Der italienische Geliebte - Judith Lennox - E-Book
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Der italienische Geliebte E-Book

Judith Lennox

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Beschreibung

Italien in den frühen 1930ern: In der Villa Millefiore bei Fiesole erleben die englischen Schwestern Tessa und Freddie Nicolson eine ungetrübte Jugend. Nach dem unsteten Künstlerdasein und dem frühen Tod des Vaters hat die Mutter mit ihren beiden Töchtern hier eine Heimat gefunden - und in der gut situierten Familie Zanetti enge Freunde. Als die 17-jährige Tessa sich zum ersten Mal verliebt und eine leidenschaftliche Beziehung mit Guido Zanetti eingeht, werden die Mädchen nach England ins Internat geschickt. Jahre vergehen, in denen die beiden Frauen ihren Weg machen: Freddie fasst als Redakteurin bei einer Zeitschrift in London Fuß, die anziehend schöne Tessa kann sich als Mannequin ein ausgelasseneres Leben leisten. Anders als ihre Schwester weiß Tessa, dass sie eines Tages nach Italien zurückkehren will. Sie scheut sich jahrelang vor einer festen Bindung und droht darüber alles zu verlieren, was sie liebt. Als Italien sich im Zweiten Weltkrieg Deutschland anschließt, wird Tessas lange erträumte Rückkehr zu einem gefährlichen Unterfangen. Und auch Freddie begräbt ihre Sehnsüchte viel zu lang …

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Impressum

Mehr über unsere Autoren und Bücher: www.piper.de

Für Luke und Ethan: willkommen im Leben

Übersetzung aus dem Englischen von Mechtild Sandberg

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 1. Auflage 2011

ISBN 978-3-492-95036-7

© Judith Lennox 2010

© Piper Verlag GmbH, München 2011

Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München

Umschlagabbildung: Trevillion Images / Yolande de Kort

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing, Leipzig

Prolog

Sommer in der Villa Millefiore

1933

Eigentlich sollten sie ruhen. Mama und Mrs. Hamilton waren der Meinung, es sei gesund, sich nach dem Mittagessen hinzulegen. Tessa hielt es für reine Zeitverschwendung. Sie nahm ihren Strohhut und ging hinaus.

Die Villa Millefiore war zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts erbaut worden. Der Verputz auf ihren Mauern war zu einem weichen Ocker verblasst; hinten überrankten Glyzinien und wilder Wein die Hauswand. Im Vestibül mit dem Marmorboden war es selbst an den heißesten Tagen dunkel und kühl. Seine Türen standen im Sommer stets offen, damit die Luft zirkulieren konnte.

Tessa war siebzehn. Sie lebte mit ihrer Mutter Christina und ihrer zwölfjährigen Schwester Frederica seit vier Jahren in der Villa, seit dem Tod ihres Vaters, Gerald Nicolson. Nie hatten sie länger an einem Ort gewohnt. Gerald Nicolson war Künstler gewesen, Maler, und seine ewige Jagd nach Anerkennung und Erfolg hatte die Familie von Ort zu Ort getrieben. Nach seinem Tod hatte Mrs. Hamilton ihre wesentlich jüngere Freundin Christina mit ihren Töchtern zu sich in die Villa eingeladen. Und irgendwie waren sie geblieben. Bei ihrer Ankunft fanden Tessa und Freddie die massigen dunklen Schränke, die kleinen vergitterten Fenster und die Schreie der Eulen aus dem nahe gelegenen Wald so gruselig, dass sie sich für ein gemeinsames Zimmer entschieden.

Mrs. Hamilton war Engländerin und mittlerweile gut über sechzig. Es wurde gemunkelt, dass ihr Mann England nach einem Fehltritt mit einem gut aussehenden Kammerdiener verlassen musste. Die Ehe der Hamiltons war eine sogenannte weiße Ehe gewesen, einzig geschlossen, um den Schein zu wahren, und das Paar hatte keine Kinder. Nach dem Tod ihres Mannes war Mrs. Hamilton in der riesigen, weitläufigen Villa an einem Hügelhang mit Blick auf Fiesole geblieben und gab Lunchgesellschaften für die in Florenz ansässigen Engländer, bei denen eine dünne Suppe gereicht wurde und hinterher ein Eintopfgericht zweifelhaften Ursprungs.

Der verstorbene Mr. Hamilton war Kunstsammler gewesen, zum Nachteil seiner verarmten Witwe allerdings kein kluger. Die Villa steckte voll bizarrer Schätze, die sich nicht zu Geld machen ließen, unter anderem gab es da die überlebensgroße Marmorbüste eines Jünglings mit abgebrochener Nase, das Porträt eines jungen Mandolinenspielers, dessen Instrument mit bunten Bändern geschmückt war, die gerahmte Fotografie eines Papageis, auf die jemand mit verblassender Tinte ›Darling Bobo, ein Freund in widrigen Zeiten‹ geschrieben hatte. Die Repräsentationsräume der Villa zeigten sich in verblichener Pracht. Die Seidenbezüge der Sofas waren zerschlissen, die Damastvorhänge an den Fenstern von Motten durchlöchert, von den mit allegorischen Fresken geschmückten Wänden blätterte die Farbe. Ein Netz von Sprüngen zog sich über die hohen Zimmerdecken, und manchmal fielen, von einer Staubwolke begleitet, ganze Stuckbrocken herab. In den abgelegenen Teilen des Hauses hatte der Verfall schon über die Pracht gesiegt. Jahrelang unbenutzt und vom Hausmädchen übergangen, schienen die Räume sich mit der weichen Staubdecke, die sich über sie gelegt hatte, arrangiert zu haben.

Von der Terrasse hinter dem Haus konnte Tessa die im Hitzedunst schimmernden Terrakottadächer und -kuppeln von Florenz erkennen. Später, gegen Abend, würde das Läuten der Kirchenglocken den Hang hinauf zur Villa getragen werden. Tessa lief die Steintreppe hinunter und schlug einen Fußweg ein, zu dessen Seiten Buchsbaum und Zypresse eine dichte Mauer bildeten. Auf der einen Seite des Parks waren der Gemüsegarten und eine Obstpflanzung; auf der anderen stand ein von Lorbeer umgürteter Steineichenwald. Hinter dem Park dehnten sich Weingärten und Olivenhaine, die früher zur Villa gehört hatten, inzwischen aber längst verkauft worden waren, um die Rechnungen zu bezahlen.

Tessa liebte den Park der Villa Millefiore. Hinter jeder Biegung, hinter jedem Torbogen konnte man auf Außergewöhnliches stoßen – eine Pfingstrosenallee, eine Rabatte mit riesigen weißen Lilien, von dicken bronzefarbenen Faltern wie Kolibris umschwirrt, oder einen Teich mit golden glitzernden Karpfen und einem muschelförmigen Springbrunnen, der Wassergarben zum Himmel warf. Überall begleitete einen der Klang des Wassers, das in einem glatten Vorhang vor der Seejungfrau in ihrer Grotte herabfiel, durch schmale Kanäle eilte und sich schließlich in einem tiefen runden Becken sammelte, wo ein steinernes Meeresungeheuer mit gerolltem schuppigem Schweif es immer von Neuem ausspie.

Tessa zog ihre Sandalen aus und lief barfüßig die Mauer rund um das Becken entlang. Statuen schmückten das Rondell. Es waren Musen oder Nymphen, Tessa konnte sich nicht erinnern. Geraffte Marmorgewänder, die sie mit zierlichen Fingern vergeblich festzuhalten suchten, enthüllten weiße Brüste und runde Gesäße. Tessa fand ihre Gesichter dümmlich und langweilig.

Unter dem Sommerkleid hatten sie ihren Badeanzug an. Sie zog sich das Kleid über den Kopf und ließ es auf die Mauer fallen. Dann sprang sie kopfüber ins Wasser.

Das Becken war tief, um die sechs Meter oder so. Mrs. Hamilton hatte ihr erzählt, dass die Menschen im Haus in Zeiten der Dürre das Wasser aus dem Becken getrunken hatten. Tessa konnte nur hoffen, dass sie es vorher abgekocht hatten, es war schlierig von Wasserlinsen. Sie musste immer ohne Nachdenken, wie aus dem Impuls heraus, hineinspringen, um das Grausen vor den glitschigen Fäden, die sich zwischen ihre Finger und Zehen setzten, gar nicht erst aufkommen zu lassen. Unter der Oberfläche war das Wasser von einem tiefdunklen trüben Grün. In der Mitte stand die Steinsäule, die das Seeungeheuer trug. Beim letzten Besuch der Zanettis hatten sie ein Wetttauchen ausgetragen, um zu sehen, wer die meisten Runden um die Steinsäule schaffte, ehe er wieder Luft holen musste. Guido hatte gewonnen; sie sah ihn vor sich, ein geschmeidiger dunkler Körper, der unter Wasser dahinschoss.

Die Zanettis – der zweiundzwanzigjährige Guido, sein achtzehnjähriger Bruder Alessandro und seine Schwester Faustina, mit vierzehn die Jüngste – waren Freunde der Nicolsons und der Hamiltons. Guidos Vater Domenico war der Geliebte von Tessas Mutter. Guido hatte das Tessa letztes Jahr erzählt, und Tessa wiederum hatte es Freddie erzählt. Beide gönnten ihrer Mutter diese Beziehung. Mit Domenico Zanetti war sie glücklich, während sie an der Seite ihres Vaters, der sehr jähzornig und scharfzüngig gewesen war, oft gelitten hatte. Tessa, die ihre Mutter sehr liebte, war immer besorgt um sie.

