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Das Opus Magnum des großen integralen Philosophen
Ken Wilbers neuestes Buch ist ein praktischer Leitfaden für den Weg zu radikaler und vollständiger menschlicher Ganzheit, der die Weisheit der Spiritualität, Psychologie, Schattenarbeit, Wissenschaft und integralen Theorie und Praxis verbindet. Dieser Weg führt über die Stationen des Aufwachens, Aufwachsens, Aufmachens, Aufräumens und Auftauchens.
Wilber erklärt, wie wir die integrale Theorie für eine Transformation unserer Persönlichkeit und unseres Alltagslebens nutzen können, um 1) präsenter zu sein, 2) unsere spirituelle Achtsamkeit zu steigern, 3) Gefühle wie Glückseligkeit und Liebe zu erhöhen, vertiefen oder erweitern. Wilber verwendet dazu verschiedene Praktiken, die wir direkt in unser Leben integrieren und auf diese Weise Ganzheit wirklich begreifen können.
»Ken Wilber ist ein wahrer Visionär. Er bietet einen Perspektiven verändernden Ansatz, um zu einem Leben in Fülle zu gelangen.« Tony Robbins, Spiegel-Bestsellerautor
»Ken Wilber hat einen außergewöhnlichen Ratgeber für alle spirituellen-aber-nicht-religiösen Leser*innen geschrieben. Ein Kompass, der uns den Weg zu unserer spirituellen Entwicklung weist.« Diane Musho Hamilton, Autorin
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 690
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ken Wilber, geb. 1949, ist amerikanischer Philosoph und gilt als Hauptvertreter einer integralen (Meta)Theorie sowie als einer der genialen, interdisziplinären Denker unserer Zeit. In über 20 Büchern gibt er durch seine beeindruckenden Konzepte, Forschungen und Modelle immer neue Impulse zu einem erweiterten, visionären Denken und Handeln.
KEN WILBER
Der integrale Weg zur Ganzheit
RAUM FÜR WACHSTUM, EINHEIT UND LEBENSFREUDE FINDEN
Aus dem Amerikanischen von Jochen Lehner
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Finding Radical Wholeness. The Integral Path to Unity, Growth, and Delight bei Shambhala Publications, Inc.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 Kösel-Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Copyright © 2024 Ken Wilber
by arrangement with Shambhala Publications, Inc., Boulder.
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagmotiv: © FinePic®, München
Redaktion: Ralf Lay
Fachliche Beratung: Michael Habecker
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-32612-8V001
www.koesel.de
Inhalt
Einleitung
1 Aufwachen – Eine Einführung
Die Anzeichen des Aufwachens
Die fünf Hauptstadien des Aufwachens
Ewigkeit und Unendlichkeit
2 Weshalb ist das Aufwachsen notwendig?
Was heißt »aufwachsen«?
Ein vereinfachtes vierstufiges Modell des Aufwachsens
Die magische und die mythische Strukturstufe
3 Das Aufwachen wird vom Aufwachsen her gedeutet
4 Spirituelle Intelligenz und spirituelle Erfahrung
Spirituell, aber nicht religiös
Jesus und Gaia
Strukturen und Stadien/Zustände
5 Die frühen Stufen des Aufwachsens
Die archaische Stufe der Verschmelzung (karminrot) im integralen Sprachgebrauch und ihre Entsprechungen
Die Stufe der magischen Macht (rot)
Die Hauptformen mystischer Erfahrung
Die Wilber-Combs-Matrix
Die magische Naturmystik des Schamanismus
Zusammenfassung
6 Die mythisch-buchstabengläubige Stufe (bernsteinfarben)
Ursprungsmythen und ihre wortwörtliche Auslegung
Die mythisch-subtile Stufe
Ein Förderband
7 Die neuzeitliche rationale Stufe (orange)
Rationalität als Entmythologisierung oder Die Jefferson-Bibel
Das Wesen des Mythischen
Der rationale Atheist
Der kausale formlose Zustand
Der Ur-Buddhismus
Der Tod des mythischen Gottes
Das Was und Wozu der Evolution
8 Die postmodern-pluralistische Stufe (grün)
Freiheit und Gleichheit
Die progressive Linke und die konservative Rechte
Grün und seine Stärken
Wachstums- oder Dominanzhierarchie?
Grüne Religion
9 Die inklusiv-integrale Stufe (türkis)
Das Wesen der integralen Stufen
Inklusiv-integral und der Eine Geschmack
Der Dualismus in der Wissenschaft des neuen Paradigmas
Tantra und seine Bedeutung
Aufwachsen und Aufwachen, beide sind unverzichtbar
10 Aufräumen und den Schatten heilen
Eine unstete Ich-Grenze
Der 3-2-1-Prozess
Die Praxis des 3-2-1-Prozesses
Zusammenfassung
11 Auftauchen
Die vier Quadranten
Vier Quadranten oder die große Dreiteilung?
Das harte oder Geist-Körper-Problem
Was Materie eigentlich ist
Transgender-Identität – Wie man die Debatte entschärfen könnte
Die Quadranten im Alltag
Die Quadranten und die Große Ganzheit
12 Aufmachen
Unsere vielen Intelligenzen
Evolution und Intelligenzen
13 Dunkle Schatten
Das Gleichgewicht des Schreckens
Die wahren Sünden der Moderne
Eine auf Entwicklung angelegte Kultur
14 Der Albtraum der Moderne
Das große System der Natur
Messen statt wahrnehmen
Atomismus und Systemtheorie – ein neues Paradigma?
Die Welt von morgen – ein globaler Transhumanismus?
15 Aufwachen
Unser Vorhaben
Wie das Aufwachen in Vergessenheit geriet
Der Zeuge und der Eine Geschmack
Zwei Schritte
Hilfreiche Winke
Zum ICHBIN erwachen
16 Auf den Zeugen und den Einen Geschmack hinweisen
Der Zeuge, erster Durchgang
Der Eine Geschmack, erster Durchgang
Der Zeuge, zweiter Durchgang
Der Eine Geschmack, zweiter Durchgang
17 Wie sich Erleuchtung anfühlt
Große Glückseligkeit
Die Fülle der Liebe jenseits der Liebe
18 Das integrale sexuelle Tantra
Eine kurze Anmerkung zur Verwendung des Begriffs »Tantra«
Vom Stellenwert relativer Seligkeit und Liebe im Tantra
19 Die Praxis des integralen sexuellen Tantra
Das Erkennen im Tantra
Mit Sex zur Erkenntnis des Zeugen
Sexualität und der Eine Geschmack
Die Vereinigung von Glückseligkeit und Liebe
Zusammenfassung
Nachwort
Register
Über den Autor
Anmerkungen
Einleitung
Dieses Buch handelt von Ganzheit und dem Begriff »Ganzheit« möchte ich ein besonderes Gewicht geben. Ich werde sogar behaupten (und Sie für diesen Gedanken zu gewinnen versuchen), dass wahre Spiritualität eigentlich in der Entdeckung der Ganzheit liegt, die folglich Sinn und Zweck in Ihrem Leben stiften kann. Wir reden aber nicht von theistischer oder mythischer Spiritualität, die an bestimmte Glaubenssätze oder eine Weltanschauung gebunden ist, die eine höchste Gottheit, ein übernatürliches Wesen oder etwas Transzendentes postuliert, dem es zu huldigen gilt. Es ist natürlich in Ordnung, wenn Sie an so etwas glauben, aber in diesem Buch geht es um etwas anderes. Im Übrigen kann Ihnen wahre Ganzheit trotz eines solchen Glaubens fehlen und genauso kann es sein, dass Sie diese Ganzheit trotz Ihres Glaubens für sich entdecken. Jedenfalls geht es bei echter Spiritualität darum, zu dieser Ganzheit zu finden, und Der integrale Weg zur Ganzheit möchte Ihnen Zugänge dazu aufzeigen, die Sie mitten im Leben nutzen können und die Ihnen vor Augen führen, wie unendlich viel die wahre Ganzheit für Ihr Sein und Bewusstsein bewirken kann.
Vielleicht haben Sie schon mal jemanden sagen hören: »Ich bin spirituell, aber nicht religiös.« So verhält es sich in gewisser Weise auch mit diesem Buch. Es ist insofern spirituell, als es Ihnen dazu verhelfen möchte, hier und jetzt und mitten im realen Leben wahre Ganzheit und echte Spiritualität zu entdecken, aber ohne dass Sie dafür an magische oder mythische Geschichten, an Wunder oder so etwas wie eine institutionalisierte Religion glauben müssten. Mit der Aussage, dass echte Spiritualität im Streben nach wahrer Ganzheit besteht, umgeht dieses Buch all die magischen und mythischen Glaubenssätze, von denen so viele Religionen durchsetzt sind, und in diesem Sinne ist es »spirituell, aber nicht religiös«. Sie werden hier folglich nicht behauptet finden, Moses habe tatsächlich das Meer geteilt, Mohammed sei wirklich auf seinem Pferd zum Mond geflogen, um ihn mit einem Schwerthieb zu zerteilen, oder Laozi sei bei seiner Geburt wahrhaftig neunhundert Jahre alt gewesen. Derlei mythische Geschichten zählen zum Grundbestand vieler, wenn nicht der meisten Religionen dieser Welt, und ob man sich als rechtgläubigen Anhänger einer solchen Religion betrachten kann, hängt nicht zuletzt davon ab, ob man sich derartige Mythen zu eigen macht und an sie glaubt.
Noch einmal, mich stört es nicht, wenn Sie sich mit einem mythischen Glauben identifizieren, aber dieses Buch wird Sie nicht dazu anhalten. Es wird Ihnen stattdessen eine neue Form der Spiritualität als »das Auffinden wahrer Ganzheit« unterbreiten und dazu gezielt Übungen und Verfahren bereitstellen, mit denen Sie ganz direkt erleben können, wie Ganzheit überall in Ihrem Leben am Werk ist – und dann werden Sie definitiv sagen können: »Ich bin spirituell, aber nicht religiös.« (Eine neuere Umfrage des Magazins Time besagt ja, dass über siebzig Prozent der Millennials dieser Aussage zustimmen – es gibt also zweifellos ein Publikum dafür.)
