Der Kampf um Gold; Panik; Fahrt ins Nichts - Reinhold Eichacker - E-Book

Der Kampf um Gold; Panik; Fahrt ins Nichts E-Book

Reinhold Eichacker

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Beschreibung

»… Sofort!« nickte Regierungsrat Glas Schneider über die Schulter zurück. Er schlug die Doppeltüren des Zimmers so hastig ins Schloss, dass die lederne Aktenmappe ihm rauschend entglitt und aufspringend vor seine Füße fiel. Ein ganzer Stoß von Papieren schoss über den Teppich des Vorraums und flatterte unter die seitlichen Stühle. Sogleich sprangen mehrere Herren hinzu und bemühten sich um die flüchtigen Blätter. Regierungsrat Glasschneider griff nach dem wackelnden Kneifer und suchte erfolglos die Mappe zu fischen. Ein älterer Herr, schwarz gekleidet und vollbärtig, reichte sie ihm. »Danke!«, sagte er prustend, die Akten verstauend. Sein Gesicht war rot geworden. Mit einer eckigen Geste sah er über die wartenden Köpfe. Der Vorraum war fast gefüllt bis zur Treppe. Eine unheimliche Ahnung stieg dem Regierungsrat auf.

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Der Kampf ums Gold

Panik

Die Fahrt ins Nichst

 

 

Reinhold Eichacker

 

 

 

 

Verlag Heliakon

 

2022 © Verlag Heliakon, München

Umschlaggestaltung: Verlag Heliakon

Titelbild: Pixabay (Cleverpics)

 

Herstellung: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

 

www.verlag-heliakon.de

[email protected]

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

 

 

Max Valier, München

dem Metaphysiker und Sternforscher

zugeeignet

 

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Title Page

Der Kampf ums Gold

Panik

Die Fahrt ins Nichts

 

 

Der Kampf ums Gold

dem Metaphysiker und Sternforscher zugeeignet

 

 

 

»… Sofort!« nickte Regierungsrat Glas Schneider über die Schulter zurück. Er schlug die Doppeltüren des Zimmers so hastig ins Schloss, dass die lederne Aktenmappe ihm rauschend entglitt und aufspringend vor seine Füße fiel. Ein ganzer Stoß von Papieren schoss über den Teppich des Vorraums und flatterte unter die seitlichen Stühle.

Sogleich sprangen mehrere Herren hinzu und bemühten sich um die flüchtigen Blätter. Regierungsrat Glasschneider griff nach dem wackelnden Kneifer und suchte erfolglos die Mappe zu fischen. Ein älterer Herr, schwarz gekleidet und vollbärtig, reichte sie ihm.

»Danke!«, sagte er prustend, die Akten verstauend. Sein Gesicht war rot geworden. Mit einer eckigen Geste sah er über die wartenden Köpfe. Der Vorraum war fast gefüllt bis zur Treppe. Eine unheimliche Ahnung stieg dem Regierungsrat auf.

»Was wünschen die Herren —_bitte?«, fragte er unsicher forschend. — »Regierungsrat Glasschneider …«

Der andere murmelte kurz einen Namen‚ sich flüchtig verneigend.

»Die beiden Kommissionen von der Saar und vom Rheinland«, erklärte er mit einer Handbewegung über die Herren.

»Um Gottes willen!«, stöhnte der Rat auf.

Der Graubärtige zuckte unwillig die Schultern.

»Wir wurden für drei Uhr hierher bestellt, um über die Leiden des besetzten Gebiets zu berichten. Hier die Einladung der Kanzlei …«

Der Regierungsrat trippelte nervös auf der Stelle.

»Die Einladung — die Einladung — ja gewiss … Aber das war doch vor Tagen, vor vollen acht Tagen. Seitdem ist doch alles verändert. Alles steht auf dem Kopf hier! Haben die Herren denn keine Zeitungen gelesen? Ich bitte, — das neue Ultimatum aus Frankreich … Alles ist hier in größter Erregung. Die sämtlichen Minister und Parteiführer warten drüben im Saal. Es soll heute entschieden…«

»Aber wir?« versuchte der andere nochmals.

Der Regierungsrat schnitt eine wehe Grimasse.

»Was — wir? Herr? Verstehen Sie denn nicht? Glauben Sie, dass die Regierung in dieser Stunde noch Zeit hat, Ihre Deputation zu empfangen? Morgen, übermorgen — in acht Tagen. Fragen Sie wieder an, wenn Sie wollen, telefonisch, telegrafisch …! Heute ausgeschlossen, einfach ausgeschlossen, meine Herren! Wo alles drunter und drauf geht — auf dem Spiel steht — — ausgeschlossen — — also bitte!«

Das letzte verklang schon in der sich öffnenden Türe des Reichskanzlerzimmers.

Laute Rufe des Unwillens folgten ihm aus der wartenden Runde. Sofort schoss das bleiche Gesicht wieder vor.

»Aber Ruhe! — Ich bitte ergebenst die Herren um Ruhe! Exzellenz lässt Sie bitten, den Vorraum zu räumen.«

Der Kahlkopf verschwand in der schnappenden Türe. Beim Eintritt des Rats wich eine Gestalt vor der Türe ins Zimmer.

»Pardon!« sagte Glasschneider, sich hastig verbeugend. »Ich hatte Exzellenz nicht gesehen.«

Der Reichskanzler ließ sich im Rundlauf nicht stören. Er rieb seinen Arm, den die Türe gestoßen. Seine faltigen Hosen flatterten um die mageren Beine wie Segel bei flaute. Das hagere Gesicht zuckte in unbeherrschter Erregung.

»Ja — was ist denn? — Also was denn?!«, stöhnte er nervös, mit gebrochenen Augen.

»Die Kommission aus dem Rheinland — gerade heute —! Ich habe die Leute natürlich …«

»Nein — nein —_nein!« fauchte der Reichskanzler giftig. »Was scheren mich denn diese Leute da draußen! — Ich meine natürlich, wie steht es da drüben. Sind alle versammelt — kann die Sache bald losgehen …? Man wird ganz verrückt von dem ewigen Warten!«

Der Regierungsrat wurde noch einen Grad steifer.

»Ich kam, Exzellenz eben Meldung zu machen. Es ist alles versammelt. Exzellenz wird erwartet.«

Doktor Elsässer blieb einen Augenblick stehen. Sein Gesicht wechselte plötzlich die Farbe.

»Na — also, warum sagen Sie das nicht gleich. Also kommen Sie — gehen wir! Wo denn? Na, vorwärts.«

»Hier, Exzellenz …«, mahnte der Rat, da der Kanzler vor Hast beide Türen vertauschte.

Doktor Elsässer drückte das Schloss zögernd nieder und sah durch das Zimmer, als suche er Hilfe.

»Einen Augenblick noch, lieber Glasschneider, bitte!«

Sein Ton war verändert, fast herzlich und bittend. Er legte die Hand auf die Schulter des anderen.

»Glasschneider!«, sagte er, seine Aufregung dämpfend. »Wir arbeiten schon lange zusammen. Zwei Jahre beinahe. In dieser Stunde entscheidet sich alles. Sie wissen, mein Lieber, ich schätze Ihr Urteil — als Mensch und Kollege —«

Über die ledernen Züge des Rats lief, ein flüchtiges Zucken, doch fing er das Lächeln.

Der Kanzler stieß hörbar die Luft durch die Nase.

»Was würden Sie tun, lieber Rat, auf die Forderung Frankreichs? Was? Ganz impulsiv, nur aus Ihrem Gefühl. Wie?«

Seine Augen bettelten fast um die Antwort.

»Ich würde sie ablehnen, Exzellenz«, sagte Glasschneider trocken. »Sie ist unannehmbar.«

Ins bleiche Gesicht Doktor Elsässers kam wieder Farbe. Gewaltsam gab er sich eine kraftvolle Haltung.

»Ablehnen! Ja, ablehnen!«, sagte er stürmisch. »Das war auch mein Wille. Ohne Wanken — nur stark sein! Also gehen wir — vorwärts!«

Seine Hand griff die Klinke, doch ohne zu öffnen. Seine kraftvolle Haltung sank in sich zusammen, als ginge die Luft aus.

»Glasschneider!«, klagte er mutlos. »Es geht aber doch nicht! Es geht nicht! Die Folgen! Man kann es nicht wagen. Bedenken Sie doch nur! Es wäre entsetzlich. Was tun in der Lage? Wer kann mir nur raten?!«

Der Rat zog die Lippen verächtlich nach unten.

»Einmal muss es gewagt werden, Exzellenz. So geht es nicht weiter.«

Doktor Elsässer runzelte heftig die Brauen. Seine Stimme nahm Klang an.

»Was geht so nicht weiter? Was? Soll das Kritik sein, so muss ich Sie bitten, Herr Regierungsrat Glasschneider — — Ich allein trage die Verantwortung für meine Entschlüsse, nicht meine Beamten! Es ist auch nicht jedem gegeben, das Rechte zu wählen, selbst in solcher Lage … Ich bleibe ihr Meister. Also gehen wir hinüber! Man muss nur die Kraft haben —«

»— — schlapp sein zu können!« ergänzte der andere ihn in Gedanken. Dann folgte er wütend dem Kanzler zum Saal.

 

* * *

 

»— — Himmelkreuzschock!«

Der deutschnationale Parteiführer hielt es nicht länger aus. Auf seiner Schläfe stand die Schlagader wie eine bläuliche Schnur. Von der Seite des Unabhängigen kam ein höhnisches Lachen.

Der Reichskanzler warf einen ängstlichen Blick in die Runde.

»Meine Herren, ich bin noch nicht fertig!«, sagte er tadelnd. »Sie haben die Not im Wortlaut gehört. Über den Inhalt sind wir wohl alle im Bild. Frankreich fordert die Aktienmajorität und sämtliche Aufsichtsratsstellen der deutschen chemischen Industrie und der großen Konzerne. Mit anderen Worten die Unterbindung aller chemischen Erfindungen und die Kontrolle über Deutschlands gesamte Technik. Es fordert die Auslieferung einiger unserer bedeutendsten Chemiker, weil sie sich durch ihre Verdienste im Kriege 14-18 …«

»… Nein, der Krieg dauert jetzt noch!« unterbrach ihn Graf Zieten.

