Der Karakorum Highway und das Hunzatal, 1998 - Horst H. Geerken - E-Book

Der Karakorum Highway und das Hunzatal, 1998 E-Book

Horst H. Geerken

4,8

Beschreibung

Das vorliegende Buch beruht auf Reiseberichten und Briefen von Annette Bräker und Horst H. Geerken. Es behandelt die Geschichte, die Kultur und die Völker des Hunzatals und Xinjiangs. Neben historischen Fakten besticht das Buch durch amüsante Erlebnisse.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 326

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (16 Bewertungen)
13
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Gedenken an Annettes und meine

Eltern, wundervolle Menschen, die unsere

Reisen in orientalische Gefilde bereits

in jüngsten Jahren immer befürworteten

und uns dazu ermutigten. Sie haben unsere

Reiselust geweckt und dafür danken wir.

(Horst H. Geerken)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort Horst H. Geerken, 2016

Vorwort Annette Bräker, 1998

Die Anreise nach Islamabad

Von Islamabad auf dem Karakorum Highway nach Gilgit

Ins Hunzatal von Gilgit nach Karimabad

Das Hopartal

Von Karimabad nach Gulmit

Von Gulmit nach Sust

Von Sust über den Khunjerab-Pass nach Kashgar

Xinjian

Die Oase Kashgar

Die Rückreise ins Hunzatal

Die ersten westlichen Besucher des Hunzatals

Nach Islamabad und Lahore

Zurück nach Deutschland

Der Karakorum Highway und das Hunzatal 2015/2016

Dank

Literatur

Personenregister

Sachregister

Abb. 1: Die Reiseroute

1. Vorwort

von Horst H. Geerken

Das Hunzatal und seine Nebentäler liegen in einem äußerst unzugänglichen Gebiet des Hindukusch in Pakistan. Es ist ein Hochtal in einer Höhe zwischen 2500 und 3500 Metern zwischen Karakorum- und Hindukusch-Gebirge, umgeben von Siebentausendern, von denen der Rakaposhi mit rund 7800 Metern der höchste ist.

Herodot (um 450 v.Chr.) war der erste Autor, der diese Region an der Grenze zu Kaschmir und nah an Afghanistan erwähnt hat.1 Dr. Gottlieb2 Wilhelm Leitner, 1840 in Ungarn3 geboren und 1899 in Bonn verstorben, war ein Orientalist und Linguist. Er bereiste – neben anderen Regionen im Hindukusch – in den 1860er und 1880er Jahren als erster Wissenschaftler das Hunzatal. Seine Bücher über die Geschichte, die Sprachen, die Religionen, die Sitten, Legenden und Lieder dieser Region sind bis heute interessante und wichtige Nachschlagewerke.

Die Pfade an den steilen Berghängen in dem unwegsamen Gelände entlang des Hunza-Flusses und die einfachen Hängebrücken waren so schmal, dass Waren auf dem größten Teil der Strecke nur von Lastenträgern transportiert werden konnten. Wie die Hunzukutz4 sagen, muss hier der Reiter sein Pferd tragen!

Im Hunzatal wird vorwiegend die isolierte Sprache Burushaski gesprochen. Der Einfluss Griechenlands ist aufgrund der Invasion durch Alexander den Großen um 325 v.Chr. bis heute noch an Skulpturen und genetischen (europäischen und arischen) Merkmalen der Hunzukutz deutlich zu erkennen. Die für Pakistan untypischen blonden Haare oder blauen Augen sieht man im Hunzatal oft. Die Bewohner des Hunzatals sehen sich als Nachkommen des Kriegsherren Alexander des Großen und seines Heeres. Viele von Alexanders Kämpfern wollten den beschwerlichen Rückweg in die Heimat nicht mehr antreten und vertauschten das Schwert mit dem Pflug. Der Kriegsherr gründete Dörfer und Städte im Indus- und Hunzatal und siedelte seine griechischen und mazedonischen Veteranen dort an. Er förderte die Hochzeit mit einheimischen Frauen. Sprache, Musik und Tänze ähneln noch heute denen von Albanien und Mazedonien. In dieser kaum zugänglichen Region Hunza konnten sich die genetischen und kulturellen Merkmale der Invasoren annähernd rein erhalten. Der König von Hunza soll der Legende nach ein direkter Nachfahre von Alexander dem Großen sein. Der Stammvater der Dynastie heißt König Alexander Iskandar Shah. Außerhalb des Hunzatals gründeten die Soldaten des Kriegsherrn ebenfalls Stadtstaaten, aber dort entstanden eher Mischkulturen.

Auf Grund der isolierten Lage des Hunzatals konnte das Hochtal leicht gegen Eindringlinge verteidigt werden, weshalb die Hunzukutz hier rund 1000 Jahre lang weitgehend unabhängig und frei von äußeren Einflüssen leben konnten. 1889 versuchte England, das Hunzatal zu erobern, was aber erst 1892 gelang. Der Mir5Safdar Ali, der König der Hunzukutz, flüchtete kurz davor nach China. Wie Durand in seinem Buch6 schreibt, haben die Briten den Mir sehr schlecht behandelt. Sie nahmen ihm das Königreich ab, ohne dass er – trotz mehrerer Versuche – mit ihnen verhandeln konnte. Er starb 1930 verarmt im Exil in Xinjiang.7

Von 1892 bis 1947 war das Hunzatal als Teil Britisch-Indiens unter britischer Verwaltung. So wie nach dem Zweiten Weltkrieg Indien und Pakistan das britische Mandat ablösten, löste 1892 England das chinesische Mandat über Hunza ab.

Als sich die Briten 1947 – nach der Unabhängigkeit und der Teilung der Kolonie Britisch-Indien in ein hinduistisches Indien und ein islamisches Pakistan – aus dem Hunzatal zurückzogen, führte das auch zu Begehrlichkeiten von Seiten Indiens. Indien versuchte, die Kontrolle über Gilgit und Hunza zu erhalten, und begann einen bis heute unverzeihlichen Krieg. Die Bergvölker des Hunzatals schlugen die Aggressoren erfolgreich zurück und verhinderten eine Annexion. Im großen Park von Gilgit steht ein Monument, das ‚Minarett der Märtyrer‘, das an diesen Krieg, der im Westen vollkommen unbekannt blieb, erinnert.

