Der Junge, der an das Glück glaubte - Paolo Casadio - E-Book

Der Junge, der an das Glück glaubte E-Book

Paolo Casadio

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Beschreibung

 1943 in einem abgeschiedenen Dorf in den toskanischen Bergen: Hier lebt der achtjährige Romeo, Sohn des Bahnhofsvorstehers, ein behütetes Leben. Bis eines Tages ein Güterzug voller Menschen einfährt. Ein Ereignis, das Romeos Welt aus den Angeln hebt. Denn unter den Menschen in dem Zug befindet sich auch ein kleines Mädchen. Romeo kennt die hasserfüllten Reden des Duce, und er ahnt, wohin der Zug die jüdische Flavia bringen wird. Während sein Vater und seine Mutter mit ihrem Gewissen ringen, fasst Romeo einen Entschluss. 

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Paolo Casadio

Der Junge, der an das Glück glaubte

Roman

Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki

Hoffmann und Campe

Dieses Buch ist ein Werk der Phantasie. Die geschilderten Personen und Situationen entstammen der Einbildungskraft des Autors und sollen der Erzählung Wahrhaftigkeit verleihen. Jede Ähnlichkeit mit Ereignissen oder Orten, mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig.

Auf das Jenseits

nimmt die Welt nicht die geringste Rücksicht.

Darum kommt die Welt so weit

wie die Füße sie tragen.

V. van Gogh

Oder du bist nur unter den Lebenden,

weil ich an dich denke.

G. Pascoli

Für Barbara

Prolog

Es war ein unschuldiges Tal, bewohnt von friedlichen, genügsamen Familien. Ein Tal, wo nichts dem Zufall überlassen war und jedes Geschehen, jeder Stein und jeder Mensch seine Bedeutung und seine Geschichte hatte. Auch seine Glücksmomente.

Im Glück gibt es ein Versprechen auf Leid, das verlässlich eingelöst wird. Es heißt Schicksal.

Als die Familie Tini im Juni 1935 an der Bahnstation aus rosa Sandstein ankam, empfand sie die Unschuld dieses Tals wie eine Garantie für ihre eigene Sicherheit, und so war es lange Zeit.

Unterdessen löste sich die alte Welt auf, die Regeln zerbrachen im Namen einer neuen, gefährlichen Ordnung, die die Menschen in zwei Kategorien einteilte: jene, die auf der richtigen, und jene, die auf der falschen Seite geboren waren.

Eines Winterabends kamen Menschen, die auf der falschen Seite geboren waren, in das unschuldige Tal. Sie kamen auf eine Weise dort an, die man für vergessen gehalten hatte.

»Wir stecken an einer Bahnstation im Gebirge fest, sie heißt Fornello«, versuchten sie mitzuteilen, aber das war zwecklos. Diese Menschen waren auf einer Reise ins Leere, ins Nichts, an Orte, deren wahre Ausmaße niemand begreifen konnte.

Wer dagegen zur richtigen Seite gehörte, lief keine Gefahr, vorausgesetzt, er sah nichts, wusste nichts, lehnte sich nicht auf.

Doch die Gefühle lassen sich – wie die Geschehnisse – nicht kontrollieren, damit wird das Schicksal unvorhersehbar. Die Unschuld ist verloren, auch die der Kinder. Sie würden nie mehr zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehren, weil es keine Abreise und keine Ankunft gibt. Es gibt nur die Reise und jemanden, der dich an der Hand hält.

Und jemanden, der an sie erinnern würde.

Als sie aus dem Schnee wieder hervorkamen, wusste Lucia, dass der Tag zur Nacht geworden war und die Zeit zu einer alten Wunde, und so sollte es bis zum Ende sein. Nichts und niemand würde die Bedeutung des Lebens erneuern können.

Die Ärzte begegneten der plötzlichen Finsternis mit dem Dunkel der Medikamente.

Doch das Licht kehrte nicht zurück.

Lucia blieb so lange am Rand der Ewigkeit, wie die Ewigkeit selbst währte, und als sie deren Schwelle überschritt, wurde der Tag wieder Tag.

Und sie war nicht mehr allein.

Romeo Tini

Romeo Tini kam am Morgen des 18. Juni 1935 an der Bahnstation Fornello an. Vor etwa sechs Monaten war er gezeugt worden. Wenn es nach dem Willen seines Vaters Giovanni, von allen Giovannino genannt, gegangen wäre, hätte er in Faenza zur Welt kommen müssen, im Haus seiner Familie, wo seit über hundert Jahren alle Tini geboren wurden und wo sie normalerweise weiterhin zur Welt kommen sollten.

Doch das Telegramm der Eisenbahngesellschaft ist ein Befehl und lässt keinen Spielraum: »Unverzüglicher Dienstantritt.« Das Adjektiv ist unterstrichen. Wenn er nicht Folge leistet, wird er auf die Stelle des Bahnhofsvorstehers verzichten und bis zur nächsten Stellenausschreibung weiterhin als Bahnwärter arbeiten müssen.

Der Gehaltsunterschied, überlegt Giovannino, ist zu groß und rechtfertigt ein solches Opfer. Also gehorcht er und reist ab mit schwangerer Frau, einem schweigsamen Hund unbestimmbarer Rasse namens Pipito, zwei Fahrrädern und dem Hausrat. Alle und alles in einem schmutzig grünen Gepäckwaggon, der von einer Rangierlok Modell 875 gezogen wird, einer plumpen schwarzen Raupe, deren Pleuelstangen unter einer verheerenden Arthritis leiden.

Giovannino Tini wusste noch nicht, dass sein Sohn Romeo heißen würde. Er hatte vor, die Familientradition seines Vaters, seiner Großeltern und so weiter fortzusetzen: Giovannino hieß der Vater seines Vaters, und der Vater des Großvaters hieß Anselmo, also würde er diesem Erstgeborenen – denn ein Junge musste es sein – den Namen Anselmo geben. So hatte man es bisher gehalten, so würde man es immer halten, denn Traditionen stützen das Morgen.