Doktor Elsässer zuckte nervös mit den Armen.

»— — Weil sie sich im Kriege um unsere chemischen Kampfmittel Verdienste erworben haben und dadurch ihre Gefährlichkeit für die ganze Welt, vor allem für Frankreich bewiesen hätten.«

Der Führer der deutschen Volkspartei schüttelte unwillig den Graukopf.

»Sie fordern weiter den Abbruch aller strategischen Eisenbahnen, den Abbruch der Fußgängerbrücken über den Rhein. Die Auslieferung aller Sensen, Äxte, Beile, Dreschflegel und anderer zum Franktireurkrieg geeigneten Waffen in einer Zone von hundert Kilometer Breite östlich des Stromes …«

Die Faust des Innenministers fiel wie ein Klotz auf den Tisch.

»Es ist ein Skandal! Das ist nicht zu ertragen!«

Graf Zieten sprang von dem Stuhl auf.

»Ich beantrage, jede Diskussion über eine derartige Schmachnote als Deutschlands unwürdig abzulehnen und den Wisch zu zerreißen …«

Der Zentrumsführer rieb ängstlich die Hände.

»Aber, bitte, Herr Graf — — nur die Ruhe, die Ruhe…!«

»Was, Ruhe! Bei solch einem Schandwisch noch ruhig!« wetterte Zieten. »Wir sind viel zu lange schon ruhig geblieben!«

Der Reichskanzler fasste die Glocke. Der Wortwechsel griff immer stürmischer um sich. Hilflos fuchtelte er mit den flatternden Akten.

»Meine Herren! Meine Herren!« bat er heiser. Es währte Minuten. Die Stimmen verebbten. »Es handelt sich um einen Entschluss von entsetzlicher Tragweite. Wir dürfen nichts üb erstürzen. Eine schroffe Ablehnung könnte weit schlimmere Folgen. — — Durch kluge Verhandlung lässt sich ja manches noch mildern. — — Ich glaube, ein Nachgeben in weitesten Grenzen …«

Zietens Kopf war blaurot. Wie ein Stier vor dem Stoß stand er breit vor dem Kanzler. Doktor Elsässer zuckte erschrocken zurück, als der riesige Schädel so dicht vor ihm aufschoss.

»Exzellenz!« schrie der Graf. Seine Kinnbacken bebten. »Ein Hundsfott, wer diese Zumutung annimmt!« Mehrere Abgeordnete und der Minister des Inneren schüttelten Zieten begeistert die Hand. Die Vertreter der Mehrheitssozialisten redeten laut auf die USP. ein. Der Kanzler bog sich unschlüssig, fast flehentlich auf seinem Platz.

»Hilflose Mumie!«, schimpfte der Führer der Deutschdemokraten. Sein Kollege von der Volkspartei nickte ihm zu.

»Es ist unannehmbar.«

Der Kommunist Breitner stand störrisch beiseite. Sein zergerbtes Gesicht mit der niedrigen Stirne war bleich und verbissen. Um seine gekniffenen Lippen lag höhnisches Grinsen. Die auf ihn einstürmenden Reden des Sozialdemokraten prallten an ihm ab, wie einlästiger Regen. Zieten durchbohrte ihn mit seinen Blicken.

»Ein Hundsfott — —!«, brüllte er nochmals.

Der andere grinste. »Ich bitte ums Wort!«, rief er knarrend und schneidend.

Man wich unwillkürlich zurück. In den Augen des übelberüchtigten Redners stand tückisches Funkeln.

»Der Abgeordnete Breitner!«, keuchte der Kanzler.

Breitner stand, eine Hand in die Tasche versenkt, und wartete ruhig, bis man auf ihn hörte.

»Der Herr Graf macht wieder nach alten Rezepten in, Kraftmeiergesten. Er kann es sich leisten. Wir Arbeiter nicht. Wenn wir dem Herrn Grafen gemäß handeln wollten, so hätten wir morgen die Feinde im Land. Der Herr Graf würde sich auf seine Klitsche zurückziehen und wir Arbeiter hätten es auszubaden. Wir danken dafür. Gegen die Franzosen haben wir nichts — —«

Wieder schwoll ein Entrüstungssturm auf. Die Pultglocke gellte. Breitner hob seine Stimme.

»— — solange sie sich nicht als Feinde benehmen. Das werden sie nur, wenn die Deutschen sie reizen. Unsere Politik ist bekannt. Wir lehnen jeden Krieg ab — — —«

»Nur nicht gegen die Deutschen!«, rief die Volkspartei spöttisch. Breitner strich es beiseite.

»Das ist kein Krieg. Das ist Notwehr.«

Zieten griff nach dem Sessel, als suche er Waffen. Breitner ließ sich nicht stören.

»Wir lehnen jeden Krieg ab«, wiederholte er störrisch. »Infolgedessen haben wir gar nichts dagegen, dass Frankreich sich auch gegen jeden Krieg sichert. Es arbeitet damit nur nach unseren Wünschen, da wir ohne Hilfe die Militaristen in Deutschland nicht zwingen — —«

»Ruhe, bitte!«, stöhnte der Kanzler, als sich wieder Lärm hob. Er wischte sich perlenden Schweiß von der Stirne. Der Kommunist ballte die Fäuste. Sein Blick wurde lebhaft.

»Weil wir jeden Krieg hassen, haben wir nichts gegen die Auslieferung sämtlicher Waffen.«

»Und die versteckten Waffen der Kommunisten?« rief Graf Zieten.

»Wir haben ferner nichts gegen die Unterdrückung der Giftgaschemie, gegen die Unterbindung des Luftverkehrs. Wir Arbeiter haben doch nichts davon. Wir können uns Luftsegeleien nicht leisten. Das ist nur für Junker und Kapitalisten. Wir sind auch nie nationalistisch gewesen. Wir kennen kein Vaterland, das Deutschland heißt. Es ist uns ganz gleich, ob in unseren Aufsichtsräten Deutsche oder Franzosen, Engländer oder Kaffern sitzen, solange wir Arbeiter gleich hoch verdienen. Wir Arbeiter sind die Seele des Werkes, nicht die Aufsichtsräte, die sich mit unseren Schweißtropfen mästen. Wir Kommunisten sehen keinen Grund, uns aus stolzen Gefühlen ins Feuer zu setzen. Gibt der Franzose uns fernerhin Arbeit und zahlt die Tarife — uns kann es nur recht sein.«

»Hundekerl!«, knirschte Graf Zieten. Seine Blicke fraßen den Gegner.

»Ich rufe Sie zur Ordnung, Graf Zieten!«, hauchte der Kanzler. Niemand hörte auf ihn.

In Breitners Gesicht stand ein teuflisches Fletschen.

»Auch gegen die Auslieferung der Erfinder von Giftgas und ähnlichen Nippsachen haben wir gar nichts. Als Kriegsgegner halten wir sie für Verbrecher. Was gehen uns diese Menschen noch an? Warum machten sie Gase und bauten Geschütze? Kein Arbeiter rührt einen finger zur Abwehr. Nur fort mit den Leuten! Von uns aus soll man auch die anderen holen, die Ludendorffs, Tirpitzs, usw., und wie die ehrbaren Herren sonst heißen. Wenn die Franzosen sie auch noch verlangen — von uns aus …«

Mit einem Ruck warf Graf Zieten die Freunde zur Seite. Seine ungeheure Kürassiergestalt überragte die Umstehenden um Kopfeshöhe. Eine plötzliche Stille herrschte im Saale. Alles sah nach dem Grafen und Breitner hinüber. In unheimlicher Starre ging Zieten nach drüben. Schritt für Schritt, wie eine Maschine schob er sich vorwärts.

Breitner versuchte ein höhnisches Grinsen. Es glückte ihm nicht. Seine Blicke flackerten suchend umher. Nur noch zehn Schritte war Zieten von ihm entfernt, neun, acht, nur noch fünf —

Da lief ein Zittern durch seine Gestalt. Ehe die Stahlfaust des Grafen ihn griff, machte er einen Satz wie ein fliehendes Tier und verschwand durch die offene Türe zum Gang …

»Hundekerl!«, keuchte der Graf nochmals auf. Einen Augenblick schien es, als wolle er nach. Einen Augenblick nur. Dann wich er zurück. Auf der offenen Schwelle des Saales stand ein Mensch, wie ein Spuk … sehnig und schlank‚ mit gebräuntem Gesicht. Über der gebogenen Nase flammten zwei stahlblaue Augen. Augen eines Adlerjägcrs aus den nordischen Bergen.

Das leuchtende Blondhaar lag wellig zurück.

»Wer — sind — Sie?«, stotterte Zieten erstaunt.

Der Ankömmling warf einen Blick in den Saal. Mit sicherem Schritt ging er wortlos vorbei, auf den Reichskanzler zu.

»Ingenieur Walter Werndt!«, sagte er knapp. Die Stimme klang tief.

Doktor Elsässer sah nach den Saaldienern aus. Er musste sich fassen. Die Erregung der letzten Minuten stak ihm noch im Blut.

»Wer hat …? Wie kommen Sie hier herein? Wer sind Sie …?«

»Ingenieur Walter Werndt«, wiederholte der Fremde.

Der Innenminister kam hastig nach vom.

»Doktor Werndt, der Entdecker der Elektronstrahlen? Der jüngste Nobelpreisträger?«

Der Ingenieur nickte bejahend.

Doktor Elsässer schnitt alle Fragen kurz ab. Wütend pfiff er die Saaldiener an. Sie zeigten nur hilflos auf den Ingenieur. Der Reichskanzler klopfte nervös auf den Tisch.

»Bitte — was wollen Sie hier? Sie haben sich wohl in dem Zimmer geirrt — — Na, Sie sehen doch wohl …«

Eine nicht missverstehende Geste wies nach der Tür. Der Ingenieur rührte sich nicht.