1947 wurde das Königreich durch die Briten aufgelöst. Den Titel ‚Mir‘ darf der ehemalige Herrscher und seine Nachkommen als Symbol des Respekts weiterhin benutzen, ebenso die roten Autokennzeichen mit Goldaufschrift ‚Hunza 1‘ und ‚Hunza 2‘. In den nachfolgenden Jahren durften ausländische Besucher das Gebiet nicht betreten. Erst 1974 wurde das Hunzatal ein Teil der Region Gilgit-Baltistan unter der pakistanischen Zentralregierung, und durfte nun im unteren Teil des Tals von Ausländern besucht werden.

Bis zum Jahr 1950 hatten die Kinder der Hunzukutz noch kein Rad und kein Kraftfahrzeug gesehen. Alle Güter, wie Werkzeuge, Küchenutensilien, Öllampen, Spiegel und andere Glaswaren, Nägel und Baumaterial und alles, was man zum täglichen Bedarf benötigte, musste auf dem Rücken von Trägern ins Hunzatal geschleppt werden.

Das bergige Gelände kann nur an wenigen ebenen Stellen für den Anbau von Getreide, Aprikosen und Trauben landwirtschaftlich genutzt werden. Die Weidewirtschaft muss sich auf Ziegen und Geflügel – vorzugsweise Enten – beschränken. Das Naturvolk ernährt sich fast fleischlos. Auch Molkereiprodukte, wie Milch, Butter und Käse, werden nur selten verzehrt. Die legendäre Langlebigkeit und gute Gesundheit der Hunzukutz wird hauptsächlich dem mit Mineralien und Edelmetallen angereicherten milchig aussehenden Gletscherwasser und der vorwiegenden Ernährung mit Vollkornprodukten zugeschrieben. Weit über 100 Jahre alte Männer, die immer noch selbst ihre Felder bestellen oder Pferdepolo spielen, sind keine Seltenheit. Daher wird das Hunzatal, das oft für das verlorene Königreich Shangri La8 gehalten wird, auch als ‚Oase der ewigen Jugend‘, bezeichnet.

Die Frauen im Hunzatal, mit den kleinen bunten Käppchen unter einem weißen Schleier, sind selbstbewusst und total frei. Ihre Gesichter sind offen und sie sind immer zu einem Lächeln bereit. Im Gegensatz zu der islamischen Umgebung gilt hier die Einehe, und beide Partner müssen mit einer ehelichen Verbindung einverstanden sein. Es werden keine Unterschiede zwischen Mann und Frau gemacht. Selbst in der Hochzeitsnacht kann sich eine Frau dem Ehemann verweigern, und sie hat das Recht, sich scheiden zu lassen. Heute, 2016, leben etwa 90 000 Menschen im Hunzatal. Zur Zeit unserer Reise waren es noch deutlich weniger.

Viele Jahre war das Hunzatal ein für Ausländer verbotenes Königreich. Im Süden grenzt das Tal an Pakistan, im Nordosten an die chinesische autonome Provinz Xinjiang, und im Nordwesten an Afghanistan. Erst 1974 ging die Meldung ‚Das Hunzatal ist nun frei‘ rund um die Welt. Aber warum durfte bis dahin kein Ausländer dieses kleine Königreich Hunza besuchen?

Es gab einen Vertrag zwischen Pakistan und China, der die Sicherheit Hunzas durch China garantierte. Da China mit dem Karakorum Highway große Investitionen vorhatte, wollte sich China nicht durch Ausländer in die Karten schauen lassen. China reagierte damals besonders empfindlich, wenn es um Xinjiang ging, obwohl die unklare Grenze im nördlichen Hunzatal zwischen Pakistan und China bereits 1963 korrigiert und festgelegt wurde. Nach der Übergabe des Mandats von England an Pakistan war China damals damit einverstanden, dass Hunza – das zuvor lange Mandatsgebiet Chinas war – pakistanisch wurde. China war an einem sicheren Puffer zwischen sich und den südlichen Nachbarn interessiert.

Hunza war ein Land ohne Kriminalität, ohne Polizei, ohne Gefängnisse und ohne Verwaltung. Es gab keine Hotels, keine Zeitungen und keine Banken, auch keine Kraftfahrzeuge und keine Tankstellen, Elektrizität war unbekannt. Da die Hunzukutz ein kerngesundes Volk waren, gab es auch keine Ärzte und Apotheken. Niemand musste Steuern bezahlen.

In der Bergwelt außerhalb des Hunzatals waren bereits mehrere ausländische Reisende, hauptsächlich Alpinisten, spurlos verschwunden. Der pakistanische Premierminister hätte die Verantwortung für jeden Reisenden ins Hunzatal übernehmen müssen. Und selbst für die pakistanische Regierung war das Königreich noch fremd und unheimlich. Hunza war so drastisch anders als das übrige Pakistan, daher war das Hunzatal für Ausländer lange verschlossen.

Für meinen Bruder Hartmut war die Meldung ‚Das Hunzatal ist nun frei‘ das Signal, sofort von Kabul über Rawalpindi nach Gilgit zu fliegen. Er gehörte mit seinem sechs Jahre alten Sohn Olaf im Mai 1974 zu den ersten ausländischen Besuchern9. Zu der Zeit war mein Bruder Hartmut Leiter des Goethe-Instituts in Kabul, Afghanistan. Sein Sohn Olaf war der jüngste ausländische Besucher, der das Hunzatal je besucht hatte. Bereits in Gilgit, aber besonders an der Grenze zum Hunzatal, wurden beide mit Blumengebinden empfangen. Besucher aus dem Westen waren noch etwas ganz Besonderes und eine große Seltenheit.