Immanuel Kant merkte 1793 an, man lebe in modernen Zeiten und das sei bereits daran zu erkennen, dass der Anblick eines auf Knien betenden Menschen bei zufälligen Zeugen tiefe Gefühle der Peinlichkeit erzeuge. Inzwischen leben wir längst in einer Welt, in der viele, vor allem hochgebildete Menschen sich außerstande sehen, die magischen und mythischen Erzählungen der großen Religionen noch länger für bare Münze zu nehmen. Und es wäre ihnen tatsächlich peinlich, wenn man sie dabei erwischte, dass sie irgendwie doch noch an solche unglaubwürdigen Dinge glaubten. Ich bin zuversichtlich, dass Sie die von diesem Buch vertretene Spiritualität nicht beschämend finden werden – unabhängig von Ihrem Bildungsstand. Es möchte Ihnen einfach helfen, in Ihrem Sein und Bewusstsein wahre Einheit und Ganzheit zu finden, und damit ist ja hoher Nutzen für Sie verbunden, was Arbeit, Beziehungen, Spiel, Elternschaft, Karriere und einfach Ihren Alltag angeht.
Ich sage damit nicht, es gäbe an den großen Religionen der Welt in ihrer ursprünglichen Form nichts Nützliches und Sinnstiftendes, aber ich werde Sie eben nicht zum Glauben an irgendeine der magischen oder mythischen Wundergeschichten einer traditionellen Religion ermuntern. Ganz bestimmt werde ich Sie nicht davon zu überzeugen versuchen, dass Jesus Christus von einer Jungfrau geboren wurde. (Wirklich bemerkenswert, wie Maria diese Schote abgezogen hat. Sie ist schwanger, und wenn ihr Mann nicht der Vater ist, kann sie es nur mit einem anderen getrieben haben – da muss sie sich schon eine wirklich gute Ausrede einfallen lassen. Und Josef war offenbar begriffsstutzig genug, um sich diesen Bären aufbinden zu lassen und auch noch einzustimmen: »Sicher, ich habe ihr beigewohnt, aber glaubt mir, der wahre Vater ist nicht von dieser Welt.«) Diese Storys meine ich, bei denen sich moderne Menschen den Kopf kratzen oder sogar erröten, wenn man Sie beim Glauben daran ertappt.
Das heißt nun aber nicht, im Christentum oder in anderen Weltreligionen sei absolut nichts von Wert zu finden. Hier ist natürlich höchste Vorsicht geboten. Ich gehe davon aus, dass es in den meisten Religionen der Welt einen kleinen, aber wesentlichen Kern von echter Spiritualität (in dem von mir gemeinten Sinne) gibt. Die meisten herkömmlichen Religionen vertreten etwas, was den Menschen tatsächlich zur Erkenntnis wahrer Ganzheit verhelfen kann, und in diesem Sinne sind die Traditionen im Kern, und nur dort, »spirituell, aber nicht religiös«.
Wenn wir das Christentum als Beispiel nehmen, gibt es da eine Vielzahl an magischen und mythischen Glaubensinhalten, die sich ein Christ zu eigen zu machen hat, zum Beispiel das, was im Glaubensbekenntnis von Nicäa oder im apostolischen Glaubensbekenntnis niedergelegt ist – lauter Variationen über den Mythos des »eingeborenen« Sohns Gottes, der für unsere Sünden gestorben ist und uns am Jüngsten Tag in der ewigen Seligkeit und Herrlichkeit auferstehen lassen wird. Aufgeklärten Zeitgenossen ist davon heute nichts mehr zu vermitteln. Es wurde hier aber noch etwas anderes geboten, und zwar vor allem im Frühchristentum: die Möglichkeit, auf dem Weg der Meditation und Kontemplation zum Bewusstsein der Ganzheit zu finden. So sagt Paulus: »Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war« (Phil 2, 5), denn so würden alle »eines Sinnes« sein. Dieses Streben nach Einssein und Ganzheit war ein zentrales Anliegen des frühen Christentums und Ähnliches gilt beispielsweise für Hinduismus, Buddhismus und Sufismus. Ich möchte hervorheben, dass diese Ganzheit nichts mit Glaubensüberzeugungen zu tun hat, und vor allem bedarf es keiner magisch-mythischen Anschauungen, wie man sie in religiösen Texten wie der Bibel findet. Dergleichen braucht man nicht mehr, zumal es sich um Überbleibsel früher und niederer Stadien der Evolution oder des Aufwachsens handelt – die magische und die mythische Stufe –, die weitgehend überholt und deshalb kaum noch zu glauben sind.
Eine Nahtoderfahrung hat nichts damit zu tun, ob Sie materialistisch, idealistisch oder nihilistisch denken oder einem Glauben anhängen. Im gleichen Sinne hängt die Entdeckung wahrer Ganzheit nicht davon ab, ob Sie sich zu magischen oder mythischen Glaubensinhalten oder auch zu einem rationalen Glauben bekennen. Dessen bedarf es einfach nicht. Neben der ganzen mythischen Überlieferung gibt es im Christentum Schulen der Kontemplation und Meditation, mystische Strömungen, die auf ein echtes Erleben der Ganzheit abzielen, wie es seinen Niederschlag in Texten wie Die Wolke des Nichtwissens1 fand. »Nichtwissen« meint hier, dass man sich von allen mythischen Glaubensinhalten löst, um ins reine Aufwachbewusstsein zu kommen. Für diese Erfahrung der Ganzheit ist es in keiner Weise erforderlich, sich magische oder mythische Glaubensinhalte zu eigen zu machen, die normalerweise mit der Bekehrung oder dem Bekenntnis zum Christentum einhergehen. Die echten christlichen Mystikerinnen und Mystiker, die ich kenne (und Mystiker sind für mich Leute, die die Ganzheit wirklich erlebt haben), glauben nicht an die zentralen christlichen Mythen oder an Wundergeschichten wie die von der Parthenogenese oder von der Auferstehung des Fleisches. Als Christ könnten Sie vielleicht von sich behaupten, Sie hätten Ihr wahres Ich und die Urganzheit des Universums für sich entdeckt, in der wir alle »eines Sinnes« sind, aber etwas ganz anderes wäre es zu sagen: »Ich glaube an den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist und dass der Sohn von einer Jungfrau geboren wurde, dass er ans Kreuz geschlagen wurde und starb und wieder auferstand und zum Himmel auffuhr und mich jetzt von der Erbsünde erlöst.« Das sind zwei ganz verschiedene Dinge, die eine spirituell, die andere religiös.
Der 2021 verstorbene amerikanische Bischof und Autor John Shelby Spong veröffentlichte zahlreiche Bücher – sein letztes ist das 2018 erschienene Unbelievable –, die mit Nachdruck eine ganz ähnliche Position zum Christentum einnehmen. Spongs Ansatz besteht darin, dass er zunächst den himmelweiten Unterschied zwischen Erfahrung und Erklärung herausarbeitet, eine ganz wichtige Unterscheidung. Wir können grob zwischen »Erkenntnis durch Kennenlernen« und »Erkenntnis durch Erklärung« unterscheiden – und in diesem Buch soll es ganz überwiegend um Erkenntnis durch Kennenlernen, also durch Erfahrung oder unmittelbares Erleben der Ganzheit gehen. Das Bewusstsein der Einheit lässt sich zwar beschreiben und das ist dann eine Erklärung, aber man muss die Ganzheit unmittelbar erfahren, um zu wissen, was es damit auf sich hat (und wir werden uns mit Übungen beschäftigen, die Ihnen genau das erlauben). Aus Spongs Sicht gehörte zum wahren Christentum die Erfahrung der Einheit, aber historisch war es so, dass es von einer Erklärung vereinnahmt wurde, die von wörtlich genommenen Mythen des ersten Jahrhunderts und von einer eher byzantinischen Philosophie des vierten Jahrhunderts ausging. Den Mythen und Wunderberichten der Bibel sprach Spong rundweg jede Realität ab und ganz gewiss glaubte er selbst nicht an sie. Hierunter fallen alle magisch-mythischen Glaubensinhalte des Christentums, auch die Vorstellung, Jesus sei tatsächlich für unsere Sünden gestorben. Außerdem die jungfräuliche Geburt, der körperliche Aufstieg zum Himmel, die Teilung des Meeres durch Moses, Elias Aufstieg zum Himmel in einem feurigen Wagen und so weiter. Spong sprach allen Mythen, Wunderberichten und übernatürlichen Ereignissen, die mit dem Christentum verbunden worden sind, jegliche Realität ab und bei dieser Linie ist er in einem ganzen Dutzend Büchern konsequent geblieben – und bedenken Sie bitte, dass er wahrhaftig anglikanischer Bischof war. Ich weiß wirklich nicht, wie er der Suspension entgangen ist. Er kann nur die unmittelbare Erfahrung des Einen, der reinen Ganzheit, akzeptieren, die er als Ganzheit des »Lebens, Liebens und Seins« bezeichnet. Er lässt da keine Mythen als Scheinerklärungen für diese Erfahrung gelten und das sagt ja auch schon der Titel seines Buchs: Unbelievable.
Spong war wirklich »spirituell und nicht religiös« und glaubte wie ich, dass dies auch für Jesus gilt und dass der Kern seiner Botschaft die Ganzheit ist.
