Der Kaninchen-Faktor - Antti Tuomainen - E-Book
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Der Kaninchen-Faktor E-Book

Antti Tuomainen

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Beschreibung

Die Nummer 1 aus Finnland: Tuomainens Romane sind wie die Filme von Aki Kaurismäki: spannend, tragisch, humorvoll und schräg. Alles im Leben ist berechenbar. Davon ist der Versicherungsmathematiker Henri Koskinen überzeugt; beruflich wie privat kalkuliert er stets bis zur letzten Dezimalstelle. Doch dann verliert Henri seinen Job. Und erbt einen Abenteuerpark – mit ziemlich eigenwilligen Mitarbeitern und beunruhigenden finanziellen Problemen. Offenbar wurden riesige Kredite aufgenommen, bei zweifelhaften Kapitalgebern. Und die Herrschaften wollen nun ihr Geld zurück. Im Abenteuerpark trifft Henri auch auf Laura, eine Künstlerin mit Vergangenheit. Als die Kriminellen kommen, um das Geld einzutreiben, und sich die Beziehung zu Laura vertieft, sieht Henri sich mit Situationen und Gefühlen konfrontiert, die selbst für einen versierten Versicherungsmathematiker einfach nur unkalkulierbar erscheinen. «The funniest writer in Europe.» The Times

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Seitenzahl: 400

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Antti Tuomainen

Der Kaninchen-Faktor

Roman

 

 

Aus dem Finnischen von Niina Katariina Wagner und Jan Costin Wagner

 

Über dieses Buch

Hallo und herzliche Grüße aus Helsinki, Finnland!

Ich heiße Antti Tuomainen, bin 1,91 m groß und freue mich riesig, dass mein Roman «Der Kaninchen-Faktor» nun auch in Deutschland erscheint. Die Idee dazu ist schon ein paar Jahre alt, ich war gerade auf dem Heimweg aus dem Büro. Geschafft von der täglichen Schreiberei verfolgte ich die Nachrichten, und wenn man all dem Glauben schenken wollte, was dort erzählt wurde, schien die Welt ein ziemlich verrückter Ort zu sein. (Ich sollte an dieser Stelle betonen, dass sich das alles vor den Problemen zutrug, die uns aktuell beschäftigen.)

Aus irgendeinem Grund begann in meinem Kopf das Was-wäre-Wenn (eine hochwissenschaftliche Methode, die Ideen für Geschichten hervorbringt), und bald fragte ich mich: Was wäre denn, wenn es einen Menschen gäbe, der immer noch fest davon überzeugt ist, dass alles, was passiert, einen Sinn ergeben muss. Und so wurde Henri Koskinen geboren, die Hauptfigur meines Buchs. Kurz gesagt ist es eine Geschichte über Liebe, Tod und Versicherungsmathematik.

Bevor Sie einschlafen, möchte ich Ihnen versichern, dass es außerdem ein warmherziger, schwarzhumoriger Thriller ist, der erzählt, was Mathematik, Kunst und einen Abenteuerpark verbindet – ein Roman, der etwas über die wichtigen Dinge im Leben lehren möchte.

Und wenn wir uns das nächste Mal vielleicht auf einer Lesung treffen, werde ich Sie auf typisch finnische Weise umarmen. Das ist die Sorte Umarmung, bei der wir fünf Meter auseinander stehen und nur daran denken, uns zu umarmen.

Vita

Antti Tuomainen, Jahrgang 1971, ist einer der angesehensten und erfolgreichsten finnischen Schriftsteller. Er wurde u.a. mit dem Clue Award, dem finnischen Krimipreis, ausgezeichnet, seine Romane erscheinen in über 25 Ländern. Antti Tuomainen lebt mit seiner Frau in Helsinki.

Niina Katariina Wagner wurde 1975 in einer kleinen Küstenstadt im Südwesten Finnlands geboren. Sie studierte Soziologie, Psychologie und Kulturgeschichte in Turku und lebt seit 2000 als freie Künstlerin in der Nähe von Frankfurt.

Jan Costin Wagner, Jahrgang 1972, lebt als Schriftsteller und Musiker bei Frankfurt am Main. Seine Romane um den finnischen Ermittler Kimmo Joentaa wurden von der Presse gefeiert, vielfach ausgezeichnet (u.a. Deutscher Krimipreis, Nominierung zum Los Angeles Times Book Prize) und in 14 Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien sein Roman «Sommer bei Nacht», der mit Erscheinen im März 2020 sofort auf Platz 1 der KrimiBestenliste einstieg.

Für Freunde, die ich mit Vornamen kenne

Jetzt

Ich sehe dem Hasen tief in die Augen, als das Licht ausgeht.

In der linken Hand halte ich die Tube mit dem Industriekleber, in der rechten einen Schraubenzieher. Ich lausche.

Im Halbdunkel scheint der Hase zu wachsen. Sein Kopf schwillt an, die Augen quellen hervor, die Ohrenspitzen ragen in die Höhe und scheinen in der Dunkelheit zu verschwinden, die Vorderzähne krümmen sich wie die Stoßzähne eines Elefanten. Im Nu wirkt die drei Meter große Gestalt doppelt so groß, doppelt so breit und deutlich bedrohlicher. Es sieht aus, als würde der Hase die Dunkelheit in seinem Inneren bewachen. Jetzt scheint er mich zu beobachten wie ein verlockendes Möhrchen.

Natürlich stimmt das nicht. Nicht wirklich. Der Riesenhase aus Deutschland besteht aus hartem Kunststoff und Metall.

Die Halle, in der ich stehe, ist groß und öde. Im Abenteuerpark DeinMeinFun liegt immer noch der Duft von Fastfood und dem täglichen Treiben in der Luft. Die Süße der Backwaren haftet an meinen Kleidern. Ich stehe zwischen Rutschberg und Krokodilbahn und warte. Die Leiter neben mir wirft einen langen Schatten. Weit oben dringt ein wenig Licht herein, es kommt von der Signalleuchte, die über dem Ausgang angebracht ist, und von den verstreuten Leuchten in der weiten Halle. Ein verwaschenes vages Licht, in dem ich immerhin Abstufungen von Dunkelgrün, Warnblinkorange und Stromknopfrot erahnen kann.

Vor nicht allzu langer Zeit wäre ich sicher gewesen, dass ein Stromausfall oder ein technischer Defekt die Ursache dafür ist. Irgendwas mit den Lampen. Aber ich habe dazugelernt. Was einst wahrscheinlich war, bewegt sich mehr und mehr im Bereich des Unmöglichen. Mit anderen Worten, umgekehrt betrachtet: Was ich mir früher mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitsrechnung und Risikoanalyse zuverlässig vom Leib halten konnte, ist Teil meines Lebens geworden.

Schritte. Keine Ahnung, warum ich sie erst jetzt höre.

Die Besucher sind vor gut einer Stunde gegangen. Der letzte Mitarbeiter hat sich vor etwa dreißig Minuten verabschiedet.

Seitdem habe ich allein gearbeitet, die Gerätschaften kontrolliert. Ich bin auch auf allen vieren mit Plastikhandschuhen durch das Erdbeerlabyrinth gekrochen. Die Kinder hinterlassen alles Mögliche. Kleidungsstücke, Essensreste und zuweilen auch den Inhalt einer Windel.

Ich bin auf Stufen, Treppen und Absätzen herumgeklettert, habe den Maskentunnel und einige der Schildkröten-Rennwagen gereinigt. Ich habe sichergestellt, dass die Lianen im Trickschloss nicht verknotet sind, sondern in bestem Zustand, um demnächst wieder Klebefinger-Tarzanen Freude zu bereiten. Danach habe ich damit begonnen, den defekten Riesenhasen zu reparieren. Ich begreife nicht, wie jemand das rechte Ohr des Hasen abbekommen hat. Das Ohr befindet sich in 2,50 Metern Höhe. Unsere Besucher sind höchstens 1,20 Meter, im Durchschnitt sogar kleiner.