Lucia Assirelli, die Gattin des zukünftigen Bahnhofsvorstehers, war sechs Jahre jünger als er – also einundzwanzig – und hatte das eigensinnige Naturell der Städterin. Sie besaß noch andere interessante Eigenschaften von jener Art, die einen Mann aus der Bahn werfen können. Mit ihren runden Formen, der weißen straffen Haut, den schmalen Fesseln einer Tänzerin und einem festen Busen erinnerte sie unweigerlich an die provokanten Damen des Zeichners Gino Boccasile auf den Titelseiten der Wochenillustrierten »Grandi Firme«, die die Phantasie der Italiener beflügelten. Und eine Tänzerin war sie wirklich, sie versäumte keines der Feste, wo Musik gespielt wurde, denn sie liebte es jung zu sein, sie liebte das Leben, sie ließ sich gerne umschmeicheln und begehren. Doch das Spiel – denn es war ein Spiel – sollte enden, und nichts für ungut: Denn Lucia war in ihren Giovannino verliebt, sie glaubte fest an diese Ehe zwischen einer jungen Frau aus dem Kleinbürgertum von Faenza und dem Sohn eines Eisenbahners und hatte eine genaue Vorstellung von der Gegenwart und der Zukunft. Wer sich eine Zukunft sichern will, muss sie manchmal dazu ermuntern, und in dieser Familie hatte sie die Hosen an.

Was Giovannino betraf, so arbeitete er. Er arbeitete und lernte für den Wettbewerb um diese Stelle, die ihm einen Karrieresprung ermöglichen würde, den Wechsel von einem abgelegenen Bahnwärterhäuschen im Süden der Emilia-Romagna zu einer richtigen Bahnstation, deren Vorsteher er sein würde. Lucia wiederum, die ihren Mann und die Zukunft ermuntern wollte, hatte unzählige Male empfohlen: »Hol dir diese Wanze.«

Denn die Zeiten waren, wie sie waren, und sich verdient zu machen, tüchtig bei der Arbeit zu sein, sich als vertrauenswürdig und fachkundig zu erweisen, nützte wenig. Ein Vorankommen, das wussten alle, war den Mitgliedern des Partito Nazionale Fascista vorbehalten, denen, die dieses ovale Parteiabzeichen, das aussah wie eine Wanze, im Knopfloch der Eisenbahneruniform vorzeigen konnten.

So erfolgte der Eintritt in die Partei. Ein freilich nicht ganz überzeugter Eintritt, denn Giovannino Tini kam aus einer Familie von Sozialisten, die auch jetzt Sozialisten blieben: Keiner von ihnen dachte auch nur im Traum daran, die Farbe zu wechseln, um sich dem unbesiegbaren Duce anzupassen.

Und so erfolgte auch die Beförderung. Eine angesichts des verspäteten Parteieintritts ebenfalls nicht ganz überzeugte Beförderung, die überdies nach Verspottung aussah.

Fornello.

Die eingleisige Faenza-Linie oder auch der Streckenabschnitt Faenza-Florenz. Eine hundertundeinen Kilometer lange Strecke aus gewundenen Überführungen und Tunneln, Kurven und Gegenkurven, eine Strecke für Güterzüge mit entlegenen Stationen in den Schluchten und Falten dieses Gebirgszugs aus Kalksandstein, dem toskanisch-romagnolischen Apennin.

Fornello.

Dieser unbekannte Ortsname löste bei Lucia Assirelli eine leise Unruhe aus. Sie nahm das Erdkundebuch, mit dem sie für ihr Lehrerinnenexamen gelernt hatte, suchte die Landkarte der Emilia-Romagna und folgte mit dem Zeigefinger dem geschlängelten Lauf der Eisenbahnlinie. Lange kniff sie die blaugrünen Augen zusammen, Augen, in denen der zukünftige Bahnhofsvorsteher Tini sich wegen einer angeborenen Unsicherheit verloren hatte, überschritt dann die Grenze zur Toskana und entdeckte zwischen den Höhenlinien den unbekannten Namen. Sie fuhr sich ein paarmal durch die weizenblonden Haare, und ihre weibliche Intuition erkannte sofort, dass die Zukunft begonnen hatte, aber nicht ganz so, wie sie es sich wünschte.

Und bei diesem Gedanken gingen ihre Hände unwillkürlich zu der Rundung ihres Bauches, wo Romeo Tini ruhig schlief, und streichelten ihn.

 

Im Gepäckwaggon kann Giovannino vor Aufregung weder sitzen noch stillstehen.

Unaufhörlich bewegt sich seine kräftige, den landesweiten Durchschnitt deutlich überragende Gestalt von einem Ausguck zum anderen, um zwischen den Dampfwolken der Lokomotive auf das weite grünende Flusstal des Lamone hinauszublicken.

Seiner stattlichen körperlichen Erscheinung und den dunklen, entschlossenen Augen zum Trotz hatte Giovannino Tini das zögerliche Herz eines Krebses, schien ihm der Schritt zurück doch umsichtiger als der Gang nach vorn. Er selbst hatte in der nächtlichen Intimität des Ehebettes, nach der mit unbeschwerter Freude genossenen Lust, Lucia die Ängste und Befürchtungen seines jungen Lebens anvertraut. Einige davon waren die üblichen Ängste: die Gesundheit zu verlieren, zu erkranken, zu sterben, zu verarmen und verlassen zu werden, andere entsprangen der Rolle des Erstgeborenen, die das Schicksal ihm zugedacht hatte und die er als eine unbedingte Pflicht empfand, eine Schuld, die er – niemals ausreichend – bei den Eltern abtragen musste. Bei der Arbeit war er ein Mann, gründlich, ehrlich, gewissenhaft, in der Familie aber blieb er ein kleiner Junge und zögerte, sich die erforderliche Unabhängigkeit zu erwerben, unumgängliche Verantwortlichkeiten zu übernehmen, wahrscheinlich weil er davor zurückschreckte, eigene Positionen zu vertreten oder sich in irgendeiner Weise der väterlichen Autorität entgegenzustellen. Im Grunde freute Lucia sich über diese Geständnisse, denn sie zeugten vom Vertrauen ihres Mannes und zeigten, wie sehr er sich von den Männern der Romagna unterschied, allesamt einem Denken in starren Kategorien verhaftet, das die Welt in unabänderliche Zuständigkeitsbereiche unterteilte: Das macht die Frau, dies steht dem Mann zu, ein Denken, das psychologische Rücksichten jedweder Art nicht duldete.