Domenico Zanetti war Eigentümer einer Seidenmanufaktur im San-Frediano-Viertel von Florenz. Seine Frau Olivia hatte ein langes Gesicht und einen flachen Busen. Ihre braunen und beigefarbenen Kleider und Kostüme waren gediegen, saßen aber nie richtig auf ihrem langen, dünnen Körper – immer schlug der Stoff irgendwo Falten, wo keine sein sollten. Wenn man Tessa gefragt hätte, so hätte sie weiches Lachsrosa oder vielleicht ein helles Seegrün vorgeschlagen, Töne, die Olivias gelblichem Teint etwas mehr geschmeichelt hätten. Tessa vermutete, dass Guido ihr die Geschichte zwischen ihrer Mutter und seinem Vater verraten hatte, um sie zu schockieren – aber das war ihm nicht gelungen. Inmitten der schillernden Gemeinde von Malern und Poeten aufgewachsen, die aus dem bedrückenden Grau ihrer nördlichen Heimat nach Italien geflohen waren, war sie kaum noch zu schockieren.

Erst als sie das Gefühl hatte, gleich würde ihre Lunge bersten, schwamm sie wieder zum smaragdgrünen Licht hinauf und schnappte gierig nach Luft, sobald sie die Wasseroberfläche durchstoßen hatte. Danach ließ sie sich mit geschlossenen Augen auf dem Wasser treiben. Am Abend würden sie mit den Zanettis zusammen essen. Sie würde ihr neues lila Seidenkleid anziehen und Freddie das mandelblütenfarbene. Domenico Zanetti hatte ihrer Mutter die Stoffe geschenkt, die in den Zanetti-Werkstätten gewoben worden waren, und sie und Tessa hatten gemeinsam die Kleider genäht. Tessa liebte schöne Kleider, verschlang jede Modezeitschrift, die ihr in die Hand fiel und war eine geschickte Schneiderin. Sie beschloss, ihre Mutter zu überreden, sie an diesem Abend den Wakeham-Granatschmuck tragen zu lassen. Das Collier hatte ihrer Urgroßmutter gehört und war eines der wenigen Schmuckstücke, die Christinas Ehe mit Gerald Nicolson überlebt hatten. Tessa liebte die Granate, sie würden ganz wunderbar zu ihrem neuen Kleid passen.

»Du hast Wasserlinsen in den Haaren«, sagte jemand über ihr.

Tessa öffnete die Augen. Guido Zanetti stand am Rand des Beckens, einen Fuß auf der Mauer.

»Eure Haushälterin hat gesagt, ihr schlaft alle«, erklärte er. »Da wollte ich ein bisschen im Park herumspazieren. Komm doch mal her.«

»Warum?«

»Damit ich dir die Pflanzen aus den Haaren ziehen kann.«

Seine Augen lachten. Tessa fand, er wirke selbstzufrieden. Er sah aus, wie sie sich den typischen Römer vorstellte, mit klassischem Profil, lockigem schwarzen Haar und glutvollen tiefbraunen Augen. Der helle Leinanzug mit dem blassblauen Hemd darunter war von lässiger Eleganz. Er war ein eitler Mensch und wusste genau, wie gut er aussah. Tessa konnte sich gut vorstellen, wie er das Revers seines Jacketts gerichtet hatte und sich noch einmal mit der Hand über die Haare gefahren war, bevor er von zu Hause weggegangen war. Guido gab sich ihr und den anderen gegenüber gern ein wenig distanziert, als wollte er ihnen zeigen, dass sie nur Kinder waren, er hingegen ein Mann.

Sie schwamm zum Beckenrand. Guido setzte sich auf die Mauer. Seine Berührung, als er die grünen Fäden aus ihrem Haar löste, elektrisierte sie. In seinem Blick las sie, wie sehr er sich seiner Macht bewusst war – seines Aussehens, seiner Größe, seines überlegenen Alters. Sie hatte Lust, ihm einen Dämpfer zu verpassen und ihn von seinem hohen Ross zu stoßen.

»Komm schwimmen«, sagte sie.

»Geht nicht, tut mir leid. Ich habe meine Badesachen nicht mit.«

»Ich meinte, so wie du bist.«

»In Kleidern?«

»Wetten, du bist zu feige?«

Sie schwamm von ihm weg, drehte sich auf den Rücken und strampelte mit den Beinen, dass es spritzte. »Feige! Feige!«, rief sie.

Er lachte, dann zog er Schuhe und Jackett aus und tauchte mit einem sauberen Sprung ins Wasser. Mit ein paar schnellen, kräftigen Kraulzügen holte er sie ein.

»Na bitte«, sagte er prustend. »Ich habe gewonnen.« Das Hemd, dunkler blau jetzt, klebte ihm am Körper. »Jetzt will ich auch den Preis haben.«

»Ich lade dich zu einem Eis im Vivoli ein.«

»Ich hatte eigentlich etwas anderes im Sinn.«

»Und das wäre?«, fragte sie. Die Glut in seinen Augen erregte sie; sie wusste, was er sagen würde.

»Ein Kuss«, sagte er.

»Und wenn ich dir keinen geben will?« Sie lachte ihm ins Gesicht.

»Dann hole ich ihn mir einfach.«

So schnell sie konnte, schwamm sie von ihm weg, aber er war schneller, und sie kreischte laut auf, als er sie um die Taille fasste.

»Einen Kuss«, forderte er. »Einen Kuss, meine schöne Tessa.«

Seine Lippen streiften ihren Mund. Gesicht an Gesicht schaukelten sie im Wasser. Er umschlang sie mit beiden Armen und küsste sie, und sie schloss die Augen, während sie hinabsanken, im dämmrigen Licht sanft gestreichelt von den Pflanzenfäden. Dunkle Formen wie die Ruinen einer versunkenen Stadt schwammen unter ihnen, und ihr Lachen verklang in der Wonne seines Kusses.

Sie musste Atem holen, und er zog sie mit sich zur Oberfläche. Noch während sie beide nach Luft schnappten, hörten sie im Haus eine Tür zuschlagen. Die Villa Millefiore war aus dem Mittagsschlaf erwacht.

»Komm«, sagte er. »Schnell.«

Er kletterte auf die Mauer und reichte ihr die Hand, um ihr aus dem Wasser zu helfen. Eilig schlüpften sie in ihre Schuhe, er packte sein Jackett und ihr Kleid. Dann rannten sie Hand in Hand, Tessa mit auf den Mund gepressten Fingern, um ihr Lachen zu dämpfen, auf dem Kiesweg zum Lorbeerhain auf der einen Seite des Parks. Unter dem dunkelgrünen Baldachin verloren sie sich, die nassen Körper eng aneinandergepresst, in wilden Küssen, und durch das Laub fiel das Sonnenlicht in Diamantsprenkeln auf sie herab.

Sie war siebzehn Jahre alt, und der Sommer ihrer Liebe war ein Taumel der Begierde und der Verzückung: erfüllt vom Zauber seiner Berührung, wenn er beim Spaziergang ihre Hand mit seinen Fingern umschloss, mit dem Fuß unter dem Esstisch ihr Bein liebkoste. Erfüllt von Spannung und Geheimnis, wenn sie nachts auf Zehenspitzen durch die Villa schlich, zwischen Sesseln und Tischen hindurch, die sich aus der Dunkelheit hoben wie Felsen aus einem Fluss. Der massige Kleiderschrank an der Wand war wie ein schwarzes Tor in eine andere Welt. Ein feines Geräusch, und Tessa blieb reglos stehen, alle Sinne hellwach, aber es war nur eine Maus, die zu ihrem Loch in der Täfelung huschte. Als sie leise und vorsichtig die Tür zur Terrasse öffnete, wehte ihr die duftende Wärme der Nacht entgegen. Mit dem leichten, sicheren Schritt einer Träumerin flog sie über die Steinplatten und die Treppe hinunter zum Parkweg.

Guido erwartete sie. Sie hörte das Knirschen des Kieses unter seinem Schuh, als er sich zu ihr herumdrehte. Die Zypressen, die zu beiden Seiten den Weg säumten wie dunkle Wächter, verbargen sie dem Haus. Er sagte kein Wort, als er sie in die Arme nahm und küsste. Mit einer Hand streichelte er ihr Haar, und sie fühlte die Hitze seines Körpers. Umschlungen gingen sie zum Lorbeerhain und legten sich auf dem weichen Laubboden nieder. Seine Hand glitt ihr Bein hinauf zur geraden, schmalen Linie ihres Schenkels. Als er ihren Bauch streichelte, brannte sie lichterloh und zog ihn an sich, um ihn in sich aufzunehmen.

Ein kühlender Wind strich über sie hin, als sie später still in der Dunkelheit lagen. Das Plätschern des Brunnens war wie ferne Musik. Sie glaubte, sie würden einander ewig lieben und das Glück werde niemals aufhören.

Teil 1

Eine Art Verzauberung

Oxfordshire, England, 1937

1

Hinter Freddies Schule war ein Weiher. In kalten Wintern durften die Schüler dort manchmal Schlittschuh laufen. Davon erzählte Freddie, als sie an diesem Nachmittag mit Tessa in einer Teestube in Oxford saß.

»Wer in der Fünften oder Sechsten ist, darf vor den Hausaufgaben eine halbe Stunde eislaufen. Und an Wochenenden eine Stunde.«

»Weißt du noch«, sagte Tessa, »als wir in Genf lebten und auf dem See gelaufen sind?«

»Ja, und Mama hat uns zugeschaut«, antwortete Freddie. »Sie hat immer im Café gesessen und heiße Schokolade getrunken.«

Sie sprachen oft von ihrer Mutter, hatten beide stillschweigend beschlossen, es zu tun, seit sie vor drei Jahren, in dem Frühjahr, nachdem sie Italien verlassen hatten, von ihrem Tod nach einem akuten Asthmaanfall erfahren hatten. So erhielten sie sie am Leben.

