzy, während ich vor Scham am liebsten im Boden versunken wäre. (»Sir!«) Unser Lehrer Mr Springham sagt immer, Ramzy hat überhaupt keine Hemmungen, er spricht einfach jeden an.

Der Mann schien ganz froh, seine Ladung mal absetzen zu können.

»Da bin ich überfragt, Junge. Prima Restaurant, alles rausgerissen! Is ’ne Schande, meine Meinung. Guck mal hier …« Er zeigte auf eine große glänzende Steinplatte in der Schubkarre. »1A italienischer Marmor. Ach, eigentlich könnt ich das gebrauchen. Gibt ’nen hübschen Gartentisch!«

»Und … was kommt da jetzt rein?«, Ramzy wieder. Der Mann hatte seinen Schutzhelm abgenommen und wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. Er sah zur Kuppel hoch.

»Keine Ahnung. ’n Film- oder Musikstudio könnte ich mir vorstellen. Nächste Woche kommt da ’n Haufen teure Teile rein. Weißt schon, Lichter und Projektoren und Computer und so ’n Kram.« Mit dem Kopf deutete er zu einer älteren Dame mit Schutzhelm, die vor einem Stapel silberner Kanister kniete und die Etiketten prüfte. Finster blickte sie zu uns herüber. Im ersten Moment kam sie mir nicht bekannt vor.

»Oh, oh. Muss mich wieder an die Arbeit machen, sonst steigt mir die Frau Doktor aufs Dach.«

Ramzy drehte sich zu mir um. »Siehst du, man braucht bloß zu fragen!«

Im Gehen wandte ich mich noch mal um. Die alte Frau hatte sich erhoben und sah uns nach. Groß und dünn war sie. Ich schaute weg. Nach ein paar Metern riskierte ich einen weiteren Blick und sie guckte noch immer. Ich fühlte mich wie ertappt, als hätte ich was Verbotenes getan.

Und da erst erkannte ich sie wieder. Ich hatte sie manchmal unten am Strand beim Baden gesehen. Sogar im Winter.

Was immer hier entstehen würde, musste gigantisch sein. Denn in den silbernen Kanistern steckte Kaltschweißmasse, ein Metallkleber. Dad benutzte ihn in seiner Autowerkstatt, aber er hatte nur einen Kanister davon. Die alte Dame hatte bestimmt um die zwanzig.

Und als ich mich diesmal umschaute, geschah was. Ein Blick? Eine Verbindung? So genau kann ich es nicht sagen, aber ich hatte das Gefühl, dass sie uns nicht ohne Grund beobachtete. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, doch vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet.

7. Kapitel

In der finsteren Kuppel leuchtet der Metallbügel vor meinen Augen plötzlich auf. Das blau-weiße Licht ist so grell, dass es fast wehtut und ich blinzeln muss. Nachdem sich die Helligkeit ein wenig gelegt hat, werden Formen sichtbar. Innerhalb von Sekunden verwandeln sich dünne Pfähle in Palmen und aus dem dunklen Boden wird ein weißer Sandstrand.

Und ich meine damit, es sieht richtig nach Strand aus, nicht nach so einem kitschig gelben Strand mit pixeliger Auflösung, den man durch ein klobiges Headset betrachtet. Virtuell habe ich noch nie einen so realistischen Strand gesehen, noch nie.

Ich lasse Ramzys Hand los und er ruft erstaunt: »Boahhhhh!«

Vor uns befindet sich der Liegestuhl und zu beiden Seiten davon erstreckt sich halbmondförmig ein mit Palmen gesäumter cremeweißer Sandstrand. Dahinter kräuselt sich ein türkisfarbenes Meer.

Ich drehe mich einmal um die eigene Achse. Die Illusion ist perfekt. Über mir ein blauer Himmel mit Schäfchenwolken, weiter hinten am Horizont eine dunklere, graue Wolke.

Dann nehme ich die Geräusche wahr: die Brise, das Rascheln der Palmen im Wind, das Brechen der kleinen Wellen, ein altes Moped, das in der Ferne vorbeiknattert. Hinter mir schallt blecherne Musik. Als ich mich umdrehe, ist da eine Hütte, aus der die Musik kommt und in der man Getränke kaufen kann. Hinter dem Tresen steht ein Barmann und lächelt. Ich erwidere das Lächeln und winke ihm zu.