»Ich sehe, dass ich gerade zur rechten Zeit kam«, sagte er ruhig, mit starker Betonung. Wie ein flüchtiges Lächeln zuckte es um seinen Mund. »Der Herr Graf war so liebenswürdig, mir selbst durch Herrn Breitner die Türe zu öffnen.«

Dem Reichskanzler schwand die Geduld.

»Herr, was wollen Sie hier? Wir haben hier nicht …«

Die Augen des Ingenieurs blickten plötzlich wie Stahl. Seine Fechtergestalt stand gestreift, wie zum Schlag.

»Was ich hier will?« wiederholte er ernst. »Ich bringe Ihnen die Befreiung Deutschlands, meine Herren. Sonst nichts.«

Das Summen der Stimmen brach ab, wie erwürgt. Man war unwillkürlich vom Stuhl geschnellt. Das Gesicht des Sprechers hatte etwas Faszinierendes an sich. Es zwang wider Willen. Jeder wusste im Saal, dass dort kein Irgendwer stand, sondern der Nobelpreisträger des letzten Jahres, der Entdecker der Elektronstrahlen, der Besieger der Menschheitsgeißel, der Krankheit Krebs …

»Waas? — Was?«, fragte Zieten zurück. Er fand vor Verblüffung kein anderes Wort.

Der Reichskanzler fuhr mit der Hand nach der Stirn.

»Was wollen Sie damit sagen?«, stotterte er.

Doktor Werndt blickte frei auf die Herren ringsum.

»Ich bringe der deutschen Regierung meine neuen Erfindungen mit. Sie bedeuten die sichere Rettung für Deutschland.«

»Werndt?!«, rief der Innenminister von Leu. Hoffnung und Glaube klang aus diesem Schrei.

Die Führer der Koalition kamen quer durch den Saal. Jeder fragte zuerst, alles sprach auf Werndt ein.

Der Reichskanzler hob wie beschwörend die Hand.

»Aber — wir haben doch hier — —! Die Geschäftsordnung — Herr — — ja, es geht doch nicht an — — ich muss bitten — — nachher …!«

Niemand hörte auf ihn.

Der Ingenieur wehrte die Fragenden ab.

»Ich bin bereit und hierher gekommen, bestimmte Erklärungen abzugeben. Ich bitte ums Wort.«

»Die Geschäftsordnung!«, stöhnte der Kanzler erneut.

»Ich beantrage für diesen Herrn hier das Wort!«, rief der Graf.

Der Führer der Volkspartei hob seinen Arm.

»Ich auch!«

Zwanzig Hände fuhren wie Schwurfinger hoch.

»Hören! — Wort — — Doktor Werndt …!«

Die Pultglocke bimmelte misstönig auf.

»Die Geschäftsordnung!«, kam es vom Tisch.

»Kreuz und Schock!«, schrie der Graf. »Geschäftsordnung hin, Geschäftsordnung her! Heute geht es um die Wurst.«

Doktor Elsässer wich vor dem wütenden Blick.

»Herr Doktor Werndt hat das Wort«, gab er unwillig nach.

Es dauerte Minuten, bis der Sturm sich gelegt hatte. Alles schob durcheinander und drängte nach vom.

Der junge Ingenieur hob das Haupt. Sein Blick flammte auf.

»Meine Herren!«, sagte er laut. »Wir alle hier im Saal sind wohl einig darin, dass Deutschlands Schmach und Demütigung durch Frankreichs Hass und Englands Neid seinen Gipfel erreicht hat. Dass auf jedes Nachgeben nur schlimmere Erpressung gefolgt ist …«

Zieten drehte sich unwillkürlich nach Breitner herum. Als er ihn und sein gewohntes Grinsen nicht fand, sah er Werndt wieder an.

»Sehr richtig!«, brummte er tief.

»Mit zusammengebissenen Zähnen haben wir die Schande ertragen. Haben zusehen müssen, wie man unsere Heimat zerschlug und uns deutsches Land nahm. Dass man uns aufgrund einer von aller Welt als Lüge erkannten angeblichen Schuld zu Parias der menschlichen Gesellschaft gemacht, uns mit Schmach überhäuft hat. Wir haben mit blutendem Herzen dazu schweigen müssen, dass man unsere Brüder in Oberschlesien peitschte, ermordete und bestahl, dass man unsere Frauen und Töchter im Rheinland schwarzen Tieren vorwarf, sie mit Seuchen verdarb. Wir haben ohnmächtig dulden müssen, dass die Not um uns stieg, dass der Hunger das Volk zu Gewalttaten trieb, dass der Hass uns zerriss. Wir haben es dulden müssen, dass man mit unserem Geld, unserem Blut, unserem Land schnöden Kuhhandel trieb, dass man uns rechtlos und ehrlos machte in aller Welt, uns mit Kot bewarf, uns, das einst machtvolle, friedliche Volk.«

Doktor Elsässer hob seine magere Hand. Doch er ließ sie herabsinken, ohne ein Wort. Seine Absicht, den Redner zu unterbrechen, zerbrach vor dem flammenden Blick Walter Werndts. Heilige Begeisterung und furchtbarer Zorn stand in den Augen des Ingenieurs.

»Wir alle wissen das und tragen die Wunde unheilbar in uns. Auch ich trug die Schmach …«

Wie überwältigt von seinen Gefühlen, setzte er einen Augenblick ab. Dann erhob er die Stimme zu ehernem Klang.

»Und diese Schmach war es, die mich dazu trieb, nach einem Mittel zu suchen, das Deutschland befreit. Als das erste Ultimatum des Obersten Rates uns zum Nachgeben zwang, erfand ich den Deutschland-Motor. Nach London entdeckte ich Elektronit. Jede neue Vergewaltigung trieb mich dem Ziel näher. Jede böse Saat brachte Ernte für mich. Tag und Nacht dachte ich an nichts anderes mehr als an meinen Weg, als an unser Ziel, die Befreiung vom Joch. — Das Ziel ist erreicht. Mein Werk ist getan!«

Freudig begegnete er all den fragenden Augen ringsum. Nur wenige Rufe flackerten auf. Alles hing wie gebannt an den Lippen des einzelnen Mannes da vorn.

»Es ist mir gelungen, auf meinem Grundstück in Russland, das meinen Versuchszwecken dient, aus der Luft elektrischen Kraftstrom zu sammeln, der alles Bisherige weit übertrifft — —«

Eine allgemeine Entspannung ging durch die Menschen, beinahe Enttäuschung.

Der Mehrheitssozialist blickte interessiert. Als gelerntem Elektrotechniker lag ihm der Fall.

»Etwa nach den Versuchen von Siemens und Zacharias?« fragte er schnell.

Werndt nickte zurück.

»Deren Vorarbeit war mir sehr wertvoll dabei. Doch ging ich selbst weiter. Sie wissen alle aus der kurzen Zeitungsnotiz, die vor einigen Jahren die Presse durchlief, dass man bei Siemens im Krieg schon Versuche gemacht hat, mittels hoher Masten die Druckunterschiede der Luft zur Gewinnung hoher elektrischer Kraft auszunützen. Bekannt ist Ihnen auch, dass es damals gelang, mittels solcher Strahlen auf weite Entfernungen Munition zur Entzündung zu bringen, eine Hammelherde zu vernichten, Brand zu erzeugen und anderes mehr. Diese Versuche versandeten dann. Die Entente unterdrückte sie bald und das Geld fehlte auch. Ich setzte sie still viele Jahre durch fort. Immer neue Möglichkeiten zeigten sich mir, ich kam schrittweise vor. Der Deutschland-Motor und die Elektronstrahlen waren Etappen zum Ziel. Heute bin ich in der Lage, mittels meiner Masten und Kraftsammelmaschinen elektrische Wellen auf Hunderte von Kilometern zu werfen.«

»Donnerwetter!«, entfuhr es dem Grafen. Durch die kleine Gestalt des Innenministers lief freudiges Zittern.

»Und? — Und?« drängte er weiter.

»Ich vermag mit diesen Strömen und Strahlen auf Entfernungen zu wirken —« Mit einem plötzlichen Misstrauen brach er kurz ab. »Ich bin bereit, die näheren Auskünfte und Erklärungen einer Vertrauenskommission der Regierung zu geben. Ich lade diese Kommission ein, mit mir im Flugzeug nach Russland zu kommen, meine Apparate zu besichtigen und ihre Wirkung zu prüfen. Die Wirkung ist von zu großer Bedeutung, als dass ich sie hier offen darlegen dürfte. Die Gefahr, dass die Feinde —«

Er sprach nicht zu Ende.

Der Reichskanzler runzelte drohend die Brauen.

»Was wollen Sie damit sagen? Doch nicht etwa, dass unter den Anwesenden hier ein Verräter —«

Doktor Brettscheid, der Führer der Volkspartei, winkte.

»Recht hat Herr Werndt. Hier sind Ohren zu viel.«

»Wer? Wer?«, scholl es heftig von links.

»Was weiß ich, wer es ist?«

Graf Zieten drängte sich dicht neben Werndt.

»Taugt die Sache zum Krieg?«, frug er schnell und gedämpft.

»Ja — doch auch gegen den Krieg.«

Der Führer der Mehrheitssozialisten Klaus Neff lachte leicht auf. Er zog überlegen die Lippen herab.

»Ich will als Fachmann dem Urteil der anderen Herren natürlich nicht vorgreifen. Aber ich glaube, Herr Werndt überschätzt doch den Wert seiner Kraftquellen stark. Die bisherigen Erfindungen des Herrn Ingenieurs in Ehren, aber man ist doch allmählich gegen dererlei Sachen misstrauisch geworden. Schon in den ersten Jahren nach dem Kriege haben uns fantasiereiche Köpfe, Romanschriftsteller und dergleichen, die politisch den Gedanken der Herren von rechts nahestehen, mit derartigen Utopien mehrfach beglückt. Jeden Monat kam ein anderes Märchenbuch auf. Gerade die Geschichte mit elektrischen Strahlen, Kraftquellen und so weiter spielt meist eine Rolle. Man erfand elektrische Fernflieger, packte elektrische Allgewalt von märchenhafter Wirkung in kleine Apparate, Fotografenkästen, Maschinengewehre, was weiß ich noch alles. Der Versuch mit den Hämmeln des guten Herrn Siemens hat in vielen Köpfen verheerend gewütet. Um eine einigermaßen brauchbare Fernkraft bewirken zu können, müsste man Ströme von Hunderttausenden Volt sammeln können. Ja mehr noch als das, man müsste auch eine Stromstärke von Millionen Ampere zur Verfügung haben.«

Werndt nickte zustimmend.