»Wir wohnten in dieser ulkigen kleinen Pension«, erinnerte sich Freddie. »Wie hieß die Wirtin gleich wieder? Madame… Madame –«

»Depaul. Madame Depaul.« Tessa lächelte. »Jeden Tag gab es Käsetoast zum Abendessen, weil Madame Depaul überzeugt war, das wäre das Leibgericht aller Engländer. Morgens nach dem Frühstück hat Mama ihren Pelzmantel angezogen, und dann sind wir zusammen zum See gegangen.«

Den Pelzmantel hatte Tessa geerbt. Als er aus Italien angekommen war, hatte er noch nach dem Parfüm ihrer Mutter geduftet. Sie zog ihn an, schloss die Augen und weinte zum Duft von Mitsouko ihren Kummer und ihre Verlassenheit in den weichen Pelz des Kragens. Der Duft war lange verweht, aber wenn Tessa die Augen schloss und sich konzentrierte, konnte sie ihn immer noch riechen.

»Heiße Schokolade hat nie wieder irgendwo so gut geschmeckt wie in der Schweiz«, sagte sie.

»In der Schule gibt es sie auch, aber die ist wässrig.« Freddie, die immer hungrig zu sein schien, hatte eine Riesenportion Eier auf Toast verdrückt und war jetzt beim Kuchen angelangt.

Tessa lächelte. »Mach langsam, Schatz, wir haben jede Menge Zeit.«

»Entschuldige. Aber weißt du, wenn man im Internat nicht schnell genug ist, bekommt man keine zweite Portion. Erinnerst du dich nicht mehr?«

Doch, Tessa erinnerte sich jetzt, da sie zurückdachte. Sie war nur sechs Wochen auf der Westdown-Internatsschule geblieben, wohin ihre Mutter sie und Freddie im Herbst 1933 geschickt hatte. Sie hatte vom ersten Tag an gewusst, dass sie es dort nicht aushalten würde, und nur eine Weile ausgeharrt, um sicher zu sein, dass Freddie ohne sie zurechtkommen würde. Jetzt, gut drei Jahre später, erinnerte sie sich nur noch, dass sie auf der Schule ständig irgendwohin rennen und in größter Eile sinnloses Zeug erledigen musste.

Seit sie Westdown den Rücken gekehrt hatte, lebte sie in London, wo sie sich eine Karriere als Mannequin und Fotomodell aufgebaut hatte. Anfangs hatte sie zur Untermiete gewohnt, später, als ihre Karriere allmählich in Gang kam, war sie in ihre erste eigene Wohnung umgezogen. Die Wohnung in Highbury, in der sie jetzt lebte, war eine Pracht, geräumig und hell, mit einem riesengroßen Wohnzimmer und einem luxuriösen Bad. Sie liebte London, nur manchmal, wenn irgendetwas eine Erinnerung weckte, überfiel sie eine brennende Sehnsucht nach ihrem früheren Leben, so wie jetzt, da sie sich wieder auf dem zugefrorenen Genfersee ihre Pirouetten drehen sah.

Auf dem Kuchenteller lag nur noch langweiliges Zeug, ein Stück Johannisbeerkuchen und ein Sandwich. Nachdem sie frisches Gebäck und noch eine Kanne Tee bestellt hatte, zündete sie sich eine Zigarette an.

Als sie Freddies begehrlichen Blick auf das Schokoladeneclair bemerkte, sagte sie: »Nimm ruhig.«

»Aber es ist doch eigentlich deins.«

Tessa schüttelte den Kopf. »Lass nur. Ich muss an meine Linie denken. Ein dickes Mannequin will keiner haben.«

»Darf ich auch eine rauchen?«

»Nein, Schatz. Erst wenn du siebzehn bist.«

»Darf ich dann wenigstens mal mit deinem Auto fahren?«

»Auf der Landstraße vielleicht, wenn es nicht zu eisig ist.«

Als sie später zur Schule zurückfuhren, erlaubte Tessa ihrer Schwester, den kleinen roten MG das letzte Stück der schmalen, gewundenen Landstraße bis zum Tor von Westdown zu lenken. Sie hatte Verständnis für Freddies Ungeduld, endlich all das zu tun, was die Erwachsenen taten – Auto zu fahren, zu rauchen, Champagner zu trinken, Nachtlokale zu besuchen –, aber ihre Sorge um die Schwester überwog. Sie hatten nur noch einander. Als sie nach England abgereist waren, hatte ihre Mutter als Letztes zu ihr gesagt: »Pass gut auf Freddie auf, Liebes.« Wie in einer rührseligen viktorianischen Schnulze, dachte Tessa manchmal leicht ironisch, aber versprochen war versprochen, und sie wollte ihr Versprechen halten.

In der Schulgarderobe hängte Freddie Mütze und Mantel auf.

Tessa sagte: »Wenn du irgendetwas brauchst –«

»Nichts, danke.«

»Ich schicke dir Shampoo und Körperpuder. Ich habe einen Haufen Zeug von der Coty-Kampagne.«

»Oh, super.«

»Und ein bisschen was von Fortnum’s.«

»Bitte, ja, sonst verhungere ich hier noch.«

Als es läutete, verwandelte sich Freddie augenblicklich wieder in die gesittete Westdown-Schülerin und strich sich glättend über die Falten ihres Trägerrocks.

»Hausaufgabenstunde, ich muss laufen.« Sie umarmte Tessa. »Danke, dass du gekommen bist. Danke für den Tee.«

Freddies Schlittschuhe lagen in dem Fach unter ihrem Garderobehaken. »Leihst du mir die für eine Stunde?«, fragte Tessa.

»Natürlich. Aber leg sie dann wieder zurück, sonst kriege ich einen Tadel.«

Noch einmal umarmten sie einander, dann sah Tessa ihrer jüngeren Schwester nach, wie sie ruhig und beherrscht, dunkel und mager in ihrer marineblauen Schuluniform und den klobigen Haussandalen aus der Garderobe in den Korridor hinaustrat.

Tessa nahm die Schlittschuhe aus dem Fach und ging um das Schulgebäude herum nach hinten. Der Mond am dämmrig violetten Himmel war blass und dunstig. Der Weiher lag in einer grasigen Mulde hinter den Sportplätzen, auf der einen Seite versperrte ein Wäldchen den Blick auf die Schulgebäude, auf der anderen wellte sich bereiftes graugrünes Hügelland.

Tessa setzte sich auf eine Bank, um die Schlittschuhe anzuziehen und zu schnüren und stelzte dann mit vorsichtigen Schritten zum Ufer des Weihers. Etwas zaghaft setzte sie eine Kufe aufs Eis. Aber schnell war alles wieder da, das Gleiten und Schwingen, das Gefühl für die Gewichtsverlagerung bei jedem Abstoßen zum nächsten ausholenden Schritt. Wenige Runden reichten ihr, um die alte Sicherheit wiederzugewinnen.

Es hatte etwas herrlich Befreiendes, so allein im Zwielicht über das Eis zu gleiten. Sie trug eine eng anliegende schwarze Wolljacke mit Kaninchenfellbesatz und einen passenden wadenlangen Glockenrock – ideal zum Schlittschuhlaufen. Ihre langen Haare unter der Baskenmütze aus schwarzem Samt flogen, wenn sie ihre Pirouetten drehte. In der Hingabe an ihren einsamen Tanz auf dem Eis vergaß sie alles andere – ihre Arbeit ebenso wie ihre Verabredung zum Abendessen mit Paddy Collison.

Milo Rycroft war am liebsten außer Haus, wenn seine Frau Rebecca mit den Vorbereitungen für eine Abendgesellschaft beschäftigt war. Sie gab ihm dann immer das Gefühl, im Weg zu sein, war ungeduldig und schnell gereizt. Und er hasste das hektische Hin und Her.

Er beschloss, mit dem Hund einen langen Spaziergang über die Felder zu machen. Der Tag war freundlich, aber kalt. Er unternahm gern längere Wanderungen, er liebte die körperliche Bewegung und den Wechsel der Bilder beim Gehen. Nach einem frustrierenden Vormittag half ihm ein Spaziergang aus der gedanklichen Verbissenheit heraus und setzte neue Einfälle frei. Manche Schriftsteller werkelten im Garten; er wanderte. Er hatte das einmal bei einem Interview erwähnt, und der Journalist, ein einfallsloser Bursche, dem Milo ein paar Mal in seinem Klub begegnet war, schlug vor, ein Foto von ihm auf dem Wanderweg zu schießen. Der Fotograf hatte brummig Stativ und Fotoapparat den matschigen Weg hinaufgeschleppt, aber das Bild, das den Abdruck des Interviews im Times Literary Supplement begleitete, war ansprechend gewesen, und seither sah Milo sich, wenn er mit dem Hund über die Hügel marschierte, ab und zu ganz gern so, wie er damals abgebildet worden war: ein Mann mit langem schwarzen Mantel und windzerzaustem dunkelblonden Haar (er trug selten einen Hut, obwohl Rebecca das immer wieder bekrittelte), der festen Schrittes Feld und Heide durchstreifte, während der Spaniel ihm voraussprang.

Es war Mitte Januar, und sie machten gerade eine Kältewelle durch. Milos Weg führte an gepflügten Feldern vorbei, die flach, aber stetig anstiegen. Die aufgeworfenen Wälle dunkelbrauner Erde waren mit Reif gesprenkelt, in den Furchen hatte sich gelb-grün schimmerndes Eis gesammelt und an jedem bleichen Halm und Stängel glitzerten Kristalle. Der Atem des Spaniels, Julia mit dem seidigen, braun-weißen Fell, stieg in kleinen Wölkchen in die Luft.