Für das Betreten des Staates Hunza musste damals zunächst eine Genehmigung der pakistanischen Regierung eingeholt sowie eine Passkontrolle durchlaufen werden. Auf dem Weg zwischen Gilgit und Karimabad stand unter freiem Himmel quer über den schmalen Pfad ein etwa eineinhalb Meter langer Tisch mit dem Zoll- und Immigrationsbeamten in einer Person. Dieser war in der typischen Hunza- Tracht gekleidet, mit einem langen weitärmligen braunen filzartigen Wollmantel und der typischen Hunzamütze, der Farschin, mit dem charakteristischen, rundum aufgerollten Rand. Die Frauen tragen dagegen immer eine bunte Kleidung mit einer buntbestickten Kappe.

Der Pass wurde gestempelt, und die erste Frage des Immigrationsbeamten war: ‚Wollen Sie Wein trinken?‘ Wein im streng islamischen Pakistan? Das Hunzatal hat einen Sonderstatus, da seine Bewohner tolerante Ismailiten sind, mit dem Aga Khan als religiösem Oberhaupt. Der Beamte holte eine volle, noch mit Lehm verschlossene Flasche hervor und öffnete sie behutsam, damit der Lehm nicht durch die Öffnung in den Wein bröselte. Es war ein bräunlicher, naturtrüber Wein, der aber nach der Aussage meines Bruders durchaus trinkbar war.

Abb. 2: Hunza-Stempel im Reisepass meines Bruders Hartmut vom 27. Mai 1974

Die Arbeiten der Chinesen am Karakorum Highway (KKH) waren noch in vollem Gange. In der Nähe von Gilgit war die erste chinesische Arbeitersiedlung, in der Tausende chinesische Arbeitskräfte untergebracht waren. Es war ein typisch chinesisches Camp mit provisorischen Hütten und Zelten. Hier gab es Einkaufsmöglichkeiten für chinesische Waren, eine eigene Kantine, Bäcker und einen großen Gemüsegarten. Es herrschte ein reges Treiben. Das Camp wurde von den Hunzukutz ‚Camp des Lächelns‘ genannt und war vollkommen autonom. Alles war mit chinesischen Buchstaben beschriftet, auch die Wege zwischen den Hütten und Zelten. Das Betreten des Lagers war für Ausländer verboten. Erst hinter dem Camp lag die Pforte zum Hunzatal. Die chinesischen Arbeitskräfte in ihren strahlend blauen Arbeitsanzügen und mit ihren Ballonmützen schaufelten und meißelten entlang der atemberaubend steilen Felsen. Es erinnerte an ein aufgeregtes Nest mit blauen Ameisen.

Der Weg hoch ins Hunzatal war noch sehr beschwerlich. Weiter als nach Karimabad und Baltit kam man damals nicht. Hartmut und Olaf wurden während des ganzen Aufenthalts im Hunzatal von Herrn German, dem ersten Sekretär des letzten ‚Mir‘ der Hunzukutz betreut. Sie waren seine Gäste, denn im ganzen Hunzatal gab es damals noch kein Restaurant. Er brachte die beiden zunächst im Gästehaus des Mirs Muhammad Jamal Khan in Karimabad unter, später in einem Appartement. Hotels gab es auch noch keine. Zu Ehren von Hartmut und Olaf wurde ein Schaf geschlachtet und ein großes Essen mit allen Honoratioren Karimabads veranstaltet.

Zu der Zeit, als mein Bruder Hartmut mit seinem Sohn im Hunzatal weilte, war der Mir vom Hunzatal zu einer medizinischen Behandlung in Deutschland. Wunderlich war, dass der Mir ganz in der Nähe des Wohnortes meines Bruders bei einem Professor Stuhlinger in Starnberg in Behandlung war. Im Hunzatal hatte der Mond während des Aufenthalts des Mirs in Deutschland einen ungewöhnlich großen hellen Hof. Die einheimischen Hunzukutz werteten dies als gutes und positives Zeichen für das Wohlergehen und einer guten Besserung des Mirs im fernen Deutschland.

Nur zwei Jahre später, im März 1976, starb Mir Muhammad Jamal Khan in Karimabad. Der Schamane des Mir hatte seinen Tod bereits Jahre zuvor auf den Tag genau vorhergesagt. Nach dem Tod des vom Volk geliebten Mirs wollte der Schamane nie mehr in die Zukunft schauen.

Herr German bat Hartmut im Namen des Mirs mit seiner Familie im Hunzatal zu bleiben, um dort als Lehrer für Deutsch, Englisch und Französisch zu arbeiten. Dem Mir lag eine bessere Bildung seiner Bevölkerungen sehr am Herzen, obwohl die Analphabeten-Rate bereits zu der Zeit unter vier Prozent lag! Ein Spitzenwert für Pakistan! Für alle Kinder im Hunzatal besteht bis heute Schulpflicht. Alle Schulen werden massiv durch die Aga Khan Stiftung finanziell unterstützt.

Hartmut sollte als Lehrer für sich und die Familie das schönste Haus im ganzen Hunzatal erhalten. Er entschied sich aber nach reiflicher Überlegung, auch weiterhin beim Goethe-Institut zu bleiben. Nach rund einer Woche in Karimabad wurde Hartmut von Herrn German der Jeep des Mirs mit dem Kennzeichen ‚Hunza 2‘ für seine Rückfahrt nach Gilgit zur Verfügung gestellt.

Nur zwei Jahre nach meinem Bruder Hartmut bereiste der Vater von Annette, der Orientalist Professor Dr. Hans Bräker, zusammen mit Professor Dr. Hans-Joachim Klimkeit 1976 das Hunzatal. Bräker lehrte an der Universität in Trier und war Gründer und Leitender Wissenschaftlicher Direktor des ‚Bundesinstituts für Ostwissenschaftliche und Internationale Studien‘ in Köln. Klimkeit war Vergleichender Religionswissenschaftler und Indologe. Indologie studierte er bei dem berühmten Professor Helmuth von Glasenapp in Tübingen. Zur Zeit der Reise hatte Klimkeit eine Professur für Vergleichende Religionswissenschaften an der Universität in Bonn. Die beiden hatten nur eine Woche Zeit und sie wollten das Hunzatal mit Fahrrädern erkunden. Aus Zeitgründen konnten die beiden wegen der schlechten Straßenverhältnisse aber nicht bis nach Karimabad vordringen.