Also überlegte die aufgeschlossenere junge Ehefrau, dass ein Mann, der bereit war, die eigenen Schwächen und Ängste zuzugeben, ein achtsamerer Mann war, der mehr dem Zweifel zuneigte und folglich auch befähigt war, erwachsen zu werden. Andererseits, dachte sie unter ihrem weizenblonden Schopf, liebte sie ihren Giovannino gerade darum, und solange es die Liebe gibt, erlauben Irrtümer, sich gegenseitig Gutes zu tun. Alles andere würde man sehen, wenn es da war, wie es so schön heißt.

 

Während dieses rastlosen Umherirrens von einem Ausguck zum anderen rät sein zögerliches Herz dem Bahnhofsvorsteher, Schweigen zu wahren und Lucias Blick zu meiden. Bei seinem Hin und Her folgte ihm der treue Hund Pipito, vier Flecken, schwarzer Kopf auf cremefarbenem Grund mit Kurzhaarfell. Nie hatten sie ihn bellen hören, seine einzigen Ausdrucksformen bestanden aus Jaulen und Zähnefletschen. Das Jaulen verfügte über ein recht komplexes Tonspektrum und bedeutete ja oder nein, aber zwischen diesen beiden Willensbekundungen gab es viele Varianten. Das Zähnefletschen behielt er echten oder vermeintlichen Feinden jedweder Größe vor, und damit bewies er Mut, denn er selbst besaß keine Respekt einflößende Statur. Doch der eigentliche Grund, warum erst Giovannino und dann Lucia diesen Findling liebgewonnen hatten, lag in der Art, wie der Hund am Leben teilnahm: In seinem Körbchen zusammengerollt, warf er häufig resignierte Blicke in die Welt, um dann besorgte Seufzer auszustoßen.

Lucia, die auf dem Ruhesessel des Zugführers saß, verspürte keine Lust, aus dem Fenster zu sehen, obwohl sie diese kurvenreiche Eisenbahnstrecke kaum kannte. Sie war eine willensstarke Frau, und wie auch immer dieses Fornello aussehen würde, sie würde es in Besitz nehmen, und es würde ihr Zuhause werden. Sie erwartete eine kleine Ortschaft, wenige Häuser, im Schatten des Kirchturms zusammengedrängt, mit dem eleganten Faenza in puncto Lebensart gewiss nicht vergleichbar. Aber sie hatte lang genug gelebt, um zu wissen, dass Verzicht immer nur vorläufig ist und andere Erfahrungen mit sich bringen kann. Schließlich waren sie beide vereint, und dieses erwartete Kind – das beide sich als Jungen wünschten – würde die Wahrheit ihrer Verbindung beglaubigen.

 

Noch flogen vertraute Stationen und Orte vorüber: Brisighella, Strada Casale, San Martino in Gattara. Winzige Bahnhöfe – manchmal nur zwei Fenster, eine Tür, daneben ein Hühnerstall – in einer naiven, tröstlichen Farbe, ein Rosa, das an jedem anderen Ort unstimmig gewesen wäre. Doch in diesem Tal, wo man Häuser aus Stein in Ocker und Aschgrau sah und fast keines verputzt war, zeugte eine so fröhliche Farbe vom Vorüberziehen einer Andersartigkeit, der möglichen Ankunft von Fremden. Weiter vorn wurde das Tal enger, und die ersten kurzen Tunnel tauchten auf. Der graue Rauch wurde durch die Fenster eingesogen, und Giovannino schloss sie, trotz der schwülen Junihitze.

Am Bahnhof von Marradi hielt der kleine Zug, er musste einen entgegenkommenden Zug aus der Toskana abwarten, und die Fenster wurden wieder geöffnet. Neugierig geworden, blickte Lucia hinaus, und es tröstete sie, als sie ein Städtchen sah, klein, ja, aber mit schönen Häusern und gepflasterten Straßen, Kutschen und sogar einem vorüberfahrenden Auto.

»Wird Fornello auch so sein?«

Giovannino antwortete nicht, weil er nicht antworten wollte, er deutete ein Schulterzucken an.

Die Lokführer nutzten den Halt, um aus der keuchenden Raupe zu steigen und sich an der Wasserpumpe zu erfrischen. Als der ältere der beiden sich die Mütze abnahm, enthüllte er eine kreisrunde Kuppel aus weißen Haaren, die zu seinem rußgeschwärzten Kopf in seltsamem Kontrast stand. Entschlossen steckte er den Kopf unter den Wasserschwall, rieb sich mit den Händen Gesicht, Hals und Nacken und kam wie durch ein Wunder entfärbt wieder zum Vorschein.

Giovannino und Lucia beobachteten die Szene, und während sie ihm normal erschien, prägten sich der Ablauf des Rituals und die erzielte Wirkung seiner Frau tief ein. Im Moment selbst sahen es nur die blaugrünen Augen, doch diese Szene sollte ihr später, sehr viel später wieder einfallen.

 

Er rollt, der kurze Zug, er rollt mit seinem Federbusch aus Rauch, der sich flach ausbreitet, und es scheint mehr Tunnel zu geben als Abschnitte unter freiem Himmel. Er transportiert eine Familie, einen stummen Hund, zwei Fahrräder, einen Schrank, zwei Matratzen, eine Aussteuer, Kleider, eine Bahnhofsvorsteheruniform, Hoffnungen, Ängste.