»Meine Kraftquellen liefern Milliarden Kilowatt!«

Einen Augenblick schien es, als drehe sich der Saal. Keinen ließ es am Platz. Eine ungeheure Spannung hielt alle gebannt.

»Mann!«, keuchte der Graf. Seine Hand lag wie ein Schraubstock um Doktor Werndts Arm. Der greise Innenminister von Leu hielt die Hände gefaltet, als bete er still. Ein verklärtes Leuchten lag auf seinem feinen Gelehrtengesicht.

Doktor Elsässer schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Undenkbar! — Milliarden — Milliarden!«

Der Führer der Volkspartei fing sich zuerst.

»Also angenommen, die zu ernennende Kommission fände alles so vor, wie Sie uns gesagt. Dann glauben Sie also, wenn ich Ihre Absichten richtig verstehe, dass man mittels dieser elektrischen Kräfte den Kampf aufnehmen kann gegen Frankreich und auch —«

Werndt blickte schnell auf.

»Den Kampf gegen Frankreich? Ja, mehr noch als das. Den Kampf um das Gold!«

Doktor Brettscheid sah ihn verständnislos an.

»Den Kampf um das Gold?«, wiederholte er barsch‚ Überraschung und leise Enttäuschung im Ton.

Der Ingenieur fühlte den Vorwurf heraus. Er lächelte leicht.

»Ja den Kampf um das Gold. Ich sprach von mehreren Erfindungen, die ich gemacht. Die elektrische Kraft aus der höheren Luft war auch nur der vorletzte Schritt auf das Ziel. Dieses Ziel ist das Gold, meine Herren, nicht Krieg. Ein siegreicher Krieg wäre Freude auf Zeit. 1870/71 waren wir Sieger, heute sind wir Besiegte. Was nützte ein neuer vergänglicher Sieg. Nicht gegen Wirkungen müssen wir kämpfen. Die giftige Wurzel des Übels muss fort! Seit die Menschheit besteht, herrscht auf Erden das Gold. Ein unseliger fluch lastet auf seinem Glanz. Siegfried fiel durch das tückische Gold, den Nibelungenhort. Wotan, Walhall-Gold schuf den Sturz. Ganze Völker verfolgten sich feindlich um Gold. Väter töteten ihre Söhne, Söhne ihren Vater. Die Inkas, die Könige Mexikos, starben um Gold. Sehnsucht nach Gold trieb die Menschen vom heimischen Herd, weit übers Meer, fort in Elend und Tod. Um Gold verkaufte die Menschheit Glück, Ehre und Leib. So war es von je bis zum heutigen Tag. Auch Deutschland erlag nur dem Gold. Um Gold quält man Deutschland zu Tod. Um Goldmilliarden stritt man in Versailles, in London und Spa, in Genua und Cannes goldgierig mit uns. Der Goldgier wegen erleiden wir Schmach. Des Goldes wegen ist man unser Feind. Der Fluch des Goldes vernichtet die Welt. Und deshalb kämpfte ich gegen das Gold!«

In prophetischer Verklärung, die stahlblauen Augen voll sonnigen Lichts, stand Walter Werndt da. Seine Ergriffenheit teilte sich mit, wie ein Strom. Er hob seine Hand wie zum heiligen Schwur.

»Mit Gold werden wir das Gold besiegen. Der fluch des Geldes falle auf unsere Feinde zurück. Fünfundachtzig Goldmilliarden verlangt man noch heute von uns, berechnet in Gold. Sind diese erpressten Milliarden bezahlt, ist Deutschland befreit. Ich biete der deutschen Regierung dies Gold!«

Ein schneidendes Lachen zerriss grell die Luft. Der Unabhängige Satt, Breitners eifrigster Freund, verzog sein Gesicht wie nach einem Witz.

»Köstlich! Köstlich!« meckerte er. »Zehn volle Minuten hört man ihm zu, und merkte noch nichts!«

Der Zentrumsmann schüttelte traurig den Kopf.

»Der Ärmste ist wahnsinnig. — Lasst ihn hinaus.«

Doktor Elsässer lächelte hämisch und stumm.

»Ich hatte die Herren rechtzeitig ersucht, die Geschäftsordnung —«

Graf Zieten trat dicht vor Doktor Werndt hin. Sein Blick war getrübt, seine Ader stand dick.

»Herr!«, sagte er grollend in drohendem Ton. »Halten Sie uns hier zum Narren? Wissen Sie auch, was Sie eben gesagt —?«

Der junge Ingenieur wich seinen Augen nicht aus. Ohne eine Erwiderung ging er zur Türe des Saals und winkte hinaus. Dann kam er zurück.

Zwei Männer folgten ihm dicht auf dem Fuß. Sie schleppten sich an einem großen Paket. Auf einen Wink Werndts legten sie langsam die Last vor ihn hin. Mit schnellen Schnitten seines Taschenmessers löste der Ingenieur die Verschnürung. In ungeheurer Aufregung sah man ihm zu. Da schob Werndt die innerste Hülle zurück. Wie ein einziger Schrei klang es rings um ihn auf.

Wie aus einer anderen Welt kam die Stimme da vom …

»Ja, ich weiß, was ich sprach. Hier der erste Beweis: ein Barren aus lauterstem‚ künstlichem Gold. Ein Zentner Gewicht!«

 

* * *

#

Das schlanke Flugzeug des Ingenieurs Werndt setzte spielend leicht auf. Ohne sichtbaren Ruck. Der Motor surrte aus. Die Gestalt auf dem Führersitz drehte sich um.

»Wir sind angelangt, meine Herren. Bitte steigen Sie aus!«

Zwei Monteure in braunen, russischen Blusen eilten herbei und halfen den Herren aus Haube und Pelz.

Graf Zieten reckte die langen Arme und blickte sich um.

»Schauderbare Gegend hier! Nichts als Wiese und Wald. Dagegen ist eine Klitsche in Ostpreußen Jahrmarktsbetrieb.«

Werndt lächelte froh.

»Einsam, ja, aber gut für den Zweck. Man besucht mich hier nicht. Darauf kam es wohl an. Übrigens ist es nicht so schlimm, wie Sie erkennen werden, wenn Sie alles gesehen haben. Darf ich die Herren bitten, geschlossen zu folgen.«

Graf Zieten winkte sich Brettscheid heran. Obwohl sie sich dauernd in den Haaren lagen, waren sie beide die besten Freunde. Die technischen Sachverständigen folgten mit Neff. Er redete über die Fahrt wie ein Buch.

Nach einigen Minuten blieb Doktor Werndt stehen. Der Wald machte hier einen plötzlichen Knick. Vor ihnen stand ein gewaltiger Mast von seltsamem Bau. Schmale, lang gestreckte Dreiecke bauten sich übereinander, immer höher hinauf. Ein Dreieck immer kleiner als das untere. Von der obersten Spitze zog sich rings ein Netz von Drähten hinab. Das Ganze sah aus wie ein Spinnengeflecht. Selbst die Urwaldriesen ringsum blieben winzig zurück. Werndt zeigte hinauf.

»Sie sehen hier fünf meiner Masten hintereinander. In Abständen von je hundert Metern.«

Die Herren verdrehten die Köpfe umsonst.

»Nee. Ich sehe nur dieses eine Gestell!« brummte Zieten zuerst.

Wieder huschte das sonnige Lächeln über Werndts schmalen Mund.

»Der erste Mast hier. Er ist jetzt auf Hochstand geschraubt. Die anderen vier stehen drüben am Wald.«

»Diese Bäume da vom?«

»Es scheint Ihnen so. Sie sind nur maskiert. Die Konstruktion meiner Masten gestattet ein Zusammenziehen des Mittelgestells auf zwölf Meter Stand. Die äußerste Höhe ist zweihundertzehn. Das Material ist eine Legierung aus Aluminium, die ich erfand. Der Transport jedes Turmes kann durch Pferde geschehen. Im Allgemeinen zieht man jedoch die Kraftwagen vor. Wie Sie selbst schon erkannt haben, ist ihr Maskieren sehr leicht. Die Drähte wirken zugleich als Zweige und Äste. Jedes Wäldchen genügt. — Bitte sehen Sie hier!«

Er ging ruhig zu einem grünlichen Haus und stieß die Türe zurück. Eine dunkle, dicke Masse, wie ein schlafendes Ungeheuer, glotzte sie an.

»Mein Dynamomotor. Dort das Kraftreservoir.«

Er drückte einen Hebel herab. Sofort summte oben das riesige Netz, als falle ein Bienenschwarm über den Wald. Werndt zeigte hinauf. »Das Nähere werde ich den Herren Sachverständigen später im Laboratorium zeigen. Ich habe dort noch ein kleines Modell, die Konstruktionszeichnungen auch vom Motor. Hier mag es zunächst genügen für Sie, dass ich mittels dieser Maste und dieser Maschinen die ungeheure Drucklast der Sonnenstrahlung in hohen Sphären über uns umsetze in elektrische Energie. Ein Trommelfeuer von Energiequanten ist es, mit welchen uns die Sonne täglich, stündlich überschüttet. Die Kunst war es nur, diese Kräfte zu nützen, sie, deren Stärke geradezu unermesslich ist. Und wie einfach doch: im Grunde habe ich auch nichts anderes getan, als alle Technik vor mir. Denken Sie einmal Wasser statt Luft in hohen Regionen und erinnern Sie sich an ein großes Projekt, wie Walchenseewerk und andere mehr. Das genügt zum Vergleich. Das Gefälle gibt uns dort die Kraft. Mehr tue auch ich nicht. Nur nütze ich das Gefälle der Sonnenkraft, das urgewaltige Potenzial ihrer strahlenden Energie! Hier ist das Problem praktisch gelöst. Bitte prüfen Sie jetzt die erreichbare Kraft. An diesem Zeiger lesen Sie Volt, an jenem Ampere. Und achten Sie jetzt auf den Zeiger in Rot, er gehört dem Anlasser an und zeigt mir, ob die Spannung erreicht ist, die Hauptkraft auf das Werk zu werfen …«

Das Summen sprang wieder ins glitzernde Netz.