Ich versuche, die Schritte zu lokalisieren. Mit ziemlicher Sicherheit kommen sie vom Café, dem Krummen Kuchen. Sie gehören zu einem Menschen, der sich darum bemüht, leise zu sein, der aber zugleich so gebaut ist, dass es ihm nicht gelingt.

Ich mache einige Schritte zur Seite und dann einige zurück in Richtung Trickschloss. Jetzt kann ich den Eindringling zum ersten Mal sehen. Ein stämmiger, dunkel gekleideter Mann. In der Tat geht er auf leisen Sohlen, so gut er das eben kann. Er scheint nach mir zu suchen, scheint mich beim Hasen zu vermuten, aber ich bin schon fast auf Höhe der Schildkrötengarage.

Ich verberge mich im Schatten, weiche weiter zurück. Mein Ziel ist der Eingang zum Trickschloss. Von dort könnte ich zur Rückfront des Geheimen Wasserfalls gelangen. Das ist natürlich kein echter Wasserfall, sondern eine Kletterwand mit blauen Seilen. Im Trickschloss wird es vermutlich schwierig werden voranzukommen. Könnte ich mit einem der Schildkrötenwagen entkommen? Eher nicht, die fahren höchstens zehn Kilometer pro Stunde.

Der Mann ist vor dem Hasen stehen geblieben. Ich sehe ihn im Profil, hinter seinem Rücken strömt das Signallicht vom Hauptausgang herein. Um seinen kahlen Kopf bildet sich ein giftgrüner Lichtkranz. Er hält etwas in der rechten Hand. Der Mann und der Hase sind schräg rechts vor mir, etwa zwanzig Meter entfernt. Der Eingang zum Trickschloss ist noch etwa sieben Meter entfernt, links von mir. Ich schleiche und taste mich voran, bin auf halbem Weg, als sich der Mann schnell umwendet. Er sieht mich, hebt die Hand.

Ein Messer.

Ein Messer ist besser als eine Pistole. Oder? Mir fehlt die Zeit, um die Wahrscheinlichkeit in Prozenten zu bemessen.

Ich renne ins Trickschloss und bin direkt im ersten Level, auf einer Treppe, deren Stufen in schiefen Ebenen angeordnet sind. Der Mann ist hinter mir. Er schreit nicht, ruft mir nicht hinterher. Er ist gekommen, um zu töten. Der Boden ist abschüssig, ich taste mich am Geländer entlang. Es ist eine mühselige Flucht, noch langsamer, als ich mir das vorgestellt hatte. Durch zwei der Kunststofffenster bricht vages Licht, wie durch ein Sieb. Der Mann steht in der Tür. Scheint seine Möglichkeiten abzuschätzen. Dann folgt er mir, greift nach dem Geländer wie nach einer Hantel und stößt sich ab. Es funktioniert, und ich beginne, an meinem Plan zu zweifeln.

Ich erreiche den Ausgang, betrete den frei drehenden Fasstunnel, der einen Durchmesser von vier Metern hat. Ich stürze, falle auf meine rechte Seite. Das Fass rollt, als wäre es von allem anderen losgelöst. Ich mache einige Umdrehungen, bevor es mir endlich gelingt, mich auf meine Hände und Knie zu stützen. Ich krieche in Richtung der Öffnung. Mein Verfolger betritt das Fass. Das verändert alles. Ich kann mich nicht weiter aufrichten, kann auch nicht auf allen vieren bleiben, werfe mich auf den Boden, erst auf den Rücken, dann auf den Bauch. Ich kann den Mann hören, er katapultiert sich gegen die Innenwand des Fasses, stößt sich vom Boden ab, kommt voran. Er schreit nicht. Murrt höchstens leise. Jetzt höre ich auch eine Art unterdrücktes Gebrüll. Wir kugeln durch diesen Tunnel, torkeln, als wären wir stockbetrunken, Saufkumpel.

Der Mann kommt näher.

Ich erreiche die andere Seite des Fasses, krieche einen Meter und noch einen, richte mich auf. Die Welt schaukelt und schwankt. Als würde ich über Wellen gehen. Wieder Stufen. Die sind Teil meines Plans. Wie gut, dass ich den Industriekleber noch bei mir habe. Ich öffne die Tube, drücke großzügig Kleber heraus und verteile ihn auf den Stufen, die ich schon hinter mir gelassen habe. Der Mann hat einige Mühe, sich auszubalancieren, er kommt etwas langsamer voran, und der Kleber verbindet sich mit seinen Sohlen.

Ich bewege mich wie ein Hampelmann, verteile wie wild den Klebstoff, es ist, als würden die Stufen, die ich beschreite, in der Luft schweben, im freien Raum, in der zweiten oder dritten Etage der weiten Halle. Da ist mehr Licht. Die vereinzelten Lichtquellen verschmelzen miteinander, hier oben, wo sie keine Hindernisse überwinden müssen. Ich bin wie ein Seiltänzer, unter dem Sternenhimmel einer klaren Nacht. Halte mich aufrecht. Unter mir droht keine Gefahr, da ist das weiche Schaumstoffmeer. Aber ich kann mir nicht leisten, mich einfach hineinzustürzen. Ich würde zu langsam fallen. Ich sehe mich um, sehe … das Messer.

In dem Moment begreife ich auch die eigenartigen Handbewegungen des Mannes. Mit dem Messer kann man nicht nur kämpfen, man kann es auch … werfen.

Er wirft. Das Messer fliegt auf mich zu, mit schnellen Umdrehungen. Ich weiche dem Messer aus, es verfehlt mein Herz. Aber es streift meinen linken Arm. Es bleibt nicht stecken, immerhin. Die Klebstofftube fällt mir aus der Hand. Der Mann kramt in seiner Jackentasche, fischt ein zweites Messer heraus. Ich laufe, renne, zum Raum mit den Flipperautomaten. Der Mann sagt zum ersten Mal etwas.

«Halt!», ruft er. «Ich warne Sie. Ich will Ihnen zeigen …»

Seine Argumentation überzeugt mich nicht. Ich setzte meinen Weg zu dem Raum mit den Flipperautomaten fort. Es ist dunkel. Ich kollidiere gleich zweimal mit weichen Säulen aus Kunststoff. Dann schlage ich noch meine aufgeschlitzte Schulter an einer dieser Säulen an. Der Schmerz explodiert, durchdringt meinen Körper, ich muss mich zwingen, nicht auf die Knie zu gehen.

Ich bin wie eine Flipperkugel in einem stockfinsteren Flipperautomaten. Nur ein Hauch von Licht fällt durch die Eingangstür, in der Mitte ist alles schwarz. Das Gute ist, dass es hier unmöglich ist, mit Messern zu werfen. Es gibt keine freie Wurfbahn. Ich versuche, mich mit dem rechten Arm zu schützen, während ich mit Säulen und Gummiwänden kollidiere. Ich laufe dem Licht entgegen, kann den Mann in meinem Rücken hören. Er schlägt sich mühsam durch. Ich hoffe, dass der Kleber an seinen Sohlen ihn verlangsamt.

Ich erreiche den Wasserfall, hangele mich an den Seilen entlang in den nächsten Raum, der einen Zugang zur Lagerhalle hat. Ich taste nach dem Schlüssel in meiner Hosentasche. Ich führe ihn mit zittrigen Fingern ins Schloss, aber die Tür geht nicht auf. Ich ziehe an der verdammten Tür, dann begreife ich. Die Schlösser sind erneuert worden. Heute? Warum ausgerechnet heute? Und warum hat mir das niemand mitgeteilt?

Zurück zum Wasserfall. Ich sehe den Mann, er zieht ein Stück Teppichboden von seinen Schuhsohlen ab. Ich tue, was getan werden muss. Ich renne und springe. Ich lande so hart auf der Blechrutsche, dass ich schreie. Dann rutsche ich, kurvige Strecke, Drehwurm. Die Kräfte, die auf der Rutsche wirken, verstärken den Schmerz meiner Wunde am Arm. Rutschen und Schmerzen, eine unerträgliche Kombination, wie Fahrradfahren ohne Sattel: Man kommt vielleicht an, aber ohne zu sitzen.