Die Fahrräder waren das Ergebnis von Giovanninos mehrdeutigem Schweigen. Lucia hatte sie kurzerhand in das umzugsfähige Hab und Gut eingeschlossen, denn sie stellte sich ein zwar kleines Städtchen, aber immerhin ein Städtchen vor, also mit Straßen, einem Spazierweg, Feldern ringsum, und hielt es darum für möglich, die Räder mehr oder weniger wie in der Ebene zu benutzen. Eine romantische Vorstellung. Ihr Mann, der die Fahrräder bereitgestellt sah und schon wusste, was sie in Fornello erwartete, hatte sich keinen Einwand erlaubt, nicht mal eine verräterische Bemerkung war ihm entschlüpft.

Nach Marradi wurde die Eisenbahnstrecke kurvenreich, faszinierend, mit ihren Spiralen, durch die sie an Höhe gewann, mit ihren schlanken Viadukten aus Stein und dem ständigen Wechsel aus blendendem Licht und Dunkel.

Hinter dem Städtchen Crespino öffnete sich ein viel längerer Tunnel, der dem Ehepaar wie eine mit beißendem Rauch erfüllte Ewigkeit erschien. Am Ausgang kniffen sie die Augen zusammen, um nicht vom Sonnenlicht geblendet zu werden. Die Lokomotive wurde langsamer. Felswände und Stützmauern trugen hellgelbe Flecken aus Strauchkronwicken und prächtig blühenden Ginsterbüschen, als hätten sie den Auftrag, Lucia und Giovannino willkommen zu heißen.

Aus dem Fenster des Gepäckwaggons sah der neue Stationsvorsteher, wie der Horizont sich nach der Kurve weitete, die Berghänge ein wenig von ihrer erstickenden Schroffheit zurückwichen, ein Wasserturm mit Steigleiter und gleich darauf der rosafarbene Bahnhof erschienen. Die Lokomotive bremste, und Giovannino bemerkte zwei reglose Silhouetten auf dem Bahnsteig vor dem Eingang. Lucia trat zu ihm, er legte ihr beschützend eine Hand auf die Schulter und strich über ihre zum Pferdeschwanz gebundenen Haare. Sie drehte den Kopf, um zu ihm aufzublicken, und ihre Augen wurden größer und strahlender. Aber ihr Ausdruck war besorgt.

 

Der Zug hält mit dem üblichen Protestkreischen der Bremsklötze. Einige Sekunden lang ist da nur der ächzende, müde Atem des Kessels, dann öffnet sich die Tür des Gepäckwaggons, und die trockene Gebirgsluft empfängt Giovannino, Gattin und Hund.

Die beiden Silhouetten auf dem Bahnsteig bekamen Physiognomien, Merkmale und, als das Pflichtgefühl sich Mut machte, auch eine Stimme.

»Guten Tag! Seid Ihr der neue Bahnhofsvorsteher?«

Der Erste, der ausstieg, war nicht Giovannino, sondern Pipito. Er sprang die Stufen des Trittbretts hinunter und beschnüffelte die Hosen des Mannes, der gesprochen hatte, danach die des anderen, der, die Mütze in den Händen, stumm geblieben war. Ein gelassenes Schnüffeln, ohne Jaulen und Zähnefletschen, eine vertrauensvolle Kenntnisnahme der Neuigkeit, um dann zwischen den beiden Platz zu nehmen und schwanzwedelnd zu warten, als wollte er sagen: »Nun, worauf wartet ihr, kommt, ihr seid dran!«

Derjenige, der nicht gesprochen hatte, ein Mann ohne Alter, wenn nicht dem des Lebensabends, mager, sonnendunkle Haut, nahm eine Hand vom Mützenrand und schenkte Pipito ein Streicheln, die Freundschaft war geschlossen.

»Ich bin der neue Bahnhofsvorsteher.«

Giovanninos Antwort hat die Wirkung eines Startschusses.

»Ich heiße Cenci Rinaldo, ich bin der zweite Stationsvorsteher, und das ist Mori Sebastiano, der Briefträger … Wir müssen uns beeilen, bis zur nächsten Durchfahrt ist es nicht einmal mehr eine Stunde, öffnet die Schiebetür …«, und beide gehen zum Waggon, dessen Tür darauf wartet, geöffnet zu werden.

Lucia beobachtet alles, und ein Angstkloß verschließt ihr die Kehle. Dieser Ort vor dem Viadukt, dieses Dickicht aus Bäumen und Ginsterbüschen um den Bahnhof, dieser Abgrund hinter dem Gebäude, der eine Schlucht oder einen Sturzbach verbergen konnte, diese Mergelschichten, die sich zwischen der Macchia hervordrängten, vermittelten ihr das Bild eines Exils, das Gefühl einer unüberwindlichen Feindseligkeit. Da halfen auch nicht das Glühen der Farben, der Duft des Ginsters, die Klarheit der Luft und die Stille in der Ferne, deren Übermacht man ahnte. Für Augenblicke, lang wie eine heilige Messe, ließ ihr weiblicher Instinkt sie taumeln unter dem Gewicht einer Realität, die stärker war als sie.

Inzwischen hatte Giovannino energisch am Griff der Schiebetür gezogen und Rinaldo beim Einsteigen geholfen. Dieser zog rasch die Truhe mit der Aussteuer heraus und übergab sie Sebastiano, ergriff flugs die Koffer, die Matratzen und die Fahrräder – vom zweiten Bahnhofsvorsteher und dem Briefträger mit verwunderter Neugierde gemustert –, und schon war der wenige Hausrat ausgeladen, der den Umzug der Familie Tini bildete.

»Bei dem Schrank müsst Ihr mir helfen, Signor Capostazione!«, befahl Rinaldo mit fester Stimme, und Giovannino gehorchte gern, um sich vom Gedanken an seine Frau abzulenken, deren Beklemmung er gespürt hatte. Angesichts der frenetischen Aktivitäten wegen der erwarteten Durchfahrt eines Zuges kam Lucia wieder zu sich, und es war, als schüttelte sie ein Netz, ein Hindernis ab. Sie stieg aus dem Zug, den Saum ihres Rocks in der Hand, damit er sich nicht im Trittbrett verfing. So wie sie mit einer Hand den Rock hielt, die andere Hand am Geländer, übertrugen sich die Sinnlichkeit der wehenden Haare, die Anmut des ernsten Gesichts und der Stolz des Blicks auf die ganze Erscheinung ihres Hinabsteigens, und die beiden improvisierten Lastenträger blieben verzückt stehen, als sähen sie diese Frau zum ersten Mal.