»…Denn das, meine Herren, was Sie hier sehen, ist natürlich nur der kleinste Teil. Ein Maschinchen en miniature. Wie sollten diese armdicken kupfernen Kabel auch Millionen Ampere ertragen. Meine Hauptdynamos, gegen die das ein Zwerg ist, liegen weit unter der der Erde in tiefen Gewölben. Ich beginne — — bitte sehen Sie jetzt!«

Der Sozialdemokrat schob den Kopf weit nach vom. Der Zeiger kletterte stetig hinauf.

»Siebzigtausend — hunderttausend — hundertfünfzigtausend — zweihunderttausend — dreihunderttausend — fünfhunderttausend — achthunderttausend —« zählte er laut. »Es ist ja kaum denkbar!«

Werndt wandte sich um.

»Bitte sehen die Herren jetzt drüben den Mast.«

Alles drängte zur Türe. Der scheinbare Baum dicht am Rande des Waldes schob sich langsam empor wie ein zierliches Rohr. Immer wieder kletterte ein neues Dreieck aus dem alten hervor. Eine längliche Spitze setzte sich über die andere. Endlich stand der Mast still.

»Bitte nun wieder hier!« mahnte Werndt am Motor.

Doktor Brettscheid warf einen Blick auf den Zeiger des Messapparats.

»Eine Million viertausend Volt!«, rief er aus.

Der Zeiger drehte unermüdlich hinauf.

»Zwei Millionen!«, stotterte Neff. Die Sachverständigen sahen sich fassungslos an. Werndt lächelte.

»Jetzt haben wir glücklich die Spannung, die für den Anfang genügt. Jetzt passen Sie auf!«

Er trat an das Schaltbrett, das die ganze Rückwand des Raumes erfüllte. Blanke Räder blitzten aus dem Dunkel. Schalter mochten wohl zu schwach sein, so ungeheure Ströme zu lenken. Viermal drehte der Ingenieur leicht an einer blinkenden Scheibe. Dann warf er einen Hebel mit Macht an.

In diesem Augenblick erhob sich ein Brüllen, als donnerten stürzende Berge im Innern der Erde, und es war, als müsste das Gebäude mit allem, was in ihm war, in Atome zerplatzen. Den Anwesenden krochen kalte Schauer über den Körper.

Werndt stellte lächelnd wieder ab.

»Ich nehme an, dass den Herren die Probe genügt. Es steht ganz in meinem Belieben, diese Zahl zu erhöhen. Je mehr Masten man wählt, um so stärker der Strom. Wie man diese Kraft dann auf Entfernungen auswirken kann, ist Ihnen ja schon aus Versuchen von Siemens bekannt. Nur arbeite ich mit weit größerem Strom. Die von mir erzielbaren Wirkungen sind selbstverständlich ganz anderer Art. Die bekannte Vernichtung der Hammelherde erscheint im Vergleich hierzu als Spielerei.«

Graf Zieten reckte die hohe Gestalt. Seine Brust atmete schwer. Er kämpfte mit sich. Er musste mehrmals ansetzen, ehe ihm das Sprechen gelang.

»Und mit einer derartigen Macht in der Hand sollen wir jetzt keinen Krieg —?!!«

Werndt blickte sehr ernst.

»Darüber sprechen wir noch, wenn die Kommission auch das Weitere sah.«

Schweigend, unter dem Druck der wildanstürmenden Gedanken folgten die Herren ihm nach.

In einer Baumlichtung stand ein längliches Haus. Blühende Schlingpflanzen rankten sich über der Türe. Aus allen Fenstern grüßten Blumen heraus.

»Deutsche Rosen!«, sagte Werndt. Sein Blick wurde weich. »Sie waren monatelang das einzige Deutsche um mich.«

Man trat in das innere Haus. Es sprang leise auf, wie ein leuchtender Traum. Überrascht sahen alle sich an, und auf Werndt.

»Mein Arbeitszimmer«, gab er zurück.

»Heiliger Himmel!«, stöhnte Neff auf.

Vor ihnen glänzte ein Märchen aus — Gold! Breite Goldplatten bedeckten wie Panzer die Wand, quadratisch geteilt. Aus Gold war der Schreibtisch, der Sessel davor. Golden blitzten die Stühle, das Sofagestell. Eine schwere Goldplatte deckte den Tisch.

»Es ist wie ein Traum!« kämpfte Zieten sich wach.

Neff klopfte hart auf die Wand.

»Selbst wenn das alles nur Messing sein sollte — Der riesige Wert …!«

»Es ist das besiegte Gold. Echtes, lauteres Gold. Von mir künstlich erzeugt. Ein sündloses Gold. Das Gold des Kunstgewerbes der Zukunft, das schönste Metall, doch nicht mehr ein fluch.«

Der berühmte Physiker Mallhaus, den die Regierung als Sachverständigen gebeten hatte, zog sein Taschenmesser heraus und kratzte ein Loch in die blendende Wand. Werndt sah lächelnd zu.

»Ich werde Ihnen drüben im Laboratorium bequemere Proben vorlegen können«, sagte er endlich. »Es stimmt schon, mein Gold.«

Geheimrat Mallhaus kam auf ihn zu. Mit einer zitternden Bewegung griff er die Hände des Ingenieurs. Seine Bartspitzen zuckten, sein Auge war feucht.

»Ich danke dir, Gott, dass ich das noch erlebt. Gott segne dich, Deutscher, und durch dich die Welt!«

Mit einem erstickten Schluchzen zog der Greis Walter Werndt an seine Brust und küsste ihn ehrfürchtig auf seine Stirn.

Werndt gab seinen Händedruck herzlich zurück.

»Es war eine glückliche Erfindung, wie andere«, sagte er schlicht. »Wir sind alle ja nur ein Werkzeug des Geistes, der uns erst beseelt.«

»Berichten Sie!«, sagte Mallhaus erregt.

Die Herren setzten sich in das leuchtende Gold. Weiche Kissen waren auf alle Sessel gelegt, Ein eigenartiger Zauber herrschte im Raum. Alle fühlten die Wucht dieses Tages. Selbst Neff blickte feierlich drein und vergaß jeden Spott.

Werndt dachte kurz nach.

»Erlauben Sie mir, auch hier ganz knapp zu sein. Im Laboratorium drüben liegt alles bereit, was aufklären kann. Sie alle kennen das Wörtchen Atom. Es war seit Dalton das Bestreben aller Chemie, die Erscheinungsformen der Materie durch chemische Hilfsmittel auf gewisse Grundformen zurückzuführen. Man fand die Moleküle als kleinste Teile homogener Materie. Man fand im Molekül wieder die Atome als kleinste chemische Einheit. Und man entdeckte sehr bald, dass alles, was uns umgibt, auf der Erde und auf fremden Gestirnen, in festem, flüssigem oder gasförmigem Zustande aus etwa achtzig Elementen besteht, und dass deren Kombination die unendliche Mannigfaltigkeit sämtlicher Stoffe erklärt. Die Wissenschaft hat uns gelehrt, dass im Moleküle sich die Anteile der chemischen Elemente stets in einem bestimmten Verhältnis befinden. Sie hat die Gewichtsverhältnisse dieser Verbindungen klargelegt und. den Begriff der Atomgewichte, ihrer Wertigkeit und Affinität geschaffen. Und weiter kam die fortschreitende Erkenntnis, dass auch sie nur Kombinationen sein müssten von feineren Formen. Das Radium gab uns und löste uns das Rätsel. Man schuf die Quantentheorie‚ man erkannte, dass auch das Atom noch ein kompliziert gebauter Mikrokosmos ist, bestehend aus zahllosen Korpuskeln und Elektronen. Je weiter man forschte, desto sicherer erkannte man, dass nur die Zusammensetzung eines Atoms, die Zahl seiner Elektronen die Art der Materie bestimme, und dass es notwendig zu einer willkürlichen Änderung aller Stoffe führen müsse, wenn es gelänge, Atome zu spalten, Teilchen abzutrennen oder hinzuzufügen und so die ihm eigene Kombination zu verändern.«

Geheimrat Mallhaus nickte ihm zu.

»In der Theorie war man so weit. Die Praxis schuf erst Ihr Genie!«

Werndt wehrte schlicht ab.

»Wenn es bisher nicht gelang, von der Theorie in die Praxis zu schreiten, so lag es vor allem daran, dass unsere bekannten Kräfte nicht ausreichen konnten, die Druck- und Wärmegrade zu zeugen, die für eine Atomspaltung Vorbedingung sein mussten. Meine elektrischen Masten ergaben die Kraft.«

Die Sachverständigen waren aufgesprungen. Die Erregung über das Ungeheure, das sie erfuhren, riss sie vom Stuhl hoch.

»Damit war der Weg frei. Sie wissen, dass das Atomgewicht des Bleies größer ist, als das des Goldes. War die Theorie richtig und gelang es, ein Heliumatom, ein Betateilchen und zwei Alphateilchen abzuspalten, so konnte als Wirkung nur eines entstehen: aus Blei musste Gold werden!«

Ein Atemzug hob seine Brust. Seine Stahlaugen flammten hell auf.

»Die Spaltung gelang. Aus Blei — wurde Gold!«

Mallhaus sah ihn ergriffen an.

»Wie einfach das klingt!«, sagte er geführt. »Ein einziger Schritt vom Erkennen zur Tat. Doch wie lange brauchten Sie für diesen Schritt?«

»Fünf Jahre«, gab Werndt zurück.

Doktor Brettscheid reichte ihm wortlos die Hand. Auch in Neffs spottlustigen Augen stand seltsamer Glanz.