Milo, der ein kraftvolles, wortgewaltiges Gedicht über den Winter in Oxfordshire in sich reifen fühlte, suchte nach einer ersten Zeile, während er den Pfad hinaufstieg, auf der einen Seite das Feld, auf der anderen einen Silberbirkenhain. Der Gedichtband, an dem er arbeitete, war ein Vorstoß in Neuland; bisher hatte er nur Romane veröffentlicht. Nach einer Weile blieben die Bäume zurück, und er erreichte die offenen Höhen. Er hielt inne und zündete sich eine Zigarette an, während er sich umschaute. Der Blick von hier oben wirkte immer aufmunternd. Hoch schwebten die Hügelkuppen über dem blauen Dunst der Täler, wo die Kirchtürme in silbernem Glanz leuchteten. Heute würde er es nicht unter zehn Kilometern tun, beschloss er und stellte sich vor, wie er am Abend beiläufig zu seinen Gästen sagte, ja, ich habe heute Morgen ein Gedicht hingeworfen und am Nachmittag einen Zehn-Kilometer-Marsch gemacht. Er sah sich gern als eine Art Allrounder, einen modernen Renaissancemenschen – so oft kamen Schriftsteller krummrückig und zerknautscht daher; er würde niemals so werden.

Eine seiner bevorzugten Wanderungen führte zu Meriels Schule. Er blieb stets auf dem Fußweg und achtete darauf, jeden Ort zu meiden, wo ihm Meriel selbst begegnen könnte. Sie war eine schwierige Zeitgenossin und konnte ganz schön ruppig sein. Manchmal fiel es ihm schwer zu glauben, dass sie und Rebecca Schwestern waren. Dennoch bemühte er sich immer, freundlich zu sein, denn sie hatte ja wirklich den Schwarzen Peter gezogen, die Arme – immer die unscheinbare, reizlose Schwester. Mit dem Tod ihres Verlobten, der im Krieg gefallen war, war ihre einzige Chance, einen Mann zu finden, dahin gewesen. Milo war froh, dass Meriel wegen ihrer Arbeit am Abend nicht zu seiner Geburtstagsfeier kommen konnte.

Die höchste Erhebung in dieser Gegend hier war als Herne Hill bekannt. Milo, der gern ein wenig in der Mythologie des Landes herumstöberte, hatte nichts entdeckt, was auf eine Verbindung des Gebiets mit dem keltischen Gott Herne hingewiesen hätte, dennoch schien ihm der runde Bergkegel von Geheimnis umwittert. Immer war es hier oben kälter, und an manchen Tagen fegte ein schneidender Wind rund um die Kuppe. Die Eröffnungszeile seines Gedichts war zum Greifen nahe – Hernes Heimat: Hügel des Horngottes… Nein, zu viel Alliteration, wie zweitrangiger Gerald Manley Hopkins. Aber er hatte einen Titel für seine Sammlung: Mittwinterstimmen. Ja. Milo lächelte, dann runzelte er die Stirn. Oder vielleicht lieber Hoch Mittwinterstimmen?

Am Vortag hatte er seiner Sekretärin, Miss Tyndall, das erste Dutzend Gedichte zum Abtippen gegeben. Miss Tyndall, um die fünfzig, mit buschigen Augenbrauen und einem Muttermal, aus dem Haare sprossen, war unglaublich tüchtig. Rebecca hatte sie unter einem halben Dutzend Bewerberinnen für ihn ausgewählt.

Vor einigen Jahren hatte er vorgeschlagen, sie sollten vom Land nach Oxford umziehen, aber Rebecca hatte nichts davon hören wollen. Sie liebte das Haus, eine umgebaute alte Mühle. Es könnte kaum besser gelegen sein, hatte sie erklärt, in der Nähe von Meriel und nicht zu weit von (oder zu nahe bei) ihrer Mutter. Außerdem kämen alle Leute immer gern in die Alte Mühle. Es wäre nicht mehr dasselbe – die Rycrofts wären nicht mehr dieselben –, wenn sie nach Oxford hineinzögen. Die Alte Mühle gehöre einfach zu ihnen: Jeder erinnere sich an die Gesellschaften und Feste bei den Rycrofts. Ich war neulich in der Alten Mühle eingeladen, hatte Milo einmal einen seiner Studenten triumphierend einem Kommilitonen mitteilen hören. Er musste einräumen, dass Rebecca recht hatte, sie würden vielleicht tatsächlich etwas von ihrem Nimbus einbüßen, wenn sie nach Oxford übersiedelten. Und so waren sie geblieben.

Im Grunde genommen passte es ihm sehr gut, ein-, zweimal die Woche in Oxford zu arbeiten, wo ein Freund, der einen Teil des Jahres im Ausland lebte, ihm erlaubte, sein Arbeitszimmer zu benutzen. In mancher Hinsicht, gestand er sich mit etwas schlechtem Gewissen ein, war es sogar besser, außerhalb zu wohnen. Das ließ ihm mehr Freiheit, mehr Spielraum, könnte man sagen. Seine Gedanken schweiften zu dem halbfertigen Roman, der zu Hause wartete – er steckte fest, war in den letzten drei Wochen nicht ein Wort vorangekommen, dabei hatte er versprochen, das fertige Manuskript in spätestens vier Monaten vorzulegen. Wenn er in Oxford lebte, hätte er vielleicht endlich ernsthaft loslegen können. Das abwechslungsreiche städtische Leben hätte ihn vielleicht inspiriert.

Milo hatte einen weiten Weg zurückgelegt. Als spät geborenes Einzelkind hatte er seine Eltern von Geburt an mit seiner Schönheit und seiner Frühreife überrascht und entzückt. Das ganze häusliche Leben hatte sich um Milos Wünsche und Bedürfnisse gedreht; seine Eltern hatten am Essen gespart und auf Reisen verzichtet, um ihren begabten Sohn auf eine Privatschule schicken zu können. Das elterliche Haus war eine kleine Backsteinvilla in einer sterilen Vorstadt von Reading gewesen. Milos Lieblingsaufenthalt war die nur wenige Straßen entfernte öffentliche Bibliothek. Wenn Journalisten ihn nach seinem Werdegang fragten, pflegte er diesen Teil der Geschichte etwas aufzubereiten, weil er wusste, dass die Lektüre sonst für den Leser viel zu langweilig wäre.

Nach Kriegsende hatte ein Stipendium ihm den Weg nach Oxford geebnet, wo er gesellschaftlich reüssierte und akademisch nur geringfügig weniger brillierte. Während der Recherchen für seine Dissertation über die metaphysische Dichtung, bei denen er sich hoffnungslos verzettelte, hatte er Penelopes Webstuhl geschrieben. Der Romanwar vom Tag seines Erscheinens an erfolgreich. Der Kritiker der Times urteilte, ›Mythos und Moderne sind hier intelligent miteinander verwoben – ein Triumph‹. Ein zweiter, ebenso erfolgreicher Roman folgte. Milo konnte es sich leisten, seine Recherchen an den Nagel zu hängen und für die Gesellschaft für Erwachsenenbildung in Oxford eine Reihe von Vorlesungen über moderne Lyrik zu halten, die ungeheuren Anklang fanden. Er wusste, dass er ein guter Lehrer war – er sprach immer frei, und oft ließ er sich von der Inspiration auf Seitenwege führen, die in eine ganz andere Richtung gingen als die ursprünglich geplante.

Auch heute noch hielt Milo zweimal im Jahr regelmäßig Vorlesungen, und sie waren immer noch gut besucht. Er hatte von Beginn an gemerkt, dass unter seinen Hörern die Frauen überwogen und seine Studentinnen keineswegs nur arme kleine Ladenmädchen oder Tippsen waren, die nach Bildung hungerten. Leute aller Art – Frauen aller Art – fanden sich zu seinen Literaturgesprächen ein. Einige waren verheiratet, andere waren unverheiratet oder verwitwet. Einige studierten am Somerville oder St. Hilda’s College; andere lebten zu Hause bei ihren Eltern und warteten auf den idealen Ehemann. Nach jeder Vorlesung drängten sie sich um ihn und bestürmten ihn mit Fragen. Danach begleitete eine ausgewählte Gruppe ihn ins Eagle and Child in St. Giles, wo man zusammen noch ein Glas trank. Rebecca nannte seine Studentinnen nach den wilden Anhängerinnen des griechischen Gottes Dionysos Milos Mänaden. Als sie ihm gegenüber den Spitznamen zum ersten Mal erwähnte, hatte sie so einen gewissen Blick gehabt, also hatte Milo gelacht und gesagt, ja, das sei ganz zutreffend, seine Studentinnen seien laut, schlecht gekleidet und nicht immer unheimlich feminin. Dann hatte er Rebecca geküsst, bevor sie noch etwas sagen konnte.

Milo warf seine Zigarette weg und ging weiter. Der Weg führte ein Stück über die Höhen, bevor er langsam in das Waldstück bei Meriels Schule abfiel. Er wanderte immer gern auf geschlängelten Pfaden zwischen den Bäumen hindurch, ehe er den Rückweg zur Alten Mühle antrat.

Gleich am Wald war ein kleiner runder Weiher, der im Sommer oft austrocknete. Als er bemerkte, dass sich hinter den Bäumen etwas bewegte, trat er an den Rand des Wäldchens und spähte durch das winterlich nackte Geäst.

Eine schwarz gekleidete junge Frau auf Schlittschuhen drehte sich mit wehendem blonden Haar auf dem zugefrorenen Weiher. Milo blieb reglos stehen und sah ihr zu. Das war, dachte er unwillkürlich, während er sie fasziniert beobachtete, keine englische Szene, sie schien nicht einmal der heutigen Zeit anzugehören. Die junge Frau ging ganz in ihrem einsamen Tanz auf dem Eis auf. Sie schien ihm in ihren Bewegungen, den langen Gleitschritten und wirbelnden Drehungen, wie entrückt – ja, so konnte man es nennen.

Er dachte, sie hätte ihn nicht bemerkt, aber sie rief ihm zu: »Der Hund – ist das Ihrer?«

»Ja.« Milo ging zum Weiherrand. »Es ist eine Hündin und sie heißt Julia.«

»Ein hübscher Name.«

Die Füße geschlossen nebeneinander glitt sie über das Eis zu ihm hin. Ihr Gesicht hatte einen unglaublichen Liebreiz, die Haut wie Milch und Blut, leicht gerötet von der Kälte, die Augen unter den geraden Brauen von langen dunklen Wimpern umkränzt.