Abb. 3: Der Orientalist Professor Dr. Hans Bräker im Gespräch mit dem Autor

Später wurde Klimkeit der Chef der Mitautorin des Buches, Annette Bräker, an der Universität in Bonn. Seit den Erzählungen ihres Vaters und ihres Chefs über ihre Erlebnisse im Hunzatal hatte Annette den intensiven Wunsch, die Region Hunza zu besuchen. Auch mir war durch die Erzählungen meines Bruders diese Region nicht unbekannt geblieben. Über meinen alten pakistanischen Studienfreund Mohiuddin Biyabani wurde ich sporadisch über den Fortgang der Arbeiten am KKH informiert, so dass in mir der Plan reifte, Annette mit dem Vorschlag einer Reise ins Hunzatal zu überraschen. So kam es, dass ich einen Wunschtraum von Annette und mir gleichzeitig erfüllen konnte.

Als Endpunkt unserer Reise war Kashgar vorgesehen. Kashgar liegt im westlichen China in der Provinz Xinjiang.10 Xinjiang hat eine Bevölkerung von rund 22 Millionen, einen Flächenanteil von über 17 Prozent der Volksrepublik China und grenzt an Indien, Pakistan, Afghanistan, Tadschikistan, Kirgistan, Kasachstan, Russland, Tibet und die Mongolei. Mit so vielen angrenzenden Nationen ist es kein Wunder, dass dieses Gebiet, das Pamir-Knoten genannt wird, aufgrund seiner herausragenden strategischen Lage in den beiden Weltkriegen Begehrlichkeiten der Westmächte weckte. Die diplomatischen Rangeleien um dieses Gebiet – besonders zwischen Großbritannien und Russland – nannten die Briten zynisch ‚The Great Game‘ – ‚Das große Spiel‘.

Auf ‚The Great Game‘ kann in diesem Buch nur oberflächlich eingegangen werden. Darüber gibt es, besonders in der Literatur Großbritanniens, unzählige Werke. Diese Berichte über das politische Spiel und die militärischen Auseinandersetzungen wurden natürlich aus britischer Sicht geschrieben. In diesem Buch soll der Schwerpunkt allerdings auf kulturellen Aspekten und der frühen Erforschung dieses Gebietes liegen.

Unsere Reise von Gilgit durch das Hunzatal und Xinjiang bis Kashgar war ein einmaliges – wenn auch manchmal sehr abenteuerliches – Erlebnis durch ein landschaftlich und historisch höchst interessantes Gebiet. Wenn man eine Reise wie diese gemacht hat, wird diese immer im Gedächtnis bleiben.

Horst H. Geerken

Im Herbst/Winter 2016

Abb. 4: ‚The Great Game‘, der Einheimische wird vom russischen Bären und dem Löwen, dem englischen Wappentier, bedroht.11

1 Herodot, III. S. 102-105 und IV. S. 13-27

2 In manchen britischen Publikationen auch Georg genannt

3 Manche britische Publikationen nennen auch Österreich als Geburtsland, denn zu jener Zeit gehörte das Gebiet zu Österreich-Ungarn

4 auch Hunzukuc oder Hunzukuts

5 ,Mir‘ war der Titel des Herrschers

6 Algernon George Arnold Durand, The Making of a Frontier: Five Years of Experiences and Adventures in Gilgit, Hunza, Nagar, Chitral and the Eastern Hindu-Kush, 1900

7 Historisch Ostturkestan oder Chinesisch-Turkestan

8James Hilton, Der verlorene Horizont, ISBN 3-596-10916-7

9 Der Porzellanfabrikant und Bergsteiger Philip Rosenthal aus Selb war bereits in den 1960er Jahren im Hunzatal und am Nanga Parbat. Wie war es möglich, dass er zu jener Zeit das verbotene Land betreten konnte? Seinen Führer Sarbaz Khan aus Aliabad lud er nach Deutschland ein. Innerhalb nur eines Jahres lernte dieser die deutsche Sprache und einfache Porzellanherstellung, die er in Hunza weiterführte. Sarbaz Khan war zu jener Zeit sicherlich der einzige Hunzukutz, der Deutsch reden konnte. Wir haben aber 1998 mehrere Hunzukutz getroffen, die etwas Deutsch sprachen, vermutlich eine Folge des Tourismus. Wie uns die Bergführer auf der Märchenwiese beim Nanga Parbat erzählten, hat Philip Rosenthal auf einem Nebengipfel des Nanga Parbat eine Flagge aus Rosenthal-Porzellan aufgestellt. Das konnten wir zunächst nicht glauben, aber in Gulmit bekamen wir die Bestätigung durch Abdullah Baig, den Besitzer des Hotels Hunza Marco Polo Inn. Ob die Porzellanfahne wohl noch oben auf einem der hohen Gipfel steht?