Graf Zieten blieb merkwürdig schweigsam zurück. Er wartete, bis alle anderen Werndt beglückwünscht hatten. Dann kam er langsam heran.

»Und da meinte unsereiner, er sei auch noch ein Kerl! Was ist man dagegen doch nur für ein Tropf!«

Werndt schüttelte ihm herzlich die Hand.

»Jeder an seinem Platz, lieber Graf. Deutschland braucht solche Männer wie Sie.«

Zieten blickte ihn unsicher an.

»Glauben Sie?«

Er kämpfte sichtbar mit einem Entschluss.

»Herr Doktor Werndt —« brach er endlich los — »warum wollen Sie Ihre Macht nicht benützen, um Rache zu nehmen? Warum nicht? An Ihnen frisst genau so die Schmach wie an mir, wie an jedem, der deutschbewusst blieb. Sie haben das Elend gesehen, den Schimpf gefühlt, den man uns getan. Herrgott ja, soll das alles denn ungestraft sein? Soll es keine Vergeltung geben vor Gott?!«

»Doch!«, sagte Werndt ernst und hart. Es klang wie ein Urteil. Sein Blick war wie Stahl.

»Vergeltung! Nicht Krieg. Wir müssen erst neu denken lernen. Wir denken noch alle im alten Gleis, weil wir auf das Neue noch nicht umgestellt sind. Was bezwecken Sie mit einem Krieg?«

Der Graf ballte die Faust.

»Rache!«

»Rache ist ein Gefühl. Seine Wurzel ist Hass. Hass ist Zerstörung. Setzen Sie Hass gegen Hass, so unterwerfen Sie sich nur der Denkart des Feindes. Richter wollen wir sein, doch nicht Mörder.«

»Wie wollen Sie Richter sein ohne den Krieg?!«

»Noch einmal frage ich Sie jetzt: Was bezwecken Sie mit einem Krieg? Geschehenes ist nicht mehr rückgängig zu machen. Tote ruft auch kein Hass mehr zurück.«

»Aber wir können die Schmach auslöschen, wir können Deutschland wieder zu Ehren bringen, ihm seine Macht, seine alten Grenzen geben. Wir können ihm seine Freiheit sichern. Wir können es wieder zum geistigen Führer machen in der Welt …!«

Der Ingenieur nickte ihm froh bewegt zu.

»Ja, lieber Graf, das können wir, und das müssen wir! Das bezwecken Sie mit einem Krieg! Und bis jetzt konnten wir es auch nur durch einen Krieg. Wenn ich Sie aber heute frage, nachdem Sie dies alles zum ersten Mal sahen: was würden Sie von einem Deutschen halten, der im Besitz einer neuen, fast unausdenkbaren Macht, das gleiche vermöchte auch ohne den Krieg. Der alles, schon mehr als den Endpreis besitzt, und dennoch sein Volk in das Kriegsgrauen treibt, seine Brüder und Kinder in Leiden und Tod, nur weil ihn die Rache mehr lockt als das Ziel? Urteilen Sie selbst!«

In den Zügen des Grafen wetterleuchtete es.

»Ich würde ihm an die Gurgel gehen!«

»Sehen Sie!« lachte Werndt froh. »Und wir haben die Macht. Ist da denn nicht jede Träne Verlust, jeder Tod eines Deutschen im Kampf reiner Mord?!«

Wie ein Prophet stand er, seltsam verklärt. Die Abendsonne spiegelte sich auf dem leuchtenden Gold.

»Wahrlich«, kam es zurück, »ich sage Ihnen, ohne einen Tropfen Blut werden wir Sieger sein über den Hass!«

 

* * *

 

Freiherr von Saldem, der Botschafter des Deutschen Reiches in Paris, verbeugte sich förmlich und stand wieder stumm. Das scharfgeschnittene, kluge Gesicht des jungen Diplomaten war undurchdringlich. Keine Miene zeigte, was in diesem Gehirn an Gedankenspiel vorging.

Der französische Ministerpräsident Monsieur Grandmaire blickte unschlüssig nach seinem Außenchef hin. Auf seiner Stirne wechselten ununterbrochen die Falten. Sein Kinnbärtchen zuckte.

»Ich muss gestehen«, sagte er endlich, »dass die Erklärungen Eurer Exzellenz mich lebhaft befremden. Die neue deutsche Regierung, die sich vor einigen Tagen in so überraschendem Tempo gebildet, wäre also nach Ihren Ausführungen, Herr Botschafter, entschlossen, die von Friedensliebe und Gerechtigkeitswillen getragene Forderung Frankreichs nicht zu erfüllen?«

v. Saldern verneigte sich knapp und verbindlich.

»Keine deutsche Regierung sieht sich in der Lage, der Forderung Frankreichs zurzeit zu entsprechen. Jeder Versuch, auf das deutsche verzweifelnde Volk neue Lasten zu häufen —«

»Wer will das?«, fragte der Außenminister.

Der Deutsche sah ihn kalten Blicks an. Dem kleinen Franzosen schoss Rot in die Schläfe.

»Die Erfüllung der Forderung Frankreichs würde den Zusammenbruch unserer Industrie bedeuten. Eine Unterbindung unserer Produktionskraft, eine Versklavung des deutschen Genies.«

»Exzellenz!« fuhr der Präsident unwillig auf.

»Dieser Ausdruck! Dieses Urteil über unsere Handlungsweise …!«

»Ich habe kein Urteil gefällt, sondern nur eine Tatsache feststellen wollen«, sagte v. Saldern kurz, ohne Hast. Seine eiserne Ruhe erregte Grandmaire nur noch mehr. Der Ton des Franzosen war drohend. Sein gefürchtetes Habichtsgesicht war gerötet.

»Ihre Antwort in Verbindung mit der mir vorhin zur Kenntnis gebrachten Note kommt also einer schroffen Ablehnung gleich. Ich nehme an, dass Ihre Regierung sich der Folgen ihres Entschlusses bewusst ist —«

»Gewiss. Der Versuch einer Annahme wäre ihr Sturz. Eure Exzellenz haben die Panik der vorletzten Wochen gesehen, die Erregung des Volkes, den Kurssturz der Mark. Die Verzweiflung des hungernden, ratlosen Volkes würde in diesem Fall der deutschen Regierung die Zügel aus der Hand reißen müssen.«

»Um so berechtigter ist unsere Vorsicht, der Zwang zur Entwaffnung.«

»Die neue deutsche Regierung ist fest entschlossen und ehrlich gewillt, die Bedingungen des Versailler Vertrages auch jetzt zu erfüllen. Sie kann dies aber nur, wenn ihre Autorität nicht untergraben wird.«

»Niemand will das!« warf der Präsident ein.

In v. Salderns Gesicht verzog sich kein Zug.

»Ich bin davon überzeugt. Die anerkannte Weisheit französischer Politik würde auch nach der Überzeugung der deutschen Regierung unmöglich den Fehler begehen, einer deutschen Regierung von Opferbereitschaft und bestem Erfüllungswillen die notwendige Unterstützung zu versagen, deren sie zur Durchführung ihrer mit Frankreichs Interessen übereinstimmenden Politik stets bedarf. Frankreich ist in Europa die führende Macht, wie die politische Weisheit und Überlegenheit Eurer Exzellenz in Europa neidlos als vorbildlich anerkannt ist —«

Der Franzose wehrte leicht ab. Unwillkürlich reckte sich seine kleine Gestalt. Das peinliche Gefühl, von diesem Deutschen verspottet zu werden, das ihn einen Augenblick deutlich beschlich, wurde durch seine maßlose Eitelkeit schnell unterdrückt.

»Lassen wir das!« sagte er kurz, doch sein Ton klang nicht hart.

v. Saldern blieb unbewegt.

»In dieser Überzeugung von dem politischen Weitblick Eurer Exzellenz und im Bewusstsein ihres eigenen, unbedingten Friedenswillens gestattet sich die deutsche Regierung, durch mich, Ihnen, Herr Präsident, in dieser zweiten Note vertraulich einen Gegenvorschlag zu unterbreiten.«

Die beiden Franzosen sahen überrascht auf.

»Die deutsche Regierung hat mich beauftragt, zur Erklärung ihres Vorgehens einige mündliche Erläuterungen zu geben. Die deutsche Regierung geht dabei von der Überzeugung aus, dass es ihr nur dann möglich sein wird, die Forderung Frankreichs annehmbar zu machen, und so ihren Willen dem Volk aufzuzwingen, wenn sie sich selbst vorher eine Autorität sichern konnte, die dieser Belastung mit Sicherheit standhält. Eure Exzellenz haben den Sturz der Regierung in Deutschland erlebt. Die neue deutsche Regierung, die erst vierzehn Tage besteht, konnte sich in dieser Zeit naturgemäß eine Autorität nicht gewinnen. Das Volk wartet ab, was die Änderung bringt. Es liegt jetzt ganz in der Hand Frankreichs und seiner weitblickenden Politik, dieser deutschen Regierung den Rückhalt zu geben, den sie haben muss, um in ihren Regierungsmaßnahmen als treuer Bundesgenosse des mächtigen Frankreich auftreten zu können. Diese friedliche, reibungslose Zusammenarbeit ihrer Völker mit allen Mitteln herbeizuführen, ist der unverbrüchliche Wille, der die neue deutsche Regierung gebar. Damit sie dem Land zur Führerin werden kann, bedarf die deutsche Regierung aber eines besonderen, äußeren Erfolgs, der ihr Achtung und Liebe des Volkes verschafft. Kein Volk ist mehr auf Sentiment aufgebaut als das deutsche, Herr Präsident! Der Mangel an einem, wenn auch nur scheinbaren, großen Erfolg besiegelte die kurze Lebensdauer der früheren Regierungen in meinem Land. Ich habe daher den Auftrag, Eurer Exzellenz folgenden Vorschlag zu machen: Frankreich verschiebt seine Forderungen auf einige Zeit, bis die neue Regierung die Autorität und das Ansehen besitzt, ihren Willen dem Land aufzwingen zu können. Damit sie dies äußere Ansehen gewinnt, sichert ihr Frankreich einen äußeren, rein gefühlsmäßigen Erfolg.«

»Und worin soll er bestehen?«

»Das deutsche Volk leidet unter dem Versailler Vertrag nach der Überzeugung der neuen Regierung nur deshalb so stark, weil es kein Ende der Lasten absieht. Frankreichs Forderung beträgt nach dem letzten Pariser Diktat noch sechzig Goldmilliarden, die Englands weitere fünfundzwanzig Goldmilliarden, zusammen also fünfundachtzig Goldmilliarden. Dieser Betrag wurde durch das gleiche Statut auf zwanzig Jahre verteilt. Die jetzt lebende Generation wird dadurch bis an ihr Lebensende bedrückt. Das verträgt das deutsche Herz einfach nicht.«

Der französische Ministerpräsident fiel ihm ins Wort.

