Der Kaninchenstall - Tess Gunty - E-Book
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Der Kaninchenstall E-Book

Tess Gunty

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Beschreibung

Tess Gunty ist die jüngste Preisträgerin des National Book Award seit Philipp Roth und das größte Talent der amerikanischen Literaturgeschichte seit David Foster Wallace. »Der Kaninchenstall« verspricht eine solch intensive Lektüre, dass man kaum noch von »lesen« sprechen mag. »Durchleben«, »durchstaunen« wären bei diesem Meisterwerk weitaus angebrachter, gar »Erlebnis« kommt einem in den Sinn. »Lebensverändernd« ist sie mindestens, die Lektüre dieses Romans.  Die ätherische Blandine, die eine Obsession für Hildegard von Bingen entwickelt hat und durch das System gefallen zu sein scheint, lebt nur durch die dünnen Wände eines schäbigen Apartmentkomplexes in einem ehemaligen Industrieort in Indiana von ihren skurrilen Nachbarn getrennt: einer Frau, die online Nachrufe schreibt, einer jungen Mutter mit einem dunklen Geheimnis, und jemandem, der im Alleingang einen Feldzug gegen Nagetiere führt. Willkommen im Kaninchenstall. Ein Roman über den amerikanischen Rust Belt und seine Bewohner, die keineswegs alle über einen Kamm zu scheren sind, wie man fälschlicherweise annehmen könnte. Eine schonungslos schöne und beißend komische Momentaufnahme des zeitgenössischen Amerikas, eine hinreißende und provokante Geschichte über Einsamkeit und Sehnsucht, Verstrickung und schließlich: Freiheit. 

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Seitenzahl: 525

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Tess Gunty

Der Kaninchenstall

Roman

Aus dem Englischen von Sophie Zeitz

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Tess Gunty

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Hinweis

Motto

Teil I

Das Gegenteil von nichts

Alle zusammen, jetzt

Teil II

Jenseits

Eine Bedrohung für uns alle

Wo das Leben weiterlebt

Eine absolut wahre Geschichte

Hören Sie mir zu

R.I.P. Tho

Betonung

Big

Können Sie bitte

Mein erstes war ein Fisch

Chemische Gefahr

Variablen

Teil III

Es war nicht Todds Idee

Namenspatronin

Pearl

Die hässliche Wahrheit

Liste von Hildegard-Zitaten, eingetragen in ein Notizbuch auf Blandines Nachttisch, das Jack am Mittwochmorgen liest, während er sich mit dem Fingernagel das Wort Nichts in die Haut ritzt

Reinrassige Tiere

Die Flut

Olivenlake

Cluedo

Hauptsächlich Kaninchen

Der expandierende Kreis

Respekt vor den Verstorbenen

Einfach langweilig

Willkommen zu Hause

Deine Tante Tammy

Oh Mensch!

Größere amerikanische Brände

Ich überlasse es dir

Verkauft

Teil IV

Alle zusammen, jetzt

Elektrische Fehlfunktion

Viral

Laut Todd

Die Fakten

Löse nach Y in Abhängigkeit von X auf

Tada

Was Hildegard sagte

Teil V

Was ist Ihre Beziehung?

»Joan Kowalski?«

Danksagungen

Anmerkungen

Bildnachweis

Inhaltsverzeichnis

Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die Förderung im Rahmen des Programms »NEUSTART KULTUR« aus den Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Inhaltsverzeichnis

»Wenn du sie nicht als Haustiere verkaufst, musste sie als Fleisch loswerden. Die Kerle hier sind alle Fleisch. Irgendwann fangen die nämlich an, so was zu machen.«

Frau zeigt auf Kaninchen.

»Was ist das?«

»Die pinkeln sich an und son Zeug, wennse älter werden. Wenn du sie nicht in zehn getrennte Käfige steckst, gehense aufeinander los. Die einen Rammler kastrieren die anderen. Echt. Kauen sich einfach die Eier weg. Und das ist ne Riesensauerei. Deswegen musste die ab nem bestimmten Alter schlachten, sonst haste nachher ein Blutbad.«

Rhonda Britton, Einwohnerin von Flint, Michigan, 1989

»Durch das Sichtbare und Vergängliche wird das Unsichtbare und Ewige offenbart.«

Hildegard von Bingen, 1151

Inhaltsverzeichnis

Teil I

Das Gegenteil von nichts

In einer heißen Nacht verlässt Blandine Watkins in Apartment C4 ihren Körper. Sie ist erst achtzehn Jahre alt, aber sie hat sich die längste Zeit ihres Lebens gewünscht, dass dies geschehen würde. Die Qualen sind so süß, wie die Mystikerinnen versprechen. Es ist, als werde deine Seele von Licht durchbohrt, sagen die Mystikerinnen, und auch das stimmt. Sie nennen es Transverberation des Herzens oder Angriff des Flammenengels, aber Blandine erscheint kein Engel. Stattdessen taucht ein biolumineszierender Mann Mitte fünfzig auf, der wie ein Glühwürmchen leuchtet. Schreiend rennt er auf sie zu.

Messer, Baumwolle, Huf, Bleiche, Schmerz, Fell, Seligkeit – als sie ihren Körper verlässt, ist sie alles gleichzeitig. Sie ist jede Bewohnerin, jeder Bewohner ihres Mietshauses. Sie ist Kehricht und Cherub, ein Gummischuh am Meeresgrund, der orange Overall ihres Vaters, eine Bürste, die durchs Haar ihrer Mutter gleitet. Die erste und letzte Zorn-Autofabrik in Vacca Vale, Indiana. Ein Zellkern in dem Mann, der, als sie vierzehn war, ihren Körper stahl, die rote Brille im Gesicht ihrer Lieblingsbibliothekarin, ein aus der Erde gezogenes Radieschen. Sie ist niemand. Sie ist Katy, die Portugiesische Wasserhündin, die ihr, wenn sie den Pflegeeltern im Weg waren und in den Schnee verbannt wurden, das Gesicht ableckte. Sie ist ein Content verstärkender Algorithmus und ein blauer Tankstellen-Slushie. Das erste Paar Steppschuhe an den Füßen eines Kinderstars und der Mann, der dem Kind sagt, es muss sich mehr anstrengen. Sie ist das Smartphone, das sie filmt, als sie blutend auf dem Holzboden liegt, und der abblätternde Nagellack des Teenagers, der in einer grünen Fabriketage im chinesischen Shenzhen bei demselben Smartphone den neunzigsten Herstellungsschritt durchgeführt hat. Ein amerikanischer Satellit, ein böses Wort, der Ring am Finger ihres Theatergruppenleiters. Sie ist jedes Baumwollschwanzkaninchen, das sich an der Vegetation ihrer vermeintlich sterbenden Stadt labt. Das zehnminütige Aufflackern von Lust zwischen den beiden Menschen, die sie gemacht haben, die letzte Oxycodon-Tablette auf der Zunge ihrer Mutter, der Hammer, der die Jugendlichen ins Gefängnis schickt für das, was sie in diesem Moment mit Blandine tun. Es gibt kein Jetzt. Sie ist nicht eine weitere junge Frau, die aufgeschlitzt am Boden liegt, verletzt von Männern, die ihren Körper als Rohstoff sehen – nein. Sie ist wachsam. Sie lacht zuletzt.

In der heißen Nacht, als Blandine Watkins in Apartment C4 ihren Körper verlässt, ist sie nicht alles. Nicht ganz. Sie ist nur das Gegenteil von nichts.

Alle zusammen, jetzt

C12: Am Mittwochabend gegen neun starrt der Mann, der vier Etagen über dem Verbrechen wohnt, in eine App namens Rate Your Date (für Erwachsene!). Die App leuchtet tiefrot, und er ist sich ziemlich sicher, dass sie leer ist. Wie viele Männer, die weibliche Zurückweisung erlebt haben, glaubt der Mann aus C12, dass Frauen auf diesem Planeten mehr Macht haben als alle anderen. Auf Fakten, die dagegensprechen, reagiert er mit Wut. Diese Art Wut ist typisch für Menschen, die sich einem Verliererargument verschrieben haben. Der Mann – mittlerweile Mitte sechzig – liegt im Dunkeln auf seiner Decke. Er ist fertig mit dem Tag, aber der Tag ist noch nicht fertig mit ihm; es ist noch zu früh zum Schlafen. Als Holzfäller hat er sein berufliches Verfallsdatum überschritten, aber ihm fehlen die finanziellen und die psychologischen Rücklagen für den Ruhestand. Häufig spürt er das Gewicht von Phantomholz, das er auf dem Rücken trägt wie ein Kind. Häufig spürt er das Gewicht eines Phantomkindes, das er auf dem Rücken trägt wie Holz. Seit seine Frau vor sechs Jahren starb, wirkt die Wohnung leer, obwohl sie mit Möbeln vollgestellt ist. Schwitzend hält er das große, helle Display in den Händen.

ganz süß, wien papa, aber dicker als auf den profilfotos. augenkontakt=falsch. fragt nix und guckt panisch auf die preise. geldbeutel mit klettverschluss, hat Userin MelBell23 vor zwei Wochen auf seinem Profil kommentiert. riecht wie gary, indiana.

Der einzige andere Kommentar wurde vor sechs Monaten gepostet, von DeniseDaBeast: dieser Mann ist eine tiefkühlkrokette.

In einer Wohnung weiter unten ist die Hölle los. Eine Party, nimmt er an.

 

C10: Der Teenager dimmt die Zimmerlampen zu schmeichelnden Heiligenscheinen. Er fährt sich durchs Haar, trägt Lippenbalsam auf. Tupft sich Eau de Toilette von einer Zeitschriftenprobe auf die Brust, auch wenn er weiß, dass die Geste absurd ist. Stellt den Kamerawinkel so ein, dass seine besten Linien und Schatten zur Geltung kommen. Seine Mutter hat Nachtschicht, aber er schließt trotzdem die Tür ab. Macht dreißig Jumping Jacks, dreißig Push-ups. Tippt: Ich bin bereit.