»Haben Sie auch einen Hund?«, fragte er.

»Leider nicht.« Sie lächelte. »Ich bin zu viel unterwegs, aber irgendwann möchte ich einen haben.« Am Ufer angelangt, beugte sie sich zu Julia hinunter und streichelte sie. »Sie Glücklicher. So ein schönes Tier.«

»Aber auch sehr lebhaft. Sie braucht eine Menge Auslauf. Ein Glück, dass ich gern wandere. Ich mache den Weg hier oft. Er führt durch den Wald.« Milo wies mit wedelnder Hand in Richtung Alte Mühle. »Ich lebe in Little Morton, ungefähr fünf Kilometer von hier.«

»Dann sollten Sie jetzt vielleicht besser umkehren. Nicht dass Sie sich in der Dunkelheit verlaufen.«

»Ganz sicher nicht. Ich kenne diese Gegend wie meine Westentasche.«

Im abendliche Zwielicht konnte er die Farbe ihrer Augen nicht erkennen. Grau vielleicht, oder hellbraun. »Als ich Sie sah, dachte ich im ersten Moment, ich wäre in eine frühere Zeit zurückversetzt worden, ins alte Russland vielleicht oder ins Wien der Jahrhundertwende. Ich hielt Sie beinahe für einen Geist.«

Sie lachte. »Nein, ich bin kein Geist. Ich bin langweilige moderne Wirklichkeit.«

Er betrachtete sie einen Moment, erneut tief beeindruckt von ihrer Schönheit. »Sie haben ausgesehen, als wären Sie in einer anderen Welt.«

»Schlittschuhlaufen ist etwas Herrliches.«

Sie schien gehen zu wollen, darum sagte er schnell: »Ich sitze wahrscheinlich zu viel an der Schreibmaschine. Ich bin Schriftsteller, wissen Sie. Milo Rycroft.«

Er bot ihr die Hand; sie berührte sie flüchtig. »Ach ja, ich habe von Ihnen gehört«, sagte sie. Und dann entfernte sie sich mit kleinen schwingenden Rückwärtsschritten von ihm. Es traf ihn unerwartet schmerzhaft; er hatte das Gefühl, sie zu verlieren.

»Wie heißen Sie?«, rief er.

»Tessa Nicolson.«

Sie lächelte ihm noch einmal zu.

»Auf Wiedersehen, Mr. Rycroft. Ich muss laufen und mich umziehen. Ich muss heute noch zurück nach London.«

Der Lieferant hatte den falschen Kuchen geschickt, Obst- statt Zitronenkuchen, und Milo hasste Obstkuchen, und der verflixte Staubsauger hatte den Geist aufgegeben. Und wo blieb eigentlich Milo? Er hätte den Staubsauger richten können, während sie den Lieferanten anrief, und er musste ja auch noch die Getränke zurechtstellen.

Rebecca Rycroft ging zum Telefon und rief den Lieferanten an. Das Gespräch war kurz. »Zitronenkuchen, ich habe ausdrücklich Zitronenkuchen bestellt« und »Mit anderen Worten, entweder Obstkuchen oder gar nichts?« Sie legte den Hörer auf, dass es knallte, und die für den Abend angeheuerte Aushilfe, die gerade die Gläser polierte, warf ihr einen nervösen Blick zu.

Sie liebte Feste und sie hasste sie. Sie liebte das Planen und davon am meisten das Zusammenstellen der Gästeliste. Die Rycrofts hatten viele Freunde, und wenn Rebecca und Milo einmal beschlossen hatten, ein Fest zu geben, konnte sie Stunden und Tage über ihrem Adressbuch sitzen. Die richtige Mischung war das A und O. Es gefiel ihr, mit den verschiedenen Leuten zu jonglieren, zu überlegen, ob dieser oder jener geeignet war, den Abend zu einem Erfolg zu machen, über das Durchschnittliche hinauszuheben. Aus ihren Zusammenstellungen hatte sich schon manche Freundschaft, manche Romanze ergeben. Man brauchte natürlich immer auch ein paar zurückhaltendere Leute – nur extravertierte Gesellschaftslöwen einzuladen, wäre katastrophal. Und man brauchte neue Gesichter, interessante Persönlichkeiten, nicht nur die albernen jungen Gänse, die Milos Vorlesungen stürmten, obwohl sie, Rebecca musste es zugeben, auch ihren Nutzen hatten, indem sie dem Abend einen gewissen jugendlichen Schick verliehen.

So unterhaltsam es war, die Gästeliste aufzusetzen, so grauenvoll waren die Stunden unmittelbar vor dem Fest. Ganz gleich, wie zeitig sie mit den Vorbereitungen begann, die Zeit schien immer zu kurz zu sein. Wenn sie jeden Handgriff selbst hätte erledigen können, hätte alles perfekt geklappt, aber das konnte sie nicht. Aushilfen mussten gefunden, Essen und Getränke besorgt werden. Und so oft waren die Aushilfen, die die Agentur schickte, entweder faul oder inkompetent. Diese hier war weinerlich. Nur ein Wort, und sie drohte in Tränen auszubrechen. Rebecca hatte das Besteck am Ende selbst poliert, nachdem die Unterlippe des Mädchens bedrohlich zu beben begonnen hatte, als sie sie auf einen Fleck an einer Gabel aufmerksam machte.

Zum Glück war auch noch Mrs. Hobbs da, um ihr zu helfen. Sie war die Tageshilfe der Rycrofts. Im Augenblick fegte sie mangels eines Staubsaugers den Flurteppich energisch mit einem Besen. Nach einem Fest oder einer Abendgesellschaft setzten sich Rebecca und Mrs. Hobbs immer in der Küche zusammen, um noch eine Tasse Tee zu trinken und eine Zigarette zu rauchen. Meistens waren sie zu müde, um viel zu reden, aber die Erleichterung darüber, dass es vorbei war und alles geklappt hatte, verband sie.

Wenn es denn klappte. Aber sie war ja jedes Mal nervös, und doch waren ihre Feste immer ein Erfolg. Nur – es konnte auch einmal schiefgehen. Diesmal hatte sie Grund, sich zu sorgen – Milo würde sich wegen des Kuchens aufregen, das Mädchen würde womöglich mitten im schönsten Feiern losheulen, und sie selbst hatte starke Zweifel, ob sie sich für diesen Abend das richtige Kleid gekauft hatte. Es war rot – nicht knallrot, nein, es hatte ein natürliches, kräftiges Rot. Sie hatte es in ihrem kleinen Lieblingsladen, Chez Zélie, in Oxford gekauft. Es war aus einem feinen, fließenden Wollstoff, der sich weich um ihren Körper schmiegte. War sie mit achtunddreißig zu alt für ein rotes Kleid, das sich so anschmiegte?

Während sie auf dem Boden sitzend den Staubsauger auseinandernahm, ging sie im Kopf Listen durch. Cocktails, dann Champagner, später vielleicht Whisky für die Männer. Sie hatten ein kaltes Büfett aufgebaut, viel einfacher als ein warmes Essen, und den Gästen machte es Spaß, sich aussuchen zu können, wonach ihnen gerade der Sinn stand. Kaltes Hühnchen, Schinken, Vol-au-vents, pikante Brötchen, russischer Salat, Oliven, Kartoffelchips, gesalzene Mandeln. Musik – ja nicht die Musik vergessen. Im Allgemeinen wählte Milo die Platten aus. Rebecca stand auf, zog einen Vorhang zur Seite und schaute zum Fenster hinaus. Es war fast dunkel – wo um alles in der Welt blieb er nur? Mit einem gereizten Seufzer nahm sie sich wieder den Staubsauger vor, hielt den Schlauch in die Höhe und spähte mit zusammengekniffenen Augen ins Innere. Irgendetwas schien festzusitzen, aber mit der Hand kam sie nicht hin. Vielleicht ließ es sich mit einer Toastgabel herausziehen? Nein, zu kurz.

Sie ging nach draußen. Es war klirrend kalt, dennoch ein herrlicher Abend mit einem klaren Sternenhimmel. Gefrorenes Gras knirschte unter ihren Füßen. Sie sog ein paar Züge eisige Luft ein und wurde ruhiger. Neue Befürchtungen meldeten sich, als sie die Tür zum Geräteschuppen öffnete, um nach einer Bohnenstange zu suchen. Der Januar war immer ungünstig für Feste – vereiste Straßen, Erkältungswellen konnten jedem Gastgeber einen Strich durch die Rechnung machen. Bisher hatte allerdings niemand abgesagt, aber manche Leute, vor allem Milos Freunde, konnten in solchen Dingen ziemlich lax sein.

Sie grub eine Bohnenstange aus dem Gerümpel in einer Ecke des Schuppens und ging wieder ins Haus. Nach einigem Stochern gelang es ihr, ein graues Knäuel aus Staub und Hundehaaren und einem ihrer Strümpfe aus dem Schlauch zu fummeln. Sie legte den Strumpf zur Wäsche beiseite, setzte den Staubsauger wieder zusammen und rief Mrs. Hobbs zu, dass die Panne behoben sei. Danach ging sie von Raum zu Raum, um zu prüfen, ob alles in Ordnung war, rückte hier eine Kerze, dort eine kleine Lampe zurecht und schüttelte den Kopf, als sie hinter einem Stuhl im Flur ein zerknittertes Bonbonpapierchen entdeckte. Sie warf einen kurzen Blick in Milos Arbeitszimmer, um sich zu vergewissern, dass es nicht unaufgeräumt war, oder wenigstens nur so unaufgeräumt, dass es kreativ wirkte. Als sie die Bücher und Papiere auf seinem Schreibtisch gerade richtete – nur ganz vorsichtig, Milo hasste es, wenn andere seine Sachen anrührten –, bemerkte sie, dass er mit seinem neuen Roman noch immer nicht über Seite 179 hinausgekommen war. Der arme Milo, er war immer so gereizt, wenn ihm die Arbeit nicht von der Hand ging. Sie zog die Jalousie herunter und schloss die Tür hinter sich, als sie hinausging.