10 Historisch Ostturkestan oder Chinesisch-Turkestan

11 Karikatur aus dem Punch Magazin vom 30. November 1878, Wikipedia Public Domaine

2. Vorwort

von Annette Bräker

Diese Reise war ein langgehegter Wunsch, der für uns 1998 in Erfüllung ging. Schon lange bevor ich vom Königreich Hunza gehört hatte, faszinierte mich der Name Gilgit und die damit verbundenen politischen Auseinandersetzungen zwischen den Kolonialmächten England und Russland, aber auch China, das sogenannte ‚Große Spiel‘! Ich wollte unbedingt einmal dort hin, und fing an, mich damit zu beschäftigen. Dabei stieß ich schnell auf das legendäre Königreich Hunza und dessen Rolle in diesem ‚Great Game‘ – wie die Briten sagten –, sowie auf den Karakorum Highway, die Straße, die unter Opferung von unzähligen Menschenleben erbaut wurde und von Islamabad in Pakistan bis Kashgar im Westen Chinas führt. Der Wunsch, jetzt ausgeweitet auf die Befahrung des Karakorum Highways, wäre sicherlich ein Wunschtraum geblieben, hätte nicht Horst den gleichen Traum schon länger als ich gehabt. Nun nahm der Plan, mit dem er mich überraschte, mehr und mehr Gestalt an. Wir trafen uns mit Hanne und Tonny Rosiny, die lange in Pakistan gelebt und diese Reise schon gemacht hatten. Tonny Rosiny war Diplomat und Autor und hatte bereits einige Werke über Pakistan veröffentlicht.12 Rosinys versorgten uns mit wertvollen Tipps und Adressen, die uns an Ort und Stelle weiterhelfen sollten.

Endlich, Ende April 1998, wurde der Traum wahr. Wir packten ein und wieder aus, solange bis wir unser Reisegepäck soweit reduziert hatten, dass jeder von uns nur noch einen ziemlich bescheidenen Rucksack mit einem Gewicht – inklusive der Bücher! – von unter zehn Kilogramm hatte. Mein Reisefieber spielte mit mir die üblichen Spielchen. Ich wurde von Tag zu Tag nervöser und hätte am liebsten die ganze Reise abgeblasen. Aber alles war vergessen, als wir endlich am 30. April 1998 mit British Airways von Manchester in Richtung Islamabad abflogen.

Diesen Reisebericht haben wir aus unseren Reisebriefen und Reiseberichten zusammengestellt. Die von Horst erstellten Teile des Berichts sind kursiv geschrieben.

Annette Bräker

Sommer 1998

12Pakistan, Drei Hochkulturen am Indus: Harappa, Gandhara, Die Moguln, Pakistan, Kunst, Pakistan, DuMont Reiseführer

3. Die Anreise nach Islamabad

Mit kleiner Verspätung flogen wir von Frankfurt ab und waren etwa eineinhalb Stunden später in Manchester. Dort angekommen fanden wir sofort ein ruhiges Plätzchen ganz in der Nähe eines wenig frequentierten Klos. Schließlich mussten wir sechs Stunden bis zum Weiterflug überbrücken. Dort streckten wir uns lang auf zwei Bänken aus und sanken sofort in einen Tiefschlaf. Allerdings erst, nachdem wir zwei von unseren Wein-Fläschchen, die wir aus dem Flugzeug mitgenommen hatten, geleert hatten. Das Essen war zwar bei British Airways recht spartanisch, aber mit dem Wein waren sie dafür umso großzügiger. Man bekam ihn in 0,2 Liter-Fläschchen und das so reichlich, dass man alle Taschen damit vollstopfen konnte. Wir sanken also sofort in Tiefschlaf, als wir die ruhige Ecke gefunden hatten. Von den sechs Stunden Aufenthalt in Manchester verschliefen wir drei, und daher verging die Zeit ‚wie im Fluge‘. Als wir dann unseren Anschlussflug nach Islamabad besteigen konnten, warteten wir fast bis zuletzt, weil wir schon in Frankfurt erfahren hatten, dass der Flug nicht voll ausgebucht war. So hatten wir gleich den Überblick, welche Bänke frei geblieben waren, und jeder von uns breitete sich sofort über eine ganze Sitzreihe aus, damit wir einen gemütlichen Platz zum Schlafen hatten. Ein offensichtlich deutsches Paar fand uns wohl reichlich unverschämt und bewarf uns bis zum Schluss mit empörten Seitenblicken, was uns – lang ausgestreckt auf unseren Liegeplätzen – in keinster Weise treffen konnte.

Von den Fluggästen waren 95 Prozent Pakistanis, und so sah es gegen Ende des Fluges auch aus. Chaos, Durcheinander, Dreck, die Toiletten schwammen und keinen störte es. Ein riesengroßer malerischer Afghane schritt mit einer Art Petrus-Stab bewaffnet ab und zu im Gang auf und ab und machte den ganzen Flug noch orientalischer. Wir verbrachten den Flug ganz entspannt im Liegen und schliefen wieder vier Stunden. Am Ende des Fluges hatten wir ausreichend Gabeln und Löffel im Gepäck. Man muss ja für alle Fälle gerüstet sein!

Horst hatte seelenruhig während der Durchsage des Stewards, dass die Einfuhr von Alkoholika nach Pakistan ‚strictly prohibited‘ sei, noch mehrere Fläschchen des wiederum reichlich verteilten Rotweins zu unserer Flasche Whisky und einer Flasche Fernet-Branca in sein Handgepäck gestopft. So landeten wir – der Muezzin fing gerade an zu rufen –, gut ausgeschlafen und mit einer eigenen Hausbar im Handgepäck, um sechs Uhr morgens in Islamabad. Ich war nun doch etwas nervös wegen der hochprozentigen Dinge, die wir in unserem Handgepäck hatten.

Der Flughafen wirkte von außen als würde er gerade abgerissen, von innen klein, schäbig und total chaotisch. Im Gegensatz zu diesem Eindruck ging dann alles ganz flott. In fünf Minuten waren wir trotz langer Schlangen durch die Passkontrolle, und während Horst unser Gepäck aus der genauso chaotisch wirkenden Menschenmenge am Gepäckband fischte, beobachtete ich, an welcher Stelle wir am einfachsten die teuflischen Getränke am Zoll vorbei ins Land schmuggeln konnten. Ich fand auch eine, wo eigentlich gar kein Durchgang war, aber immer wieder mal jemand mit kleinerem Gepäck durchgelassen wurde. Horst meinte, wir sollten unsere Pässe in die Hand nehmen, das mache einen guten Eindruck. Dann sollten wir, ohne nach links und rechts zu schauen, einfach schnell durchmarschieren. Tatsächlich: eine Minute später hatten wir alles hinter uns gebracht ohne einem Zollbeamten zu begegnen. Frechheit hat wieder mal gesiegt! Alles in allem hat die ganze Abfertigung nur 15 Minuten gedauert.