 

C8: Die Mutter nimmt das Baby mit auf die Couch und zieht das T-Shirt hoch. Eigentlich sollte es so spät nicht mehr wach sein, aber Babys halten sich nicht an Regeln. Beim Trinken will es bonden, und die Mutter versucht es. Versucht es noch mal. Versucht es wirklich. Aber sie schafft es nicht. Das Baby feuert arglistige, telepathische, erwachsene Vorwürfe gegen ihre Haut. Sie kann es spüren. Es saugt sich fest, kratzt sie mit Nägeln, die noch zu zart sind, um geschnitten zu werden, aber lang und scharf genug, um sie zu schneiden. Mit der freien Hand greift sie nach dem Handy. Eine Nachricht der Mutter der Mutter: Sie schickt ein Foto von Daisy, der Bartagame, in einem Mini-Bikeroutfit. Ein gepolsterter Helm an den stacheligen Echsenkopf geschnallt, eine schwarze Kunstlederjacke um den Bauch gezurrt. Auf dem Rücken der Jacke steht in Hells-Angels-Schrift: DRAGON DISASTER. Die Echse steht auf dem Esstisch und starrt mit unergründlicher Miene in die Kamera. Die Mutter der Mutter zoomt das Dinosaurierauge heran, das sie aus einer fernen Zeit zu beobachten scheint, vor neunzig Millionen Jahren.

Du hast dein Baby, ich hab meins!!, schreibt die Mutter der Mutter, die mit ihrem zweiten Mann in Pensacola lebt. HA HA HA! Roy hat das Outfit aufgetrieben … zum Piepen, oder??? Gott segne dich und mein süßes Enkelbaby

Gereizt wischt die junge Mutter die Nachricht weg und scrollt in drei Social-Media-Plattformen herum, das warme Gewicht ihres Babys unter dem rechten Arm, das beim Trinken leise zufriedene Geräusche von sich gibt. Wie üblich toben sich im Internet Raubtiere aus. In der Stadt gibt es nur Raubtiere. Wenn die Mutter die Handlung der heutigen Zeit zusammenfassen müsste, würde sie sagen: Jeder bestraft jeden für Dinge, die keiner getan hat. Und sie sitzt hier, weigert sich, ihr Baby anzusehen, bestraft es für etwas, das es nicht getan hat.

Die Mutter hat panische Angst vor den Augen ihres Babys.

Das Baby ist vier Wochen alt. Seit vier Wochen lebt die Mutter im Keller ihres Verstandes. Den ganzen Tag hat sie ihre Ängste mit Mamablogs geschürt. Mamablogs sind grauenhaft, noch schlimmer als medizinische Webseiten, aber genauso darauf angelegt, deinen Thanatos auszubeuten. Muttersein ist die wertvollste Arbeit, die du je leisten wirst, verkünden die Mamablogs mit wetterfester Überzeugung. Bevor sie die Seiten anklickte, hat sie sich für die schlimmstmögliche Diagnose gewappnet, dachte sie: Du bist eine schlechte Mutter. Aber das war nicht die schlimmstmögliche Diagnose. Du bist eine Psychopathin, urteilen die Mamablogs über sie. Du bist eine Gefahr für die Menschheit.

Auf dem Sofa, mit dem Baby im Arm, steigt Panik in der Mutter auf und sie versucht, dagegen anzukämpfen. Tief einatmen, die Spannung ausatmen. Stirn, Brauen, Mund lockerlassen. Nichts hören außer dem Surren des Deckenventilators. Sie soll sich vorstellen, ihr Körper wäre eine Qualle oder so was. Visualisieren, wie sich die Grenzen zwischen ihr und dem Rest der Welt auflösen. Ihre Cousine Kara, mit der sie früher zusammenwohnte, hat ihr die Tricks beigebracht.

Bevor die Mutter Mutter wurde, war sie Hope. »Witzig, dass ausgerechnet du Hope heißt«, hat Kara einmal gesagt. »Du bist eine der hoffnungsloseste Mensch, den ich kenne.« Nach der Highschool fing Hope als Kellnerin und Kara als Friseurin an. Zusammen wohnten sie in einem billigen Häuschen am Fluss. Kara stand auf Neonklamotten, Zimtkaugummi und leidende Männer. Sie wechselte alle paar Monate die Haarfarbe, doch ihre Lieblingsfarbe war Lila. Sie war ein erstaunlich glücklicher Mensch, sang aus vollem Hals Celine Dion und tanzte beim Kochen. Hope stellte sich häufig vor, wie es wäre, in der Psyche ihrer Cousine Ferien zu machen. Einmal, mit zwanzig, hatte Kara Hope um drei Uhr morgens im Bad gefunden, zusammengerollt auf den Fliesen, schluchzend vor Angst, Angst vor allem – einem Allem, das so groß war, dass es auf nichts hinauslief, und das Nichts verschluckte sie, verschluckte alles. Am nächsten Tag ging Kara mit Hope zu Vegetable Bed, Vacca Vales einzigem Naturkostladen, einem Würfel flackernden Lichts, der sie mit dem Duft nach Gewürzen und einer Vielfalt an Zuckeralternativen verzauberte. Sie trugen eine große Papiertüte mit homöopathischen Heilmitteln nach Hause, die Hope weder verstand noch sich leisten konnte: Eisenhut, Arsenicum album, Ignatia. Immer wenn Hope in eine ihrer elektroschockartigen Schattenphasen stürzte, verordnete ihr Kara eine Handvoll Kügelchen, kochte Lavendeltee, ordnete Spaziergänge an. Meditation. Yoga. Magnesium. Häufig schaltete sie eine Episode von Hopes Lieblingsserie Meet the Neighbors ein. »Trag diese Kette«, sagte Kara. »Das ist Amethyst – ein beruhigender Quarz, toll gegen Angst. Wehrt negative Gefühle ab. Hier, mach diese Atemübung mit mir.« Wie Kara Männern, die sie in Bars kennenlernte, gern erzählte, war sie Myers-Briggs-INFP (»Mediatorin«), Enneagramm Typ 2 (»Geberin«), astrologische Jungfrau (»Heilerin«). Sie war überzeugt, dass Kümmern ihre Berufung war.

Hope hat immer noch Karas Fliederstimme im Ohr, wenn sie die Atemübung macht. Tief einatmen. Ausatmen. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn. Noch mal. Beim Atmen spürt Hope ihr Baby auf der Haut, warm und weich.

So rätselhaft ist ihre Angst gar nicht, versucht sie sich zu beruhigen. Ihr Mann ist den ganzen Tag auf der Baustelle, und in Hopes jüngerer Geschichte kommt Schlaf nicht vor, nur ein Kloß im Hals von einer anrückenden Erkältung. Ihre Brüste sind zu Melonen angeschwollen, durch die Hauptleitungen in ihrem Gehirn schießt Strom, und ihr Körper hat sich ganz ohne Kaffee zu einer hyperanimalischen Wachsamkeit hochgeschaukelt. Die Hormone haben die Lautstärke der Welt voll aufgedreht, ihre Ohren babywärts gerichtet, zwingen sie, auf seine neue, gurgelnde Stimme zu lauschen, rund um die Uhr. Sie fühlt sich wie eine Füchsin. Eine Füchsin auf Adderall.

Von den anderen Körperschrecken ganz zu schweigen. Nach der Geburt war Schluss mit Pussy, da war nur noch Vagina. Langsam wird Hope klar, dass Schwangerschaft, Geburt und Kindbett drei Akte eines Horrorfilms sind, den dir niemand zeigt, bis du ihn selbst erlebt hast. In der katholischen Schule mussten Hope und ihre Mitschülerinnen Dokus über Abtreibungen sehen, in denen gezeigt wurde, wie die Frauen hinterher weinen und der Fötus vor den medizinischen Instrumenten zurückschreckt. Aber hat ihr irgendjemand gesagt, was passiert, wenn man den Fötus aus der Gebärmutter in die Welt drückt? Nein. Das war etwas »Schönes«. Etwas »Natürliches«. Vor allem ein »Wunder«. Mutterschaft unter dem heiligen blauen Mantel, die schauerlichen Details vertuscht, eine raffinierte Verschwörung, um Katholiken dazu zu bringen, noch mehr Katholiken in die Welt zu setzen.

Beim Stillen wird die Mutter von Nachwehen durchzuckt wie von göttlichen Blitzen. Stillen ist nicht intuitiv, und beim Abpumpen kommt sie sich vor wie eine Cyborg-Kuh. Wenn sie niesen muss, pinkelt sie sich in die Hose. Deswegen soll sie Kegel-Übungen machen, die die Hölle sind. Im Internet steht, sie soll sich vorstellen, sie würde auf einer Murmel sitzen. Spanne den Beckenboden an, als würdest du die Murmel hochheben. »Mal ehrlich«, hat sie neulich abends zu ihrem Mann gesagt, nachdem sie ihm die Anleitung vorlas, »wie soll das gehen?« Sie beschreibt ihrem Mann detailliert, obsessiv, alle Veränderungen ihres Körpers, als wäre sie eine Puppe, durch die ein Bauchredner spricht. Wenn sie die Zeche schon allein zahlt, zwingt sie ihn wenigstens, sich alles vorzustellen.

Aber sie muss ihn gar nicht zwingen. Wenn sie erzählt, welchen Zoll die Geburt gefordert hat, nimmt er ihre Hände und hält ihren Blick, ihren Schmerz aus. »Ich wünschte, ich könnte dir alles abnehmen«, sagt er. »Ich wünschte, ich könnte dir alles abnehmen und es für dich durchstehen.« Dann küsst er ihren Nacken und defibrilliert sie sanft ins Leben zurück. Er will das alles, sagt er zu ihr. Er will das Blut; er will vier Uhr morgens; er will den Anfang und die Mitte und das Ende; er will tun, was er kann, und beim Rest will er ihr beistehen; er will die guten und die schlechten Tage; er will die Gesundheit und die Krankheit. »Ich will dich«, sagt er. »Jedes dich.« Er nennt sie Göttin. Heldin. Wunder.