Am Ende lande ich dumpf auf einem weichen Teppich. Ich richte mich auf, lausche, überrascht. Ich höre nichts. Der Mann ist nicht auf der Rutsche. Vermutlich ist er oben stehen geblieben.

Ich durchschreite noch einmal das Trickschloss, renne weiter, zurück zum Hasen, bewege mich auf den Ausgang zu. Meine Schlüssel passen nicht mehr, aber die Ausgangstür kann man glücklicherweise von innen auch ohne Schlüssel öffnen. Kurz bevor ich da bin, halte ich inne, sehe mich um, horche. Niemand zu sehen, niemand zu hören.

Ich renne, bin fast am Hasen angelangt, als hinter dem riesigen Tier ein breiter Mann erscheint. Ich brauche den Bruchteil einer Sekunde, um zu begreifen, was ich sehe. Ich frage mich, ob die Schaumstoffquader, die an seinen Schuhen haften, ein Produkt des Zufalls oder eines ausgeklügelten Plans sind. In jedem Fall haben sie ihm ermöglicht, sich schnell und lautlos zu bewegen. Er ist von oben herabgesprungen, und dank der Schaumstoffsohlen war die Landung geräuschlos.

Wut kocht in mir hoch.

Ich habe nach den Regeln gespielt. Mal wieder.

Ich renne. Mehr als der Hase fällt mir nicht ein, ich dresche auf das überdimensionale Ding ein, werfe mich dagegen, bis es zu wanken beginnt. Es fällt, tatsächlich, wir stürzen zu Boden, der Mann, der Hase und ich. Unsere Blicke treffen sich, er ist schneller. Es gelingt mir, mich zur Seite abzurollen, während er das Messer zückt und meinen Oberschenkel streift. Das Messer bleibt in der Sperrholzplatte unter uns stecken. Ich hänge mit meinem Hosenbein fest. Ich höre mich schreien. Taste. Erfasse etwas.

Ein Ohr des Hasen.

Es hat sich schon wieder vom Hasenkopf gelöst.

Ich greife nach dem Ohr, schlage damit zu. Irgendwas habe ich getroffen. Ich versuche aufzustehen, meine Hose reißt ein. Der Mann wühlt in der Innentasche seiner Jacke. Noch ein Messer? Ich handle, bevor es ihm gelingt, nach mir zu werfen oder auf mich einzustechen. Ich schlage einfach zu, wieder und wieder. So lange, bis die Wut und der Zorn nicht mehr groß genug sind, um meinen Arm zu führen. Das dauert eine ganze Weile. Ich lasse das Ohr des Hasen los. Die Halle ist still und leer. Ich kann nur mein eigenes Schnaufen hören, sehe mich um.

Die Halle sieht anders aus.

Ein Abenteuerspielplatz für die ganze Familie.

Plötzlich fällt es mir schwer zu begreifen, wie genau es dazu gekommen ist, dass all das hier in meiner Verantwortung liegt. Das hier und manches andere auch. Alles ist so unerwartet aus dem Ruder gelaufen.

Ich bin Versicherungsmathematiker.

Ich bin kein Betreiber von Vergnügungs- oder Abenteuerparks, und schon gar nicht neige ich dazu, Menschen tödlich zu verletzen, mit überdimensionierten Hasenohren.

Aber wie ich schon sagte: Mein Leben ist schon seit längerer Zeit nicht mehr in Einklang zu bringen mit den Wahrscheinlichkeiten, die ich früher so gerne berechnet und an die ich bedingungslos geglaubt habe.

Drei Wochen und drei Tage davor

1

Kannelmäki im September. Ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen. Leuchtende Blätter, die vernünftigsten Quadratmeterpreise in ganz Helsinki.

Der Geruch von Herbst erfüllte die Morgenluft, nachgewiesenermaßen die reinste der Stadt. Auf den Oberflächen des rotgelben Laubs lagen Tauperlen, die aufgehende Sonne ließ sie aufflackern wie federleichte Spiegelungen.

Ich stand auf meinem Balkon im vierten Stock und dachte zum wiederholten Male, dass ich am rechten Ort war. Nichts, so dachte ich, würde mich jemals dazu bringen, meine Meinung zu ändern.

Die Umgebung des Bahnhofes von Kannelmäki zählte zu den effizientesten in ganz Helsinki. Von meiner Wohnung aus waren es gerade mal zweieinhalb Minuten bis zur Bahn. Zu meiner Arbeit in Pasila gelangte ich in neun Minuten, zum monatlichen Kinobesuch in der Innenstadt in dreizehn Minuten.

Gemessen an der zentralen Lage war meine Wohnung günstig und angenehm geschnitten. Funktional im besten Sinne, kein Quadratmeter zu viel. Keine Dekoration, kein Tand, nichts, was im Verdacht stand, unnötig zu sein.

Die Häuser waren in einer Zeit der Sachlichkeit erbaut worden, Mitte der achtziger Jahre. Es gab Leute, die die Siedlung als Plattenbau verunglimpften, gar als deprimierend, aber sie sahen nur die äußere Hülle, die würfelartigen Formen und das Grau, die verblüffende Einheitlichkeit. Diese Menschen begingen also einen Fehler, den so viele Menschen begehen: Sie stellten keine exakten Berechnungen an.

Berechnungen, das wusste ich aus Erfahrung, erzählten davon, was wirklich schön war und was nicht.

Kannelmäki, daran bestand kein Zweifel, war schön.

Ich sog noch einmal Luft ein, dann betrat ich meine Wohnung. Ich ging in den Flur, zog die Jacke und die Schuhe an. Den Reißverschluss der Jacke schloss ich nicht ganz, sodass die glänzende Krawatte sichtbar blieb. Der Knoten war gekonnt ausgeführt. Ich betrachtete mich im Spiegel, hatte den Eindruck, ich kannte den Mann, den ich sah.

Mit meinen 42 Jahren hatte ich eigentlich nur einen Wunsch:

Ich wollte, dass alles Sinn ergibt.

 

Die Versicherungsmathematik ist eine Disziplin, die die Fachbereiche Mathematik und Statistik zusammenführt. Es geht darum, die Wahrscheinlichkeit zu bestimmen, mit der ein bestimmtes Ereignis eintreten kann. Daraus resultiert dann eine Risikoabwägung, die es ermöglicht, eine wirtschaftlich angemessene Versicherungsprämie festzulegen. Das ist die offizielle Version.

Wie so häufig verstehen die wenigsten diese formalen, eher langweilig anmutenden Erläuterungen. Und selbst wenn jemand es begreift, wird er zu wenig auf die entscheidenden Worte achten. Wirtschaftlich angemessen zum Beispiel.

Versicherungsgesellschaften machen Profit. Unfallversicherungen zuweilen dreißig Prozent. Das gelingt selbst in der herstellenden Industrie den Wenigsten. Die Versicherungsgesellschaften profitieren davon, dass die Leute eigentlich kaum eine andere Wahl haben. Sicher, man kann es auch sein lassen, niemand ist gezwungen, sich zu versichern, aber wenn die Leute ein wenig darüber nachdenken, dann versichern sie zumindest ihr Hab und Gut und ihr Zuhause. Versicherungsunternehmer wissen auch, dass der Mensch ein fragiles Wesen ist. Und dass seine Fähigkeit, sich selbst in Schwierigkeiten zu bringen, die anderer Lebewesen um ein Vielfaches übertrifft.

Deshalb errechnen Versicherungsgesellschaften, wie oft Menschen ausrutschen, insbesondere auf ihrem eigenen Grundstück. Auch wollen sie wissen, wie häufig sich die Leute Gegenstände diverser Form und Größe einführen, wie gerne sie glühende Grillkohle in den Müll kippen oder mit nagelneuen Jetskis ineinanderkrachen. Wie oft strecken sie sich nach dem obersten Regal aus, um hinter der Blumenvase etwas zu suchen, und wie oft stützen sie sich im Vollrausch auf einem Sushi-Messer ab? Nicht zu vergessen Feuerwerkskörper, die sie sich selbst und anderen ins Auge schießen – sobald Neujahr kommt.