Wir tauschten noch ein wenig Geld und schon saßen wir im Taxi – ich eingeklemmt zwischen unseren Rucksäcken – und waren auf dem Weg ins Ambassador Hotel. Von dem Hotel erwarteten wir nach Mutters und Rosinys Auskunft ja nicht viel, aber wir wurden angenehm überrascht. Wir bewohnen vermutlich dasselbe Eckzimmer, das meine Eltern 1983 bewohnt hatten. Das Zimmer ist ordentlich und sauber wie auch das ganze Hotel, an dessen Eingangstür sogar ein malerisch maskierter – oder besser uniformierter – freundlicher Türwächter mit einem großen Gewehr steht, der immer hingebungsvoll die Tür aufreißt, auch wenn man gar nicht raus will.

Abb. 5: Der Türsteher

Obwohl wir uns gegenseitig seit unserer Ankunft hier in Islamabad davon vorgeschwärmt haben, wie angenehm es sei, wenn man so ausgeruht am Reiseziel ankommt, weil man im Flug liegen konnte und ausreichend Schlaf hatte, konnten wir ab zehn Uhr morgens die Augen kaum noch aufhalten, und jedes Mal wenn wir zwischen unseren ‚organisatorischen Ausflügen‘ – Reisebüro, Mittagessen, Autovermietung und wieder Reisebüro – nur in die Nähe der Betten kamen, fielen wir hinein und sofort in Tiefschlaf!

Inzwischen haben wir hier im Ambassador Hotel auch wieder vier Stunden geschlafen, aber in unseren Schaffensphasen dazwischen auch schon alles geregelt, was für unsere Weiterreise notwendig ist. Morgen früh wird uns um sieben Uhr ein Mietwagen hier abholen, der uns in zwei Tagen entlang des Industals nach Gilgit bringen wird. Eigentlich hat Horst alles geregelt und ich habe, brav angetan mit Schal über den Haaren, nur bescheiden daneben gesessen, wie es sich eben für ein islamisches Land gehört! Dafür erzählte mir der Vermieter des Autos, dass wir uns in seinem Wagen wie zuhause fühlen würden, weil der Chauffeur gut Englisch spreche und eine Uniform trage! Ich machte gleich ein glückliches Gesicht, damit er sich auch sicher sein konnte, dass wir zuhause auch einen uniformierten Fahrer haben. Der Schein muss gewahrt bleiben! Morgen geht‘s also los. Ich freue mich riesig! Es ist schon herrlich, wieder in orientalischen Gefilden zu sein.

Wie immer, wenn man sich einen Traum erfüllt, den man jahrelang in weiter Ferne gesehen hat, und dann tatsächlich am Anfang der Verwirklichung steht, das heißt in unserem Fall am Ausgangsort der Reise angekommen ist – so wie jetzt am 1. Mai 1998 in Islamabad –, kann man kaum glauben, dass das alles Wirklichkeit ist und man tatsächlich noch derselbe Mensch ist. Aber es ist wahr! Wir sitzen wirklich im schönen Garten des Ambassador Hotels und fühlen uns wohl.

4. Von Islamabad auf dem Karakorum Highway nach Gilgit

Heute ist bereits Sonntag, der 3. Mai. Vor zwei Tagen sind wir erst hier in Pakistan angekommen und ich weiß schon nicht mehr, wo ich mit dem Erzählen beginnen soll. Im Augenblick sitze ich in Gilgit auf der Terrasse vor unserem Zimmer.

Gestern fuhren wir um sieben Uhr am Morgen in Islamabad los. Dass wir einen Wagen mit Fahrer gemietet hatten, habe ich ja schon erwähnt. Das war am Nachmittag des 1. Mai. Am Abend, als wir im Garten des Ambassador Hotels auf unser Abendessen warteten, erschien plötzlich der Bruder des Besitzers der Autovermietung und ein Mister Nissar, der Manager, mit dem wir am Nachmittag verhandelt und den Mietvertrag abgeschlossen hatten. Sie setzten sich zu uns an den Tisch und redeten aufgeregt aufeinander ein. Wir verstanden nur Ortsnamen wie Gilgit, Chilas, Dasu und ähnliche. Mühsam kamen wir dahinter, dass sie uns offensichtlich überreden wollten, uns in nur einem Tag nach Gilgit karren zu lassen. Das wollten wir natürlich nicht, denn da hätten wir ja für einen Bruchteil des Preises auch fliegen können! Und vor allem wollten wir viel sehen und viele Stopps machen. Als sie merkten, dass wir uns nicht überreden ließen, wurde der Besitzer der Autovermietung persönlich herbeigerufen. Nun saß der auch noch an unserem Tisch, rund um unser Abendessen – das wir uns trotzdem schmecken ließen – und schlug ununterbrochen nervös die Knie zusammen, während sein Bruder ein Handy immer wieder hingebungsvoll ans Ohr hielt, obwohl niemand anrief und er auch niemanden angewählt hatte! So richtig sagten sie uns nicht, was sie wollten, aber sie taten immer so, als hätten sie nur unser Bestes im Sinn.

Als sie merkten, dass wir nicht breitzuschlagen waren, blieb schließlich alles beim Alten. Nur wurden wir noch ermahnt, den Fahrer ja nicht über Gebühr zu beanspruchen und ihn bloß nicht allzu sehr aufzuhalten. Der fünfjährige Sohn des Autovermieters, der auch noch dabei war und mit großen Augen auf unser Essen starrte, musste jedem von uns die Hand schütteln und zum Schluss erklärten uns alle, sie seien nur gekommen, um sich zu versichern, dass alles zu unserer Zufriedenheit sei!