Nein, denkt die Mutter. Nein, sie dreht nicht durch. Und ja, es ist normal, sich unnormal zu fühlen, nachdem dein Körper einen Körper hervorgebracht hat. Auch wenn ihr spezieller Zustand im Internet nicht auftaucht, ist sie kein Freak, redet sich die Mutter ein, nur weil sie Todesangst vor den Augen ihres eigenen Babys hat, bei all den Stürmen, die in ihr wüten, bei all den Horrornachrichten, die Twitter in die Welt schreit. Schüsse, Morde, Öllecks, Attentate, Waldbrände, Entführungen, Bomben, Flut. Witziges Video einer Frau, die ihr Auto aufschließt und auf dem Fahrersitz einen Braunbären findet, der ihre Einkäufe frisst. Mord, Mord, Krieg. Das Internet ist außer Rand und Band. Wenn man die Realität als eine Handvoll Leitungswasser erlebt, ist man in solchen Zeiten in guter Gesellschaft. Der Babyblues – fühlt er sich so an? Quietschbunt und schrill?

Aber was stimmt mit den Augen ihres Babys nicht? Sie sind zu rund. Ständig schockiert. Ihr Sohn registriert jeden Sinneseindruck mit einem Ausdruck der Empörung, blickt in die Welt, als könnte er sie verklagen. Er blinzelt zu wenig. Sie versucht, ihn zu beschäftigen – rasselt mit dem Schlüssel, zerlegt Lichtstrahlen mit einem alten Marmeladenglas, tanzt mit den Fingern –, aber die visuelle Stimulation überfordert ihn und er wird wütend. Das Baby sieht lieber schlichte, unbedrohliche Oberflächen, weiße Wände. Und sie sind hypnotisch, seine Augen, fast schwarz, immer feucht, oft panisch. Sie sind das Erbe seiner Familie väterlicherseits, eine gut aussehende Sippe, jeder Cousin, jede Cousine launisch, bildhübsch und gut im Puzzeln. Die Mutter liebt dieses Augenpaar, Augen, die ihr Körper unter Druck geformt hat wie wertvolle Steinkohlestücke. Sie liebt seine Augen leidenschaftlich, so wie sie seine Mikrozehennägel liebt, das flaumige schwarze Haar, den Duft seiner Kopfhaut, den Ausschlag an seinem speckigen, schlaffen Hals, der wie ein Barcode aussieht. Sie liebt ihr Baby in Farben, die sie vorher nicht kannte, genau wie die Mamablogs warnen. Aber Liebe schließt Grauen nicht aus – mit fünfundzwanzig weiß die Mutter, dass das eine das andere fast immer begleitet. Seine Augen machen ihr Angst.

Die Mutter überlegt, welche Assoziationen die Augen bei ihr auslösen. Überwachungskameras. Der Blick eines Panthers im Dunkeln. Ein Stalker im Bad. Die Augen des Mannes, der vor ein paar Jahren, als sie vor dem Drive-in in der Schlange stand und an Pommes und süßen Tee dachte, plötzlich gegen das Fenster ihres alten Vans schlug.

Der Mann hatte eine Kinderschippe in der Hand. Aus gelbem Plastik. Er blinzelte nicht. Aus seiner Kehle kam keine Sprache, nur ein durchdringendes Knurren, sein Motiv völlig unklar. Ein Mann, der sich verloren hatte – das war die richtige Beschreibung, mit den richtigen Leerstellen. Die Augen des Mannes vom Drive-in waren dunkel, verängstigt und weit offen. Verloren.

Sie hatte das Fenster heruntergekurbelt und gefragt, ob sie ihm etwas mitbestellen konnte, aber er schien sie nicht zu hören.

»Schau mich an«, rief er. »Schau mich an.«

Sie kurbelte das Fenster wieder hoch, wünschte, es wäre elektrisch, damit die Geste nicht so brutal wirkte, sie hatte Angst vor dem Mann, aber irgendwie fühlte sie sich mit ihm verbunden. Das zufällige Wesen zwischenmenschlicher Zusammenstöße hat sie schon immer berührt, selbst bevor sie Mutter wurde. Eine Nationalität haben, einen Liebhaber, Familie, Kollegen, Nachbarn – für die Mutter sind es fundamental absurde Verbindungen, denn sie sind vollkommen zufällig und gleichzeitig die Tyrannen jedes Alltags. Als das Fenster oben war, erreichte sie den Lautsprecher und gab ihre Bestellung auf. Der Mann schlug mit der Kinderschaufel an den nächsten Wagen, Augen weit offen.

Als das Baby sie wegschiebt, bietet ihm die Mutter die linke Brust an, aber das Baby will nicht. Sie hält es an die Schulter, damit es auf dem Mulltuch aufstößt, ist erfüllt von chemischer Liebe für dieses zerbrechliche Wesen. Er muckt. Sie wiegt ihn. Nach fünfzehn Minuten ist er wieder eingeschlafen. Das ist das Leben mit einem Neugeborenen, hat sie gelernt: Du hilfst ihm ins und aus dem Bewusstsein, wieder und wieder und wieder, und sorgst zwischendurch für sein leibliches Wohl. Als lebten Babys auf einem anderen Planeten, der sich viermal schneller um seine Sonne dreht als die Erde. Wer das menschliche Dasein verstehen will, sollte Babys beobachten: Ihr Einsatz ist der höchste, weil sie jeden Moment sterben können, und gleichzeitig der niedrigste, weil jedes ihrer Bedürfnisse von einem größeren Wesen gestillt wird. Sprache und Handlungsfähigkeit sind noch nicht vorhanden. Wie sich das anfühlt? Sieh dir ein Baby an.

Sie legt ihn in die Wiege und dehnt ihren Nacken.

Als ihr Mann gegen halb zehn von der Arbeit kommt, mit dem gelben Helm auf dem Kopf, staubigen Stiefeln, dem vertrauten Geruch nach Schweiß und Sonnencreme, schläft das Baby immer noch. Plötzlich fällt der Mutter auf, dass sie den ganzen Tag mit niemandem gesprochen hat. Eigentlich wollte sie mit dem Baby spazieren gehen, aber sie hat es vergessen. An Fernsehen oder Radio hat sie nicht gedacht. Vierzehn Stunden lang nervös und allein, den ganzen Tag auf Gefahren lauernd.

Sie schiebt ihrem Mann einen Teller mit Fischstäbchen und Ketchup hin.

»Was für ein Festessen«, sagt er lächelnd und küsst ihre nackte Schulter. »Danke, Babe.«

Nenn mich nicht so, sagt sie nicht. Gern geschehen, will sie sagen, aber sie hat vergessen, wie man die Wörter aus dem Kopf in die Welt kriegt. Es fühlt sich an, als wäre es Jahre her, dass sie es versucht hat.

»Hey, es tut mir echt leid wegen Elsie Blitz«, sagt ihr Mann, als er sich die Hände wäscht. »Du bist bestimmt traurig.«

Die Mutter blinzelt, als hätte sie etwas im Auge. »Was?«

Elsie Blitz ist der Star von Meet the Neighbors. Hope hatte die Fünfzigerjahreserie früher immer mit ihrer Mutter gesehen. Vielleicht wegen der turbulenten, aber innigen Allianz zwischen einer braven Hausfrau und ihrer aufsässigen Tochter war die Sendung bei den Frauen in Hopes Familie Kult: So wie Hope mit ihrer Mutter hatte Hopes Mutter Meet the Neighbors mit Hopes Großmutter gesehen. Heute schaut Hope die Serie immer noch, wenn sie nachts nicht schlafen kann, und identifiziert sich allmählich mehr mit der Mutter als mit der Tochter; und vielleicht sieht sie Meet the Neighbors eines Tages mit ihrem Kind. Elsie Blitz hat Susie Evans gespielt, den rebellischen Hitzkopf, um den sich die Handlung dreht. Elsie Blitz war ein so bilderbuchartig kindliches Kind, dass sie für Hope zum Ideal alle Kinder wurde. Sie hatte ein Gesicht wie ein Apfel, ein sonniges Grinsen und unerschütterliches Selbstvertrauen. Sie konnte steppen, singen und pfeifen. Ihr Ungehorsam, egal wie tollkühn, wurde immer von dem Spaß, den er brachte, wettgemacht, und am Ende hatten die Obrigkeiten Nachsicht. Obwohl Hope als Kind ihre Schwächen an der idealisierten Susie Evans maß, erregten weder die Figur noch die Schauspielerin ihren Neid. Nur schwesterliche Ambitionen. Für Hope war Elsie Blitz auf ewig elf, Susies Alter im Serienfinale. Die Vorstellung war schön, dass wenigstens ein Mensch auf der Welt nie erwachsen werden musste.

Ihr Mann setzt sich mit hängenden Schultern an den Küchentisch. »Ich dachte, du wüsstest es inzwischen.« Er seufzt. »Tut mir leid. Ich hätte nichts sagen sollen.«

»Warum? Was ist denn passiert?«

»Sie ist heute gestorben«, sagt ihr Mann. »Sie war Mitte achtzig.«

Die Mutter wappnet sich für ein Gefühl, das nicht kommt. Es ist, als wäre sie unter Wasser, und die Nachrichten existieren nur oben, auf dem Steg. »Oh«, sagt sie schließlich. »Wie traurig.«

Ihr Mann mustert sie besorgt, aber er lässt das Thema fallen. Während sie essen – während er isst –, denkt sie darüber nach, ob sie ihrem Mann von der Augen-Phobie erzählen soll. Seit drei Wochen denkt sie jeden Abend darüber nach. Hey, könnte sie sagen, falls ihr wieder einfällt, wie man normal spricht. Mir ist etwas Komisches passiert. Etwas Seltsames, irgendwie lustig, nichts Schlimmes, nur ein bisschen merkwürdig.

»Wie geht’s unserem Großen?«, fragt ihr Mann.

Die Mechanik des Sprechens kommt wieder in Gang, holpernd zuerst. »Er ist …« … nicht groß. Er ist winzig, will sie schreien. Er ist so winzig, dass er vor seiner Winzigkeit gerettet werden muss, wie wir alle! Sie trinkt ein Glas Wasser in einem Zug aus. »Babys. Was ich an Babys mag.« Ihr Blick wird unscharf.

»Hm?«

»Babys wissen, nur weil sie es leicht haben, heißt das nicht, dass das Leben leicht ist.«

Ihr Mann beißt in ein Fischstäbchen. »Das heißt, er lebt?«

Sie nickt.