Die Versicherungen wissen also zweierlei: Erstens müssen sich Menschen gegen alle möglichen Risiken wappnen. Zweitens wird es immer Menschen geben – gutes Zureden hin oder her –, die mit dem Feuer spielen. In diesem Spannungsfeld, gewissermaßen zwischen dem Bleistift und dem Streichholz, arbeiten wir Versicherungsmathematiker. Meine Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass die Versicherung Gewinn macht, und das, obwohl der arme Kerl, der sich selbst angezündet hat, natürlich entschädigt werden muss.

So jemand, der zwischen Blei und Flamme steht, war ich. Mein Büro befand sich im Stadtteil Vallila. Ein moderner Gebäudekomplex, der im Frühling des Vorjahres fertiggestellt worden war. Beim Bezug war die Farbe noch frisch. Jetzt aber spürte ich allmorgendlich, wenn ich das Großraumbüro betrat, dieselbe Wut, dieselbe Enttäuschung, wie Klumpen aus schwarzem, ewigem Eis, die sich in meiner Seele eingenistet hatten – anstelle eines Arbeitszimmers hatte ich nun einen Arbeitsplatz.

Das Wort Platz sagt alles. Es war eine schmale, beengte Fläche am Fenster. Mir gegenüber saß, an einem identisch schmalen Platz, ein jüngerer Kollege, auch er Mathematiker, Miikka Lehikoinen. Er neigte dazu, Geschichten von Grillabenden zum Besten zu geben. Links von mir saß Kari Halikko, ein recht junger Risikoanalytiker, der gerne lachte. Sie waren Vertreter einer neuen Generation von Versicherungsmathematikern.

Ich mochte weder die beiden noch das offene Büro. Es war laut, andauernd gab es Störungen, aus nichtigem Anlass. Vor allem war es voller Menschen. Ständig wurde geredet, gekalauert, gewitzelt, um Rat gefragt oder Ratschlag angeboten. Andere mochten das, ich nicht. Mir wollte nicht einleuchten, was das alles mit anspruchsvoller Wahrscheinlichkeitsberechnung zu tun haben sollte. Ich hatte versucht, die Verantwortlichen darüber aufzuklären, dass wir hier eine Abteilung für Risikoverwaltung zu leiten hatten, keinen Vergnügungspark, aber ich war auf taube Ohren gestoßen.

Meine Leistungsfähigkeit hatte definitiv gelitten. Immerhin machte ich nach wie vor keine Fehler, was man von allen anderen vermutlich nicht behaupten konnte. Aber diese ständigen Ablenkungen, vor allem die von Halikko, hemmten mich erheblich.

Dieser Halikko lachte über alles. Er zeigte den anderen Filmchen, auf denen die Hintern von Weitspringerinnen zu sehen waren oder sinnlose Sänger-Duelle oder seltsame Haustiere. Die Leute stimmten in Halikkos Lachen ein, und ein Filmchen führte zum nächsten. Halikko lachte immer lauter, schallend. In meinen Augen, mit Verlaub, ein völlig inakzeptables Verhalten für einen Risikoanalytiker.

Ein anderer Störfaktor war Lehikoinen, er sprach ohne Pause. Montags berichtete er vom Wochenende, im Herbst vom Sommerurlaub, im Januar von Weihnachten. Lehikoinen führte ein ereignisreiches Leben. Er hatte zwei Scheidungen hinter sich, was in meinen Augen bedeutet, dass er die tiefere Bedeutung mathematischer Redundanz nicht verstanden hat.

An diesem Morgen saßen sie bereits an ihren Arbeitsplätzen, als ich ankam. Halikko kratzte sich an seinem kurzgeschorenen Kopf, Lehikoinen spitzte die Lippen, er sah irgendwas auf seinem Bildschirm, das ihn mit den Fingern gegen die Armlehne seines Stuhls trommeln ließ. Sie machten den Eindruck, als konzentrierten sie sich tatsächlich auf ihre Arbeit, was ziemlich überraschend war. Ich sah auf die Uhr, die auf dem Tisch stand. Es war genau neun. Ende der Gleitzeit.

Nach dem Umzug habe ich mir angewöhnt, morgens eine halbe Minute später loszugehen, in der Hoffnung, den morgendlichen Plausch im Büro vermeiden zu können. Das führte dazu, dass ich gerade noch pünktlich zur Arbeit erschien. Was gar nicht meine Art war. Ich legte meine Tasche neben meinem Stuhl ab, zog den Stuhl heran. Zum ersten Mal hörte ich bewusst, wie die kleinen Reifen aus Hartgummi über den Boden schrammten. Das Geräusch hatte etwas Schauderhaftes. Mir liefen Schauer über den Rücken, wie kalte Fingernägel.

Ich fuhr den Computer hoch und stellte sicher, dass alles auf dem Tisch bereitlag, was ich brauchte. Ich war mittendrin in einer Analyse der Zinsfrequenzschwankung in Bezug auf die Entschädigungsoptimierung in einer dynamischen Wirtschaftslage. Ich hegte die Hoffnung, heute die recht mühevolle Tätigkeit der vergangenen beiden Wochen abschließen zu können.

Die Stille fühlte sich an wie Wasser, das in einem Glas ruhte, durchsichtig, aber zugleich konkret, eine Stille, die mit Händen zu greifen war.

Ich gab meinen Benutzernamen und mein Passwort ein. Das Kästchen ruckelte kurz. Darunter stand in roter Schrift, dass Benutzername und Passwort ungültig seien. Ich gab alles noch mal ein, langsamer und achtete darauf, dass die Großbuchstaben groß waren und die Kleinbuchstaben klein. Das Kästchen ruckelte hin und her. Darunter waren jetzt sogar zwei Zeilen. Benutzername und Passwort seien nicht gültig. Und in GROSSBUCHSTABEN der Hinweis, dass ich nur noch einen (1) weiteren Versuch habe. Ich suchte über den Bildschirm hinweg Lehikoinens Blick. Er trommelte mit den Fingern gegen seine Armlehne, betrachtete durch das Fenster interessiert die Fassade des Fastfood-Restaurants.

Ich starrte ihn an, während ich mir noch einmal in aller Ruhe meine Zugangsdaten vor Augen führte. Ich kannte das Passwort, ich kannte den Nutzernamen. Natürlich. Ich wusste auch, dass ich beide zweimal vollkommen korrekt eingegeben hatte.

Lehikoinen wendete sich hastig ab, als unsere Blicke sich trafen. Er trommelte nicht mehr mit den Fingerspitzen, fokussierte jetzt den Bildschirm seines Computers. Es war still im Großraumbüro, nur die Klimaanlage summte vor sich hin. Das Geräusch drang deutlich durch, weil ansonsten Schweigen herrschte. Vielleicht war es die Penetranz dieses Geräuschs, die mich daran hinderte, Halikko zu fragen, ob er heute Probleme bei der Anmeldung gehabt habe.

Falls ja, waren diese Probleme ohnehin behoben worden, denn Halikko klickte munter auf die Maus, als wollte er ihr tausend kleine Klapse verpassen. Ich fuhr über die Tastatur, spürte wieder die kühlen Fingernägel über meinen Rücken kratzen. Ich ließ meine Finger behutsam wandern, konzentrierte mich auf jede einzelne Eingabe, auf jeden Tastendruck. Am Ende drückte ich ENTER. Nur einmal, ohne Hektik, aber entschieden.

Ich hielt die Augen dabei offen, blinzelte nicht. Dennoch hatte ich in dem Moment das Gefühl, lange geschlafen zu haben. Als wäre ich plötzlich eingeschlafen oder ohnmächtig geworden, am helllichten Tag, und jetzt in einer völlig neuen, rätselhaften Landschaft erwacht. Der Tag hatte seine Farbe verloren, die Welt hing schief. Das Kästchen im Zentrum des Displays ruckelte, dann war es ganz weg.

Ich hörte eine Stimme, die mir allzu vertraut war.

«Koskinen, komm doch bitte kurz in mein Büro.»

2

«Du hast doch einen Moment, oder?», fragte Tuomo Perttilä, der Abteilungsleiter. «Auf ein Wort.»