So ist es nach meiner Überzeugung auch beim Buddha, bei Shankara, Plotin, Laozi, Yeshe Tsogyal, Zhuangzi (Chuangtse) und vielen anderen großen Verwirklichten, die die traditionellen Religionen gestiftet haben. Die Suche nach Ganzheit steht im Mittelpunkt des Interesses der meisten Weltreligionen, ungeachtet der Tatsache, dass sie sich in ihren Hauptmythen stark unterscheiden. Kurz, wenn man eins mit dem Universum ist, ist man eins mit dem Universum, unabhängig davon, welche Ausdrücke oder Bilder man dafür wählt. Das Eine ist das Eine. Wenn wir die großen Traditionen ganz genau betrachten, werden wir das Bewusstsein der Einheit überall als den eigentlichen Kern erkennen. Es gibt ja sogar eine philosophische Schule, die Philosophia perennis oder »Immerwährende Philosophie« genannt wird. Diese Philosophie hat zum Inhalt, dass die großen Religionen der Welt allesamt auf Ganzheit abzielen und dass sie sich zwar in ihren äußeren Formen, das heißt in ihren mythischen Erklärungen, stark unterscheiden, aber dass die innere Ganzheit letztlich überall gleich aufgefasst wird, weil die Erfahrung der Einheit die gleiche ist. Bedenken wir aber, dass die Darstellungen dieser Erfahrung sehr unterschiedlich ausfallen können, weil sie Deutungen enthalten, die vom jeweiligen kulturellen Umfeld geprägt sind. Man findet hier deshalb nicht viel, was wirklich »immerwährend« oder überall gleich ist. Dennoch gehört es zu den Kernaussagen der Philosophia perennis, dass sich die Wege der Meditation immer weiter entwickelten und ausdifferenzierten und letztlich alle auf eine überall gleich aufgefasste höchste Ganzheit hindeuten. Und die Entdeckung dieser Ganzheit in der Form eines Bewusstseins der Einheit wurde als »Erleuchtung«, »Erwachen«, »Satori«, »Metamorphosis«, »Fana« oder als »die große Befreiung« bezeichnet und darum geht es letztlich bei aller Meditation.
Ganzheit ist, wie wir später noch im Einzelnen sehen werden, weder mythisch noch übernatürlich oder magisch. Sie besteht vielmehr darin, dass man beim Betrachten der Welt ringsum plötzlich eins mit dieser Welt wird und alles zu einer einzigen Erfahrung und zu einem einzigen Bewusstsein der Einheit verschmilzt. Man fühlt sich dann wirklich eins mit der Welt und eins mit allem und das ganze Universum ersteht in einem selbst. So läuft die Erfahrung der Einheit in vielen Fällen ab. Und später dann, nach dieser Erfahrung, fallen einem alle möglichen Erklärungen ein, die einer kritischen Betrachtung meist nicht standhalten und deshalb auszusondern sind, was aber niemanden davon abhält, es trotzdem zu versuchen. Doch dann weiß man immer noch, dass die Erfahrung etwas Reales war, wie kompliziert die Erklärungen auch ausfallen mögen. Es handelt sich tatsächlich um eine authentische Gipfelerfahrung vom Grund des Seins. Sie stellt ein reales Aufwachen dar, einen kurzen Einblick in höchstes Bewusstsein der Einheit, in das göttliche Einssein oder das, was im tibetischen Buddhismus der »Eine Geschmack« oder die »Einheit des Geschmacks« genannt wird – wahre Ganzheit also.
Ich will damit sagen, dass der Vedanta-Zweig des Hinduismus, der Taoismus, die Kabbala, die mystischen und kontemplativen Strömungen des Christentums, die meisten Formen des Neoplatonismus, viele Schulen des frühen Buddhismus, alle Schulen des Mahayana und Vajrayana, der Chassidismus und Sufismus und viele andere im Innersten die Suche nach dieser wahren nondualen Ganzheit sind. Wir werden uns ansehen, wie es ist, wenn einem diese Ganzheit dämmert, und wir werden uns mit Möglichkeiten beschäftigen, diese Ganzheit direkt zu realisieren und selbst zu erfahren, ohne uns zu den mythischen Geschichten und wunderlichen Erklärungen bekennen zu müssen, die sich so gern mit den ursprünglichen Formen dieser Religionen verbinden. Spiritualität ist im Grunde einfach Religion ohne alles Abwegige und darauf sind wir hier aus.
Wir werden uns auch, um einen weiteren Punkt vorwegzunehmen, vergegenwärtigen, dass menschliche Entwicklung in Stufen des Wachstums und der Evolution verläuft. Glänzende Wissenschaftler wie Jean Gebser haben das nachgezeichnet und diese Stufen benannt, beispielsweise als »archaisch«, »magisch«, »mythisch«, »mental«, »pluralistisch« und »integral«. Die Menschheit insgesamt durchläuft diese Stadien von den niederen zu den höheren und derzeit befinden wir uns am Beginn der integrierten Stufe. Wir sehen uns diese Stufen und Stadien später noch näher an, aber ich möchte jetzt schon vorwegnehmen, was ich über so gut wie alle magischen und mythischen Geschichten der Bibel sagen werde, nämlich dass sie verfasst wurden, als die Menschheit sich noch in den frühen Stadien befand, die zwei- bis sechstausend Jahre zurückliegen. Folglich handelte es sich in der Zeit ihrer Niederschrift nicht um Irrtümer oder Wahnvorstellungen, sondern sie wurden von Menschen aufgeschrieben, die sich selbst noch im magischen und mythischen Entwicklungsstadium befanden und in vollkommen ehrlicher und aufrichtiger Absicht sprachen und schrieben.
Hier muss ich auch meine Kritik an diesen religiösen Anschauungen ein wenig abmildern, weil sie ja so übertrieben hart ist, als würde man ein fünfjähriges Kind anschreien. Ich werde aber dabei bleiben – und das ist mir ganz wichtig –, dass sie Produkte eines frühen, niederen und weitgehend überholten Stadiums der menschlichen Evolution und folglich nicht mehr zu glauben sind, ganz abgesehen davon, dass derartige Glaubensüberzeugungen keine Bedingung für die unmittelbare Erfahrung echter Ganzheit sind. Sollten Sie solche Gewissheiten aber hegen, müssen Sie sie nicht ablegen; vielleicht werden Sie sich aber dafür entscheiden oder Wege suchen, sie auf einen der Evolution entsprechenden Stand zu bringen.
Wir sind also auf wahre Ganzheit aus, aber mit dieser Ganzheit hat es eine eigene Bewandtnis und die führt uns direkt zum Kernanliegen dieses Buchs: Ganzheit springt nicht ins Auge, sie ist nichts, was jeder einfach sieht wie einen Stein oder einen Baum. Man muss einfach wissen, wo man sie zu suchen hat, und dann muss man losziehen und Ausschau halten. Ansonsten werden Sie die Ganzheit nicht zu sehen bekommen (auch wenn das kaum möglich erscheint), sondern Sie werden in etwas Halbfertigem und Bruchstückhaftem stecken bleiben, jedenfalls werden Sie nicht annähernd so ganz werden, wie Sie sein könnten. Ganzheit ist buchstäblich überall um Sie herum und bereits in Ihnen gegeben, Ihr Bewusstsein ist jetzt schon damit geflutet, aber wenn Sie nicht wissen, wo und wie Sie nach ihr schauen sollen, entgeht sie Ihnen ganz einfach und Sie ahnen nicht einmal, dass sie da ist. Ich werde das so lange und so oft wiederholen, bis wir es beide nicht mehr hören können, aber so liegen die Dinge nun mal. Und wenn es eine Sache gäbe, die ich wirklich gern vermitteln würde, dann wäre es diese: Man muss wissen, wo die Ganzheit zu suchen ist. Die allermeisten Menschen erfahren nicht viel Ganzheit in ihrem Leben, weil niemand ihnen gezeigt hat, wo und wie man nach ihr schaut.
Wenn wir uns ernsthaft damit befassen, wo und wie nach der Ganzheit Ausschau zu halten ist, stoßen wir auf etwas, das ebenso überraschend wie verblüffend ist, nämlich dass es etliche verschiedene, aber gleich wichtige Typen von echter Ganzheit gibt. Und es gibt Zugänge, Übungen oder Experimente, über die man sich jedem einzelnen dieser Typen annähern kann. Wir werden uns diese Bereiche der Ganzheit genau ansehen und sie detailliert beschreiben, damit Sie sicher wissen, was Sie tun müssen, um sie zu sehen. Es gibt fünf solche Typen und ich will gleich vorwegsagen, dass nur einer von ihnen etwas mit Spiritualität zu tun hat. Wenn Sie also nicht an Spiritualität interessiert sind, könnte es nach meiner Überzeugung trotzdem sein, dass Ihnen dieses Buch gefällt und Sie bereichert.
Für den Moment werde ich diesen fünf Typen einfach nur Namen geben: Aufwachen, Aufwachsen, Aufmachen, Aufräumen und Auftauchen. All das können Sie in Ihrem Leben tun und jeder dieser Punkte wird Ihnen eine unglaublich tiefe Art von Ganzheit erschließen. Wenn Sie alle zusammennehmen, haben Sie eine umfassende »Große Ganzheit«. Vergegenwärtigen Sie sich diese Typen, wie sie hier einer nach dem anderen erörtert werden, und sehen Sie zu, ob Sie etwas damit anfangen können. Was Ihnen nichts sagt, können Sie ignorieren. Aber die meisten finden diese Typen äußerst aufschlussreich, es gibt sogar eine weltweite Praxis, die sich dieser »Großen Ganzheit« widmet. Sie nennt sich »integrale Metatheorie«. Und die vertrete ich ja auch.
Auf den ersten Blick mag das alles ziemlich abgefahren erscheinen, aber auf jedem dieser fünf Wege geht es um eine ganz eigene Art von Ganzheit. Man möchte ja meinen, dass es nur eine Art von Ganzheit gibt, wenn diese wirklich Ganzheit ist. Da steht uns eine schockierende Erkenntnis bevor: Die Ganzheit der authentischen Wege des Aufwachens, aus denen die großen Religionen hervorgingen und die in einer Erfahrung des »Einsseins mit allem« bestanden, ist nur einer der großen Typen der Ganzheit, und zwar der, den wir als »Aufwachen« bezeichnen. Aber es gibt wie gesagt mindestens fünf Hauptformen, Dimensionen oder Bereiche der Ganzheit, nämlich die oben genannten – und das erweist sich als tief bedeutsam, weil wir in jedem dieser Bereiche einem ganz eigenen Typ der Ganzheit begegnen.