»Toll.« Er streicht ihr über die gerunzelte Stirn, sein Finger ist rau. »Ich liebe dich«, sagt er. »Du bist müde, oder?«

»Mir ist …« Sie richtet den Blick auf den Rauchmelder. »Was Komisches passiert.«

»Ach ja? Was denn?«

Sie zögert. Ihr Mann glaubt, sie wäre eine gute Mutter, ein normaler Mensch, eine gute Investition. »Ich habe Angst …«

Ihr Mann legt die Gabel hin, nimmt sie ernst. »Wovor?«

»Nichts.« Sie fängt ganz leise zu weinen an. »Ich bin – so – müde.«

Ihr Mann wischt sich den Mund ab und sieht sie mit dunklen, suchenden Augen an. »Babe«, sagt er. Er steht auf und legt ihr die Hände auf den Rücken, knetet Muskeln und Haut, und sie fragt sich, wer Kleider für Bartagamen entwirft, welche Spezies in neunzig Millionen Jahren die Spuren ihrer Spezies erforschen wird und zu welchen Missverständnissen es dann kommt. Wie fühlt sich eine atomare Explosion an? Wäre man sofort tot? Gibt es wirklich einen roten Knopf? Wird ihre kaputte Vagina je wieder ihr Leben als Pussy aufnehmen? Wo ist die tote Maus gelandet, nachdem sie sie aus dem Fenster geworfen hat? Wo ist der Mann, den sie vor dem Drive-in gesehen hat, und was macht er gerade? Ist das hier die wertvollste Arbeit, die sie je leisten wird? Ist sie eine Psychopathin? Ist sie eine Gefahr für die Menschheit?

»Oh, Babe«, sagt er. »Das ist doch klar.«

»Was?«

»Natürlich bist du müde.«

 

C6: Ida und Reggie, beide Mitte siebzig, sitzen im Wohnzimmer, rauchen und sehen bei hoher Lautstärke die Nachrichten. Schlimmer Großbrand in einer Fabrik in Detroit, Michigan. Schönheitskönigin gründet Non-Profit-Handyhüllen-Firma, um von den Einnahmen Zahnbehandlungen für Geflüchtete zu finanzieren. Super-Seuche zerstört Pfeffer-Monokulturen in Vietnam.

Ida fällt ein, was sie Reggie vorhin erzählen wollte.

»Reggie«, hustet sie. »Reggie.«

»Was?«

»Hörst du mich, Reggie?«

»He?«

»Mach mal leiser.«

»He?«

»Mach leiser. Ich muss dir was erzählen.«

Er drückt mit dem knorrigen Daumen auf die Fernbedienung. »Was?«

»Frank ist wieder im Knast«, verkündet Ida.

»Tinas Frank?«

»Ja, welcher Frank sonst?«

»Was hat er diesmal angestellt?«

»Was glaubst du?«

»Noch ein Raubüberfall?«

Ida nickt. »Diesmal bewaffnet.«

»Ich dachte, die Knie-OP würde ihn ne Weile vor Ärger bewahren.«

»Schlimmes Knie hält nen Hund wie Frank nicht auf.«

»Tja, gutes Gefühl, dass wir es gleich gewusst haben, schätze ich.« Reggie zieht lange an der Zigarette. »Immerhin haben wir getan, was wir konnten.«

»Er hatte diese auffällige Karre«, murmelt Ida. »Diese blöden Stiefel.«

»Ich hoffe nur, Tina weiß, dass sie nicht zu uns gerannt kommen kann, oder ihre Kinder hier irgendwelche Sachen ›reparieren‹ lässt, und wir sollen dafür zahlen.«

»Wir hätten es anders machen sollen«, sagt Ida. »Eine von diesen Barfußschulen. Klavierstunden. Vitamine. Kein Gluten. Von den Kindern ist keins was geworden.«

»Ida, es ist vorbei. Tina ist erwachsen. Das Beste, was wir für sie tun können, ist, sie ihr eigenes Leben leben zu lassen.«

Ida kaut an ihrer Zigarette.

»Außerdem stimmt es nicht. Die Kinder sind gut geraten.« Er dreht die Lautstärke wieder auf. Australische Eltern flehen die Regierung an, ihre Töchter und Enkel aus syrischen Lagern zu retten. Die australischen Töchter haben ISIS-Mitglieder geheiratet, und jetzt droht ihnen unbeschreibliche Gewalt. Kann die Wissenschaft in Schweinen menschliche Nieren züchten? Noch nicht, aber bald. Grundwasser in North Dakota kontaminiert. Celebrity-Baby kommt mit Hypertrichose zur Welt, im Volksmund Werfwolfsyndrom. Ein dreizehnjähriges Mädchen, das Seifenstücke rasiert, erobert das Internet. »Es geht um Angebot und Nachfrage«, sagt sie schulterzuckend in einem Interview. Ihr Kanal hat sie zur Millionärin gemacht. »Ich höre, was die Leute wollen.«

Als der Moderator das Mädchen bittet, den Boomern zu erklären, was ASMR ist, holt sie tief Luft, als würde sie gleich abheben. »Okay, na ja, ASMR steht für Autonome Sensorische Meridianreaktion. Das ist dieses Kribbeln, das manche Leute auf der Kopfhaut spüren? Und die Wirbelsäule runter oder so? Es fühlt sich an – als ob man irgendwie schimmert oder so. Es ist das beste Gefühl, das ich kenne. Es gibt alle möglichen Trigger. Raschelnde Blätter oder so, das Knipsgeräusch, wenn jemand ein Foto macht. Es ist wie ein ganz persönliches Geschenk, nur für dich. Haareschneiden. Bob Ross. Ich kriege es, wenn sich jemand auf eine Sache richtig konzentriert. Als ich klein war, dachte ich, entweder spüren es alle und keiner redet darüber, oder außer mir spürt es keiner. Jedenfalls wusste ich, dass ich besser die Klappe halte. Dann, als ich elf war oder so, lief was im Fernsehen darüber, und auf einmal haben wir uns alle gefunden. Das war wie eine Beleuchtung. Ich meine, Erleuchtung. Ich habe angefangen, solche Videos zu sehen, und dann habe ich gemerkt, dass es voll die Marktlücke war. Aber das mit dem Seife-Rasieren? Das gibt mir nichts. Das mache ich nur für die Masse.«

Der Moderator lacht unbehaglich. »Du meinst, es ist so was wie – wie …?«

»Wie was?«

»Ist es so was wie …?«

Das Mädchen sieht ihn ungeduldig an. »Was Schmutziges?«

»Na ja …«

»Nein. Jedenfalls muss es das nicht sein. Außerdem, ich bin dreizehn, Mann. Wieso fragen Sie mich so was?«

Der Moderator lacht wieder und sieht in die Kamera. »Also, Leute, bei uns habt ihr es zuerst gehört!«

Schnitt zu grüner Monokultur in Kalifornien. Traurige Wissenschaftlerin in weißem Kittel. Kohl könnte giftig sein.

»Reggie«, sagt Ida. »Reggie.«

»Was?«

»Mach mal leiser. Ich hab was vergessen.«

Er seufzt, aber er tut ihr den Gefallen. »Und?«

»Ich hab noch ne tote Maus auf dem Balkon gefunden.«

Er blinzelt. »Na und?«

»Sie ist in ner Falle gestorben.«

»Du hast da draußen ne Falle aufgestellt?«

»Nein«, sagt sie nachdrücklich. »Das versuche ich dir doch gerade zu sagen. Ich habe keine Falle draußen aufgestellt.«

Er wartet. »Und?«

»Du vielleicht?«

»Nein.«

»Dann ist es so, wie ich gedacht habe!«

»Was hast du denn gedacht?«

»Es sind die jungen Leute von oben!«, ruft Ida wie die Ermittlerin in einem schlechten alten Krimi. »Die Neuvermählten mit dem Baby!«

»Wovon redest du?«

»Reginald. Hör zu. Du hörst nie zu.«

»Ich höre wohl zu.«

»Die Neuvermählten werfen ihre toten Mäuse aus dem Fenster.«

Reggie drückt die Zigarette in dem Stahlaschenbecher aus und denkt darüber nach. »Aber warum sollten sie so was tun?«, fragt er vernünftig.

»Woher soll ich das wissen? Faulheit. Egoismus. Sozialismus. Ich sage es dir: Die haben Fallen in der Wohnung, aber um die Kadaver wollen sie sich nicht kümmern, und deshalb – schwupps. Werfen sie sie aus dem Fenster. Mitsamt der Falle.« Ida streicht sich das dünne weiße Haar glatt.

»Bist du dir sicher, dass sie es sind?«, fragt Reggie.

»Ganz sicher.«

»Warum?«

»Ich habs gesehen, einmal.«

»Wann?«, will Reggie wissen.

»Letzte Woche. Ich hab in der Küche gestanden und Rüben gekocht. Und was sehe ich? Nen Kadaver, der vom Himmel fällt.«

»Du glaubst nicht, es war vielleicht jemand anderes?«

»Wer denn? Alan? Der süße Alan? Nee – die jungen Leute, die haben keinen Sinn fürs Gemeinwohl. Keine Ahnung von Respekt. Erst Sex, die ganze Zeit Sex, aufgesetzter Hollywood-Sex …«

»Da waren wir alle mal«, murmelt Reggie.

»Und dann das heulende Baby. Und jetzt das! Ich sags dir, Reggie.«

»Okay.« Er richtet die Fernbedienung auf den Fernseher.

»Ich bin noch nicht fertig.«

»Was noch?«

»Du musst sie ihnen vor die Tür legen.«

»Was?«

»Die tote Maus. Mit der Falle.«

»Ida.«

»Du musst es tun. Die brauchen eine Lektion.«

Reggie denkt nach, dann schlägt er mit der Faust auf die Armlehne. »So fangen Kriege an!«

»Ach, hör auf.« Ida verdreht die Augen.