Beim Wort ‚Zufriedenheit‘ fiel Horst noch eine ganz wichtige Sache ein, er fragte, ob der Mietwagen auch eine Klimaanlage habe! Aber der Pakistani an sich scheint nie um eine Antwort verlegen, er antwortete nämlich, ‚Air Condition‘ gäbe es erst nach dem 15. Mai!

Im Moment fangen alle Muezzins von Gilgit an, zum Gebet zu rufen und merkwürdigerweise fangen gleichzeitig auch alle Ziegen an zu schreien!

Gerade kommt Horst mit unserem letzten Fläschchen Bordeaux von British Airways, und das werden wir jetzt mit Blick auf den Gilgit-River vernichten.

Nach der Vernichtung des Weins war es dann zu dunkel zum Schreiben, denn mit der Elektrizität ist es nicht so toll hier. Die Lampen geben wenig Licht und andauernd fällt der Strom aus. Erst am Morgen des folgenden Tages geht es weiter im Text:

Von Islamabad fuhren wir – wie schon gesagt – morgens 07:15 Uhr in Richtung Gilgit los. Die ‚Uniform‘ unseres Fahrers bestand zwar nur aus dunkelblauer Hose und weißem Hemd und sein Englisch war weniger als mäßig, aber für diese Mängel entschädigte er uns durch seine ruhige und umsichtige Fahrweise. Wir lernten sie vor allem schätzen, als wir den Karakorum Highway, den KKH, erreichten.

Erst als wir aus Islamabad herauskamen, stellte sich ein richtiges Pakistangefühl ein. Auch wenn der Flughafen selbst sehr pakistanisch ist, wirkt doch Islamabad auffallend modern. Aber schon ein paar Kilometer hinter Islamabad wurde es sehr orientalisch: Kühe, Ziegen, Menschen, Karren, Autos, hoch beladene, bunt bemalte und hupende LKWs, Dreck und Gestank, alles durcheinander. Bis Taxila fuhren wir noch auf der Grand Trunk Road, und ab dort begann der KKH. Zuerst war noch unheimlich viel Verkehr, aber hinter Manshera, einem langgestreckten Nest, wurde es so leer auf der Straße, dass wir eine ganze Weile dachten, der Fahrer habe sich verfahren, und wir fühlten uns darin durch die Tatsache bestätigt, dass er an einer Abzweigung gezögert hatte, welchen Weg er nehmen solle. Da die Wegweiser und Ortsschilder hier fast ausschließlich in arabischer Schrift waren, dauerte es etwa eineinhalb Stunden, bis wir wussten, dass wir uns doch auf der richtigen Straße befanden.

Die Abzweigung in Manshera führte zu einer unbefestigten Piste über den 4173 Meter hohen Babusar-Hochgebirgspass. Nur 50 Kilometer östlich von hier erhebt sich der Nanga Parbat. Die unbefestigte Piste über den Pass mündet bei Chilas wieder in den KKH. Da diese Strecke nur von Mitte Juli bis Ende September mit einem Wagen mit Vierradantrieb befahrbar ist, wählte unser Fahrer natürlich die bessere Strecke entlang des Industals. Früher, bevor der KKH fertiggestellt wurde, war diese Piste über den Babusar-Pass eine wichtige Handelsverbindung nach Süden.

Abb. 6 und 7: Hoch beladene, kopflastige Lastwagen

Abb. 8: Rawalpindi bis Pishora

Nach dieser Abzweigung wurde die Landschaft immer wilder und gebirgiger, auch die Menschen in den Dörfern wirkten immer unbezähmbarer und unzugänglicher. Die Gesichter der Menschen wurden ernst, undurchdringlich bis abweisend. Je weiter wir auf dem KKH fuhren, desto mehr der Frauen waren total verschleiert, schließlich waren es mehr als die Hälfte.

Abb. 9: Auf dem KKH

Abb. 10: Marode Brücken unterwegs

Seit Dasu, wo wir die Nacht verbrachten, sah man fast gar keine Frauen mehr auf der Straße. Gestern Nachmittag sind wir hier in Gilgit angekommen und bis heute Nachmittag haben wir nur fünf Frauen entdecken können.

Von Thakot an schlängelt sich der KKH am rechten Ufer des Indus entlang immer weiter nach oben. Auf beiden Seiten des Flusses erheben sich düstere schwarzgraue und kahle Berge. Wütend stürzt der Indus dem Indischen Ozean entgegen. In Besham übertönte sein lautes Rauschen die eigene Stimme.

Abb. 11: Pishora bis Shatial

Hunderte von Inschriften und Bildern, die entlang des Indus in den Fels und große Steine geritzt wurden, sind wie ein Gästebuch der Seidenstraße. In vielen Sprachen wird hier die wechselvolle Geschichte dieser Verbindung zwischen China und dem Industal erzählt. Vom Industal aus gelangten früher die exotischen Güter in den Rest der Welt.

Hinter Besham kommt der berühmte Kilometerstein am Rande des KKH: Noch 975 Kilometer bis Kashgar! Ein Viertel der Strecke haben wir bewältigt.

Abb. 12: Noch 975 Kilometer bis Kashgar!

Abb. 13: Hängebrücke über den Indus

Aber zurück zu unserer Fahrt ab dem Moment, wo die Straße auf den Indus traf. Ab dort wurde sie wirklich unvorstellbar abenteuerlich und gefährlich. Man muss es gesehen haben! Eine wilde bedrohliche Gebirgslandschaft, die Straße nicht gesichert, auf der einen Seite steil abfallend – bis zu 150 Meter tief – zum Fluss, auf der anderen Seite ebenso steil aufsteigende Felswände zu den schneebedeckten Berggipfeln. Immer wieder kam man an Stellen, wo die Straße durch Erdrutsche zugeschüttet und einfach ein neuer Weg über den Erdrutsch geschaufelt worden war, der natürlich jeden Momentweiter abrutschen konnte. Jedes Mal, wenn wir über ein solches Stück fahren mussten, schickte ich schnell ein Stoßgebet gen Himmel! Und überall Steinschläge, aber die Steine, die dort herunter stürzen, sind eher mittlere Felsen. Einer, etwa so groß wie mein Wohnzimmer, muss kurz vor uns auf die Straße gekracht sein. Zum Glück war er so gefallen, dass wir uns mit dem Wagen gerade noch daran vorbeitasten konnten.