Menschen haben überall auf der Welt über Jahrtausende bis heute daran gearbeitet, alle diese Bereiche der Ganzheit zu entdecken. Leicht war das nicht, denn es gilt nach wie vor, dass kein einziger von ihnen völlig offensichtlich ist und ins Auge springt, sie ziehen nicht an uns vorbei und verkünden, was sie sind. Jede einzelne Ganzheit muss aufgesucht werden und Sie müssen wissen, dass sie da ist, sonst versuchen Sie es erst gar nicht.
Aus diesem Grund hat die Suche nach der integralen Metatheorie – und »integral« bedeutet ja ungefähr so viel wie »ganzheitlich« – an die fünfzig Jahre gedauert, bis alle diese Formen der Ganzheit aufgefunden waren. Und es kommt gar nicht selten vor, dass sich die Leute, wenn sie auf diesen integralen Ansatz stoßen, erst einmal an den Kopf fassen, weil sie schier nicht glauben können, dass sie nicht selbst auf diese »Ganzheiten« gekommen sind – einfach weil sie so offensichtlich sind, wenn man einmal auf sie gestoßen ist. In gewisser Weise sind sie ja auch augenscheinlich und eben jetzt in Ihrem Bewusstsein präsent, aber es bleibt dabei: Wenn man nicht weiß, wohin man den Blick richten muss, bleiben sie mysteriös. Im Übrigen ist es so, dass drei der fünf Typen der Ganzheit, nämlich Aufwachsen, Aufmachen und Aufräumen, erst im Laufe der letzten rund hundert Jahre entdeckt wurden und während des weitaus größten Teils der Menschheitsgeschichte keine Rolle spielten, sodass uns nur ein partielles und fragmentiertes Leben möglich war.
Es gibt derzeit nirgendwo sonst auf der Welt einen Entwicklungsansatz, der alle fünf Arten der Ganzheit berücksichtigt. Wenn Sie also wahre Ganzheit möchten, sind Sie hier richtig. Sie werden im weiteren Verlauf dieses Buchs kleine Zusammenfassungen, aber auch Übungen und dazu Winke oder Hinweise finden, die leicht umzusetzen sind und Ihnen sofort und ohne große Vorbereitung diese fünf Bereiche der Großen Ganzheit vor Augen führen. Ich habe sie nicht selbst erfunden und zu jeder dieser Ganzheitsformen gibt es weltweite Communitys, die sich bemühen, sie in ihrer Tiefe auszuloten. Ich ziehe jedoch alle diese Anteile zusammen zu einer Art Superholismus oder integraler Metatheorie. Das erleichtert es Ihnen, sämtliche grundlegenden Ganzheiten aufzuspüren, die gerade jetzt direkt vor Ihrer Nase sind. Sie müssen halt nur wissen, wohin man schauen muss.
Dieses Buch sollte ursprünglich »Raum für alles« heißen. Wer verfolgt hat, was ich bis jetzt über Ganzheit geschrieben und gesagt habe, wird diese Titelwahl vielleicht naheliegend finden. Echte Ganzheit, Große Ganzheit, schafft Raum für alles in Ihrem Leben, auch wenn vieles jetzt noch gar nicht enthalten ist. Wahrscheinlich geht Ihnen noch sehr viel ab, was Ihnen eigentlich zusteht und schon in Ihrem Leben sein sollte, um es zu bereichern und zu verbessern, aber Sie haben dafür noch keinen Raum geschaffen, weil Sie nicht über genügend Ganzheit verfügen. Wenn Sie die grundlegende Ganzheit dieser Welt erst einmal sehen können, findet alles seinen Platz und Sie empfinden Ihr Leben geradezu als ein Füllhorn – ohne Reibungsverluste, Spannung und Quälerei. Um für alles Platz zu schaffen, müssen Sie wie gesagt jedoch sehr gut wissen, wo die »ganze Ganzheit« zu suchen ist; das heißt, Sie müssen wissen, wie man nach echtem Aufwachen, Aufwachsen, Aufmachen, Aufräumen und Auftauchen Ausschau hält. Bei jedem einzelnen dieser Schritte wird Ihnen überdeutlich werden, wo seine wahre Ganzheit liegt.
Mich hat in meinem Leben als Forscher und Autor immer wieder schockiert zu sehen, wie vollkommen verborgen wahre Ganzheit sein kann – schockiert vor allem deshalb, weil sie eben ja so überwältigend offensichtlich ist, wenn man auf sie stößt. Wie kann es sein, dass die Menschheit für die Entdeckung dieser Zusammenhänge Hunderttausende Jahre gebraucht hat? Sind wir so blind?
Wenn Sie beispielsweise erkannt haben, was Aufwachsen bedeutet, wird Ihre Reaktion vermutlich wie bei den allermeisten Leuten zwei Hauptanteile haben: Erstens werden Sie verstehen, weshalb dieses ganze Geschehen erst vor ungefähr hundert Jahren neu von der Menschheit entdeckt wurde. Und zweitens werden Sie vermutlich staunend wahrnehmen, was dieses Aufwachsen Ihnen über die Ganzheit sagt, weil Ihnen hier eine Art der Ganzheit begegnet, deren Existenz Sie nicht einmal vermuten konnten. Da mögen Sie ernsthaft Holist, engagierter Systemtheoretiker oder im ganz allgemeinen Sinne jemand gewesen sein, der an die wahre Ganzheit dieser Welt geglaubt hat, und doch werden Sie wahrscheinlich ungefähr so reagieren: »Du meine Güte, ich hätte nicht gedacht, dass es diese Form der Ganzheit überhaupt gibt.«
Wie bei den anderen Offenbarungsformen der Ganzheit werden Sie das Aufwachsen als einen Aspekt der Ganzheit erleben, der mühelos zu verstehen ist, aber nicht sozusagen auf der Hand liegt, bis man auf ihn hingewiesen wird – und dann ist er schier nicht mehr zu übersehen. So erleben wir das bei allen genannten Aspekten der Großen Ganzheit. Wir sprechen beispielsweise beim Aufwachen über eine ganz direkte Erfahrung, aus der die meisten großen Religionen hervorgingen und die sie ihrer ursprünglichen Absicht nach den Menschen vermitteln wollten: das Erlebnis der reinen Ganzheit. Im anschließenden ersten Kapitel werden wir sehen, inwiefern dieses tiefe Erwachen so überwältigend klar und selbstverständlich ist, dass ein anerkannter Experte auf diesem Gebiet sie als »unanfechtbar« bezeichnet hat.
Bei den meditativen und kontemplativen Ansätzen der großen Religionen ging es immer um direkte Verwirklichung des Aufwachens oder Erwachens und da waren keine magischen oder mythischen Geschichten beteiligt, sondern es handelte sich um bewusstseinsverwandelnde Psychotechnologie. Sie hatten nichts anderes als reine Ganzheit im Sinn, die höchste nonduale Erfahrung der Einheit. Anschließend haben die Religionen diesen unmittelbaren Erfahrungen unterschiedliche Erklärungen gegeben. Die Religionen unterschieden sich in mancherlei Hinsicht, aber wenn ihre Mystiker, also Menschen, die die Erfahrung tatsächlich gemacht hatten, einander begegneten und ins Gespräch kamen, wurde ihnen ganz schnell klar, dass sie über ein und dieselbe grundlegende Wirklichkeit sprachen. Sie blickten einander in die Augen und wussten Bescheid. Sie wussten, dass hinter, unter und jenseits dieser relativen Welt gesondert existierender Dinge und Ereignisse ein tiefes Einssein liegt, wahre Ganzheit. Sie wussten auch, dass Menschen, die diese stets gegenwärtige Einheit noch nicht erkannt haben, einstweilen in der Welt der Leiden gefangen bleiben, einer gefallenen Welt, einer dualistischen, gebrochenen, von der »Erbsünde« gezeichneten, entfremdeten Welt, die jedoch »in einem Nu« durchschaut werden konnte, um in diesem Erwachen zu dem zu werden, was tatsächlich immer der Fall ist: wahre Ganzheit.
Viele sind heute mit einer »Achtsamkeit« genannten buddhistischen Aufwachpraxis vertraut. Sie reduzieren damit ihren Stress, verbessern ihren Schlaf, lindern Depressionen und Ängste, tun etwas für ihre Gesundheit, steigern ihre Produktivität, helfen ihren Beziehungen auf die Sprünge und was dergleichen Selbstoptimierungsziele mehr sind – und das darf ja auch so sein. Es gibt wissenschaftlich bestätigte Anhaltspunkte dafür, dass Achtsamkeit all dies tatsächlich leistet. Doch das ist nicht die ursprünglich damit verbundene Absicht. Ursprünglich ging es bei der Achtsamkeitspraxis um die unmittelbare Erfahrung Gottes. Anders gesagt, man wollte die alte mythische Gottesvorstellung fallen lassen und mittels Achtsamkeit die reine nonduale Ganzheit realisieren, das Bewusstsein der Einheit mit dem Grund allen Seins, ein Nirwana des unendlichen bruchlosen Einsseins und der Leidensfreiheit anstelle einer illusorischen und chronisch leidbehafteten, unzusammenhängenden Samsara-Welt.
Zu dem, worum es beim Erwachen überhaupt geht, sagen solche Systeme des Aufwachens zweierlei, nämlich dass jeder immer schon im Vollbesitz des erleuchteten oder voll erwachten Geistes beziehungsweise der reinen Ganzheit ist und dass zweitens so gut wie niemand davon weiß. Deshalb heißt es in den meisten dieser großen meditativen Traditionen, dass man nichts tun kann, um das Erwachen, die Erleuchtung oder die Befreiung zu »erlangen«, da sie immer schon gegeben ist und man sich etwas Gegebenes nicht noch eigens verschaffen kann. »Erleuchtung erlangen« ist ungefähr so sinnlos, als wollte man »eine Lunge erlangen« oder »Füße erlangen«. Aber man erkennt diesen nie absenten erleuchteten Geist sofort, wenn einen jemand darauf hinweist. (Wir sprechen hier von »Winken« oder »Hinweisen« und Sie werden in diesem Buch vielen dieser Winke und Hinweise begegnen, die Ihnen erlauben, diese Dinge selbst unmittelbar zu sehen und zu erfahren.)