»Doch!«

»Du sagst immer, ich hätte einen Hang zum Drama, aber kaum bitte ich dich um etwas, worauf du keine Lust hast, sagst du so was …«

»Warum kannst du sie nicht einfach in Ruhe lassen?«, fragt Reggie. Es gibt Fragen, die Eheleute einander immer wieder stellen, jahrzehntelang, Fragen, die um einen Kardinalfehler kreisen, den einer beim anderen aufgespürt hat. Bei Reggie und Ida ist das so eine Frage: »Warum kannst du nie Gnade vor Recht ergehen lassen?«

»Ich wohne hier!«, schreit Ida. »Und ich finde, ein Mensch, der seit über dreißig Jahren hier wohnt, hat ein Recht auf Ruhe und Frieden! Mit einem Balkon, auf dem keine Kadaver rumliegen!«

Reggie mustert seine Frau. »Und warum machst du es dann nicht selbst?«, fragt er langsam.

Entrüstung verzerrt Idas faltiges Gesicht. »Was?«

»Ihnen die Falle vor die Tür legen. Warum machst du es nicht? Wenn du ihnen unbedingt eine Lektion erteilen willst?«

Ungläubig zeigt sie auf ihre Knöchel und Handgelenke, um ihn an ihre Arthritis zu erinnern. »Oft denke ich, du willst, dass ich zuerst sterbe.«

Von der Straße schallt die Sirene eines Notarztwagens herauf. Sie lauschen, bis sie verklingt.

»Machst du es?«, hakt Ida nach.

Reggie zündet sich die nächste Zigarette an. »Es ist schon spät.«

»Reggie.«

Er sagt nichts.

»Tu es für mich. Nur diese eine Sache. Für deine Frau.«

»Nach den Nachrichten«, seufzt Reggie.

 

C4: Drei Jungs. Ein Mädchen. Ein Fremder. Eine Ziege. Ein Nachbar. Verpfuschte Pläne. Strafe. Wen bestrafen. Jeder ist verwirrt. Jeder hat Angst. Lachen erstickt. Ein Raum voller strampelnder Herzen, immer schneller. Rosenduft. Tasche voller Klee. Gute Absichten. Tränen in ihrem Gesicht. Messer in seiner Hand. Nein. Bitte. Nein. Hör auf. Nein. Tu’s nicht. Einer der Jungen filmt mit dem Handy, grinst. Das bringt so viele Klicks.

 

C2: Ein Glas Maraschino-Kirschen wartet auf dem Nachttisch einer einsamen Frau neben einer kleinen Gabel.

Inhaltsverzeichnis

Teil II

Jenseits

Gegen fünf Uhr nachmittags am Montag, dem fünfzehnten Juli – zwei Tage bevor sie ihren Körper verlässt – geht Blandine Watkins in den Waschsalon, bevor sie nach Nordosten aufbricht, und fragt sich, ob die geplante abendliche Aktion sie als moralischen oder als unmoralischen Menschen entlarven wird. Macht ist eine mögliche Übersetzung von Tugend, das weiß sie, und sie glaubt, dass es so etwas wie eine unmoralische Aktion nicht gibt. Blandine denkt an eine Passage, die Hildegard von Bingen vor neunhundert Jahren geschrieben hat: Der Wille nämlich erwärmt das Werk, das Gemüt empfängt es und die Vernunft bringt es hervor. Der Verstand aber erkennt das Werk und begreift das Gute und Böse. Blandine hat jede Menge Willen – Der Wille ist nämlich wie ein Feuer, das jedes Werk wie in einem Ofen bäckt[1], sagt Hildegard – und auch ein bisschen Vernunft, aber fehlt ihr der moralische Verstand? Nachdem sie mehrere Minuten über die Frage nachgedacht hat, stellt sie fest, dass es sie nicht besonders interessiert.

Auf der Bank im Waschsalon versucht Blandine, ihre Muskeln zu entkrampfen, sich von ihrem Körper abzulösen und sich auf das Geschlabber der Waschmaschinen zu konzentrieren. In ihrer Nierengegend pocht eine dumpfe finanzielle Angst. Sie denkt an den städtischen Revitalisierungsplan, der bald die letzte gute Sache in Vacca Vale zerstören wird: den verwilderten Landschaftspark Chastity Valley. Blandine hat Comic-Schurken satt. Sie will, dass ihre Schurken komplex und facettenreich sind. Als Helden verkleidet.

Zwei schwere Cord-Taschen stehen zu ihren Füßen wie ein Paar Wachhunde. Der kostenlose Kaffee in dem armseligen Waschsalon rührt Blandine jedes Mal. Sie versucht, sich auf den Kaffeeduft zu konzentrieren, aber in ihr brodelt eine stürmische Energie. Ihre Knie wippen unkontrollierbar.

Normalerweise ist der Waschsalon montags leer, aber heute sitzt Blandine eine Frau gegenüber, die unverwandt eine verlorene Socke auf dem Linoleum anstarrt. Ohne zu blinzeln, ohne zu sehen. Sie hat mausbraunes Haar, einen kurzen Pony und trägt trotz der Hitze wollene Strickkleidung. Mitte vierzig. Sie hat eine Haltung wie ein Fragezeichen, ein Durchschnittsgesicht und eine Brille aus dem neunzehnten Jahrhundert. Man würde denken, man hätte sie noch nie gesehen, selbst wenn man ihr täglich begegnet. Man würde denken, man begegnet ihr täglich, selbst wenn man sie noch nie gesehen hat. Man würde sie nach dem Weg fragen; man würde ihr zutrauen, dass sie einen Namen wie Susan und einen Job in der Buchhaltung hat; wahrscheinlich füttert sie Vögel. Sie könnte eine Nachbarin sein. Sie könnte eine Verwandte sein. Sie könnte irgendwer sein. Aus Angst vor der Energie, die in ihr hochkocht, beschließt Blandine, die Frau anzusprechen.

»Wohnen Sie auch im Kaninchenstall?«, fragt Blandine. »Sie kommen mir bekannt vor.«

Die Frau zuckt zusammen. »Ja.« Ihre Stimme ist wie eine Oblate – fade, leicht. Blandine ist nicht getauft, aber manchmal geht sie trotzdem zur katholischen Messe und nimmt an der Kommunion teilt. Sie kontrollieren einen dort schließlich nicht.

»Welcher Stock?«, fragt Blandine.

»Erster.«

»Ich wohne im zweiten. Welche Nummer?«

Die Frau mustert Blandine, als wollte sie ihre Hintergedanken röntgen. »C2.«

»Das ist genau unter uns«, sagt Blandine lächelnd. »Wir sind in C4.«

»Ach ja?«

»Komisch, oder? So nah an Leuten zu wohnen, von denen man nichts weiß?«

»Das stimmt«, antwortet die Frau höflich. Sie richtet den Blick auf die Waschmaschinen, hofft offensichtlich auf die Rückkehr zur Standardsituation, die von Fremden in öffentlichen Räumen nicht mehr verlangt als den Austausch von ein paar kleinen Lächeln, um zu signalisieren, dass man sich nicht gegenseitig abstechen will. Die Frau öffnet und schließt den Schraubdeckel der Waschmittelflasche, die sie auf dem Schoß hält.

»Wie heißen Sie?«, fragt Blandine.

Die Frau presst die Kiefer zusammen, die Schultern, die Hände. »Joan.«

»Joan. Freut mich, Sie kennenzulernen, Joan. Ich bin Blandine.«

Joan winkt matt.

»Glauben Sie an das Jenseits?«, fragt Blandine.

»Wie bitte?«

»Das Jenseits.«

»Das Jenseits?«

»Das Leben nach dem Tod?«

»Ich weiß, was damit gemeint ist«, sagt Joan.

»Und?«

»Was damit gemeint ist?«

»Ob Sie daran glauben?«

Joans Blick flieht zu einer Uhr. »Ich schätze, schon. Ja. Ich bin katholisch.«

»Es klingt, als wären Sie sich nicht sicher.«

»Ich bin mir sicher. Ich habe nur nicht mit der Frage gerechnet.«

»Es klingt, als wären Sie sich nicht ganz sicher.«

Joan verschränkt die Arme. »Ich bin katholisch.«

»Vielleicht warten Sie auf Beweise.«

»Wer Glauben hat, braucht keine Beweise«, gibt Joan zurück. Dann wird sie rot.

»Ja, ja. Der Glaube beruht auf der Abwesenheit von Beweisen.« Blandine hält inne. »Aber ich habe das immer ein bisschen fies von Gott gefunden. Beweise zurückhalten, wenn das Weltenei so wichtig ist. So hat es Hildegard von Bingen beschrieben – das Weltenei. Jedenfalls finde ich es verdächtig knickerig, uns nichts zu geben außer alle dreitausend Jahre einen selbst ernannten Messias. Propheten, deren Storys nicht zusammenpassen. Maria auf einer Toastscheibe. Jemand, der von Muskelschwund geheilt wird. Bisschen viel verlangt, ohne Sicherheiten, finden Sie nicht? Vor allem wenn es so viele Konkurrenzgeschichten gibt und so viel auf dem Spiel steht. Inferno oder Paradies. Für immer.«

»Kann sein«, sagt Joan.

»Aber Hildegard sagt, dass Gott ihr erzählt hat – warten Sie, ich habe die Stelle gleich – einen Moment …« Blandine blättert in Die Mystikerinnen: Eine Anthologie, und zu Joans Entsetzen liest sie laut vor: »Gott hat also zu Hildegard gesagt: ›Dir aber, o Mensch, der du nach Menschenart mehr über diesen erhabenen Ratschluss zu wissen begehrst, wird ein Riegel der Geheimhaltung vorgeschoben; du darfst nämlich die Geheimnisse Gottes nicht weiter erforschen, als die göttliche Majestät aus Liebe zu denen, die glauben, kundtun will.‹«[2] Blandine schlägt das Buch zu und kneift die Augen zusammen. »Ich weiß nicht. Ich finde, da macht er es sich ein bisschen leicht. Gott liebt die Gläubigen einfach so sehr? Ganz schön anmaßend!«

Joan schaudert. »Ich weiß nicht.«

»Haben Sie Dantes Göttliche Komödie gelesen?«, fragt Blandine.