Wir saßen in seinem Büro, einem Würfel aus gläsernen Wänden. Mir war es unangenehm, dass da kein Tisch war, der uns voneinander separierte. Das erschien mir unnatürlich. Es erinnerte mich an einen Arztbesuch. Wobei ich nicht darüber nachdenken wollte, wer hier die Rolle des Patienten und wer die des «Heilers» innehatte. Die Stühle waren aus Metall, mit harten Lehnen. Ich wusste nichts mit meinen Händen anzufangen, ließ sie in meinem Schoß ruhen.

«Ich möchte zuhören», sagte Perttilä. «Hören, wie du es einschätzt.»

Das körperliche Unbehagen war das eine. Aber noch unangenehmer war es, Perttilä in seiner neuen Rolle erleben zu müssen. Auch ich hatte mich auf die Stelle des Abteilungsleiters beworben. Ich war der Kompetenteste und Erfahrenste. Ich weiß bis heute nicht, wie es Perttilä gelungen ist, die Führung von sich zu überzeugen.

«Ich denke, dass wir einander verstehen werden», sagte er. «Wenn wir offen miteinander sprechen, wird etwas Gemeinsames entstehen. Eine gemeinsame Entscheidung, du verstehst. Nur eine Entscheidung, die wir gemeinsam treffen, im Einvernehmen, ist eine gute Entscheidung. Es ist wichtig, dass wir uns auf Augenhöhe begegnen. Wir sind wie zwei entblößte Menschen ohne Hierarchie, die gemeinsam am Lagerfeuer sitzen und reden, sich öffnen, gemeinsam, auch emotional.»

Das war das Gerede, das gerade in Mode war. Perttilä hatte diverse Fortbildungen zu dem Thema absolviert, das wusste ich. Es fiel mir allerdings schwer, das Bild zum Leben zu erwecken. Wir beide, entblößt, an einem Lagerfeuer sitzend, im tiefen Wald. Ich empfand Perttiläs neue Art der Kommunikation auch ansonsten in so ziemlich jeder Hinsicht als mangelhaft, unzureichend, einfach nicht schlüssig.

«Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz», sagte ich. «Und sag mal, hast du eine Ahnung, warum ich mich nicht ins System einloggen …»

Perttilä lachte kurz auf. Wohlwollend, vermutete ich. Er hatte einen glatten, kahlen Schädel, rasierte sich regelmäßig das Kopfhaar. Wenn er lächelte, hatte man immer das Gefühl, der ganze Schädel, inklusive Hinterkopf, würde mitlächeln.

«Entschuldige bitte, ich bin manchmal zu schnell, es ist für mich einfach so normal, mich zu öffnen. Ich möchte dir Raum geben, dich zu erklären», sagte er. Vor einem Jahr hatte seine Stimme noch anders geklungen. Damals hatte er so geredet wie alle anderen. Jetzt, nach den ganzen Fortbildungen für Führungskräfte, bewegte er sich irgendwo zwischen Märchenonkel und Unterhändler bei Geiselnahmen. Das passte nicht zu dem Menschen, den ich kannte.

«Ich möchte dir allen Raum geben, den du brauchst», sagte er. «Du sprichst, ich höre zu. Aber lass mich zunächst noch eine Frage stellen.»

Ich wartete. Perttilä stützte die Ellenbogen auf die Knie.

«Wie erlebst du eigentlich unser neues Arrangement? Unser Teambuilding? Diese Offenheit, das gemeinsame Arbeiten, dieses Gemeinschaftsgefühl?»

«Na ja, ich habe dir ja schon mal gesagt, dass es in meinen Augen unsere Arbeit erschwert und verlangsamt.»

«Dass wir hier alle zusammen etwas erreichen, einander kennenlernen, die Gegenwart des anderen genießen, voneinander lernen, unsere verborgenen Potenziale ausschöpfen …»

«Nun ja …»

«Es gibt Mitarbeiter, die sagen, dass sie sich erst hier bei uns entdeckt haben. Dass sie hier bei uns den Menschen in sich entdeckt haben», sagte Perttilä. «Sie erkennen, dass sie als Mathematiker, Analytiker, aber auch als Menschen gereift sind, ein neues Level erreicht haben. Und das alles, weil wir die Hindernisse einfach beiseitegeräumt haben. Alle, die internen, die externen. Wir sind auf einem neuen Level.»

Perttilä hatte tiefliegende Augen, fast sah es so aus, als seien sie mit der Kopfhaut verwachsen. Sein Blick unter den dunklen Brauen war schwer zu deuten, aber ich sah ein Leuchten, ein Flackern. Und ich spürte wieder die Fingernägel, die über meinen Rücken kratzten.

«Ich weiß nicht recht», sagte ich. «Es fällt mir, offen gestanden, schwer, diese Effekte einzuschätzen.»

«Es fällt dir schwer», sagte Perttilä. Er lehnte sich zurück. «Gut, gut. Nun, was könnte dir denn leichter fallen? Für welche Aufgaben könntest du dich begeistern?»

Die Frage überraschte mich. Ich spürte ein Kribbeln, jetzt auch in meinen Händen, die in meinem Schoß lagen. «Na, für meine Aufgaben natürlich», entgegnete ich. «Ich bin Mathematiker und …»

«Wie siehst du deine Rolle?», unterbrach mich Perttilä. «Im Team? Was bringst du ein? Was leistest du, für die Gemeinschaft, für die Familie? Was ist dein Geschenk an uns?»

War das ein Witz? Ich beschloss, ehrlich zu antworten. «Die mathematische …»

«Wir lassen jetzt mal die Mathematik beiseite, ja? Nur für einen Moment. Keine Mathematik», sagte Perttilä. Er hob den rechten Arm, als wollte er einen unsichtbaren Strom aufhalten, der durch das Zimmer floss.

«Keine Mathematik?», fragte ich. «Aber das ist doch die Basis dessen, was wir tun.»

«Das ist mir bekannt», sagte Perttilä. Er nickte vor sich hin. «Aber wir müssen alle auf demselben Weg voranschreiten, egal, ob wir die Mathematik oder was auch immer unter den Arm geklemmt haben.»

«Unter den Arm geklemmt? Also, das passt nicht. Das ist ein falsches Bild», sagte ich. «Wir arbeiten vernunftorientiert. Wir klemmen nichts unter den Arm, wir nutzen unser Hirn.»

Perttilä beugte sich wieder vor, schaukelte hin und her, hielt inne. Er schwieg lange, bevor er fortfuhr. «Diese Abteilung war wirklich völlig am Ende, als ich hier das Ruder übernommen habe. Du erinnerst dich sicher daran, wie wir alle in unseren kleinen Kabinen gehockt haben, jeder hat vor sich hin gewurschtelt, niemand wusste, was der andere eigentlich macht. Das war ineffizient, wir waren kein Team. Ich bin angetreten, um diese Abteilung von Schlips- und Brillenträgern ins 21. Jahrhundert zu bringen. Das ist jetzt passiert. Wir fliegen. Wir fliegen zur Sonne.»

«Das hoffe ich nicht», sagte ich. «Das ist nicht zu empfehlen, unter keinen Umständen. Und wenn du es metaphorisch meinen solltest …»

«In der Tat, so meine ich es. Aber es gibt hier einen, der ständig an allem etwas auszusetzen hat. Nur eine Person rechnet immer noch allein vor sich hin. Wie … wie ein verdammter abgetragener Schuh, den Einstein achtlos in die Ecke geworfen hat. Rat mal, von wem ich spreche.»

«Ich will nur, dass alles Sinn ergibt», sagte ich. «Mathematik verlangt danach. Sie ist immer konkret. Sie vermittelt unmittelbar Information. Ich weiß nicht, wozu wir die ganze Aufregung und das kindische Getue brauchen, meiner Meinung nach ist das ohne jeden Nutzen. Wir brauchen Vernunft und Information. Beides kann ich liefern.»

«Du konntest.»

Das traf mich. Mehr als die tausend Worte davor. Ich wusste um mein Wissen und meine Kompetenz. Mein Puls stieg rasant an, mein Herz pochte. Was Perttilä gesagt hatte, war schlicht unangemessen. Meine Verunsicherung wich der Wut. Ich wurde langsam sauer.