Die schiere Offensichtlichkeit der Ganzheit in jedem dieser fünf Bereiche ist wirklich verblüffend, wenn sie einem dann tatsächlich vor Augen geführt wird. Ebenso erstaunlich ist aber, dass keine dieser Ganzheiten die übrigen enthält. Das bedeutet, dass Sie die Ganzheit eines dieser Aspekte voll erfasst haben können, aber die Ganzheit bei den übrigen einfach nicht sehen. Das gilt sogar für das höchste Ganzheitsbewusstsein des Erwachens. Sie können ein großes Aufwachen erlebt haben und dennoch ahnungslos bleiben, was das Aufwachsen, Aufräumen, Aufmachen oder Auftauchen betrifft. Oder Sie üben sich zwar im Auftauchen, haben aber keinen Schimmer, was das Aufwachen angeht. Oder Sie räumen wacker auf, wissen jedoch nichts vom Aufwachsen. Hinzu kommt noch, dass sich alle diese Arten der Ganzheit auf verschiedenen Wegen entwickeln, und zwar sehr weitgehend eigenständig, sodass Sie auf einem bestimmten Gebiet schon viel erreicht haben können, während Sie auf anderen noch bei den Anfangsgründen sind. Diese Dinge sind wie Äpfel und Birnen (und Orangen, Pfirsiche und Limetten) also untereinander sehr verschieden und doch zusammen eine atemberaubend große Ganzheit.
Dann gibt es aber auch ein paar Dinge, die einfach zu tun sind, damit man auch nur eine dieser Ganzheiten zu sehen bekommt. Vieles davon ist uns vielleicht in die Wiege gelegt, aber die bewusste Wahrnehmung dieser Dinge gehört eben nicht dazu. Sie sind darauf angewiesen, dass auf sie hingedeutet wird. Wenn das nicht geschieht, dürfte es nicht gar so viel Ganzheit in Ihrem Leben geben – und irgendwie wissen Sie das. Und selbst wenn ein bisschen Ganzheit vorhanden ist, wird es überschaubar sein und ließe sich enorm steigern.
Genau dabei soll Ihnen dieses Buch zur Seite stehen. Es wird Ihnen die fünf Arten der Ganzheit vor Augen führen – einer Ganzheit, von der Sie genau jetzt vollkommen durchtränkt sind. Wir werden die fünf Erscheinungsformen der Großen Ganzheit durchgehen, die Sie im Aufwachen, Aufwachsen, Aufmachen, Aufräumen und Auftauchen finden können, und wir werden ein weiteres Gebiet hinzufügen, das Sie bei alldem unterstützen kann. Wir sprechen hier vom »integralen sexuellen Tantra«, bei dem die Sexualität ganz direkt als Mittel zum Erwachen eingesetzt wird. Auf jedem dieser Gebiete erwartet Sie eine wichtige und charakteristische Form der Ganzheit. Und das Erstaunliche daran ist, dass die reale Ganzheit allgegenwärtig und trotzdem so gut wie nicht zu erkennen ist. Sie ist wirklich der Deus absconditus, der »verborgene Gott« oder Geist2 – die verborgene Ganzheit, die nicht erscheint und nicht offensichtlich ist, als legte es Gott darauf an, uns nicht sichtbar zu sein.
In der heutigen Welt sind praktisch alle fünf Arten der Ganzheit nach wie vor offene Geheimnisse und deshalb finden wir so wenig Ganzheit in der Welt, die entsprechend zersplittert und polarisiert ist. Die Welt setzt sich nicht aktiv mit auch nur einer fünf Haupttypen der Ganzheit auseinander. Man kann also behaupten, es herrsche ein großer Mangel an Ganzheit oder, wie man auch sagen könnte, an Geist. »Ganzheit« und »Geist« sind in der Art, wie ich diese Begriffe verwende, weitgehend synonym.3 Man kann von der heutigen Welt wohl sagen, sie sei an vielen Stellen stark religiös – aber sehr spirituell ist sie eigentlich nirgendwo, dafür herrscht einfach nicht genügend Ganzheit.
Dieser Mangel an Ganzheit ist ein Mangel an Geist und deshalb tut sich die heutige Welt so schwer, allem Raum zu bieten oder überhaupt irgendetwas Raum zu bieten. Vielleicht sehen Sie Ihr eigenes Leben auch davon betroffen in dieser überfüllten, beengten, grapschenden, klaustrophobischen Welt. Alles rumpelt mit allem zusammen, die Leute schubsen sich rücksichtslos beiseite, um mehr Platz für ihre Meinungen, Anschauungen und Ideen freizuräumen. In den sozialen Medien geht es besonders hoch her, wenn die Leute so laut, so bösartig und gemein übereinander herziehen, wie es nur eben geht. Allem Raum bieten – genau damit tun sich die Menschen heute ganz besonders schwer. Sie haben zu wenig Platz, ihr persönlicher Raum ist überfüllt und voller Eindringlinge und alle japsen und schreien aus Leibeskräften nach mehr Raum.
Wenn Sie jedoch die genannten Arten der Ganzheit hier und jetzt präsent haben, wird Ihre Welt geräumig und weit. Es ist, als expandierten Sie selbst und Ihr Bewusstsein, und plötzlich ist reichlich Platz für alles in Ihrem Leben. Alles gibt seinen Sinn und Zweck zu erkennen und Ihr Leben ist zutiefst davon durchdrungen. Sobald Sie die Große Ganzheit in Ihrer eigenen kleinen Welt erkennen, wissen Sie genau, wo Sie hingehören und wo Ihr Platz ist, und auch Ihr Stellenwert in dieser Ganzheit liegt dann offen zutage. Er besteht darin, dass Sie letztlich eins mit dieser »ganzen Ganzheit« sind. Bis dahin breitet sie sich rings um Sie herum aus, bleibt jedoch unbemerkt und ist deshalb nicht aktiv genug, um auch Ihnen selbst etwas von ihrer Geräumigkeit zukommen zu lassen.
Die Welt erscheint tatsächlich überfüllt und eng, so voll und so voller Grenzen und Sie eingekeilt in dieser drangvollen Enge. Wenn Sie jedoch die Ganzheit erkennen, die wahre Große Ganzheit, die sich ringsum endlos erstreckt, leben Sie in einer neuen Welt. Und diese Welt bietet wirklich allem Raum, sie hat nichts Künstliches, sie täuscht nichts vor. Diese tiefe und weite Ganzheit, die Sie entdeckt haben und die von da an so lebhaft real ist wie eine Fahrt im Riesenrad, weitet sich und bezieht alles ein, was innen und außen neu auftaucht, und macht Sie zugänglich für all das, und zwar ohne Stress, ohne Anstrengung, ohne Reibereien, ohne Einschränkungen. Besonders oft höre ich von Leuten, denen diese erstaunliche Entdeckung gelungen ist: »In diesem Einssein mit allem hatte ich das Gefühl, zum ersten Mal richtig durchatmen zu können – obwohl es mir praktisch mein Leben lang direkt ins Gesicht gestarrt hatte.« So, denke ich, wird es auch für Sie sein, wenn Sie allem Raum bieten können, und Sie selbst werden sich darin frei und ungehindert bewegen können, während Sie alles in Ihrem Leben freudig umarmen. Nichts von dem, was Sie nicht selbst in der Hand haben, wird Sie dann noch herumschubsen können, sondern Sie sind eins mit dem Universum und nehmen alles vollkommen an, als wäre es Gott selbst, und genauso wird es sein, weil Sie Gott jetzt als vollkommene Ganzheit sehen. Sie werden ganz und gar »spirituell und nicht religiös« sein, man könnte auch sagen: so ganz, wie es sich ein Mensch nur wünschen kann.
Wenn Sie möchten, können wir uns jetzt auf diese erstaunliche Entdeckungsfahrt machen.
1 Aufwachen – Eine Einführung
Fangen wir mit der mitreißenden Ganzheit des Aufwachens an. Es ist eine unabdingbare Grundvoraussetzung für alle, die sich eine tiefe und umfassende, ja absolute Erfahrung der Ganzheit wünschen. Das Aufwachen ist nach meiner Einschätzung von größerer und tieferer Bedeutung für den Lauf der Menschheitsgeschichte gewesen als jede andere Erfahrung, die wir je gemacht haben. Vor dem Hintergrund, dass »die Masse der Menschen ein Leben in stummer Verzweiflung« führt, wie Henry David Thoreau formulierte, bietet sich das Aufwachen als etwas an, das alle Menschen in Ost und West nutzen können, die sich ein authentischeres, ein vitales, erleuchtetes oder eben erwachtes Leben wünschen, dem ein absoluter oder höchster Sinn innewohnt, weil es unmittelbar an den Grund des Seins angeschlossen ist – eindeutig kein Mythos, sondern unmittelbare Erfahrung.
Dieses Erwachen ist den Menschen seit Jahrtausenden bekannt, seine Ursprünge liegen vielleicht sogar zwanzigtausend Jahre zurück bei den Schamanen der Frühzeit, die auf ihren Reisen in die Ober- und Unterwelten schon so etwas wie spirituelle Erweckungserfahrungen machten und das erlebten, was heute als »nonduale« Ganzheit bezeichnet wird. Im Laufe der weiteren Entwicklung der Menschheit durchliefen wohl auch diese spirituellen Erweckungserfahrungen eine Entwicklung, die zu einer tieferen und vielgestaltigeren Form der Spiritualität führten.