Im Esszimmer warteten auf einem Ende des langen Tischs Stapel von Tellern, Besteck und Servietten. Die Skizzen, die sie am Morgen gemacht hatte, lagen noch auf der Schreibplatte ihres kleinen Sekretärs, und sie nahm sie an sich. Sie zeichnete nur noch selten, aber am Morgen hatte sie bei dem prachtvollen Wintersonnenschein, der durch das Fenster strömte, plötzlich Lust bekommen, einen Strauß Schneeglöckchen zu zeichnen, den sie am Tag zuvor gepflückt hatte. Sie sah die Blätter durch. Die meisten würde sie wegwerfen, eine Zeichnung war ganz gut. Sie schob sie in die Schublade und knüllte die anderen zusammen. Nichts als Zeitverschwendung, genau besehen.

Sie sah auf die Uhr. Nach sechs. Die Gäste würden in knapp einer Stunde hier sein. Rebecca schenkte sich einen Gin mit Zitrone ein und ging nach oben, um sich ein Bad einlaufen zu lassen. Mit ihrem Drink im warmen Wasser ausgestreckt entspannte sie sich allmählich, die erste leise Vorfreude auf den Abend regte sich. Nur ungern stieg sie aus der Wanne – viel lieber wäre sie noch eine Weile liegen geblieben –, aber sie raffte sich auf und rubbelte sich energisch trocken. Im Bademantel trat sie ins Schlafzimmer. Das rote Kleid hing auf seinem gepolsterten Bügel an der Schranktür. Rebecca betrachtete es zweifelnd und strich sich mit den Händen über die Hüften. Milo hatte ein paar von seinen Mänaden eingeladen. Er hatte darauf bestanden. ›Sie kommen jede Woche treu zu meiner Vorlesung und hören sich geduldig mein Geschwafel an‹, hatte er zu ihr gesagt. Rebecca hatte diese besonderen Mänaden noch nicht kennengelernt, aber ihre Vorgängerinnen waren häufig gertenschlanke knabenhafte junge Frauen gewesen. Sie selbst war seit ihrem vierzehnten Lebensjahr nicht mehr gertenschlank und knabenhaft.

Sie setzte sich vor ihren Toilettentisch und schaute in den Spiegel. Das ungeschminkte Gesicht unter dem zum Turban geschlungenen Handtuch, das ihr Haar verbarg, wirkte nackt und verletzlich. Sie zupfte an der Haut in den Augenwinkeln, war sie schlaffer geworden? Dann hob sie das Kinn, um ihren Hals zu prüfen. Rebecca graute genauso wie ihrer Schwester Meriel davor, dass ihr Hals einmal aussehen würde wie der ihrer Mutter, bei dem die Sehnen wie straff gespannte Stricke unter der plissierten Haut hervorstanden.

Rebeccas Stimmung rutschte wieder ab und sie kippte hastig einen großen Schluck Gin. Morgen mussten sie und Meriel ihre Mutter besuchen. Diese monatlichen Besuche, das grässliche Einerlei – das Herumsitzen in dem dunklen altmodischen Haus, während ihre Mutter sich für den Ausflug zurechtmachte, ihr ständiges Herumkritteln an der Fahrweise ihrer Tochter, ganz gleich, welche von ihnen fuhr, – waren immer niederdrückend.

Sie und Meriel mochten nicht viel gemeinsam haben, hatte Rebecca einmal zu ihrer Schwester gesagt, aber sie wussten beide, dass sie, eine wie die andere, auf ihre Art die Mutter enttäuscht hatten. Natürlich würde sie morgen das Restaurant, das sie wählten, wieder unmöglich finden; natürlich würden sie danach wieder beim Tee, der immer irgendwie merkwürdig schmeckte, obwohl es Ceylon war, in dem tristen Haus in Abingdon sitzen, wo die Stille, die Spannung, der tappende Schritt des alten Hausmädchens einen ganz verrückt machten. Und irgendwann würde ihre Mutter sagen: ›Da es keiner meiner Töchter eingefallen ist, mir ein Enkelkind zu schenken…‹ Ein Vorwurf, der, weil so unabwendbar wie das Amen in der Kirche, Rebecca und Meriel manchmal zu beinahe hysterischem Lachen reizte, das schleunigst unterdrückt werden musste, und der doch immer noch verletzte.

Gerade Meriel gegenüber war es gemein, so etwas zu sagen. Meriel, die zwei Jahre älter war als Rebecca, hatte ihre Hoffnungen auf ein Kind begraben müssen, als ihr Verlobter, David Rutherford, 1916 in der Schlacht an der Somme gefallen war. Sie hatte danach nie wieder einen Mann geliebt, bis sie Dr. Hughes begegnet war, der die Mädchen an ihrer Schule ärztlich betreute. Dr. Hughes war verheiratet und hatte, soweit Rebecca wusste, keine Ahnung von Meriels Gefühlen. Rebecca, die ihm nur einmal begegnet war, einem Mann Ende vierzig, still, mit schütterem Haar und rotem Gesicht, fiel es schwer, Meriels heimliche Liebe zu verstehen. Einmal, nach einem Martini zu viel, hatte sie Milo von Meriel und Dr. Hughes erzählt und es sofort bereut. Milo hatte das Ganze zum Schreien komisch gefunden. Rebecca, die ihre Schwester gernhatte, schämte sich, Meriels Geheimnis preisgegeben zu haben und lebte fortan in der Angst, Milo könnte die Geschichte nur dünn verschleiert in einen seiner Romane einarbeiten.

Sie und Milo hatten nie Kinder gewollt. Nein, das stimmte nicht ganz. Milo hatte nie Kinder gewollt, das war wahr, aber hätte er damals, als sie Anfang zwanzig und jung verheiratet gewesen war, gesagt, ›Ich möchte mindestens vier Kinder‹, so hätte sie sich wahrscheinlich seinem Wunsch gefügt. Sie hatte ihn so blind geliebt, dass jedes Wort aus seinem Mund ihr Befehl gewesen war.

Aber es war die richtige Entscheidung gewesen. Sie hatten anfangs sehr wenig Geld gehabt, ein Kind wäre eine zusätzliche finanzielle Belastung gewesen, und später, als Milo von Erfolg zu Erfolg eilte, wäre da in ihrem Leben für ein Kind Platz gewesen? Milo und Rebecca Rycroft zu sein, das von allen bewunderte und beneidete Vorzeigepaar, kostete eine Menge Zeit und Energie. Irgendwann hatten sie es mit der Verhütung nicht mehr ernst genommen, schwanger war sie dennoch nicht geworden.

In letzter Zeit bedauerte Rebecca es manchmal, dass sie nicht wenigstens ein Kind hatten. Sie stellte sich einen Sohn vor, einen hübschen Jungen, so klug und intelligent wie Milo und mit ihren grünen Augen, deren Blick damals beim Künstlerball in Chelsea Milo behext hatte. Er würde Oscar heißen oder vielleicht Archie und wäre ein selbstständiger kleiner Junge, der an jedem ersten Schultag frohgemut in sein Internat abreiste und am Ende des Schuljahrs ebenso frohgemut nach Hause zu seinen Eltern zurückkehrte.

Wo blieb er nur? Wieder schaute Rebecca auf die Uhr. In ihre Ungeduld mischte sich Unbehagen. Ihr war seit geraumer Zeit immer unbehaglich, wenn sie nicht wusste, wo Milo war. In den ersten Ehejahren war es zu Riesenkrächen zwischen ihnen gekommen, wenn sie das Gefühl gehabt hatte, er kümmere sich zu viel um andere Frauen. Sie hatten gebrüllt und geflucht und mit Gegenständen um sich geworfen – einmal hatte sie ihn mit einer Butterschale so hart an der Schläfe erwischt, dass ein blauer Fleck geblieben war, und war sich vorgekommen wie die übelste Furie. Aber so viel Feuer hatte auch etwas Lustvolles gehabt, etwas Erregendes; die Versöhnungen im Bett waren umso leidenschaftlicher gefeiert worden und hatten alle ihre Qualen der Eifersucht mehr als aufgewogen.

Doch diese Zeiten waren vorbei. Jetzt hinterließen ihre Auseinandersetzungen einen bitteren Nachgeschmack anstatt die Atmosphäre zu reinigen. Sie hatte Angst, dass Milo sie nicht mehr so glühend begehrte wie früher. In den ersten Jahren ihrer Ehe hätte Milo ihr die Sterne vom Himmel geholt. In ihrem ersten gemeinsam verbrachten Sommer schenkte er ihr jeden Tag eine rote Rose. Sie waren damals noch arm wie die Kirchenmäuse, und manche Rose war wohl aus einem fremden Garten geklaut, aber wie romantisch!

Mit den Jahren hatte ihr Leben sich verändert. Der Erfolg von Penelopes Webstuhl und der folgenden Romane hatte es ihnen ermöglicht, die Alte Mühle zu kaufen. Anfangs hatten sie die Renovierung des Hauses gemeinsam geplant und einen Teil der Arbeiten selbst ausgeführt. Wie sie damals einträchtig Sockelleisten gestrichen und Tapeten geklebt hatten, das gehörte mit zu Rebeccas glücklichsten Erinnerungen.