»Sie übersehen dabei, dass die Verteilung auf zwanzig Jahre auf eigenen Wunsch der deutschen Delegierten geschah, da diese ausdrücklich erklärten, keine höheren Raten aufbringen zu können.«

In v. Salderns Gesicht entstand ein vertrauliches Lächeln. Das rechte Auge war halb zugekniffen.

»Ich möchte mich nicht über die Menschenkenntnis eines Vorgängers oder Herrn Delegierten aussprechen. Die neue Regierung sieht jedenfalls — und wohl auch mit Recht — in dieser Verteilungsform einen psychologischen Fehler von größter Gefahr. Der deutsche Mann erfährt dadurch, dass er vor zwanzig Jahren nicht frei werden kann, dass ihm alle Arbeit nichts nützt, dass er selbst bei Leistung des Unmöglichen den Milliardenbetrag nicht vor zwanzig Jahren abzahlen kann oder darf.«

Der Franzose fuhr hoch. Unüberlegt entblößte er halb sein geheimstes Gefühl.

»Ja, glaubt denn ein Deutscher, dass irgendwer in der Welt diese Summen schneller aufbringen kann!«

Der Außenminister warf ihm einen warnenden Blick zu. Er sah seinen Fehler und bremste sofort.

v. Saldern bemerkte den Zwischenfall anscheinend nicht. Das vertrauliche Lächeln um seinen Mund verstärkte sich noch.

»Das ist es ja eben, Herr Präsident! Ein solcher Gedanke ist gänzlich absurd. Aber der Deutsche ist nun einmal Idealist, Fantast. Der Gedanke, es könnte so sein, ist ihm mehr als die Tatsache selbst. Der Glaube, die Möglichkeit zu haben, diese riesige Schuld unter Umständen schon in fünfzehn‚ zehn oder fünf Jahren abtragen zu können, würde jegliches Druckgefühl gleich von ihm nehmen. Es würde seinen Arbeitswillen beflügeln und seine Leistungen ungeheuer zu steigern vermögen.«

Die milden Augen des Außenministers leuchteten habgierig auf.

»Sie glauben also, dass der deutsche Arbeiter bei einer etwaigen Befreiung von dieser zwanzigjährigen Bindung noch mehr leisten könne?«

Der deutsche Botschafter nickte betont.

»Zweifellos. Die deutsche Regierung ist hiervon so fest überzeugt, dass sie Frankreich eine Erhöhung der Schuldsumme um zehn Milliarden anbietet, falls Frankreich diese seelische Hemmung von ihr nimmt, und das Pariser Statut formal so fixiert‚ dass zur Abzahlung jede Frist freigestellt bleibt. Sagen wir, — um es übertrieben darzustellen —, dass der deutschen Regierung theoretisch die Möglichkeit bliebe, im Gegensatz zu der bisherigen Norm — den ganzen Betrag an einem einzigen Tag an Frankreich zu zahlen.«

Der Außenminister sah hohnlächelnd auf.

»Fünfundachtzig Milliarden an einem einzigen Tag! Magnifique, Exzellenz!«

Der Ministerpräsident grinste ihm abwesend zu. Seine schillernden Augen rechneten stumm.

»Also der Vorschlag ist so: Frankreich lässt jede Frist für die Rückzahlung frei, setzt selbstverständlich die jährliche Mindestrate fest, garantiert aber seine Befriedigung auch bei etwaiger früherer Rückzahlung —?«

»Ganz recht«, nickte Saldern bejahend zurück. »Gleichzeitig garantiert Frankreich der deutschen Regierung mit dem Tag der letzten Zahlung Befreiung von allen Lasten, Besetzungen, Kontrollen und Einschränkungen, die sonst erst nach zwanzig Jahren eintreten sollten —«

»Hélas!« unterbrach der Franzose ihn schnell. »Das geht viel zu weit!«

Der deutsche Botschafter sprach ruhig fort.

»Nur durch diese restlose Befreiung — in der Idee — kann naturgemäß die beabsichtigte Wirkung entstehen. Eine halbe Befreiung bedeutet nichts. Dafür erhöht die deutsche Regierung freiwillig die Schuld um zehn Milliarden — —«

»Goldmilliarden?«, fragte Dupont, gierig witternd. Er traute seinen Ohren noch immer nicht ganz.

»Goldmilliarden!« bejahte der Deutsche,

Der Außenminister kam langsam nach vorn.

»Glauben Sie denn, dass diese Erhöhung der Schuld nicht gerade das Gegenteil drüben bewirkt? Dass man der deutschen Regierung im Lande — selbstverständlich unter Verkennung ihrer durchaus richtigen Einsicht — nicht größte Vorwürfe machen wird, ihre Autorität untergräbt — —?«

Wieder erschien das vertrauliche Lächeln in Salderns Gesicht.

»Naturgemäß wäre diese freiwillige Erhöhung der Schuld zum Gegenstand eines geheimen Vertrages zu machen, während die Befreiung von jeder Frist ihrer Tendenz gemäß in aller Öffentlichkeit — Exzellenz werden verstehen.«

Der Präsident wiegte zweifelnd das Haupt.

Freiherr v. Saldern sah ihn zwingend an.

»Exzellenz werden nicht die Vorteile für Frankreich verkennen. Der deutschen Regierung wird durch diese äußerlich leichtere Fassung das Ansehen gegeben, das Folgsamkeit sichert. Ich glaube deshalb auch nicht zu irren, wenn ich die Entscheidung des bedeutendsten Politikers unserer Zeit schon in diesem Augenblick als gefallen betrachte —«

Ein eigentümlicher suggestiver Strahl ging von den kalten Augen des Deutschen aus.

»Ich muss gestehen, dass die psychologische Feinfühligkeit der neuen deutschen Regierung für die Seele des Volkes mir stark imponiert«, meinte Grandmaire mit einem blitzschnellen, spöttischen Blick zu dem Außenchef hin —.

»Ich werde den Vorschlag sehr ernsthaft erwägen und darf Eure Exzellenz wohl morgen zum Empfang meiner Antwort hier bei mir erwarten.«

Der deutsche Gesandte verneigte sich stumm. Der Präsident begleitete ihn persönlich hinaus. Vorsichtig schloss er die Tür zum Saal. Dupont grinste ihn abwartend an.

»Köstlich!«, meinte er. »Incroyable, ces boches! Die deutsche Regierung macht in Psychologie und versucht Politik!«

Grandmaire antwortete nicht. Er hatte die Hände auf den Rücken gelegt und ging hin und her. Sein Habichtsgesicht zeigte Spannung und Ernst. Endlich blieb er kurz stehen.

»Es ist ein Unglück für die Deutschen, dass sie seit Bismarck keinen wahren Politiker mehr fanden. Sie haben stets nur die alten drei Typen von Scheindiplomaten, den politischen Streber, den wirklichkeitsfremden Gelehrten und den Theaterpolitiker. Saldern gehört zu der letzten Sorte. Er spielt, wie im Kino, ganz auf äußere Wirkung, und kommt sich sehr klug vor. Gescheit ist er zweifellos, aber er leidet noch unter dem Theatereinfluss der Vorkriegsepoche. Bühnendonner, Kinomimik und Heldenpose. Der junge Herr ist noch riesig naiv in der Wahl seiner Mittel. Er hat viel zu lernen. Trotzdem ist er jetzt schon ein Gegner von Rang. Er hat etwas an sich, das instinktiv warnt. Etwas, was den Deutschen sonst fehlte —, das heimliche Fach, hohe Schlagfertigkeit. Mehr von dieser Sorte würden den Deutschen eine wahre Politik liefern können. Der Anfang ist da. — Aber die Falle war doch zu naiv.«

Dupont sah überrascht auf.

»Eine Falle? So glauben Sie, dass — —«

Grandmaire nickte nachdenklich.

»Hm! Also Sie haben die auch nicht bemerkt? Das macht mich stutzig. Für mich ist die Sache sehr einfach und klar. Die Geschichte mit der Psychologie und das weitere auch ist natürlich nur Schein. Nicht ernst zu nehmen. Eine finte für Kinder. Wirklichkeit ist, dass die deutsche Regierung irgendeine Möglichkeit haben muss, ihre Schuld schneller zu zahlen. Und dass sie hierin große Vorteile sieht. Sonst wäre ihr die Änderung keine zehn Milliarden wert. Wohlverstanden in Gold! Man will uns übertölpeln. Das steht für mich fest. Woher Deutschland plötzlich das Geld nehmen will, weiß ich natürlich auch nicht. Entweder hat es sein wahres Vermögen verheimlicht und geheime Reserven gesammelt, mit denen es anrückt, oder irgendeine auswärtige Macht gibt ihm Riesenkredite, um Frankreich zu schaden. Wir haben ja zahlreiche heimliche Feinde.«

»Sie wollen also den deutschen Vorschlag ablehnen?«

»Nein, wahrscheinlich nicht. Er kommt mir selbst in seiner Kindlichkeit diesmal willkommen. Ich werde die Deutschen in ihrer eigenen Schlinge zu fangen versuchen. Tatsache ist, dass wir mit unserem letzten Ultimatum an Deutschland einen Misserfolg hatten. Es ist zwecklos, sich da etwas vorzumachen. England und Amerika haben sofort einen politischen Druck auf uns ausgeübt, dem wir nachgehen müssen, soll kein Bruch daraus kommen. Tatsache ist, dass wir Deutschland nicht, wie gehofft, in eine bolschewistische Revolution hineintreiben konnten, sondern dass es sich plötzlich nach rechts umformierte und Leute ans Ruder gebracht hat, die ich für national verdächtig ansehe. Es bleibt uns also nichts anderes übrig als langsamer Rückzug. Verschieben des Angriffs bei möglichster Wahrung des äußeren Eindrucks.«

»Sie wollen den Vorschlag der Deutschen benutzen — —?«

»Ja, wir werden so tun, als merkten wir gar nichts, beweisen der Welt unseren Willen zum Frieden, die freundlichen Absichten gegen die Deutschen, verblüffen die Gegner und stärken die Freunde und gehen zum Schein ganz naiv in die Falle.«

Der Außenchef zog seine Stirnfalten hoch.