Was ich jetzt über verschiedenartige spirituelle Erfahrungen sagen werde (ich könnte auch die altmodische Bezeichnung »religiöse Erfahrung« im Sinne einer überwältigenden Erfahrung von Ganzheit beibehalten), wird Ihnen vielleicht sehr abgehoben, wenn nicht gar überzogen erscheinen, und ich kann Sie hier nur bitten, einfach erst einmal wohlwollend mitzugehen und möglichem Argwohn oder Widerwillen gegenüber solchen Vorstellungen nicht sofort stattzugeben. Was die Einschätzung solcher Erweckungserfahrungen angeht, sind die Menschen mit der Zeit auf profunde Methoden der Bestätigung oder Zurückweisung gestoßen. Solche »spirituellen, aber nicht religiösen« Erfahrungen begründen eine Art innere Wissenschaft, die nicht einfach so auf Treu und Glauben oder gar als Dogma akzeptiert werden soll, sondern sich stets auf unmittelbare Erfahrung und Evidenz beruft, sodass niemand aufgefordert wird, etwas zu glauben, was nicht durch eigene Erfahrung zweifelsfrei bestätigt wurde. Ich werde Ihnen im weiteren Verlauf Beispiele für diese wissenschaftliche Verifikation vorstellen. Sie werden nicht angehalten werden, sich etwas zu eigen zu machen, was Sie nicht wirklich selbst erlebt haben.
Im Augenblick und im Zuge der Einführung in die Thematik des Aufwachens gilt es nur festzuhalten, dass die verschiedenen spirituellen Systeme der Welt im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende in immer tiefere, weitere und höhere Sphären der spirituellen Erfahrung vorgedrungen sind. Wir haben uns dabei zunehmend umfassendere spirituelle Bewusstseinszustände erschlossen und jeder Mensch hatte die Möglichkeit, selbst herauszufinden, was es mit diesen immer höheren Zuständen auf sich hatte, sofern er sich nur der entsprechenden und erforderlichen Experimente und Praktiken dieser inneren Wissenschaft bediente.
Grundsätzlich hatte der Weg des Aufwachens oder Erwachens ein einziges Hauptziel. Er ging vom durchschnittlichen Bewusstseinsstand »normaler« Menschen aus, dem der Ruf vorausging, engstirnig, beschränkt, voller Brüche und darüber hinaus mit Leiden, Ängsten und Zerrissenheit behaftet zu sein – eine Verfassung, für die man das Gefühl eines »gesondert existierenden Ichs« verantwortlich machte, das auch als »Ich-Kontraktion«, als »illusorisches Ich«, als »gefallenes Ich«, als »Ich-Traum« oder einfach als »Ego« bezeichnet wird –, und das alles ist nicht gerade schmeichelhaft gemeint. Das Ziel des Aufwachens durch experimentelle Praktiken wie Meditation, Kontemplation und Yoga bestand darin, das Bewusstsein von etwas Beschränktem und beklemmend Engem über etliche Stadien der Öffnung, Weitung und Befreiung in wahre Ganzheit zu verwandeln, in reines nonduales Bewusstsein einer höchsten Einheit, das heißt in kósmisches4 Bewusstsein, also die vollkommene Einheit mit dem gesamten Universum. Diese Ganzheit war nicht einfach ein religiöser Glaube oder ein theologisches Dogma, also nichts, was man einfach zu glauben hatte, sondern es war unmittelbare persönliche Erfahrung, etwas, das man zu sehen bekam, wenn man sich auf die innerlichen Experimente der Meditation oder Kontemplation einließ. (Da Meditation in erster Linie eine Praxis des direkten Gewahrwerdens und kein mythisches Glaubenssystem ist, verwende ich sie beispielhaft für etwas, das »spirituell, aber nicht religiös« ist.) Es geht hier ganz entschieden um Erfahrung und nicht um Erklärung (Letztere wird in den meisten Meditationsformen eher zum Problem als zur Lösung gezählt).
Wenn wir uns unter diesen meditativen oder kontemplativen Systemen der Welt umsehen, stellen wir fest, dass die meisten detaillierte »Landkarten« der höheren spirituellen Territorien angelegt haben und den Suchenden sehr genau beschriebene Experimente bereitstellen, mit denen sie schrittweise zur Erfahrung dieser höheren Zustände gelangen können. Dieser Weg der spirituellen Entwicklung und Verwirklichung wird »Erleuchtung«, »Erweckung« oder einfach »Aufwachen« genannt und ist ein Weg zur Verwirklichung der Ganzheit, den wir in praktisch allen großen Systemen der Meditation, der Kontemplation, des Yoga oder auch des kontemplativen Gebets in den großen Weisheitstraditionen finden.
Beachten Sie, dass wir hier nicht von Gottheiten sprechen, also nicht beispielsweise von einem alten Mann, der irgendwo im Himmel thront und unser Denken und Tun überwacht. Wir sprechen nicht von magischen oder mythischen Geschichten, religiösen Überzeugungen oder Wundern – nichts dergleichen. Wir sprechen von einem Bewusstseinszustand, einer unmittelbaren Erfahrung, bei der man sich eins mit dem gesamten Universum fühlt, eins mit allem Endlichen und Unendlichen, allem Manifestierten und Nichtmanifestierten. Diese Erfahrung nennen wir »Aufwachen«, »Bewusstsein der höchsten Einheit«, »nonduales Bewusstsein«, »göttliche Einheit« oder der »Eine Geschmack«. (Im Zen wird das »Satori« genannt. Ich werde das Wort hier immer wieder mal verwenden.) Und so unglaublich es für westliche Menschen klingen mag, die in aller Regel noch nie davon gehört haben, die Zeugnisse für diese Art von absolutem Bewusstsein sind sehr überzeugend und nicht von der Hand zu weisen. (Dazu weiter unten mehr.) Wenn Sie sich für Ihre spirituellen Überzeugungen oder generell für Ihre Überzeugungen etwas vollkommen Beweiskräftiges als Basis wünschen, dann ist es dies.
Der Weg des Erwachens ist in der gesamten Weltgeschichte die einzige Disziplin, die je von sich behauptet hat, sie habe eine höchste Wahrheit zum Gegenstand. Es hat jederzeit und überall relative Wahrheiten in Hülle und Fülle gegeben und die Wege der Befreiung (das heißt die Weisheitstraditionen, die unmittelbar und ausdrücklich mit dem Aufwachen befasst sind) bestritten diese relativen Wahrheiten nicht, die später von den Naturwissenschaften – also von Physik, Chemie, Biologie, Astronomie und so weiter – bestätigt wurden. Alle diese akademischen Disziplinen waren in den Weisheitstraditionen anerkannt und geachtet. Aber es ging hier um relative Wahrheiten (und sie erhoben auch nicht den Anspruch, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein). Sie waren mit der Realität der relativen Sphäre von Raum und Zeit befasst, die sich mit der Zeit wandelt und entwickelt. Beim Aufwachen jedoch, so der Anspruch, geht es nicht um relative, sondern um letzte oder höchste Wahrheit. Und höchste Wahrheit bezieht sich nicht auf bestimmte Formen des Seins, sondern auf das Sein schlechthin, auf den Grund des Seins, der raumlos und deshalb unendlich, der zeitlos und deshalb ewig ist, ein grundloser Grund, der absolut allen relativen Wahrheiten zugrunde liegt, aber selbst keine relative Wahrheit ist und deshalb kein Gegenstand einer Naturwissenschaft sein kann. Dieser Grund des Seins erschließt sich nur der inneren Wissenschaft der Meditation. Es herrschte Einmütigkeit darüber, dass in der tiefen Erweckungserfahrung keine relative, sondern tatsächlich eine absolute höchste Wahrheit sichtbar wurde.
Als eine Art Randnotiz: Ich würde sagen, dass mindestens neunzig Prozent der mir persönlich bekannten Menschen mit einer echten Satori-Erfahrung – darunter Ärzte, Anwälte und promovierte Geisteswissenschaftler, aber auch Kellnerinnen, Gastronomiehilfskräfte und Gärtner – das Gefühl hatten, einer höchsten Wahrheit begegnet zu sein oder zumindest etwas erlebt zu haben, was ihnen als absolute, letzte Wirklichkeit erschien. Diese Menschen selbst beschreiben ihr Aufwachen als »die sicherste Gewissheit, die ich je erlebt habe«, als etwas »unüberbietbar Reales«, als »vollkommen unabweisbar« und »höchst sinnhaltig« oder »zeitlos und unwandelbar«, um nur einige der häufigsten Beschreibungen anzuführen. Wie das bei Ihnen aussieht, werden wir im weiteren Verlauf sehen, aber halten Sie sich bewusst, dass wir später zu ganz realen Übungen kommen werden, die Ihnen ein Aufwacherlebnis ermöglichen, und Sie werden dann selbst bestimmen können, ob das Erlebte für Sie von »höchster« oder »letzter« Realität ist oder irgendwie anders bezeichnet werden muss. Fest steht aber: Wenn wir im Rahmen unserer Beschäftigung mit der Großen Ganzheit davon ausgehen, dass es ein echtes Aufwachen oder Erwachen gibt, sprechen wir von der einzigen Praxis der Welt, von der unwidersprochen gesagt wird, sie offenbare eine wirklich letztgültige Wahrheit.
Man sagt von dieser Erfahrung auch, sie werde als Einssein mit allem empfunden, mit dem gesamten Universum. Wir könnten auch sagen, die Ganzheit des Aufwachens sei so ungefähr die größte Ganzheit, die man sich überhaupt denken kann, und darüber gebe es nur noch das, was wir »Große Ganzheit« genannt haben. Kurzum, das Aufwachen stellt einen sehr erheblichen Teil der Ganzheit der Großen Ganzheit (zu der aber auch noch die vier übrigen Arten von Ganzheit gehören würden) dar. Die Große Ganzheit soll ja schließlich die Einheit von allem Endlichen und Unendlichen sein – und das ist schon etwas wirklich Großes!