Joan sieht sie an, als fühlte sie sich veräppelt. »Nein.«

»Lesen Sie wenigstens Purgatorio. Es ist genau wie Vacca Vale. Wie ein Reiseführer. Im Ernst.«

Joans Körper krümmt sich vor Verlangen, woanders zu sein, und Blandine sieht es. Sie will aufhören, dieser armen Frau Vorträge zu halten, aber sie hat Angst, im Strom ihrer eigenen beängstigenden Energie zu ertrinken, wenn sie zu reden aufhört. »Ich lese zurzeit die katholischen Mystikerinnen«, sagt Blandine.

»Ach ja?«

»Kennen Sie sich damit aus?«

»Nein.«

»Sie liebten es zu leiden«, sagt Blandine. »Waren ganz verrückt danach.«

Joan zupft an einer Nagelhaut. Ihre Nagelbette sind eine Katastrophe. »Hm.«

»Sie waren extrem ungewöhnlich, die Mystikerinnen. Zum Beispiel die selige Anna Maria Taigi? Sie sagte, sie konnte die Zukunft sehen, indem sie in eine … in eine Art Sonnenkugel schaute? Und Gabrielle Bossis – eine französische Schauspielerin –, sie zeichnete ihre Gespräche mit Jesus in einem Buch auf. Wortwörtlich, ist das zu fassen? Therese Neumann trank und aß nichts außer der Eucharistie. Marie Rose Ferron erschien Jesus das erste Mal mit sechs. In Massachusetts, ausgerechnet. Und dann war da Gemma Galgani. Tochter der Passion wurde sie genannt. Die Leute platzten immer rein, wenn sie gerade mitten in der göttlichen Ekstase war, manchmal beim Levitieren. Sie hatte regelmäßige Visionen ihres Schutzengels und Jesu und der Jungfrau Maria, die ganze Truppe, und hing mit ihnen ab. Sie hatte ›ein großes Verlangen danach, für Jesus zu leiden‹.«

Ein dünnes Lächeln. »Sehr witzig.«

»Die selige Maria Bolognesi ist noch eine Gute. Sie hatte eine harte Kindheit – unterernährt, immer krank, übergriffiger Stiefvater, das ganze Programm, kennen wir alle –, aber es gipfelte darin, dass sie ungefähr ein Jahr lang besessen war. Es gab die üblichen Symptome: Angst vor Weihwasser und Priestern, konnte keine Kirche betreten, konnte keine Sakramente empfangen, spuckte zwanghaft auf Heiligenbilder. Aber mein Lieblingspart ist, dass manchmal unsichtbare Kräfte an Marias Kleidern zerrten, was ihre Freundinnen in Angst und Schrecken versetzte.«

Joan zieht die Brauen hoch. »Unsichtbare Kräfte?«

»Das ist nicht mal das, was mich am meisten beeindruckt. Sondern die Freundinnen. Maria hatte immer noch einen lebhaften Freundeskreis, obwohl sie besessen war.« Blandine legt sich die Hand aufs Herz. »Unglaublich.«

»Sehr ungewöhnlich«, sagt Joan.

»Irgendwann«, fährt Blandine fort, um mittels der Sprache vor ihrem inneren Sturm davonzulaufen, »verpasste ein Bischof ihr heimlich einen Segen, als sie schon auf dem Weg in die Psychiatrie war, und damit war sie offenbar exorziert. Bei vielen Mystikerinnen wurden Geisteskrankheiten diagnostiziert, kann man sich ja vorstellen. Und gerade als es für Maria besser zu laufen scheint – Dämonen weg, sicherer Ort, Phase der Gesundheit –, hat sie eine Vision, in welcher Jesus ihr einen Ring mit einem Rubin an den Verlobungsfinger stecke.« Blandine hält inne. Normalerweise vermeidet sie es, »in welcher« laut zu sagen, um die Zahl der Leute, die sie unerträglich finden, klein zu halten. »Und als die Vision vorbei war, sah sie genau da, an der linken Hand, den echten, tatsächlichen Ring. Zack.«

Blandine merkt, dass Joan unfreiwillig neugierig wird. »Was hat sie getan?«

»Oh, sie ist ausgerastet. Dann hat Jesus gesagt: Du wirst Blut schwitzen. Und wissen Sie was? Sie hat Blut geschwitzt. Ständig. Hat die Laken und alles vollgeblutet.«

»Warum?«

»Warum was?«

»Warum Blut schwitzen?«

»Um für Jesus zu leiden, nehme ich an.«

»Aber warum gerade das?«

Blandine überlegt. »Das wird in dem Buch nicht erklärt.«

»Seltsam!«

»Wissen Sie, was noch komischer ist? Eine Freundin von ihr berichtet, wenn Maria ihr Ding machte – also Blut schwitzte –, roch es im ganzen Raum nach … nach so einer Art Parfum?«

»Was für ein Parfum?«

»Ich weiß es nicht. Angeblich hat es süß gerochen.«

»Grauenhaft«, sagt Joan finster.

»Ich weiß. Aber es war nicht alles schlimm. Jesus hat Maria geholfen, das Ende des Zweiten Weltkriegs zu prophezeien, er hat ihrer kleinen Schwester einen Job besorgt … Ich persönlich finde diese ›Verlobung mit Jesus‹-Rhetorik zwar total widerlich, im besten Fall inzestuös, aber es ist anscheinend ein richtiges Phänomen. Die meisten Mystikerinnen berichten von ähnlichen Erfahrungen. Jesus erscheint ihnen und – Sie wissen schon – macht ihnen einen Antrag.«

Schweißperlen bilden sich im Gesicht der Frau. »Das gefällt mir nicht.«

»Viele von ihnen hatten Stigmata – diese blutenden Wunden an Händen, Füßen und der Seite? Ohne medizinischen Grund? Heilige Male, sagen sie. Wunden, die denen entsprechen, die Jesus bei der Kreuzigung erlitt.«

»Wirklich?«

»So wird berichtet. Aber wer weiß das schon? Die meisten Mystikerinnen haben zugunsten von ›reinerer Nahrung‹ gehungert. Sie waren immer schwer krank. Viele sind jung gestorben. Skeptische Menschen behaupten, ihre Visionen waren in Wirklichkeit Migräneanfälle. Ich glaube, wir sehen, wovor wir uns fürchten, wir sehen, was wir sehen wollen. Wenn wir uns die Welt ansehen, nehmen wir dreißig Prozent der Information auf, und den Rest ergänzt unser Unterbewusstsein.« Blandine lässt die Knöchel knacken. »Ich weiß nicht genau, ob ich an Gott glaube.«

Joan nimmt die Brille ab und massiert die Gläser mit einem Zipfel ihres langen Rocks. »Lesen ist ein schönes Hobby.«

»Manchmal glaube ich, sie hatten einfach Hunger.«

»Wer?«

»Die Mystikerinnen.«

Joan überlegt. »Kann sein.«

Es ist Joans widerwillige Beteiligung an dem Gespräch, nicht ihre Abwehr, die Blandine dazu motiviert, ihre ganze Willenskraft zusammenzukratzen und die springenden, boxenden Wörter in ihrem Kopf zu behalten. Es ist, als würde sie den Kohlenkeller vor einem Tornado verriegeln, und ihr Knie wippt wie verrückt, aber sie schafft es. Joan wirkt erleichtert.

Unter den vielen Vorbehalten, die Blandine gegen die katholischen Mystikerinnen hegt, kann sie am wenigsten deren fundamentale Selbstbezogenheit entschuldigen. Der Individualismus, der ihr Leben bestimmte. Selbst in religiösen Gemeinschaften wurde bei den Mystikerinnen Privatsphäre großgeschrieben, und für Blandine ist klar, wenn jemand mitten in göttlicher Ekstase ist, ist er im Grunde bloß mit sich selbst beschäftigt. Eine höhere Form der Masturbation. Viele Klöster widmeten sich Menschen, die arm, alt, krank, vertrieben, geächtet, gefangen, behindert, verwaist waren. Aber die Mystikerinnen – die, die Blandine bewundert – kamen nicht viel raus. Sie betrachteten die Einsamkeit als Bedingung für göttliche Empfänglichkeit. Die meisten verbrachten ihr Leben im Grunde allein.

Wie also, fragt sich Blandine, würde eine zeitgenössische Mystikerin den brutalen Wachstumsimperativ herausfordern, falls das ihr Ziel wäre? Sie müsste aus ihrer Einsamkeit ausbrechen. Man kann kein System umstürzen, ohne hinauszugehen und jemandem in die Augen zu sehen. Egal wie niedrig deine CO2-Bilanz ist, du kannst nicht einfach lebenslang auf Essen, Komfort und Sex verzichten und behaupten, du würdest dich ethisch selbst aufopfern. Um ihr Leben ethisch zu machen, überlegt Blandine, muss sie versuchen, die systemische Ungerechtigkeit zu demontieren. Aber sie weiß nicht, wie sie das tun soll.

Blandine seufzt. Sie hat immer gewusst, dass sie zu klein und zu dumm ist, um eine Revolution zu führen, aber sie hatte gehofft, dass sie sich wenigstens eine Revolution vorstellen könnte. Sie holt tief Luft und ringt mit der Erkenntnis, wie unmöglich es ist, all das zu lernen und zu leisten, was sie lernen und leisten muss, bevor sie stirbt. Sie verliert sich in Gedankenspiralen über den Albedo-Effekt und die positive Korrelation zwischen Klimawandel und den meisten Massensterben der Erdgeschichte, als Joan den Waschmitteldeckel fallen lässt. Er rollt unter eine Waschmaschine. Blandine steht auf, um ihn aufzuheben.

»Hier.«

»Danke«, antwortet Joan. »Wie alt sind Sie?«

»Achtzehn.«

»Achtzehn!«, ruft Joan. »Aber Sie können nicht … wirklich?«

»Ja. Warum?«

»Sie wirken nicht wie achtzehn.«

Der Vorwurf deprimiert Blandine jedes Mal mehr.

»Ich weiß nicht, wie ich anders wirken soll«, murmelt sie.

»Sie sind einfach … Sie klingen nicht wie achtzehn.«

Täglich teilt die Welt Blandine mit, dass es sie nicht geben kann. Dass sie nicht möglich ist.