»Die Gefahr dieses Schrittes …?! Jetzt, wo man die Falle als Absicht erkannt hat …!«

»Gerade deshalb ist sie uns nicht mehr gefährlich. Die Deutschen fangen sich in ihrer eigenen Torheit. Selbst angenommen, sie würden durch irgendein Wunder von außen, durch stille Reserven und große Kredite die Schuld schon in zehn, fünfzehn Jahren abzahlen — frei werden sie dadurch doch nicht. Der geheime Vertrag, den sie sich ausgeklügelt, liefert sie uns wieder rettungslos aus. Wir werden neue Forderungen erheben, neue Schuld Deutschlands finden. Und Deutschland wird sich wie ein Hängender wehren. Wir brauchen die Schlinge nur ein wenig fester zu ziehen und schon wird es wimmernd und knirschend parieren. Bei jeder neuen Forderung genügt ein stummer Hinweis auf diesen Pakt. Die Drohung mit der Veröffentlichung, um die Leute ohnmächtig zu machen. Die deutsche Regierung wird wütend erfüllen aus Angst vor dem eigenen Volk, das es ohne sein Wissen verkauft und belastet. Soweit haben die neuen Herren in der Wilhelmstraße wohl noch nicht gedacht. Die Augen werden ihnen aufgeben.«

»Sie sind also entschlossen, den Vertrag abzuschließen?«

»Ich bin es. Schon weil es mich reizt, diesem Saldern als Gegner die steinerne Maske herunterzureißen. Er soll erfahren, was es heißt, mit Grandmaire einen Kampfgang zu wagen.«

 

* * *

 

Der deutsche Güterzug Mannheim-Paris rollte endlos und träg durch den Abend dahin.

Im Dienstabteil brannte nur spärliches Licht. Die Gestalten der beiden Bahnarbeiter vom Dienst hoben sich in ihren Grauröcken undeutlich ab. Der Qualm ihrer Pfeifen kroch an der Decke entlang. Sie hatten die nägelbeschlagenen Stiefel bequem auf die hölzernen Bänke gelegt und starrten hinaus in das dämmernde Land.

»Sakra!«, brummte es auf. »Eene endlose Fahrt! Un en flauet Jefühl is et ooch, mitten mang die Paketen da drinn!«

Er wies mit dem Kopf nach dem Frachtraum zurück.

Der andere paffte den Qualm vor sich hin.

»Wieso, ein Gefühl?«

»Wenn det Zeugs explodiert!«

Die Antwort kam leise, verächtlich und spät.

»Seit wann explodieren denn Steine, du flapps?«

Der Bärtige wiegte vielsagend den Kopf.

»Wenn’t Steene sind! Weeste det ooch so jenau?«

»Was soll es sonst sein? Groß genug steht’s ja drauf. Lies die Aufschrift doch nach!«

»Uffschrift hin, Uffschrift her! Schreiben kann man ja vill. Ick weeß nur, die Dinger sind schauderbar schwer, und injepackt wie ’ne Fuhre Porzellan. Und versiejelt dazu.«

»Weil der sämtliche Dreck der Gesandtschaft gehört. Deutsche Botschaft, Paris. Diplomatische Fracht. Jule sagt, es wären Grabsteine drin für die deutschen Gefallenen. Noch aus dem Krieg. Was geht das uns an?«

»Wenn’t Steene sind, nischt. Wenn’t aber Pikrin — Dynamit oder sonst so wat is? Explodiert is man schnell!«

»Mensch, quatsch nich so dumm! Vielleicht sagste auch noch gleich, was der deutsche Gesandte mit Sprengstoffen soll. Nächstens pafft er wohl noch ganz Paris in die Luft? Haste das lange Geschreibe der Zeitungen noch nicht kapiert? Die letzten Wochen stand doch nischt anderes drin als von Grabsteinen und so. Dass die Pariser Botschaft nu endlich mal dafür sorgen will, dass all die deutschen Toten vom Krieg einen Grabstein bekommen. Es wird auch bald Zeit. Du, wenn du keinen Räuberroman hast! Dann stimmt’s bei dir nich. In dir spukt ooch der Kientopp von neulich noch nach.«

Der andere klopfte den Pfeifenkopf aus.

»Na, ick weeß nur, mein Herz, wat ick weeß, oller Freund! Seit vier Wochen jondeln wir schon alleweil nach Paris und zurück, mit die Steene als Fracht. Allet jeht nach Paris.«

»Schlaf, und laß mir die Kuh!«

Unwillig drehte der Graue sich ab.

»Na, wir wollen ja sehn!«

Der Ältere gab keine Antwort zurück. Er schob sich den wollenen Mantel zurecht und streckte sich lang auf der Holzpritsche aus. Eintönig stampften die Wagen und rollten einschläfernd die Schienen entlang. Weite, langweilige Landschaften, öde Felder, vernebelt und grau, glitten am schmutzigen Fenster vorbei. Stunde um Stunde schlich schleppend dahin.

Langsam richtete sich der Graubärtige auf. Leise, ruckweise, ohne Geräusch.

»Max!« frag er gedämpft in das Dunkel hinein.

Von der anderen Bank kam ein Schnarchen zurück. Laut und regelmäßig stieß der Schlafende seinen Atem hervor.

Vorsichtig stellte der Graue sich auf. Mit den Händen hob er das Bein von der Bank.

»Max!«, frug er noch einmal und schlich bis zur Tür. Kaum hörbar drückte er gegen das innere Schloss. Wie ein Schatten glitt er ins Freie hinaus. Es war mondlose Nacht. Die Landschaft lag schwarz. Keuchend schob sich der Zug eine Steigung hinan.

»Jut is!« nickte der Graue hinab und ließ: sich schnell los. Ohne Mühe lief er die Schienen entlang und wartete, bis er zum Frachtwagen kam. Mit einem Satz schnellte er sich an das eiserne Tor und packte den Griff.

Ein kurzer Blitz flammte auf. Das Licht der elektrischen Taschenlampe beleuchtete einen Augenblick lang beide Klammern der Tür.

»Plombiert!«, brummte der Bärtige rauh. »Aber machen wir doch!«

Er schien auf dies Hindernis vorbereitet zu sein. Mit einem spitzen Stahl bog er die Plombe von innen heraus und schob sie zurück. Angestrengt nestelte er an dem hanfenen Strick und zog ihn heraus. Ruckweise, mit der einen Faust an dem eisernen Griff, stieß er die kreischende Tür zurück und drängte sich katzengleich durch ihren Spalt. Dann zog er die Tür von innen ins Schloss.

Sekundenlang klang nur das Keuchen des Mannes im Raum. Dann leuchtete wieder der Lichtkegel auf, stieß einen Augenblick gegen die Wand und senkte sich ganz auf den Boden hinab. Eine lange Reihe Pakete lag über- und hintereinandergepackt. Schwere Ballen, etwa zwei Meter lang. Starke Stahldrähte schnürten sie ringsherum ein. Ein großes, weiß-rotes Schild trug die Aufschrift: Paris‚ Eigentum der deutschen Gesandtschaft. Grabsteine. Zollfrei.«

Der Bärtige grinste ungläubig hinab.

»Jrabsteene, jawoll! Kotz und Schlag, wer det jloobt. Eher schlag ick lang hin, bis ick weeß, wat dat is!«

Kniend, mit kurzen Schnitten und Drehungen, die eine große Gewandtheit verrieten, bog er auch hier beide Plomben zurück und löste den Draht. Trotzdem dauerte es Minuten, bis die letzte Schnur fiel. Unwillkürlich blickte der Graue sich um. Das schlechte Gewissen schlug ihm bis zum Hals. Mit zitternden fingern zog die dreifache Sackleinwand fort. Packen von Holzwolle und Werg fielen ihm auf seine Hand. Er strich sie zurück.

Eine graue, kantige Masse kam langsam ans Licht. Ein kunstvoll gemeißeltes — Grabkreuz aus Stein …

»Een Kreuz!« fluchte der Bärtige laut. »Tatsächlich nur Jrabsteene drin! So een Pech!«

Mit einem Ruck packte er wieder die Holzwolle auf und schnürte die Sackleinwand sorgsam herum. Auf den Zentimeter genau schloss er den äußeren, doppelten Draht. Die frühere Rille war deutlich zu sehen.

»Dafür all der Klamauk!«, schalt der Graue voll Zorn. Seine schmutzige Hand fuhr hinab in den Rock und kam mit den offenen Plomben zurück. Sorgfältig zog er die Schnur durch die Öffnung hindurch und drückte das Blei mit dem Daumen fest zu.

Mit der Laterne leuchtete er den Verschluss sorgsam ab.

»Bong! Haste jut jemacht!« grinste er still.

»Bist een Fachmann, min Jung!«

Befriedigt und stolz sah er auf die enträtselte, steinerne Fracht.

»N’ Abend, ihr Öljötzen!« sagte er laut in das Stampfen der rollenden Wagen hinein. »Schlaft jut, allemal!«

Dann schob er sich wieder ins Freie hinaus und drückte auch draußen die Plombe vors Schloss.

 

* * *

 

Der Oberkellner des Bristol-Hotels in Berlin sah die Brieftasche durch.