Doch als Milos Karriere in Schwung kam, hatte er keine Zeit mehr für das Haus, Rebecca musste allein die Tapeten aussuchen oder den Installateur anrufen, wenn ein Rohr brach. Zur Alten Mühle gehörte ein großer Garten und auch dafür war Rebecca zuständig. Inzwischen spielte sich ein großer Teil von Milos Leben ohne sie ab. Milo fuhr nach London zu Lunches und Festen, zu denen sie nicht eingeladen wurde. Zeitungsartikel wurden über ihn geschrieben, hin und wieder wurde er zu Rundfunksendungen gebeten. Manchmal hatte Rebecca das Gefühl, nicht mitgehalten zu haben.

Sie wusste, dass ihr Leben Außenstehenden beneidenswert erscheinen musste. Aber vor vier Jahren hatte Milo ein Verhältnis mit einer seiner Studentinnen angefangen. Er hatte Schluss gemacht, als Rebecca dahintergekommen war, und ihr geschworen, die Sache habe keine Bedeutung gehabt, sei einer Augenblickslaune entsprungen – das Mädchen habe sich ihm praktisch an den Hals geworfen, er habe zu viel getrunken gehabt, weiter nichts. Weiter nichts? Milos Untreue hatte ihre Welt erschüttert. Das Zerwürfnis war furchtbar gewesen und hatte schmerzhafte Wunden geschlagen, die nur langsam verheilten. Einen Monat lang sprach sie kaum ein Wort mit ihm und hatte danach noch lange Angst, ihn aus den Augen zu lassen. Das Vertrauen in ihre Anziehungskraft war dahin gewesen. Obwohl ihr nach und nach die Blicke und Aufmerksamkeiten anderer Männer bestätigten, dass sie immer noch attraktiv war (alles rein platonisch, nicht einmal ein Kuss, denn sie hatte ja nie einen anderen als Milo gewollt), blieb eine Unsicherheit. Wenn sie je wieder so tief erschüttert werden sollte, würde sie vielleicht daran zerbrechen. Von Scheidung war keine Rede gewesen, aber der Gedanke, dass er sie verlassen könnte, erfüllte sie mit abgrundtiefer Angst. Sie liebte ihn, betete ihn an, brauchte ihn. Was wäre sie ohne ihn? Sie hatte immer gewusst, dass sie nicht so gescheit und gebildet war wie Milo – und natürlich auch nicht so berühmt –, und wenn ihre einzigen Vorzüge, ihr Aussehen und ihre erotische Ausstrahlung, sich mit zunehmendem Alter verloren, warum sollte er dann bei ihr bleiben?

Irgendwie hatten sie es geschafft, die Scherben aufzusammeln und weiterzumachen. Milo war voller Reue, und Rebecca glaubte ihm schließlich, dass seine Bußfertigkeit echt war. Sechs Monate nachdem sie seinen Seitensprung entdeckt hatte, reisten sie zu einem langen Urlaub nach Frankreich, und in der sonnendurchglühten, stillen Landschaft am Lot flammte ein Funke des alten Feuers wieder auf. Bei ihrer Rückkehr waren sie scheinbar wieder die alten Rycrofts – erfolgreich, beneidet, immer noch ineinander verliebt. Aber Rebecca wusste, dass sich etwas geändert hatte. Und mit der Zeit wich Milos Reue leise schwelendem Groll. Sie passte auf. Sie war immer wachsam, obwohl sie wusste, wie sehr er es verabscheute. Sie konnte nicht anders.

Rebecca begann, sich zu schminken. Als sie noch zwanzig gewesen war, hatte sie Make-up und Puder verschmäht, jetzt aber, fand sie, brauchte sie beides. Die Augen schminkte sie sich nie, sie wusste, dass ihre langen dunklen Wimpern keine Retusche nötig hatten. Sie nahm das rote Kleid vom Bügel, schlüpfte hinein, strich den Stoff über den Hüften glatt und zog die Träger über den Schultern zurecht.

Noch ein Strich Lippenstift, dann nahm sie den Handtuchturban ab, und ihr volles dunkles Haar fiel ihr wie schwere Seide auf die Schultern.

Unten wurde eine Tür zugeschlagen, und gleich darauf rief Milo: »Hallo, Darling. Wo bist du?«

Ich mache mich für unser Fest fertig, das in fünfzehn Minuten anfängt, dachte sie wütend.

Sie hörte ihn in Sprüngen die Treppe heraufkommen. Die Tür flog auf, er sah sie an und blieb stehen.

Wo zum Teufel warst du?, wollte sie sagen, aber er kam ihr zuvor.

»Mein Gott, du siehst phantastisch aus.«

»Findest du? Gefällt es dir?«

»Es ist toll.«

Alle Zweifel an der Wahl ihres Kleides waren mit einem Schlag gestillt. Als er sie küsste, zuckte sie zurück. »Huh, bist du kalt.«

»Es ist eisig draußen.«

»Was hast du überhaupt gemacht?«

»Einen Zehn-Kilometer-Marsch«, sagte er und fügte mit einem anzüglichen Lächeln hinzu: »Um mir Appetit zu holen.«

Mit kalten Lippen liebkoste er ihren Hals. Sie lachte, leicht erregt.

»Mein Kleid…«, sagte sie, aber da hatte er sie schon in die Arme genommen. Eine Hand glitt unter das noch geöffnete Kleid. Rebecca seufzte leise.

Sie hörten es beide läuten. Doch er fuhr fort, sie zu küssen, bis sie murmelte: »Darling…«

»Ach, verdammt«, sagte er. »Das sind bestimmt Charlie und Glyn. Wie immer zu früh.«

Und sie tauschten einen Blick amüsierten Einverständnisses, die Rycrofts gegen die Welt.

Charlie und Glyn Mason kamen immer als Erste und gingen als Letzte. Milo hatte Charlie im Krieg kennengelernt. Sie waren beim selben Regiment und hatten beide das große Glück, weit hinter den Linien zu stehen, als bei Passchendaele Tausende ihr Leben ließen. Am Tag bevor ihr Regiment an die Front versetzt werden sollte, hatte Milo einen Autounfall und wurde wegen seiner Verletzungen nach England zurücktransportiert, zuerst in ein Krankenhaus, danach in ein Genesungsheim. Noch heute trug er auf der Stirn eine dünne, kaum wahrnehmbare Narbe. »Eine Kriegsverletzung«, sagte er immer, wenn jemand danach fragte. Aber Charlie war es, der den Grabenkrieg und die blutigen Gefechte mitgemacht hatte, nicht Milo. Manchmal beneidete Milo ihn darum, aber nicht oft.

Jetzt war Charlie Eigentümer von drei Autohäusern, einem in Oxford und zwei weiteren in London. Obwohl sie ganz unterschiedliche Wege eingeschlagen hatten, waren die beiden Männer Freunde geblieben. Charlie hatte einige Jahre vor Milo geheiratet; einer war der Trauzeuge des anderen gewesen. Milo hatte Glyn Mason immer etwas zu maskulin gefunden – der Name Glyn, den sie sich statt des weiblicheren Glynis zugelegt hatte, das sehr kurz geschnittene, krause aschblonde Haar, das immer gebräunte Gesicht und der straffe, sehnige Körper, dem die Rundungen fehlten. Wenn sie eine lange Hose oder Tennisshorts anhatte (Glyn spielte Tennis wie der Teufel), konnte man sie beinahe für einen etwas schmächtigen jungen Mann halten. Er hatte sich manchmal gefragt, wie es wäre, mit Glyn zu schlafen – amüsant, wahrscheinlich, aber nicht so weich und kuschelig wie mit Rebecca. Er hatte es natürlich nie versucht, weil er Charlie so etwas niemals hätte antun können. Die Rycrofts und die Masons trafen sich oft zum Abendessen. Die Frauen gaben sich freundschaftlich, aber Milo spürte, dass sie nicht wirklich befreundet waren, dazu waren sie zu verschieden, sie machten einfach aus der Not eine Tugend. Im Übrigen hatte Rebecca für Freundschaften mit Frauen ohnehin nie viel übriggehabt.

Milo bedauerte es jetzt, dass er noch einen letzten Whisky mit Charlie getrunken hatte, nachdem die anderen Gäste gegangen waren. Von Whisky bekam er Kopfschmerzen. Und eine Bemerkung Charlies während ihres Gesprächs machte ihm unangenehm zu schaffen. Charlie hatte ihn gefragt, ob er und Rebecca am Sonntag zum Mittagessen kommen wollten, um den Geburtstag seiner älteren Tochter Margaret mitzufeiern. »Wahrscheinlich werden wir nicht darum herumkommen, auch ihren Freund einzuladen«, hatte Charlie hinzugefügt. »Ihren Freund?«, hatte Milo ganz verdutzt wiederholt. »Es ist kaum ein Wort aus ihm herauszubringen«, war Charlie fortgefahren. »Er sitzt immer da wie das Kaninchen vor der Schlange.« – »Sie hat einen Freund?«, hatte Milo dümmlich gefragt, und Charlie hatte ihn mit amüsiertem Blick daran erinnert, dass Margaret siebzehn war, nur ein Jahr jünger als Glyn bei ihrer Hochzeit.

Milo hatte sich wieder gefasst und zu einem halbwegs vernünftigen Kommentar aufgeschwungen. Aber es war ein Schock zu hören, dass Margaret Mason, die für ihn immer noch ein kleines Mädchen war, einen Freund hatte. Es konnte sein, dass Charlie seine Tochter schon im nächsten Jahr als Brautvater zum Altar geleitete – guter Gott, und vielleicht im Jahr darauf Großvater wurde. Und da Charlie und er gleich alt waren, hätte er in der gleichen Lage sein können, hätten er und Rebecca Kinder gehabt. In zwei Jahren wurde er vierzig, aber er fühlte sich immer noch als junger Mann.

Während er sich jetzt um halb zwei Uhr morgens im Bad die Zähne putzte, dachte er nur erleichtert, wie gut es doch war, dass sie keine Kinder hatten. Das Nachrücken der nächsten Generation machte einem deutlicher als alles andere das Verrauschen der Jahre bewusst. Wer Kinder hatte, alterte schneller – er wusste, dass er jünger aussah als Charlie, der schon grau zu werden begann.