Es ist ein kurzes Innehalten, unwillkürlich, respektvoll und bewundernd, und zeigt Giovannino, dass sie eine solche Frau in dieser Gegend wirklich noch nie gesehen haben.

 

Das Ausräumen des Gepäckwagens ging rasch vonstatten und ließ den Waggon leer zurück.

Der Lokführer und der Heizer, die die Szene vom Gehweg aus verfolgt und sich jeder Form von Mitarbeit enthalten hatten, außer viele Zigaretten der Marke Serraglio zu rauchen, nahmen mit einer gewissen Eilfertigkeit ihren Platz wieder ein, verabschiedeten sich von Giovannino und Gattin, begannen wie verrückt Kohle in den Kessel zu schaufeln, worauf der Zug sich mit üppigen grauen Rauchwolken wieder in Bewegung setzte.

»Nach Ronta! An der Kreuzung geht’s nach Ronta! Viel Glück, Tini …«, schrie der Lokführer in väterlichem Ton, und der gute Wunsch verhallte im Rauch. Die Lokomotive entfloh in Richtung Monzagnano-Tunnel, und vor dem rosa Bahnhof blieben der Hausrat der Familie Tini, der Hund der Familie Tini, die gegenwärtige und zukünftige Familie Tini mit dem zweiten Stationsvorsteher Cenci Rinaldo und dem Gehilfen Mori Sebastiano, die Mütze wieder in der Hand, zurück.

Sie alle standen dort am 18. Juni 1935 um elf Uhr zwei Minuten mit dem Gefühl einer Frage, der sie keine einzige Antwort entgegenhalten konnten.

Das Bahnhofsgebäude

Das Bahnhofsgebäude bestand aus zwei Stockwerken plus Gemeinschaftskeller. Im Erdgeschoss befanden sich das Betriebsbüro, der Fahrkartenverkauf und ein Wartesaal mit polierten Nussbaumbänken um einen Kachelofen. Zwei Zimmer mit Küche bildeten die Wohnung des zweiten Stationsvorstehers.

Die Treppe mit schmiedeeisernem Handlauf führte in den ersten Stock, wo der gesamte Raum des darunterliegenden Stockwerks die Wohnung des Stationsvorstehers bildete. Und die Wohnung verfügte über einige in der Gegend unbekannte Annehmlichkeiten wie Toiletten, einen Becchi-Ofen und das kostbare Gut des elektrischen Stroms.

All das weiß Lucia noch nicht, Giovannino weiß mehr. Er hat diese Strecke nicht oft befahren, doch oft genug, um sich zu erinnern, und der Bahnhof ist ihm nicht unbekannt. Aber Fornello sollte auch für ihn eine Überraschung bereithalten. Nachdem sie den Hausrat auf dem Bahnsteig stehen gelassen haben, übernimmt es Rinaldo mit einem gewissen Stolz, die Familie Tini bei der Besichtigung der Wohnung, die von diesem Tag an ihr Heim sein wird, zu begleiten. Mit unvermuteter Galanterie öffnet der zweite Stationsvorsteher Lucia die Haustür, zeigt ihr die Treppe, reicht einen Arm, um ihr beim Aufstieg behilflich zu sein und präsentiert die Tür ihrer zukünftigen Wohnstatt.

Lucia zögerte. Räume haben besondere Maße, heimliche Tiefen, die man erst mit der Zeit oder eben nur in besonderen Momenten erfassen kann. Sie atmete langsam ein, sog die Luft auf, als wäre sie parfümiert und nicht der abgestandene Mief geschlossener Räume. Sie spürte die Nähe ihres Mannes und legte wieder unwillkürlich die Hand auf ihren runden Bauch, ein beschützender Reflex in der Ungewissheit. In diesem Moment war sie ein neues Tier in neuer Umgebung, einer Umgebung, die ihren Erwartungen nicht entsprach und deren Räume, Eigenart und gelebte Bedeutung sie bestimmen musste, um sie voll und ganz akzeptieren zu können. All das geschieht ohne meine Kontrolle, dachte sie, und ich muss es ertragen. Dieser Beginn erschien ihr nicht als der bestmögliche, aber sie hielt sich für stark genug, ihm standzuhalten.

Giovannino, dem es nicht an Sensibilität mangelte, verstand das Zögern seiner Frau, die ungewisse Welt, in der sie sich bewegte. Aber in dieser Krisenzeit zählte alles, was man bekommen konnte: Das bessere Gehalt als Bahnhofsvorsteher, der Karrierefortschritt und vor allem die Aussicht auf eine zukünftige Versetzung waren gute Gründe für ihre Anwesenheit in Fornello. Und so schritt er, von einem etwas forcierten Optimismus erfüllt, den die Ausstattung und Weite der Wohnung jedoch beflügelte, als Erster über die Schwelle ihres neuen Heims.

»Sieh mal, Lucia, es gibt sogar elektrischen Strom …«, und er drehte den Knopf aus Keramik, worauf die Deckenlampe aufleuchtete. Sebastiano beobachtete hingerissen, wie der Leuchtdraht glühend hell wurde, lächelte zufrieden über dieses durch Zauber erzeugte Licht, und endlich vernahm man seine Stimme: ruhig, gesittet, tief.

»Elektrischen Strom hat hier niemand.«

Das bedeutete, dass sie sich als Privilegierte betrachten sollten, und er sagte es nicht aus Neid. Fast schien er einen sozialen Abstand bestätigen zu wollen, ihre Zugehörigkeit zu einer Kaste, die der Zufall oder das Schicksal zur Überlegenen bestimmt hatte, und damit drückte er schon seine Anerkennung der Neuankömmlinge aus. Denn so ist es ja, Privilegien machen die Unterschiede aus, und Unterschiede bilden die Abstände zwischen den Menschen.