»Tja«, sagt Blandine. »Ist aber so.«

»Sie sind sehr …« Joan sieht sie blinzelnd an, als versuchte sie, ein abstraktes Gemälde zu entziffern, dann wechselt sie das Thema. »Gehen Sie aufs College?«

Blandine berührt ihren Hals und ist traurig, dass er da ist. »Nein.«

»Ach, na ja«, sagt Joan freundlich. »Es ist nie zu spät. Sie sollten drüber nachdenken. Auf dem College sind viele Leute wie Sie. Ich selbst war auf dem VVCC.«

Vacca Vale Community College. »Das ist schön«, sagt Blandine. »Vielleicht bewerbe ich mich.«

»Ja.« Joan lächelt. »Ich glaube, es würde Ihnen Spaß machen.«

Sie sitzen schweigend da. Blandine zwingt sich, nichts zu sagen, und hofft, dass Joan über die Fetischisierung des Leidens durch die Mystikerinnen nachdenkt. Vielleicht lässt sie sich alles durch den Kopf gehen. Aber bald wird klar, dass Joan das Gespräch nur aussitzt, wie einen Hagelschauer. Die Einsamkeit überfällt Blandine mit der Macht eines Puppenspielers.

»Füttern Sie Vögel?«, fragt Blandine, um das Thema zu wechseln.

»Wie bitte?«

»Ich meine … Sie wirken wie ein Mensch, der Vögel füttert.«

»Nein«, antwortet Joan.

»Echt nicht?«

»Nein.«

»Haben Sie je Vögel gefüttert?«

»Nein.«

»Nicht mal als Kind?«

»Nie.«

»Hm.« Blandine steckt das Buch aus der Bibliothek wieder ein. »Also, Joan, zwischen uns beiden, ich versuche es selbst mal mit der Mystik. Ich glaube, es liegt mir irgendwie. Soweit ich es sehe, muss man nicht unbedingt an Gott glauben. Ich will einfach nur meinen Körper verlassen.«

Joan hustet. »Ah.«

»Ich glaube, wir sollten uns alle ein bisschen ernster nehmen.«

Eine Pause. »Vielleicht«, flüstert Joan.

»Manchmal laufe ich herum, sehe Menschen, höre, wie sie lachen und streiten und niesen, und ich habe das Gefühl, keiner ist echt. Nicht mal ich selbst. Kennen Sie das?«

Zum ersten Mal sieht Joan ihr in die Augen. »Ja.«

»Es ist so wie bei Simone Weil. ›Zu wissen, dass dieser Mensch, der Hunger und Durst hat, wirklich genauso existiert wie ich – das reicht, der Rest ergibt sich von selbst.‹ Simone war eine waschechte Mystikerin.« Blandine kaut an einem Fingernagel. »Was ist der Rest, frage ich mich.«

Wieder Schweigen.

»Schön, dass wir uns begegnet sind«, sagt Blandine. »Ist doch komisch, seine Nachbarin nicht zu kennen, finden Sie nicht?«

»Doch, ja.«

»Wir schlafwandeln alle nur. Darf ich Ihnen was sagen? Joan? Ich will aufwachen. Das ist mein Traum: aufzuwachen.«

»Oh. Na ja. Das wird schon.«

»Es geht mir besser, jetzt, wo wir uns begegnet sind. Ich fühle mich zehn Milligramm wacher.«

Joan blinzelt. »Das ist schön.«

»Aber ich weiß, dass ich es nicht richtig mache.«

»Ach?«

»Ich schmeiße mit Religion und Dämonen und biografischen Details um mich. Blut schwitzen. Sie müssen mich für bekloppt halten.«

»Nein.« Joan sieht mit einer umständlichen Geste auf ihr Telefon. »Nein, nein. Oh, spät. Ich muss los.« Abrupt steht sie auf. »Hat mich gefreut.« Sie lässt ihre blaue Ladung zurück, geht aus dem Waschsalon und schleicht in den Abend, als wollte sie ihn nicht wecken.

Als sie allein ist, fasst sich Blandine an die Stirn. Sie ist sich sicher, dass sie sozial gestört ist, sie weiß nur nicht, wie ihre Störung heißt. Internet-Tests wissen nie, wo sie sie einordnen sollen. Im Allgemeinen spürt sie zu viel oder zu wenig, interagiert zu viel oder zu wenig – nie die richtige Dosis. Sie hat das Gefühl, sie hätte ihr Leben lang in einem Waschsalon gesessen und Leute vor den Kopf gestoßen. Die Energie wächst und wächst; sie hätte den Verdampfer mitnehmen sollen. Sie zwingt sich, still zu sitzen. Dann sieht sie auf die Uhr. Endlich ist es so weit.

Sie greift nach den Cord-Taschen, die mit Kunstblut-Flaschen, mehreren aus Stöcken gefertigten Voodoo-Puppen, Tüten mit Erde aus dem Valley, latexfreien Handschuhen, ihrem Bibliotheksbuch und kleinen Tierskeletten gefüllt sind. Dann geht sie hinaus in die bezaubernde midwestliche Dämmerung und macht sich auf den Weg nach Nordosten in Richtung des Vacca Vale Country Club. Es ist heiß, aber ihre Hände sind taub.

Eine Bedrohung für uns alle

Vacca Vale Gazette

Von Araceli Gonzales

Vacca Vale Gazette

Dienstag, 16. Juli, 8:50 AM ET

Aktualisiert vor 2 Stunden

VERSTÖRENDER ZWISCHENFALL BEI FEIER IN COUNTRY CLUB

Gestern Abend versammelten sich im Vacca Vale Country Club Geschäftsleute und Stadtbeamte, um mit selbst erlegtem Wild den offiziellen Start des neuen Stadtentwicklungsprojekts zu feiern. Doch leider kamen die Beteiligten nicht in den Genuss, die Früchte ihrer Arbeit zu kosten. Nach einem mysteriösen Anschlag wurde die Feier aus Sicherheitsgründen vorzeitig abgebrochen.

Um 19:18 Uhr öffneten sich an der Saaldecke zwei große Belüftungsklappen, aus denen zahlreiche kleine Tierknochen und große Mengen Erde herabfielen und sich auf Tischen und Gästen verteilten. Den Gegenständen folgten rund zwei Liter einer roten Flüssigkeit, die zunächst für Blut gehalten wurde, sich jedoch später als überzeugende Imitation erwies. Zuletzt fielen 26 Voodoo-Puppen aus den Schächten. Die Puppen waren aus Zweigen und Schnur gefertigt. Sie hatten X-e als Augen.

Um den Tätern auf die Spur zu kommen, so Privatdetektivin Ruby Grubb, müssen wir uns vor allem den Hintergrund ansehen. »Ob Gruppe oder Einzeltäter«, sagt sie der Gazette, »organisierte Sabotage ist fast immer politisch motiviert. Wir müssen also nach dem Motiv suchen, um die Täter zu finden. Wir müssen uns das große Ganze ansehen. Nicht nur die persönlichen Umstände, sondern die Geschichte der Stadt, des Landes, der Welt. Ich würde sagen, dass die erste Spur das Stadtentwicklungsprojekt selbst ist.«

Wenn alles nach Plan geht, soll der Vacca-Vale-Revitalisierungsplan jährlich rund $ 4 Millionen Steuereinnahmen generieren und Tausende von Arbeitsplätzen schaffen. Das Vorhaben nutzt die natürliche Schönheit von Chastity Valley für den Bau luxuriöser Eigentumswohnungen in den Hügeln und hat das Ziel, Vacca Vale von einer sterbenden postindustriellen Kleinstadt in ein Start-up-Zentrum zu transformieren, das Talente aus der ganzen Welt anzieht.

Das vergangene Jahr war besonders schwierig für Vacca Valley: Die Arbeitslosenquote erreichte mit 11,7 % einen historischen Höchststand, die Rattenplage übertraf die Einwohnerzahl um etwa 30.000 (wer könnte vergessen, wie bei Ta Ta’s eine Ratte von der Decke in die Fritten eines Restaurantgasts fiel?). Gleichzeitig hatte die Population des Baumwollschwanzkaninchens die der Ratten überholt. Die Kriminalität stieg stark an: Allein im letzten Jahr wurden 319 Morde und fahrlässige Tötungen, 21.068 Diebstähle, 14.472 Einbrüche, 907 Vergewaltigungen und 644 Brandstiftungen registriert. Die Jahrtausendflut im September richtete einen Schaden von über $ 3 Millionen an, nachdem nur wenige Monate zuvor eine 500-Jahr-Flut gewütet hatte. Auf Newsweeks jährlicher »Top Ten der sterbenden amerikanischen Städte« belegte Vacca Vale den ersten Platz. Im Februar musste Vacca Vale Konkurs anmelden, und es drohte die Ausgemeindung.

Im März dieses Jahres wurde der Unternehmer Benjamin Ritter auf Vacca Vales Notlage aufmerksam. Der in New York ansässige Stadtplaner ist für seine äußerst erfolgreichen Kampagnen zur Wiederbelebung von Kleinstädten im gesamten Rust Belt bekannt. Kurz darauf beschloss Ritter mit Bürgermeister Douglas Barrington und dem hiesigen Bauunternehmer Maxwell Pinky, Gründer und CEO von Pinky LLC, Vacca Vale aus den roten Zahlen zu holen. Vier Monate später stand der Plan. Ritter sagt, Chastity Valley sei der perfekte Ort für die Revitalisierung. »Neuerfindungen ziehen sich durch Vacca Vales Geschichte«, erklärt er der Gazette. »Die Stadt brummt förmlich von amerikanischem Geist.«

Die Bauarbeiten beginnen im kommenden August. Im Zuge des Wiederbelebungsplans werden die leer stehenden Zorn-Autofabrikhallen zum Sitz von drei Tech-Start-ups umgebaut, deren Namen wegen der laufenden Verhandlungen noch nicht bekannt gegeben wurden.