Milo spie Zahnpasta ins Waschbecken und spülte sich den Mund aus. Dann drehte er den Kaltwasserhahn auf, schöpfte mit beiden Händen Wasser und schwappte es sich ins Gesicht. Nach einem Fest hatte Rebecca immer Lust, mit ihm zu schlafen, und obwohl er jetzt lieber allein gewesen wäre, um über die Ereignisse des Tages nachzudenken, wusste er, dass das nicht infrage kam. Rebecca hatte ein bisschen komisch reagiert, als er sich mit Grace King unterhalten hatte, dabei hatte sie weiß Gott keinen Grund dazu – Grace, die bei seinen Vorlesungen immer in der ersten Reihe hockte, hatte ein albernes Lachen und Hasenzähne.

Als Milo ins Schlafzimmer kam, saß Rebecca, immer noch in dem roten Kleid, an ihrem Toilettentisch und rieb sich das Gesicht mit Feuchtigkeitscreme ein. Er trat zu ihr und streichelte ihre Schulter. Sie drückte ihre Wange an seine Hand und ließ einen kleinen Schmierfleck darauf zurück.

»Müde?«, fragte er.

»Hm. Ziemlich kaputt. Aber es war ein gelungener Abend, findest du nicht?«

»Absolut.«

»Am Ende musste ich sie beinahe zur Tür hinausschieben.«

»Ist doch gut, wenn sie nicht genug bekommen können.«

Er zog langsam den Reißverschluss im Rücken ihres Kleides auf. Sie legte das Papiertuch weg, mit dem sie die Creme abgewischt hatte, und schloss mit einem leisen Seufzer die Augen. Einen Moment lang war er besorgt, ob er es schaffen würde, genug Interesse aufzubringen – er war müde und hatte zu viel getrunken –, aber als er die Hände unter Rebeccas Kleid schob, um ihre Brüste zu streicheln, bescherte ihm die Phantasie ein Bild der Eisläuferin vom Weiher, und er spürte erste Regungen der Lust.

Und es wurde, war das nicht wunderbar, der berauschende Abschluss eines geglückten Abends, auch dank Rebecca, die immer eine leidenschaftliche und hingebungsvolle Geliebte war. Eine Viertelstunde später lagen sie Seite an Seite in den Kissen, atemlos und gesättigt.

Als er etwas später einen Blick auf sie warf, waren ihre Augen geschlossen. Er glaubte, sie sei eingeschlafen. Leise stieg er aus dem Bett und zog seinen Morgenrock über.

Als er die Tür öffnete, fragte sie: »Wohin gehst du?«

»Mir ist ein Einfall zu meinem Buch gekommen.«

»Die Gedichte?«

»Nein, für den Roman.«

»Oh. Prima.« Sie schloss wieder die Augen.

Milo ging nach unten. Während er sich in der Küche ein Glas Wasser einlaufen ließ, gingen ihm Szenen des vergangenen Abends durch den Kopf. Er hatte beinahe einen Streit mit Godfrey Warburton gehabt, der überzeugt war, die Rassereinheit der Engländer wäre durch den Zustrom von Flüchtlingen vom Kontinent in ernster Gefahr. Als Milo ihn an die Zuwanderungswellen erinnerte, die England im Lauf der Jahrhunderte überschwemmt hatten, hatte Godfrey süffisant entgegnet: »Aber das ist Geschichte, mein Junge. Das ist etwas ganz anderes.« Die bedrohlichen Flüchtlinge, auf die Godfrey angespielt hatte, waren, wie konnte es anders sein, die Juden. Milo hätte Godfrey Warburton gern von ihrer Einladungsliste gestrichen – der Mann war ein Fanatiker und unerträglich gönnerhaft –, aber unglücklicherweise war er ein einflussreicher Mann. Er schrieb für den Listener und war oft im BBC zu hören. Ihm hatte Milo es zu verdanken, dass man ihn eingeladen hatte, an Gesprächssendungen im Radio teilzunehmen.

Milo nahm das Glas Wasser mit in sein Arbeitszimmer und setzte sich an den Schreibtisch. Ein Teil von ihm hatte den ganzen Abend auf diesen Moment gewartet, in dem er endlich ungestört über die Ereignisse des Tages nachdenken konnte. Wenn er einen bestimmten Augenblick hätte festhalten können, so hätte er jenen gewählt, als er am Rand des Wäldchens gestanden und die einsame Eisläuferin erblickt hatte. Ihr Anblick hatte ihn beinahe schmerzhaft getroffen. Sie schien ihn auf einen Mangel in seinem Leben hinzuweisen.

Nachdem sie sich von ihm verabschiedet hatte, war sie über den Weiher geglitten und dann mit vorsichtigen Schritten durch das Gras zu einer Bank gegangen, wo ein Paar pelzbesetzter Stiefel wartete. Milo hatte die Hände in die Taschen geschoben – er fror mittlerweile stark – und war um den Weiher herum zu der Bank gelaufen.

»Ich komme ziemlich oft nach London«, hatte er zu ihr gesagt. »Vielleicht können wir uns einmal sehen und ein Glas zusammen trinken, wenn Sie Lust haben?«

Sie hatte ihre Schlittschuhe aufgeschnürt, er konnte ihr Gesicht unter dem herabfallenden Haar nicht erkennen.

»Aber ja«, hatte sie dann gesagt. »Das wäre nett.«

Mit einem Gefühl freudigen Triumphs fragte er: »Und wo finde ich Sie?«

Die Schlittschuhe unter dem Arm, war sie aufgestanden. »Oh, Sie werden mich schon finden. Lesen Sie die Vogue, Mr. Rycroft.«

»Leider nicht.«

»Vielleicht sollten Sie das.« Damit war sie über das vereiste Gras davongegangen.

Milo sah ihr nach, bis sie verschwunden war, dann pfiff er Julia und trat den langen Rückweg zur Alten Mühle an. Tessa Nicolson hatte recht gehabt: Er hatte Mühe, im Dunklen den Weg zu finden. Er stolperte in ein Kaninchenloch, verknackste sich den Knöchel und verfing sich in Dorngestrüpp. Er fror so bitterlich an Händen und Füßen, dass er Angst vor Frostbeulen bekam. Die Vorstellung, sich in der Finsternis zu verlaufen, war beängstigend, und er war erleichtert, als er schließlich die erleuchteten Fenster der Alten Mühle erblickte.

Das Bild der einsamen Schlittschuhläuferin vom Weiher begleitete ihn den ganzen Abend: diese Entrücktheit, dieses ausdrucksvolle, schöne Gesicht, diese Hingabe an ihren einsamen Tanz. Sie hatte so lebendig ausgesehen. Vor einigen Jahren, im Urlaub an der schottischen Westküste, hatte er hoch über den Klippen einen Steinadler kreisen sehen. Daran hatte Tessa Nicolson ihn erinnert. Aber selbst jetzt arbeitete ein Teil seines Gehirns wie selbstständig weiter und bildete Wörter, die das Bild der jungen Frau verdrängten.

Milo nahm die obersten zehn Seiten seines Manuskripts, riss sie einmal durch und warf sie in den Papierkorb. Dann schraubte er seinen Füller auf und begann zu schreiben.

Tessa war auf dem Rückweg nach London sehr schnell gefahren und deshalb nur mit einer Dreiviertelstunde Verspätung zu ihrer Verabredung mit Paddy Collison gekommen. Nach dem Essen hatten sie noch etwas getrunken, dann war ein halbes Dutzend Freunde zu ihnen gestoßen und sie waren alle zusammen in ein Nachtlokal am Piccadilly gegangen.

Jetzt war es drei Uhr morgens, Tessa, der es drinnen zu heiß geworden war, stand draußen im Hof und rauchte eine Zigarette. Andere Frauen hätten so einen Abend im Kreis von zwei oder drei verflossenen Liebhabern und diversen Verehrern vielleicht schwierig gefunden, Tessa genoss so etwas. Ihr gefiel es, wenn ihre Liebhaber es sahen wie sie, dass die Liebe ein reizvolles und spannendes Spiel war und nicht allzu ernst genommen werden durfte.

Aus diesem Grund waren die Männer, mit denen sie ins Bett ging, meistens älter als sie. Raymond Leavington, zum Beispiel, war dreiunddreißig gewesen, Tessa fünfzehn Jahre voraus, als er ihr Liebhaber geworden war. Sie hatte ihn kurz nach ihrem Abgang von der Westdown-Schule kennengelernt, als sie nach London übergesiedelt war und ihre Karriere als Mannequin und Fotomodell gestartet hatte.

Mit Ray, damals unglücklich verheiratet mit seiner zweiten Frau Diana, war sie sechs Monate zusammen gewesen. Tessa wusste, dass viele den Stab über sie brechen würden, weil sie etwas mit einem verheirateten Mann angefangen hatte, aber sie hatte ein reines Gewissen. Sie legte es nicht darauf an, glücklich verheiratete Männer zu verführen. Sie legte es überhaupt nicht darauf an, zu verführen. Sie sah sich nicht als männermordenden Vamp, sie war einfach Tessa. Es wäre unaufrichtig von ihr gewesen, so zu tun, als wüsste sie nicht, dass Männer sich zu ihr hingezogen fühlten, und als gefielen ihr ihre Nachstellungen nicht, aber sie überließ die Rolle des Jägers ihnen. Sie stellte stets von Anfang an klar, dass sie nicht an einer dauerhaften Beziehung interessiert war. Sie wollte sich nicht binden. Natürlich wusste sie, dass so eine Affäre nicht ohne Risiko war, und versuchte immer vorsichtig zu sein. Trotzdem hatte sie ein paar Mal einen Riesenschrecken bekommen, weil sie glaubte, schwanger zu sein, aber zum Glück war sie mit dem Schrecken davongekommen.