Die Wohnung war groß, gut gepflegt und komfortabel. Öffnete man die Fensterläden, ließ sie sich mit weichem Licht füllen, und Pipito erforschte sie bis in alle Ecken, jene Bestimmung der Räume vornehmend, die Lucia in ihrer Verwirrung nicht vermocht hatte. Und da Pipito sich als Hund mit bescheidenen Ansprüchen betrachtete, beendete er den schwierigen Vorgang mit dem ersten Jaulen, seit er aus dem Zug gestiegen war: ein zustimmendes Jaulen.

»Wohin führt diese Tür?«

Auf dem Absatz der Eingangstreppe gab es drei Türen. Zwei gehörten zur Wohnung, denn man konnte die Küche direkt vom Treppenhaus aus betreten, ohne durch das Esszimmer gehen zu müssen. Und die dritte?

»Die Schule«, erklärte der zweite Stationsvorsteher.

»Die Schule?«, fragte die Familie Tini im Chor zurück. Rinaldo drehte den Türknauf und zeigte ihnen ein Zimmer mit drei Zweierpulten und einer aufgebockten Tafel.

»Die Schule. Hierher kommen alle Kinder aus dem Tal. Bis nach Gattaia ist es zu weit.«

»In welcher Klasse sind sie denn?«, fragte Giovannino.

»In allen«, antwortete der zweite Stationsvorsteher seelenruhig. »Es sind fünf Kinder, und jedes ist in einer anderen Klasse. Aber es gibt nur einen Lehrer.«

Sofort ergriff Giovannino Tini die Gelegenheit: »Von heute an nicht nur einen. Meine Frau ist Lehrerin.«

Die unvermutete Aussicht, als Lehrerin zu arbeiten, erschien Lucia Assirelli wie ein schüchternes gutes Vorzeichen. Denn sie unterrichtete gern, und es war ein harter Verzicht gewesen, eine Entscheidung aus Liebe. Sie sagte nicht ja und nicht nein, weil sie an das Kind dachte, das sie erwartete, und an die daraus erwachsenden Pflichten. Sie sagte nicht ja und nicht nein, weil sie um ihren unbefriedigten Wunsch wusste und wie wenig Überredungskunst nötig sein würde, damit sie nachgab.

»Signora, Signor Capostazione … Es ist Mittagszeit, wenn Ihr mit mir essen möchtet … Ihr auch, Sebastiano, nur keine Umstände.«

»Wäre es nicht besser, erst unsere Sachen reinzubringen?«, wandte Giovannino Tini ein. Der zweite Stationsvorsteher verhehlte seine Verwunderung nicht. Man hatte ihm erzählt, dass die Leute im Flachland es immer eilig hatten, immerzu rannten, und da er mit ihnen arbeiten musste, schien es angebracht, sofort eine entsprechende Botschaft auszusenden, denn seit jeher passte sich an, wer hierherkam, nicht umgekehrt.

»Die stiehlt niemand, und außerdem wird es erst spät in der Nacht regnen.«

Jetzt war es Giovannino Tini, der sein Erstaunen nicht verbarg. Er ging zum Fenster, hob die Augen zum kristallklaren Himmel ohne das geringste Anzeichen von Wolken.

»Wie könnt Ihr sicher sein, dass es heute Nacht regnen wird?«

Rinaldo hatte Mühe, den bekundeten Zweifel, ja, den Sinn der Frage zu verstehen. Es war, als hätte man ihn gefragt, warum er atmete. Dann fiel ihm wieder ein, dass diese Leute aus dem Flachland kamen, aus den Städten, und schwerlich wissen konnten, was es bedeutete, dass die Luft zu still stand, ohne jeden Windhauch, dass die Eberwurz mit unmerklichen Bewegungen ihre faserigen Blütenblätter einzog, dass der Rauch der Lokomotive sich flach ausbreitete und nicht als Säule hochstieg, dass die Schwalben tiefer flogen. Der zweite Stationsvorsteher Cenci Rinaldo sagte sich, dass ein Anflug seiner Erfahrenheit hier nicht fehl am Platze war, und bot eine bewusst kindliche Antwort.

»Weil ich es weiß.«

Ein leises, gleichmäßiges Klingeln untermalte seine Worte und hörte nicht auf. Der zweite Stationsvorsteher schlug sich mit der typischen Geste der Erinnerung an etwas Wichtiges gegen die Stirn.

»Ich habe die Durchfahrt vergessen, Madonnina!«, und schickte sich an, eilig die Treppe hinunterzulaufen. Doch Giovannino hält ihn fest, überholt ihn.

»Halt! Ich bin der Stationsvorsteher …«, ruft er energisch und läuft selbst nach unten, geht auf den Bahnsteig, nimmt den alten Lederkoffer, öffnet ihn und holt eine schwarze Uniformjacke mit dem glänzenden Monogramm FS an den Kragenaufschlägen heraus, dann eine Fliege, einen roten Zylinderhut mit Zierkordel, dem geflügelten Rad und den goldenen Tressen, und innerhalb einer Minute ist Giovannino fertig angezogen – gerade noch rechtzeitig, denn das Tal erfüllt nun zunächst ein lautes Schnaufen, dann ein bisschen schwärzlicher Rauch, und der erste Zug hält kreischend vor der Signalscheibe des Bahnhofsvorstehers Tini.

Aus den drei Wagen dritter Klasse steigt nur eine Frau aus.

Gebeugt und schmal wie eine Sichel, das Gesicht hinter dem schwarzen Tuch unerkennbar, ein Weidenkorb mit Eiern und einer Stange toskanisches Brot, ihr Rock schleift fast über den Boden. Sie schenkt dem Stationsvorsteher, der stolz seine neue Uniform präsentiert, keinerlei Beachtung und zeigt sich nicht interessiert an dem aufgestapelten Hausrat, nicht einmal an den Fahrrädern, sondern schlägt den parallel zum Viadukt laufenden Pfad ein und verschwindet in der Vegetation. Giovannino, der wenigstens einen Gruß erwartet hatte und bereit war, ihn zu erwidern, bleibt enttäuscht zurück, blickt auf die Uhr, ohne die Abfahrtszeit zu kennen, schwenkt die Signalscheibe im regelmäßigen Rhythmus, den man ihn gelehrt hat, bläst in seine kleine Pfeife, und der Zug fährt weiter in Richtung Romagna, langsam, dampfend, erhitzt von der Bergauffahrt, und wird vom Eingang des Tunnels verschluckt.