Die Anzeichen des Aufwachens
Es gibt eine ganze Reihe von Quellen, die ich heranziehen könnte, um den Realitätsgehalt der Stufen oder Stadien des Aufwachens einzuschätzen. Da ist zunächst das geniale Buch The Varieties of Religious Experience von William James, der darunter auch und ganz in unserem Sinne die »Vielfalt spiritueller Erfahrung« versteht. An zweiter Stelle wäre Forgotten Truth des Religionswissenschaftlers Huston Smith zu nennen. Der Titel (»Vergessene Wahrheit«) impliziert die Aussage, buchstäblich alle großen Wege der Befreiung seien sich darin einig, dass es eine höchste Wahrheit gibt und worin sie besteht – dass es sich jedoch um eine Wahrheit handelt, die in der Neuzeit sehr weitgehend in Vergessenheit geriet. Ich beziehe mich jedoch lieber auf eine einzige Hauptquelle, damit es nicht schon an dieser Stelle zu Meinungsverschiedenheiten kommen kann. Ich spreche von Jordan Peterson, einem emeritierten Professor der University of Toronto, der zugleich ein bekannter Online-Superstar ist. Als anerkannter klinischer Psychologe hat Peterson ungezählte Stunden mit Patienten und Klienten zugebracht, die an allen möglichen psychischen Störungen litten, weshalb wir davon ausgehen können, dass er zwischen Wahn und Realität unterscheiden kann. Wir dürfen deshalb auch annehmen, dass er nicht verrückt ist und wahrscheinlich keine wirklich abwegigen religiösen Überzeugungen vertritt. An ihm scheiden sich allerdings die Geister, man verehrt ihn oder man lässt ihn links liegen, aber die meisten sind offenbar der Meinung, dass hinter seinen Ansichten in der Regel solide wissenschaftliche Forschung steht. Wir können demnach davon ausgehen, dass er für seine Sicht der Dinge einiges an anerkanntem Beweismaterial beibringen kann.
Und speziell zu unserem Thema hat Peterson einfach nur die schiere Wahrheit zu sagen: »Die überwältigende Mehrheit der Befunde besagt, dass es diese zwei Arten von Bewusstsein gibt: Ihr Bewusstsein als ein ganz bestimmtes Wesen an einem bestimmten Ort [Ihr individuelles Ich] und andererseits die Fähigkeit zu einer ozeanischen Auflösung und dem Gefühl, der ganze Kosmos sei eins [die höchste Ganzheit].«5 Peterson sagt auch: »Dass es diese beiden Bewusstseinszustände gibt, steht außer Zweifel.« Und er schließt daraus: »Die Behauptung, transzendente Erfahrung gebe es nicht, ist demnach nicht zutreffend, sie ist falsch.« Und wie hinter vorgehaltener Hand fügt er hinzu: »Sie stellt nämlich in gewisser Weise unsere Vorstellung davon, was als real gelten darf, infrage.«6
Das ist doch allerhand, nicht wahr? Diese Erfahrung des Aufwachens wurde schon immer als das Erwachen zu einer höchsten Wahrheit oder absoluten Realität – zum Grund des Seins – aufgefasst, einer Realität, die als Gegensatz zu unserer normalen Realität verstanden wird, in der wir eigentlich hauptsächlich schlafwandeln und sie trotzdem in unserer Ahnungslosigkeit als »Realität« bezeichnen. Vor dem Hintergrund dieses Traumzustands und in Abgrenzung davon bezeichnen wir dieses absolute Bewusstsein als »Aufwachen«. Und so fühlt sich auch ein echtes Satori an: als würde man aus einem Albtraum aufwachen und sich dann erleichtert sagen: »Gott sei Dank, es war nur ein Traum!« Ähnlich wacht man im Satori auf und erkennt, dass die gesamte gewohnte Welt einfach ein Traum ist – so jedenfalls fühlt es sich dann an. Das erklärt, wie diese Erfahrung zu Namen wie »Erwachen«, »Erleuchtung« oder einfach »Aufwachen« kam. Ich schließe mich Peterson also in dem Sinne an, dass die Indizien und Beweise für die Realität des Aufwachens oder des absoluten Bewusstseins, wie er es nennt, überwältigend und folglich ganz einfach unanfechtbar sind.
Die fünf Hauptstadien des Aufwachens
Die meditativen und kontemplativen Traditionen der Welt zeichnen einen Weg der meditativen Schulung vor, der ganz direkt zu diesem höchsten Bewusstsein der Einheit führt. Natürlich sind diese Stufen und Stadien in den großen Weisheitstraditionen unterschiedlich beschrieben und bezeichnet. Aber wenn wir auch nur die Hauptwege (es gibt etliche) vor uns ausbreiten, gegenüberstellen und vergleichen, finden wir ein durchgängiges Spektrum an Bewusstseinszuständen, das von der beklemmenden »Ich-Kontraktion« bis zur offenen und alles einschließenden Weite der Erleuchtung reicht. Diese Evolutionsstadien in ihrer historischen Abfolge wurden als Stufen oder Stadien zum Bestandteil der verschiedenen kontemplativen Wege (wobei manche davon mehr von diesen Stufen oder Stadien umfassten als andere und deshalb vollständiger waren; nur ganz wenige erstreckten sich über alle bekannten Hauptstadien).
Die Wege, die in der jeweiligen Tradition selbst als die beste Wahl betrachtet wurden – beispielsweise Mahamudra und Dzogchen im tibetischen Buddhismus, Advaita-Vedanta im Hinduismus, dann auch die kontemplativen Formen des Taoismus, des Neuplatonismus, der Kabbala und schließlich die kontemplativen Formen des Christentums sowie die Sufi-Tradition des Islam –, erstrecken sich zumeist über sämtliche Hauptstadien des Aufwachens. Sie brauchen sich diese Stufen und Stadien nicht einzuprägen, wir werden später alles durchsprechen, was Sie dazu wissen müssen, und vor allem werden wir uns mit Übungen befassen, mit denen Sie die beiden höchsten Stufen oder Stadien (»Zeuge« und der »Eine Geschmack«) direkt erleben können. Um Ihnen jedoch gleich einmal vor Augen zu führen, was das bedeutet, will ich Ihnen anhand eines Beispiels die Hauptstufen und Stadien des gesamten Aufwachprozesses vor Augen führen. Ich beziehe mich dabei auf neuere Forschungen auf diesem Gebiet und verwende die von Daniel P. Brown und der integralen Metatheorie entwickelte Terminologie.7
Eine vergleichende Betrachtung der meditativen Traditionen lässt fünf Hauptstufen erkennen. Die erste, mit der die meisten Leute beginnen, hat mit dem Ich und seinem vordergründigen Denken zu tun, diesem pausenlosen inneren Plappern, dem »Affengeist«, bei dem die Gedanken hin und her zu springen scheinen. Viele Traditionen bezeichnen das einfach als »Wachzustand« und damit ist der gewöhnliche oder übliche, aber eben illusorische Zustand des Wachbewusstseins gemeint, im integralen Sprachgebrauch der grobe, grobstoffliche oder gewöhnliche Zustand. Fast alle großen meditativen Traditionen sehen diese vom Ich geprägte Verfassung als direkte Ursache sämtlicher mit dem Menschsein (zumindest seiner »verdorbenen«, unwissenden oder unerleuchteten Seite) verbundener Schmerzen und Leiden. Deshalb wollen sie den Menschen zuerst und vor allem helfen, diesen beschränkten, niederen, üblen, tückischen Affengeist zu überwinden, der den Naturzustand des Menschen darzustellen scheint und der ihm nach Thomas Hobbes’ klassischer pessimistischer Beschreibung ein »einsames, armseliges, ekelhaftes, tierisches und kurzes« Leben beschert.
Das Überwinden oder Transzendieren dieses erbärmlichen und erbarmungslosen Zustands setzt mit der zweiten Stufe ein, die Brown als »bewusste Wahrnehmung« oder »Gewahrsein« bezeichnet, weil es hier eine Bewegung vom groben vordergründigen Denken hin zu einer gedankenfreien Bewusstheit gibt, die Brown »subtile Persönlichkeit« nennt. Im integralen Sprachgebrauch ist das die »subtile Stufe«, die sich durch eine gewisse Leuchtkraft der subtilen Persönlichkeit auszeichnet (bei der es sich nach integraler Auffassung nicht um die Ich-Person, sondern um die Seele handelt). Hier beginnt die Weitung des Ich-Gefühls über die Enge und Beschränktheit des hautumspannten Ichs hinaus und hin zur obersten, allumfassenden Identität des höchsten Zustands (von Shunryu Suzuki Roshi als »Big Mind« bezeichnet).
Die dritte Stufe heißt bei Brown »Bewusstheit als solche«, weil es sich um reines Bewusstsein handelt, dem nichts mehr von groben oder subtilen Phänomenen anhaftet und das direkt an die räumlich-zeitliche Grundmatrix des Universums angeschlossen ist. In der integralen Sprache ist dies die »archetypische« und »kausale Stufe«. Der kausale Zustand ist manchmal in der reinen formlosen Stille zwischen den Gedanken erahnbar. In manchen Traditionen gilt auch, dass jeder den kausalen Zustand nachts im traumlosen Tiefschlaf erlebt, eine gänzlich formlose Verfassung, in der wir direkt an das reine Bewusstsein ohne Objekte, Gedanken oder Ideen angeschlossen sind – und das macht den Schlaf so erfrischend.
Brown bezeichnet die vierte Stufe als »grenzenloses unwandelbares Bewusstsein« – und schon am Namen erkennt man, dass es sich um einen wirklich bedeutenden Schritt handelt. Es ist ein reines Bewusstsein ohne Objekte, in der integralen Terminologie mit dem Begriff Turiya aus dem Advaita-Vedanta bezeichnet. Wörtlich bedeutet dieser Sanskritbegriff »der Vierte«, nämlich der vierte Hauptzustand des Bewusstseins nach »grob«, »subtil« und »kausal«. Stadium 4 ist das reine, zeitlose Zeugebewusstsein, ein reines Ich-Bin von nie unterbrochener Bewusstheit ohne jeden Inhalt. Wir werden später sehen, was dieser Zustand letztlich ist und weshalb er die wahre Bedeutung des Begriffs »Ewigkeit« enthält. Ewigkeit ist nämlich keine »sehr, sehr lange Zeit«, sondern ein ausdehnungsloser Punkt, ein zeitloses Jetzt, das nicht schwer zu realisieren, sondern im Gegenteil unausweichlich ist. Das Zeugebewusstsein zählt in den meditativen Traditionen zu den höchsten Zuständen – und wie bereits gesagt, werden wir uns ihm mit geeigneten Übungen annähern, damit Sie selbst sehen können, was es damit auf sich hat.