«Ich bin sehr gut in dem, was ich tue, und ich verbessere mich sogar immer weiter.»

«Nicht in jeder Hinsicht.»

«Was man heute …»

«Was wir heute hier brauchen, ist nicht das, was wir in den siebziger Jahren gebraucht haben», sagte Perttilä aufgebracht. «Ich meine letztes Jahrhundert, oder soll ich noch weiter zurückgehen?»

Ich begann zu begreifen. Das Problem mit dem Passwort war erst der Anfang gewesen. Diesen Perttilä, der jetzt sprach, kannte ich. Er war wieder ganz der Alte, es war seine Stimme.

«Ja, verdammt, du bekommst, was du willst, du verstaubter Versicherungsmathematiker», schrie er. «Du musst nicht Teil unseres Teams sein. Du brauchst unser System nicht. Du darfst allein vor dich hin rechnen, in deinem eigenen Büro.»

Er streckte den Rücken durch, saß ganz vorne auf der Stuhlkante. «Alles ist vorbereitet», sagte er. «Dein Büro ist unten. Das kleine Kabäuschen hinter der Pförtnerkabine. Du kannst deine Tür schließen. Ein Notizheft und ein Taschenrechner liegen bereit. Wie gesagt, Computer und diesen Schnickschnack brauchst du nicht. Ich habe dir die Aufgabe übertragen, zu berechnen, welche Effekte die Inflation 2011 auf die Versicherungsbeiträge im Jahr 2012 hatte. Die Akten liegen auf dem Tisch, sechzehn Ordner, wenn ich mich recht entsinne.»

«Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn», sagte ich. «Wir sind im Jahr 2020. Diese Berechnungen wurden bereits durchgeführt, vor vielen Jahren, bevor die Beiträge angepasst wurden.»

«Du berechnest alles noch mal. Du stellst sicher, dass alles korrekt gelaufen ist. Das ist doch genau dein Ding. Mathematik.»

«Ja, sicher, aber …»

«Du magst mein Teambuilding nicht. Offene Gespräche, dass wir unsere Emotionen teilen, den anderen an unseren Gefühlen teilhaben lassen. Du willst dich nicht auf die Kraft des Moments verlassen und auch nicht auf uns. Dir gefällt nicht, was ich dir geben möchte.»

«Mir gefällt nicht …»

«Ganz genau. Dir gefällt es nicht. Deshalb, mein Lieber, biete ich dir noch eine Alternative.» Er streckte seinen Arm aus, fischte ein Blatt Papier von seinem Schreibtisch, überreichte es mir.

Ich überflog es. Ich war nicht mehr aufgeregt oder verärgert, sondern einfach nur perplex. Und, nun ja, doch, ich war außer mir vor Wut. Ich suchte seinen Blick.

«Du willst, dass ich kündige?»

Jetzt lächelte er wieder, fast so, wie er zu Beginn des Gesprächs gelächelt hatte. Wobei jetzt sogar noch der Hauch von Wärme fehlte, der anfangs zu spüren war.

«Ich ebne dir nur die Wege», sagte er. «Du musst die Frage beantworten, welchen Weg du einschlagen möchtest.»

«Ich soll also entweder bedeutungslose Berechnungen anstellen oder an den amateurhaften Therapiesitzungen teilnehmen, die der Durchführung ernstzunehmender und höherer Mathematik im Weg stehen? Ersteres ist ohne Sinn, das Zweite führt zu Chaos und Destruktion.»

«Dann wäre da noch dieser dritte Weg», sagte Perttilä und nickte in Richtung des Blattes Papier, das ich in meiner Hand hielt.

«Genauigkeit erfordert Genauigkeit», sagte ich. Meine Stimme zitterte, das Blut in mir kochte. «Man errechnet einen Korrelationsfaktor nicht präzise, indem man ein Gruppengespräch über die KonMari-Methode führt. Ich kann mich keinem Team anschließen, dessen größter Ehrgeiz ein gemeinsamer Sushi-Kurs ist.»

«Nun denn, du findest dein neues Büro im Erdgeschoss, gleich neben der …»

Ich schüttelte den Kopf.

«Nein», sagte ich. «Das ergibt einfach keinen Sinn. Ich möchte, dass wir die Dinge vernünftig angehen, rational. Diese Kündigung ist … Da steht, dass ich auf mein Gehalt der kommenden sechs Monate verzichten soll. Das steht mir aber aufgrund meiner langjährigen Tätigkeit zu. Und da steht sogar, dass die Kündigung ab sofort in Kraft tritt.»

«Ja, denn diese Kündigung wäre ja deine eigene Wahl», sagte Perttilä. Jetzt hatte er wieder diese sanfte Stimme, die nicht seine war. Er schien sich aber selbst sehr gerne zuzuhören. «Wenn du hier bei uns bleiben möchtest, hätten wir morgen eine ganztägige Fortbildung über Transzendenz und Meditation am Arbeitsplatz, der Referent ist großartig.»

«Hast du einen Stift?»

 

Die anderen hatten Bescheid gewusst, ich sah es ihnen an. An meinem Arbeitsplatz hatte ich, abgesehen von einem Bild meines Katers Schopenhauer, nichts Persönliches. Ich entnahm meiner Aktentasche sämtliche Unterlagen und legte stattdessen das Foto meines Katers hinein. Dann fuhr ich mit dem Aufzug nach unten. Ich blickte weder zu dem Pförtner noch zu dem Raum, der mein neues «Büro» hätte werden sollen. Als ich draußen war, blieb ich mitten auf der Straße stehen. Es fühlte sich an, als wäre ich plötzlich erstarrt, als wären meine Beine bewegungsunfähig.

Ich war arbeitslos.

Der Gedanke war unwirklich. Das konnte nicht zutreffen, nicht auf mich. Es erschien mir unvorstellbar, mitten am Tag kein Ziel vor Augen zu haben. Keinen Ort, keine Aufgabe. Als wäre, von einem Moment auf den anderen, der Mechanismus außer Kraft gesetzt worden, der die Welt am Laufen hielt. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr, aber das war natürlich sinnlos. Sie zeigte mir zuverlässig die Zeit an, aber die Zeit selbst war aus den Fugen geraten, stand in keiner Relation mehr, zu nichts. Zehn Uhr und achtzehn Minuten.

Gerade eben hatte ich noch an einer Berechnung feilen wollen, konditionale Wahrscheinlichkeiten, komplementäre Wahrscheinlichkeiten. Und jetzt stand ich an dieser vielbefahrenen Straße und war ohne Job. Das Einzige, was ich hatte, war das Foto meines Katers in meiner Aktentasche.

Ich musste mich dazu zwingen weiterzugehen. Schritt für Schritt. Die Sonne war in meinem Rücken, sie wärmte mich, es wurde langsam besser. Als ich am Bahnhof von Pasila ankam, begann ich, meine Situation differenzierter zu betrachten, ein wenig ruhiger. Logik und Ratio waren wieder da.

Ich war ein erfahrener Mathematiker. Ich wusste mehr über das Versicherungswesen als alle anderen in Perttis Abteilung zusammen. Ja, ich begann langsam, mich zu entspannen. Ich würde einfach bei der Konkurrenz anheuern.

Wie schwer konnte es sein, eine Versicherungsgesellschaft zu finden, die den Wert von Mathematik zu schätzen wusste? Einen Arbeitgeber, der meiner Selbstverwirklichung nicht im Wege stehen würde? Nicht allzu schwer, dachte ich. Bald würde sich alles klären.

Ab sofort würde alles nur noch besser werden.

3

«Ihr Bruder ist gestorben.»

Der Mann trug ein hellblaues Hemd und darüber ein dunkelblaues Sakko. Beides verstärkte den dritten Blauton, den seiner Augen. Er hatte seine weizenblonden Haare nach links gekämmt. Sogar die Haare wirkten müde, abgekämpft, verwelkt. Sein Gesicht war blass, abgesehen von den rot glänzenden Wangenknochen. Er hatte sich als Anwalt vorgestellt und auch seinen Namen genannt, aber der ist wohl in Anbetracht der Neuigkeit untergegangen.