»Das ist die Witwe Fanciullacci«, erklärt Rinaldo, der Giovanninos Enttäuschung bemerkt hat. »Jeden Dienstag bringt sie ihrem Mann in Ronta Blumen. Sie spricht mit niemandem. Wundert Euch darum nicht.«

 

Das Mittagessen stimmt Lucia wieder versöhnlich, sie fühlt sich schon etwas heimischer.

Der zweite Stationsvorsteher hatte unbekannte Gerichte mit ebenso unbekanntem Geschmack zubereitet. Tagliatelle mit Kastanienbrei zum Beispiel oder eine flache Torte aus Kastanienmehl, die Lucia »castagnaccio«, Cenci Rinaldo aber »pattona« nennt. Lucia Assirelli ist nicht wählerisch beim Essen, sie probiert neugierig, möchte wissen und informiert sich, wie dieses und jenes zubereitet wird, welche Zutaten in diesem und jenem sind. Auch Pipito, der bei ihnen in der Küche sein darf, riecht vorsichtig an diesen unbekannten Happen, blickt seine Besitzer fragend an, dann entschließt er sich, und es ist ein einziges Maullecken.

Giovannino isst mit Appetit, insgeheim erleichtert zu sehen, dass die Anspannung seiner Frau nachlässt, ihre Enttäuschung über diesen abgeschiedenen, einsam gelegenen Ort weicht. Mit der Zeit würde sie sich anpassen, überlegte er, das Kind würde neue Aufgaben mit sich bringen, und auch die Schule würde sie in Anspruch nehmen, denn er hatte bemerkt, wie anziehend der Gedanke für sie war, er kannte die Wünsche seiner Lucia: Für ihr Kind und für Kinder allgemein würde sie alles tun.

Daran, wie sie saßen, worauf sie saßen, erkannten sie das Junggesellenleben des zweiten Stationsvorstehers. Er hatte schon Mühe gehabt, vier Stühle zu finden, nun gut, dann passten sie eben nicht zueinander, und einen musste er sogar aus dem Wartesaal holen. Neben drei Tellern guten Geschirrs gab es einen vom häufigen Waschen angestoßenen Teller, während die Gläser miteinander um das sonderbarste Aussehen wetteiferten. Aber als Koch machte Rinaldo sich nicht schlecht, und der Wein floss angenehm durch die Kehle, ganz ohne Säure. Unangenehm waren allein die Fliegen, lästig und zahlreich, obwohl der Briefträger die Klatsche zückte und spiralförmiges Fliegenpapier von der Decke baumelte.

»Ihr habt ein Fliegennetz im Schlafzimmer. Das hat der vorherige Stationsvorsteher hinterlassen, Ihr werdet gut schlafen.«

»Wohin ist der alte Bahnhofsvorsteher gegangen?«, erkundigte sich Giovannino.

»Nach Florenz, an die Station Rifredi.«

»Dann hat er Karriere gemacht …«, und er warf seiner Frau einen Blick zu, als wollte er sagen: Siehst du? Ein kleines Opfer und dann … Lucia bemerkte den Blick nicht, ihre Hand lag wie üblich schützend auf dem Bauch, der Kopf war in Gedanken und leichter Müdigkeit versunken.

Sebastiano aß mit der Briefträgermütze im Nacken, aber sicher nicht, weil er unerzogen war – in der kleinen Küche gab es keinen Platz, um sie abzulegen. Er aß recht still, das musste sein Charakter sein, ehrerbietig und wortkarg. Giovannino betrachtete ihn und konnte ihm kein Alter zuordnen, er mochte ein junger Mann sein, der alt geboren wurde, oder ein Alter, der sich in seiner Jugend nicht aufgezehrt hatte. Wie auch immer, Giovannino vermutete, dass er – am Geburtenregister gemessen – der jüngste der drei Männer am Tisch war, und sich in gewisser Weise als ihr Vorgesetzter zu wissen, weckte seine charakterliche Unsicherheit.

Lucia bemerkte, dass die Stille des Tals doch nicht so geräuschlos war. Sie hörte ein unbestimmtes, rhythmisches Brummen, das gedämpfte Rasseln von Eisen, Anzeichen eines unmerklichen Lebens, wie das Wimmeln von Ameisen, das man staunend entdeckt, wenn man sich das Erdreich von nahem ansieht.

»Was sind das für Geräusche?«

»Der Mähdrescher«, erklärte der Briefträger, ohne noch etwas hinzuzufügen. Lucia erhebt sich, um ans Fenster zu gehen, und ihr Blick ist ein Sprung, eine Brücke, die diesen tiefen Spalt, diesen geheimnisvollen Sturzbach neben dem Bahnhofsgebäude überquert. Weiter hinten erkennt sie endlich sauberes Unterholz, krumme Bäume von einer Art, die sie noch nie gesehen hat, Pfade, deren Spuren sich zwischen den unterschiedlichen Höhen verlieren, kleine, abschüssige Parzellen von einer Farbe wie ihre Haare, und weiter oben auf dem freien Bergkamm reglose weiße Flecken, die weiden. Sie schärft die Augen, dreht leicht den Kopf, da werden die Umrisse zur Linken, die sie für eine Felswand gehalten hatte, zu einem Gehöft, und was aussah wie ein verlassener Steinhaufen, belebt sich, es sind Rinder, und dieser einsame Steinblock stößt Rauch aus, es ist ein Mähdrescher bei der Arbeit, es gibt sogar winzige menschliche Gestalten.