Die fünfte und höchste Stufe ist bei Brown das »nonduale erwachte Bewusstsein«, im integralen Sprachgebrauch mit dem Advaita-Begriff Turiyatita bezeichnet, wörtlich »jenseits von Turiya«. Gemeint ist damit reine nonduale »Soheit« oder »Diesheit«, ein höchstes Bewusstsein der Einheit. Man spricht hier gern vom »Einen Geschmack«, von vollkommenem Einssein oder eben von Nondualität. Die unmittelbare Erfahrung dieses nicht mehr steigerbaren Zustands wird mit Ausdrücken wie »Erleuchtung«, »Erwachen«, »Metamorphosis«, »Fana«, »Moksha«, »Satori«, »große Befreiung« und »höchste Identität« umschrieben. Es ist ein Zustand, in dem ich wirklich eins mit allem bin, reines nonduales Einssein. »Nondual« bedeutet wörtlich »nicht zwei«, die Erfahrung des Einen Geschmacks, ein absolutes Bewusstsein, für dessen Existenz so unendlich viel spricht, dass es wirklich »unanfechtbar« ist.
Und wie gesagt, wir werden Übungen für die Realisierung dieses höchsten Zustands machen und Sie werden sich selbst davon überzeugen können, ob es ihn gibt und ob er wirklich so etwas wie die höchste Wahrheit repräsentiert. Beachten Sie bitte, was mit dieser Behauptung eigentlich gesagt ist, dass wir zusammen Übungen zur Verwirklichung des höchsten Zustands machen werden. Das bedeutet nämlich, dass viele der Wesensmerkmale der genannten fünf Hauptstufen des Bewusstseins im Prinzip gleich jetzt erlebt werden können. Sie sind zwar zu einer aufsteigenden Reihe (von »grob« bis zum »Einen Geschmack«) angeordnet und erschließen sich im Rahmen einer Meditationspraxis im Allgemeinen über diese Stufen, doch da es sich tatsächlich um reale Stufen oder Stadien handelt, besitzen sie etwas Allgemeingültiges – auch Säuglinge wachen (»grob«), träumen (»subtil«) und erleben traumlosen Tiefschlaf (»kausal«) – und sind somit auf so gut wie jeder Stufe des Aufwachsens erlebbar, was ja bedeutet, dass es gleich jetzt sein könnte. Kurz, lassen Sie sich diese Aufwachübungen auf keinen Fall entgehen!
Aber Sie brauchen sich diese Stufen und Stadien jetzt nicht einzuprägen. Alles, was Sie wissen müssen, besprechen wir später noch. Halten Sie aber schon mal fest, dass wir diese Hauptstufen in wechselnder Gestalt und Anordnung praktisch überall in den großen Traditionen als Stufen der Meditation antreffen. Die Anzahl ist nicht überall die gleiche, aber bei näherem Hinschauen fallen einem die Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen auf: die sieben inneren Wohnungen bei Teresa von Ávila, die acht Stufen des Bewusstseins im Yogachara, die Stufen der Kontemplation bei Johannes vom Kreuz, die zehn Sefirot der Kabbala, Patanjalis Zustandsstufen in seinem Yoga-Sutra, die zehn »Ochsenbilder« des Zen-Buddhismus, die fünf Hauptstufen der Sufis und schließlich die von Evelyn Underhill genannten fünf Hauptstufen der mystischen Entwicklung. Die Anzahl der Entwicklungsstufen, und zwar beim Aufwachen wie beim Aufwachsen, schwankt zwar von Modell zu Modell, aber wir erkennen überall das gleiche Grundmuster von fünf Stadien: grob, subtil, kausal, Zeuge und der Eine Geschmack.
Alle diese Stufen, so heißt es, manifestieren sich auch im Normalbewusstsein. So gilt im hinduistischen Vedanta und im Vajrayana des tibetischen Buddhismus, dass die grobe Stufe im gewöhnlichen Wachbewusstsein auftritt, der subtile Zustand im Traumbewusstsein, der kausale im traumlosen Schlaf. Turiya, das durchgängige Zeugebewusstsein, ist im Alltagsgeist gegenwärtig und ihnen allen liegt das absolute Nonduale zugrunde. Damit haben wir hier alle natürlichen Hauptzustände des Bewusstseins vereinigt: Wachzustand, Traum, Tiefschlaf, Zeuge und der Eine Geschmack.
Diese Hauptzustände des Bewusstseins finden sich dann als die Stufen und Stadien der Meditation wieder, weil die Identität eines Menschen üblicherweise zunächst ganz vom ichlastigen Wachzustand beherrscht ist. Mit zunehmender Meditationserfahrung durchläuft man dann nach und nach alle Stufen und Stadien bis hin zum Erwachen des Bewusstseins der höchsten Einheit. Diesen ganzen Ablauf fasse ich unter dem Begriff »Aufwachen« zusammen.
Ewigkeit und Unendlichkeit
Wir werden wie gesagt insbesondere die beiden höchsten Zustände des Aufwachens betrachten, die Stufe des Zeugen und des Einen Geschmacks, und dazu Übungen machen (siehe Kapitel 16), mit denen Sie beide Zustände unmittelbar erfahren können. Im Moment möchte ich jedoch noch auf zwei Begriffe eingehen, die in so gut wie allen Religionen und spirituellen Systemen irgendwann zur Sprache kommen, die aber von den meisten Menschen haarsträubend missverstanden werden: »Ewigkeit« und »Unendlichkeit«. Leider ist vom Aufwachen vor allem in religiösen Zusammenhängen die Rede, weil das Phänomen in den mythisch-religiösen Phasen der Bewusstseinsentwicklung erstmals sichtbar wurde. Sie werden den Begriffen »Unendlichkeit« und »Ewigkeit« deshalb immer wieder begegnen und ich möchte, dass Sie wissen, was hier darunter verstanden wird. »Ewigkeit« bezeichnet keine sehr, sehr lange Zeit und »Unendlichkeit« keinen sehr, sehr großen Raum. Genau das sind sie gerade nicht.
Fangen wir mit der Ewigkeit an. Für die meisten ist das eine endlose Zeitspanne, die immer und immer weitergeht und niemals endet. Aber wenn Ewigkeit wirklich so wäre, wie könnte man dann eine ewige spirituelle Wirklichkeit erfahren? Dafür müsste man dann ja endlos lange leben und nach allem, was wir wissen, ist damit nicht zu rechnen. Wenn also ein spirituelles Erwachen als Erfahrung einer ewigen Wirklichkeit beschrieben wird und »Ewigkeit« so viel wie »endlose Zeit« bedeutet, könnte es kein Erwachen geben. Hier stimmt also etwas ganz und gar nicht.
Zum Glück hat diese verzwickte Angelegenheit eine ganz einfache Lösung. »Ewigkeit« bedeutet eben nicht »immerwährende Zeit«, sondern bezeichnet einen Punkt ohne Zeit. Zeitlosigkeit. Wenn Ewigkeit aber Zeitlosigkeit ist, ein Punkt ohne zeitliche Ausdehnung, findet alle Ewigkeit bequem in jedem Augenblick Platz. Und wenn Ewigkeit Zeitlosigkeit ist, besteht kein Konflikt oder Widerspruch zwischen Ewigkeit und Zeit, sondern die zeitlose Ewigkeit findet in ihrer Gesamtheit Platz in jedem Moment der Zeit. Das bedeutet, dass Ewigkeit stets gegenwärtig ist. Da Ewigkeit zeitlos ist, ist sie zur Gänze an jedem Punkt der Zeit präsent. Eben jetzt ist Ihnen die Ewigkeit zu hundert Prozent zugänglich, nicht fünfundneunzig, nicht neunundneunzig Prozent, sondern alles, das Ganze – und eben jetzt. Vielfach ist hier vom »zeitlosen Jetzt« (beziehungsweise »Nun«) oder von »reiner Gegenwart« die Rede. Eben weil Ewigkeit in Wahrheit zeitlos ist, findet sie in ihrer Gesamtheit in jedem einzelnen Augenblick Platz, in jedem zeitlosen Jetzt. Und das bedeutet, dass Sie genau jetzt Zugang zum ewigen Leben haben, zu seiner Gesamtheit.
Die Erfahrung von Ewigkeit bedeutet also wirklich nicht, dass Sie für immer und ewig leben müssen. Es bedeutet auch nicht, dass Sie irgendeinen ein für alle Mal feststehenden Glauben an mythische Ereignisse annehmen müssen, etwa dass Elia in einem feurigen Wagen zum Himmel aufstieg, Lots Frau zur Salzsäule erstarrte oder Sie nach dem Tod ein endloses Leben in einem himmlischen Jenseits führen werden. Ich möchte nicht, dass das Aufwachen mit derlei in Verbindung gebracht wird, und Sie sollen nicht die Sorge haben müssen, dass Ihnen hier so etwas blüht. Zum Zeugen für die nüchterne Realität der Ewigkeit möchte ich den nüchternsten Philosophen des Abendlands anrufen, Ludwig Wittgenstein. In jungen Jahren war er so sachlich, kühl und klar, wie man nur sein kann, und in seinem Tractatus logico-philosophicus begründete er mehr oder weniger als Einzelkämpfer den logischen Positivismus, der ebenfalls von schier unüberbietbarer nüchterner Klarheit ist. Im Tractatus gelingt ihm die perfekte Definition der Ewigkeit. Lesen Sie bitte sehr genau, das ganze Problem ist hier wirklich gelöst: »Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt.«8
So sehe ich das auch. Und es bedeutet, dass Sie eben jetzt Zugriff auf das ewige Leben haben – und zwar nur