«Das verstehe ich nicht», sagte ich aufrichtig.

Ich hatte noch den Geschmack des Morgenkaffees auf der Zunge, jetzt schmeckte es anders, wie Blech, rostig.

«Ihr Bruder ist gestorben», wiederholte der Anwalt. Er rutschte auf meinem Sofa hin und her, vermutlich auf der Suche nach einer bequemeren Position. Der Herbstmorgen hinter dem Fenster war sonnig und kühl. Das wusste ich, weil ich Schopenhauer nach dem Frühstück rausgelassen hatte. Wenig später hatte es geklingelt, ich war geradewegs an die Tür gegangen, um zu öffnen. Der Anwalt beugte sich vor, stützte die Ellenbogen auf die Knie, sodass die Schulterpartie seines glänzenden Jacketts ein wenig spannte. «Er hat Ihnen seinen Vergnügungspark vermacht.»

«Abenteuerpark», sagte ich intuitiv.

«Wie bitte?»

«Ein Vergnügungspark ist zum Beispiel Linnanmäki in Helsinki, mit Achterbahnen und Karussellen und Fahrgeschäften, in denen man hin und her geworfen wird. In einem Abenteuerpark sind es hingegen die Besucher selbst, die sich in Bewegung bringen. Sie klettern, rennen, springen und rutschen. Es gibt Kletterwände, Seile, Rutschen, Labyrinthe und dergleichen.»

«Ich denke, ich begreife den Unterschied», sagte der Anwalt. «In einem Vergnügungspark gibt es zum Beispiel so ein blinkendes Katapult, das die Leute in ihren Gurten Richtung Himmel schießt, und im Abenteuerpark … Jetzt fällt mir nichts ein …»

«Ein Trickschloss», entsann ich mich.

«Genau, ein Trickschloss», sagte der Anwalt. Er nickte und wollte fortfahren, doch hielt plötzlich inne. «Allerdings könnte so ein Schloss doch auch in einem Vergnügungspark stehen. Wie das Lustige Haus in Linnanmäki. Da kann man auch klettern und balancieren. Nach jedem Durchgang ist man komplett verschwitzt. Andererseits macht es vielleicht keinen Sinn, ein Katapult in einen Abenteuerpark zu stellen. Wenn man dann nur rumsitzt und die Schwerkraft auf sich wirken lässt … also, ich denke, ich verstehe den Unterschied, aber so ganz klar ist es mir noch …»

«Mein Bruder ist tot», sagte ich.

Der Anwalt betrachtete seine Hände, führte die Flächen zusammen. «Ja. Mein Beileid.»

«Wie ist er gestorben?»

«In seinem Wagen. Einem Volvo V70.»

«Ich meine, woran? Woran ist er gestorben?»

«Verstehe», sagte der Anwalt. «An einem Herzinfarkt.»

«Ein Herzinfarkt? Im Auto?»

«Er stand an einer Ampel, in Munkkiniemi. Eine von Bäumen gesäumte Straße, eine Allee. Es bildete sich ein kleiner Stau, jemand stieg aus seinem Wagen, klopfte ans Fenster. Ihr Bruder schaltete das Radio ein.»

«Mein toter Bruder schaltete das Radio ein?»

«Nein, natürlich nicht», sagte der Anwalt. «Er ist verstorben, kurz nachdem er das Radio eingeschaltet hat. Es lief Klassik, wenn ich das richtig verstanden habe.»

«Und er hat ein Testament verfasst?»

Wohlwollend betrachtet war Juhani ein spontaner, impulsiver Mensch gewesen. Er hatte im Hier und Jetzt gelebt. Planung und voraussehendes Handeln waren ihm eigentlich fremd gewesen. Er hatte mir oft gesagt, dass ich an meiner Steifigkeit, meiner mangelnden Spontanität verenden werde. Ich hatte erwidert, dass ich keineswegs steif sei, sondern mitten im Leben stehe. Und dass es mir lediglich wichtig sei, mein Handeln an Ratio und Logik auszurichten. Er lachte darüber, es amüsierte ihn köstlich. Wir waren, trotz aller Gegensätze, Brüder gewesen, und ich hatte Schwierigkeiten, mit der Nachricht von seinem Tod umzugehen.

Der Anwalt entnahm seinem hellbraunen Aktenkoffer einen schmalen schwarzen Ordner, schlug ihn auf. Der Ordner enthielt Unterlagen, es waren nur ein paar Blätter. Er las eine ganze Weile still, bevor er zu sprechen begann. «Das Testament wurde vor einem halben Jahr aufgesetzt. Ihr Bruder kam damit zu mir. Sein letzter Wille ist eindeutig. Sie sind der Alleinerbe. Die Ex-Frau Ihres Bruders ist ausdrücklich vom Erbe ausgeschlossen. Weitere Angehörige gibt es nicht. Zumindest hat Ihr Bruder niemanden erwähnt.»

«Das stimmt, es gibt keine anderen.»

«Dann sind Sie Alleinerbe. Sie erben alles.»

«Alles?»

Der Anwalt studierte seine Unterlagen. «Der Vergnügungspark», stellte er fest.

«Abenteuerpark.»

«Ich gestehe, dass ich den Unterschied noch immer nicht ganz begriffen habe», sagte der Anwalt.

«Abgesehen vom Park gibt es nichts?», fragte ich.

«Nein. Im Testament ist nichts Weiteres aufgeführt», sagte der Anwalt. «Nach ersten Erkenntnissen scheint Ihr Bruder nichts weiter besessen zu haben.»

Ich ließ die Aussage nachklingen. «Er war, soweit ich weiß, ein wohlhabender, erfolgreicher Unternehmer.»

«Nun, meines Wissens lebte er in einer Mietwohnung und fuhr einen Leasingwagen, und für beides bestanden seit einigen Monaten Zahlungsrückstände. Und ja, er war Eigentümer dieses … Parks.»

Mein erster Gedanke war, dass es nicht stimmen konnte. Juhani tot, Juhani pleite. Beides erschien mir höchst unwahrscheinlich.

Hinzu kam …

«Warum erfahre ich erst jetzt von seinem Tod?»

«Weil er es so wollte. Die Vorgabe war, dass ich im Falle seines Ablebens informiert werden sollte. Und Ihnen sollte ich erst Bericht erstatten, sobald alles vorbereitet sein würde. Sobald das Vermögen geschätzt und das Testament eröffnet werden würde.»

«War Juhani denn krank? Oder gab es …?»

Der Anwalt beugte sich noch ein paar Zentimeter weiter vor. Er wirkte jetzt hellwach, fast ein wenig aufgeregt. «Wollen Sie sagen, dass irgendjemand einen Grund gehabt haben könnte … ihn zu töten?»

Er sah mich erwartungsvoll an. Als ob wir ein Rätsel lösten oder uns in einer Quizshow befanden.

«Na ja, also, ich denke eher …»

«Nein», sagte der Anwalt nun ohne jede Spur von Aufregung, «leider nichts dergleichen. Ein Herzfehler. Irgendeine Sache, die nicht hätte behoben werden können. Er hatte mir davon erzählt. Das Risiko war bekannt, und dann kam es, wie es kommen musste.Sein Herz hörte auf zu schlagen. Wenn ein Mann mittleren Alters stirbt, ist das in aller Regel eine eher triste Angelegenheit. So leid mir das tut, aber die Sache taugt nicht zum Filmstoff.»

Ich wandte meinen Blick ab, betrachtete den herbstlichen Morgen. Zwei Krähen flogen vorüber.

«Aber wenn Sie die Sache anders betrachten», sagte der Anwalt, «dann tut sich da vielleicht eine Gelegenheit auf. Eine business opportunity, sozusagen. Dieser Park Ihres Bruders.»

«Nein», entgegnete ich. «Ich bin kein Mensch für Abenteuer. Ich bin Versicherungsmathematiker.»

«Wo arbeiten Sie?»