Der Briefträger erklärte ihr, der Padrone der Brancobalardi – das waren die Häuser, die man oben auf dem Kamm der Giogana kaum erkannte – sei ein Hauptmann der Forstmiliz. Den Mähdrescher habe er Stück für Stück, Schraube für Schraube zerlegt und mit Maultieren und der Kraft von hundertneunundsiebzig Männern bis hierher bringen lassen, wirklich hundertneunundsiebzig, denn weil die Maschine nirgendwohin fahren durfte, hatte sie keine Räder: ein funktionstüchtiges Mahnmal.

Die Erzählung regt Lucias Phantasie an, erinnert sie an die fünfzehn Schiffe von Cortés, die auf dieselbe Weise durch das Reich der Azteken transportiert wurden, und diese verrückte Geschichte scheint ihr kennzeichnend für das ganze Tal. Staunend entdeckt sie seine pulsierende, unveränderliche Wirklichkeit, ihr ist, als vernähme sie sogar den fernen Duft gedroschenen Korns.

 

Am Abend überfiel die Familie Tini große Müdigkeit.

Der letzte Zug fuhr um 20 Uhr. Nicht, dass es viel Verkehr gab: Während Lucia am Nachmittag ihre Aussteuer und die Unterwäsche in der Truhe hinter dem Bett verstaute, zählte sie vier Züge, und niemand stieg aus oder ein. Giovannino half ihr, Ordnung zu schaffen, er machte sich mit dem Haus vertraut, doch wenn er das mittlerweile vertraute Klingeln hörte, zog er sich blitzschnell um und übernahm das Kommando auf dem Bahnhof. Obwohl er genau wusste, aus welcher Richtung die Züge kamen, ob aus Mugello oder aus der Romagna, blickte er gleichgültig mal zu dem einen, mal zum anderen Tunnel hin, ohne sein Wissen beobachtet von Rinaldo, der halb versteckt am Fenster stand. Und Rinaldo schüttelte den Kopf, ihn amüsierte dieser baumlange Stadtbürger, der sich schon für einen Bahnhofsvorsteher hielt, nur weil er den Wettbewerb um diese Stelle gewonnen hatte. Diese Wettbewerbe, das wusste Rinaldo, gewannen die Parteimitglieder, nicht die Befähigten. Und der hier war ein Parteimitglied, einer, den man empfohlen hatte, so lief das. Aber dieser Giovannino Tini missfiel ihm nicht, und er dachte, dass er es weitaus schlechter hätte treffen können.

Am Abend waren sie also sehr müde. Nach dem letzten Zug, in den Sebastiano einstieg – er wohnte in Ronta und kam nur zweimal in der Woche nach Fornello –, ließen sie sich vom zweiten Stationsvorsteher die Reste vom Mittagessen servieren, und nach dem Essen genehmigte sich Giovannino ein zusätzliches Gläschen. Er schloss das Büro ab, in dem Pipito schlief – er hatte ihm einen Schlafplatz aus zwei zusammengerollten Decken bereitet –, schloss den Bahnhof ab, löschte das Licht im Wartesaal und nahm die Treppe, um auch den Tag abzuschließen.

Lucia ist im Bad, sie steht vor der Waschschüssel aus Keramik. Ihre blonden Haare hat sie gelöst und bürstet sie jetzt sorgfältig, dabei beobachtet sie sich im runden Spiegel. Sie trägt ein Nachthemd aus weißem Leinen, es reicht ihr bis zu den Knien, und darunter ahnt man das Unterkleid. Nach beendeter Abendtoilette bleibt sie unschlüssig in der Tür zum Schlafzimmer stehen. Giovannino zieht sich gerade aus, hängt die Uniformjacke ordentlich auf einen Bügel, legt den Zylinder in die Truhe und schiebt die Schuhe unter den Nachttisch. Dann stellt er den Wecker auf sechs Uhr, eine Stunde vor der ersten Durchfahrt. Er sieht Lucia in der Tür stehen, ihr Busen ist durch die Schwangerschaft voller geworden, ihr Bauch hat diese neue weiche Mondrundung, und er bekommt große Lust, sie zu liebkosen, mit ihr zu schlafen. Dann hält ihn der Gedanke an den zweiten Stationsvorsteher direkt unter ihnen zurück. Er würde alles hören, und Giovannino schämt sich.

Im Tal haben alle Tätigkeiten aufgehört, die dunkle Nacht bricht an, von den schwachen Petroleumlichtern in den Häusern kaum gestört. Der Himmel ist sternenübersät, wie sie ihn noch nie gesehen haben, die Luft so reglos wie Eis, und in der vollkommenen Stille setzt der im tiefen Spalt verborgene Gebirgsbach neben dem Bahnhof seinen endlosen Weg in Richtung Flachland fort.

 

Als sie zusammen, einander nahe waren und Giovannino die Wärme von Lucias Körper spüren konnte, gab es mehr Stille als Worte, mehr Seufzer als Stöhnen. Was sie während des Tages gedacht hatten, machte der ersehnten Zärtlichkeit Platz, ineinander verschlungenen Händen, in heimlicher Lust sich biegenden Rücken. Alles schien sich in wenigen Augenblicken aufzulösen, um sie erschöpft und befriedigt zurückzulassen. Sie schliefen in enger Umarmung ein.

Keiner der beiden sah ein paar Stunden später den jähen hellen Schein im nächtlichen Dunkel, einen über dem Bergkamm aufzuckenden Blitz. Das dumpfe Grollen, das auf den Lichtschein antwortete, drang fremd in Romeos Träume, und vielleicht hatte das Kind darum niemals Angst vor dem Donner.

Aus dem Schlaf geweckt, schüttelten die Blätter der Kastanienbäume sich unter einem peitschenden Windstoß. Lucia erwachte aus Giovanninos Umarmung – vielleicht war es auch Romeo, der sie weckte, vom Donnergrollen neugierig gemacht –, stellte sich ans Fenster und öffnete die Läden. Der Himmel war nicht mehr sternenbedeckt, das Dunkel kompakt, einförmig, bedrohlich. Über der Bergkette sah sie von den Wolken getrübte Blitze, die sich auf einer weiten Fläche verteilten, gefolgt von undeutlichem Grollen.