Bei der gestrigen Feier waren Benjamin Ritter, Maxwell Pinky und Bürgermeister Douglas Barrington sowie 23 weitere Männer anwesend. In einem Filmclip, der vor dem Essen gezeigt wurde, präsentierten Ritter und sein Team neben realistischen Simulationen des Bauvorhabens optimistische Interviews mit Gemeindemitgliedern, die sich auf den Anbruch einer neuen wirtschaftlichen Ära freuten. Die Präsentation endete mit dem Launch eines Werbespots – der erste von vielen, die dieses Jahr im ganzen Land ausgestrahlt werden sollen.

Anschließend wurde das Büfett eröffnet und das Porzellan mit der neuen Stadt-Flagge enthüllt, dem Ergebnis des letztjährigen Design-Wettbewerbs.

Nach Pastor Wheelers Tischgebet wandte sich Bürgermeister Barrington mit einer Rede an die Gäste. »Seit Zorn uns verlassen hat, sind vierzig Jahre vergangen, und wir haben uns nie richtig erholt. Aber jetzt ist es Zeit, das Jammertal hinter uns zu lassen, und das schaffen wir mit Innovation. Mit Mumm. Mit unseren eigenen Händen. Miteinander. Es ist Zeit für einen Neuanfang. Denn nichts ist amerikanischer als die Wiederauferstehung.« Nach dem Applaus fügte Barrington hinzu: »Und vielleicht ein selbst geschossener Braten!«

Es gab Wildbret, Elch, Hase, Fasan, Truthahn, Wachtel, Gans und Amerikanisches Blässhuhn, erlegt von den Mitgliedern des Projektteams und zubereitet von dem renommierten Koch Danny Fiorentino, der eigens aus Chicago eingeladen worden war.

Doch das Essen fand nicht statt.

»So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte der 34-jährige Maxwell Pinky, dessen weißer Anzug mit Erde und Kunstblut besudelt war. »Es war sehr unangenehm. Ein aggressiver Akt wie dieser ist eine Bedrohung für uns alle. Wir sind hier, um zu helfen, um unsere Stadt zu schützen – die Gemeinschaft zu fördern –, und dieser Anschlag war das krasse Gegenteil davon.«

»Seien Sie versichert, dass wir alles tun, um die Täter zu finden«, sagt Officer Brian Stevens, der die polizeiliche Ermittlung leitet. Officer Stevens und sein Team trafen in kürzester Zeit am Tatort ein, doch sie fanden keine Spuren des Täters/der Täter im Lüftungssystem oder der Umgebung. Die Überwachungskameras haben nichts Ungewöhnliches aufgezeichnet.

Die Beamten konnten jedoch feststellen, dass das Kunstblut aus Wasser, Maissirup, Mehl, Kakaopulver und roter Lebensmittelfarbe angemischt war.

»Das ist natürlich nicht viel«, vertraut die private Ermittlerin Grubb der Gazette an. »Aber wenn ich einen Tipp abgeben müsste, würde ich auf Ökoterroristen setzen. Um die neue Siedlung im Valley zu bauen, müssen eine Menge Bäume gefällt werden, oder?«

Officer Stevens hält dagegen, für Spekulationen über die Täter sei es noch zu früh. »Doch wir haben Grund zu der Annahme, dass die Leute hinter dieser Tat erfahrene Kriminelle sind. Es gab keine Fingerabdrücke, keine DNA-Spuren. Wir wissen nur, dass die Person, die in das Lüftungssystem eingestiegen ist, ziemlich klein gewesen sein muss.«

Manche der Anwesenden vermuten, dass es sich bei den Angreifern um Tierschützer handelt, die gegen den Verzehr von Wildtieren protestierten.

Vacca-Vale-Veteran Benjamin Ritter hat eine andere Theorie.

»Für mich ist klar, dass es sich um einen Protest gegen das Bauvorhaben im Valley handelt. Ich meine, 26 Voodoo-Puppen? Wenn genau 26 Projektplaner da waren? Kommen Sie«, sagt Ritter der Gazette. »Ich habe immer mit Widerstand zu tun. Manche Leute haben Angst vor Veränderung. Meistens sind das Menschen, die sich mit der Lokalgeschichte verbunden fühlen – in der Regel die ältere Generation. Sie fürchten, dass der große böse Wolf ihr Lieblingslokal niederreißt und stattdessen eine Kette hinsetzt, dass die kleinen Läden plattgewalzt und durch Megastores verdrängt werden, dass man ihnen den Parkplatz vor der Kirche wegnimmt und ein Stadion baut, das kein Mensch braucht. Und sie haben jedes Recht, skeptisch zu sein – in der Vergangenheit haben etliche städtische Wiederbelebungspläne die Bürger im Stich gelassen. Aber wir lassen sie nicht im Stich. Ich glaube, sobald die Menschen erkennen, dass unsere Arbeit für sie, für ihre Kinder und Enkelkinder von großem Nutzen ist, werden sie keine Angst mehr haben.«

Wenn er eine Botschaft an die Täter senden dürfe, fuhr er fort, dann die: »Wir sind auf eurer Seite.«

Officer Stevens und seine Kollegen glauben nicht, dass die Bauherren ernsthaft gefährdet sind, aber sie warnen die Bewohner von Vacca Vale, wachsam zu bleiben und ungewöhnliche Vorkommnisse bei der örtlichen Polizei zu melden. Der Vorfall könnte mit einer Reihe von Stromausfällen während einer Charrette im Frühjahr zusammenhängen.

Wenn Sie sachdienliche Informationen zu diesem Vorfall haben, melden Sie sich bitte unter der Nummer 1–800-CRIMEFIGHTER oder schicken Sie eine Textnachricht, auch anonyme Hinweise sind möglich.

Die Vacca Vale Gazette versorgt Sie mit Updates über alle Entwicklungen. Das Revitalisierungsprojekt wird wie geplant fortgesetzt.

Wo das Leben weiterlebt

Joan Kowalski ist vierzig Jahre alt. Wenn sie bei firmeninternen Icebreaker-Spielen ein charakteristisches Kennzeichen nennen muss, verrät sie, dass sie Sommersprossen auf den Augenlidern hat, aber nirgends sonst. Gruppenleiter verlangen immer, dass sie es beweist. Wenn sie dann die Augen schließt, machen mindestens zwei gutmütige Fremde Kommentare wie Oha oder Donnerwetter oder Sehr hübsch. Doch im Anschluss spürt Joan nie Nähe oder Vertrautheit, hat nie das Gefühl, dass sie unverwechselbar ist, und versteht auch nicht, warum die Leute so wild darauf sind, das Eis zu brechen.

Joan arbeitet bei RESTINPEACE.com, Wo das Leben weiterlebt, und prüft die Kommentare zu Nachrufen auf Kraftausdrücke, Urheberrechtsverletzungen und üble Nachrede, die die Toten verunglimpft. »Sie wären überrascht«, sagt sie häufig, »wie gemein manche Leute zu den Toten sind.«

Seit ein wahnsinnig stylischer Coiffeur einmal über Joans Haar sagte, es habe »die Farbe des Februars«, schneidet sie sich den Pony selbst, kürzer, als je ein Stylist erlaubt hätte. Es ist ein Akt der Autonomie, der sie jedes Mal beglückt. Wie die meisten Bewohnerinnen und Bewohner von Vacca Vale hat Joan nie an einem anderen Ort gelebt, und zurzeit bewohnt sie ein kleines Apartment im La Lapinière Affordable Housing Complex, einem erschwinglichen Mietshaus Ecke Bella Coola und Saint Francis. Einmal im Waschsalon hat sie mitgehört, wie zwei andere Frauen über die Geschichte des Gebäudes sprachen: Traurig über den wirtschaftlichen Niedergang seiner Heimatstadt beschloss ein exzentrischer christlicher Philanthrop, der inzwischen in Quebec lebte, bezahlbare Wohnungen in Vacca Vale zu finanzieren. Er hatte nur eine Bedingung: Das Ganze sollte schick sein und schick klingen. Also wählte er ein französisches Wort, das ihm gefiel, und verpasste es einem heruntergekommenen Wohnblock mit Vintage-Charme, der ihn mit seiner Ästhetik überzeugte, nicht mit seiner Funktionalität. So entstand der La Lapinière Affordable Housing Complex. Das Apartmenthaus steht im Süden des Zentrums zwischen der verlassenen Zorn-Fabrik im Westen und Chastity Valley im Osten. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts hatten hier die Fabrikarbeiter gewohnt. Der Philanthrop suchte für die Lobby eine entzückende Kaninchen-Tapete aus und Messing-Kaninchenlampen für jede Wohnung. Bei den Lampen legte die Baufirma später ihr Veto ein, um mit dem Geld lieber die Warmwasseraufbereitung zu erneuern. Nach ein paar weiteren Schlappen gab der Wohltäter den Versuch auf, sich beim Design einzubringen. Heute übersetzen die meisten Mieterinnen und Mieter den Namen ihres Heims und nennen es Kaninchenstall.

Joan kann eine unnatürliche Menge Wassermelone essen, ein Talent, das sie manchmal zur Belustigung von Freunden und Kollegen einsetzt, auf Kosten ihrer Verdauung. Sie fährt gerne mit dem South-Shore-Train, um ihre Tante Tammy in Gary, Indiana, zu besuchen. Von der Lokomotive durchs Land gezogen, genießt sie den Anblick der Fabriken, die oranges Feuer in den Himmel speien, und stellt sich vor, sie wäre ein Waisenkind, das als blinder Passagier einem Großstadtabenteuer entgegenfährt. Im South-Shore-Train liest sie Charles Dickens, weil er sich mit der Verschmutzung auseinandersetzt und sie gleichzeitig zum Lachen bringt, was ihr zeigt, dass man auch in ihrer eigenen verschmutzten Stadt lachen könnte. Joan hat noch nie ohne Angst einen Zebrastreifen überquert, und sie hegt ein tiefes Misstrauen gegen Menschen, die behaupten, sie mögen kein Brot.

Nachmittags am Dienstag, dem sechzehnten Juli, sitzt Joan Kowalski an ihrem Arbeitsplatz und prüft einen Artikel, der auf ihrem News-Feed erschienen ist. Vor einer Stunde hat eine Kollegin, die Joan beeindrucken wollte, weil sie gern mit ihr befreundet wäre, eine Wassermelone zum Mittagessen mitgebracht; natürlich hat