Das Blau in den Augen des Anwalts verschmolz so akkurat mit den Blautönen seines Hemds und seiner Jacke, dass ich unwillkürlich an eine mathematische Gleichung denken musste. Unter anderen Umständen hätte mich das womöglich fasziniert. Unter den gegebenen eher nicht, denn genau an diesem Morgen, um sieben Uhr zweiunddreißig, hatte sich für mich die Tür zur Versicherungsmathematik endgültig geschlossen. Ich hatte mich fleißig beworben, etwa zehn Tage lang hatte ich meinen Lebenslauf an jede ernstzunehmende Versicherungsgesellschaft im Land geschickt. Ich hatte in der Bewerbung darauf hingewiesen, dass ich mich ganz der Mathematik verschrieben habe, alte Schule, und dass ich bei der Arbeit weder Zeit für Gesellschaftsspiele noch für das Herumjonglieren mit neumodischen Begrifflichkeiten erübrigen wolle. Weil keine Rückmeldungen gekommen waren, hatte ich selbst bei den Firmen nachgehakt und perplex ihren schwammigen Ausführungen gelauscht. Die einen fabulierten von sanft fließenden Core-Dynamiken, die anderen setzten neuerdings auf Algorithmen. Alle hoben gleichermaßen hervor, dass sie nicht auf der Suche nach neuen Mitarbeiten seien. Ich wies darauf hin, dass ich mich auf konkrete Stellenausschreibungen beworben hatte. Dem folgte eine Art rauschende Stille, bevor die Gespräche fast schon panisch mit guten Wünschen für den Herbst beendet wurden.

«Ich mache eine Auszeit. Ich sehe mich ein wenig um.»

«Und was sehen Sie so?»

Eine gute Frage. An diesem Morgen war mein Saldo recht deutlich ins Minus gerutscht war. Ich fand keine Arbeit, mein Bruder war gestorben und ich Besitzer eines Abenteuerparks.

«Alles wird sich klären», sagte ich.

Das schien den Anwalt zu überzeugen. Irgendwas fiel ihm ein, er kramte in seinen Unterlagen, zog einen Umschlag hervor.

«Ihr Bruder hat Ihnen eine Nachricht hinterlassen. Einen Brief. Für alle Fälle, sozusagen. Das war meine Idee. Ich hatte ihm gesagt, dass es sinnvoll wäre, wegen seiner Diagnose. Und weil er das Testament hatte aufsetzen lassen. Ich sagte ihm, dass er zwei Dinge unbedingt schnellstmöglich tun solle, meine Rechnung begleichen und diesen Brief schreiben. In dem er seinen Wunsch an Sie richtet.»

«Wunsch?»

«So hat er es selbst genannt. Den Inhalt des Briefes kenne ich nicht. Wie Sie sehen, ist der Umschlag verschlossen.»

So war es. Auf dem Umschlag, Format DIN-A5, stand mein vollständiger Name. Henri Pekka Olavi Koskinen.

Es war unverkennbar Juhanis Handschrift. Wann hatte ich ihn eigentlich zuletzt gesehen?

Etwa drei Monate zuvor hatten wir uns auf ein schnelles Mittagessen in Vallila getroffen. Ich hatte damals die Peperoni-Pizzen bezahlt, weil Juhani seine Geldbörse im Auto gelassen hatte. Natürlich ging mir jetzt die Frage durch den Kopf, ob der Grund dafür etwas anderes als Vergesslichkeit gewesen war. Worüber hatten wir gesprochen? Juhani hatte von Neuanschaffungen für seinen Park erzählt, ich hatte beiläufig die Grundlagen von Kolmogorows berühmten Wahrscheinlichkeitsrechnungen thematisiert. In diesem Zusammenhang hatte ich versucht, ihm klarzumachen, dass es sich lohnen könnte, Anschaffungen dieser Größenordnung Schritt für Schritt zu tätigen, stets unter Berücksichtigung, welche Attraktion wie viele Menschen in den Park lockte. Juhani hatte nicht eine Sekunde lang den Eindruck erweckt, in Lebensgefahr zu schweben. Es deutete auch nichts darauf hin, dass er kürzlich sein Testament aufgesetzt haben könnte. Aber woran hätte man das auch erkennen sollen? Es gab vermutlich keinen typischen Gesichtsausdruck dafür. In jedem Fall hatte er sich nach dem Unmöglichen gesehnt – Einfluss zu nehmen auf die Zeit nach dem Tod.

Ich öffnete den Umschlag, faltete das Blatt auf, begann zu lesen.

HALLO HENRI

 

Ich bin doch nicht tot! Haha. Ich weiß, dir ist jetzt nicht zum Lachen zumute. Aber ich möchte lachen. Ich könnte mir nichts Besseres vorstellen. Denn wenn du das hier liest, werde ich tatsächlich tot sein. Die Ärzte haben festgestellt, dass ich einen Herzfehler habe, der meinen Abschied näher rücken lässt als ursprünglich angedacht. Du weißt inzwischen Bescheid. Du kennst die Sachlage. Ich bin tot, der Abenteuerpark gehört dir.

In Bezug auf den Park habe ich einen großen Wunsch. Mir ist es nicht gelungen, die wirtschaftlichen Aspekte dieser Unternehmung zu meistern. Die Finanzen des Parks sind, nun ja, in einer gewissen Schieflage. Da geht es dem Park also ähnlich wie mir selbst. Mir hat immer die Geduld gefehlt, alles gegenzurechnen. Aber du bist ja ein Mathe-Genie. Meinst du, dass du die Sache wieder ins Rollen bringen kannst? Das ist nämlich mein großer Wunsch. Mein einziger Wunsch. Der Park war von allen meinen Unternehmungen (und da gab es ja einige) die wichtigste. Habe ich dir das jemals gesagt? Ich möchte damit von Herzen Erfolg haben. Oder ich wollte, wie man jetzt wohl sagen muss. Nein, ich will, das gilt auch weiterhin. Du fragst dich vielleicht, warum. Es gibt ebenso viele gute Gründe wie Gläubiger. Vor allem möchte ich, dass mir etwas gelingt und dass ich etwas hinterlasse, das bleibt, etwas Schönes. Einen weiteren Grund wirst du erfahren, sobald du deine Aufgabe erfolgreich gemeistert hast. Kannst du dich an die Sommer erinnern, die wir bei Oma verbracht haben? Weit weg von zu Hause, wo alles immer so ätzend war? An diese Sommer denke ich jetzt. Du hast im Haus gesessen, gelesen, gerechnet. Ich habe draußen gespielt. Aber zum Angeln sind wir immer gemeinsam gegangen. Wenn ich tot bin, dann bleib bitte für eine Weile zu Hause sitzen und rechne, rette den Park. Und danach geh angeln. Ich spendiere die Köder. (Der kleine Scherz muss sein, alles andere meine ich sehr ernst.)

JUHANI

Ich ließ das Blatt sinken, spürte Verärgerung, fast Wut. Dieser Brief rief mir Juhanis Verantwortungslosigkeit in Erinnerung. Seine Rücksichtslosigkeit. Das Schreiben war eindeutig improvisiert, aus einer Laune heraus verfasst. Dem Brief mangelte es an Erdung und Vernunft, an klarer Analyse und fundierten Schlussfolgerungen. Ich wollte ihm, zum tausendsten Male, sagen, dass das keinen Sinn ergibt.

Aber Juhani war tot.

Und ich war traurig. Wütend. Verwirrt. Frustriert. Irgendwie war ich auch müde. Alles in allem genug, um ein bedenkliches Kratzen in meiner Lunge und meiner Brust herbeizuführen. Offenbar war ich Besitzer eines Abenteuerparks.

«Und das war also alles?», schnaufte ich.

«Nicht ganz», sagte der Anwalt. Er entnahm mit einer schwungvollen Bewegung, die merkwürdig einstudiert wirkte, seiner Aktentasche einen weiteren, noch größeren Umschlag. «Meine Rechnung.»

Diesen Umschlag legte der Anwalt neben Juhanis Brief. Auf beiden Umschlägen stand mein Name. Der Anwalt rückte die Dokumente noch mal akkurat zurecht, bevor er mir die Mappe damit entgegenschob.

«Herzlichen Glückwunsch», sagte er. «Mein Beileid.»