Abb. 14: Hindernisse auf dem KKH

Abb. 15: Ab und zu konnte man die Straße nur noch erahnen

Immer wieder mussten wir größere und kleinere Bäche durchfahren, die einfach mit großem Gebrause über die Straße flossen, und man befürchtete jedes Mal, mit in die Tiefe gespült zu werden. Zweimal fuhren wir sogar mitten durch einen Wasserfall.

Unserem Fahrer waren vor allem die Steinschläge unheimlich. Er hing während der gesamten Fahrt förmlich über dem Lenkrad, um die Berge hinaufsehen zu können, ob von oben irgendetwas auf uns herabzustürzen drohte. Vermutlich war Steinschlag auf dieser Fahrt auch die größte Gefahr. Jedenfalls kam es uns wie ein Wunder vor, dass wir nicht getroffen wurden.

Schon am Vormittag hatten wir den schon 1200 Meter hoch gelegenen Ort Abottabad passiert. Die Menschen in den nicht allzu vielen Ansiedlungen wirkten inzwischen wie dem Alten Testament entsprungen. In Dasu, das wir am späten Nachmittag erreichten, wollten wir zuerst im Regierungs-Gästehaus, dem CW-Guesthouse etwas oberhalb von Dasu, das wir uns aus Horsts Reiseführer herausgesucht hatten, unterkommen,. Das Essen sollte hervorragend sein, von einem ausgezeichneten kohistanischen Koch. Aber das Gästehaus wirkte völlig unbewohnt, und der Verwalter war unten im Ort. Wann er zurückkehren würde wusste niemand so genau. Daher beschlossen wir, unten im Dorf Dasu – das übrigens die Distrikt Hauptstadt Kohistans ist, weshalb ein kohistanischer Koch auch sicher nichts Außergewöhnliches ist – im Hotel Arafat direkt am Indus ein Zimmer zu nehmen. Das Zimmer hatte einen schönen Blick auf den Fluss, war sauber, aber muffig, und Strom gab es erst abends. Aber wenn‘s im Auto erst ab dem 15. Mai Klimaanlagen gibt, ist es nur recht und billig, wenn es im Zimmer erst abends Strom gibt! Der Koch im Hotel war ein kaschmirischer, was ich bemerkenswerter fand als einen kohistanischen. Er bekochte uns hervorragend, aber danach brauchten wir einen doppelten Fernet Branca und einen Whisky gegen das überreichliche Fett im Essen. Gegen Mittag hatten wir schon in dem kleinen Ort Besham in einem sehr einheimischen Gasthaus gegessen. An solch große Mengen Fett im Dhal, Gemüse und Reis – sie machen nie weißen Reis, sondern nur so eine Art fettigen Pilaw – sind unsere Mägen nicht gewöhnt. Es schmeckte uns zwar sehr gut, aber hinterher hatten wir das Gefühl, einen Klumpen Fett im Bauch zu haben.

Abb. 16: Dasu in einer grauen, öden Landschaft

Abb. 17: Dasu, Hotel Arafat

Horst hatte in dieser Nacht in Dasu Probleme, zur Ruhe zu kommen. Zuerst war auf der Brücke über den Indus, an der unser Hotel lag, ein Lastkraftwagen außer Rand und Band. Der Fahrer hupte ununterbrochen, dann gab es im Restaurant unter uns großes Palaver, als sich zwei in die Haare bekamen. Als schließlich die Außenwelt zur Ruhe gekommen war, schnarchte ich! Ich bekam von den nächtlichen Ereignissen nichts mit. Das Letzte, was ich noch hörte, waren das Rauschen des Indus und die Donnerschläge der riesengroßen Felsbrocken, die laufend von den Bergen zu Tal stürzten, aber ansonsten schlief ich die ganze Nacht hervorragend! Horst hatte aber in dieser Nacht vom 2. auf den 3. Mai wilde Träume:

In der Nacht hatte es immer wieder stark geregnet, wie auch schon tags zuvor während unserer Autofahrt durch die Berge. Meine ersten Worte am Morgen waren: ‚Anita hat in der vergangenen Nacht einen gesunden Jungen geboren‘, und ich erzählte Annette meinen Traum: ‚Meine Nichte Anita lief mit einem ganz dicken Bauch im Zimmer auf und ab und hatte ein Glas in der Hand, aus dem sie immer wieder trank. Schließlich verschwand sie in ihrem Schlafzimmer. Kurz darauf kam sie lächelnd zurück und hatte ihren Jungen auf dem Arm und zeigte ihn mir‘.

Der Traum war so realistisch, dass ich gleich eine Postkarte an Anita sandte, und am 21. Mai erhielten wir in Gulmit die Geburtsanzeige: Genau in dieser Nacht hat Anita ihren Jungen geboren!

Am nächsten Morgen, kurz nach 8:00 Uhr, fuhren wir weiter. Bis Chilas sollte die Strecke noch sehr durch Steinschlag gefährdet sein, und das sahen wir dann auch überall. Hier im Karakorum stoßen die eurasische und asiatische Platte aufeinander, und daher ist die Erde in diesem Gebiet so unruhig. Es ist schon grandios, durch diese Landschaft und auf dieser halsbrecherischen Straße zu fahren, aber mir war auch schon ganz schön mulmig dabei. Besonders wenn man über einen Bergrutsch, über eine Behelfsbrücke – weil die ursprüngliche weggerissen ist – oder um riesige Felsbrocken auf der Straße herum balancieren muss.

Chilas war früher ein gefährliches Räubernest. Heute ist es ein beliebter Handelsplatz, an dem sich mehrere Wege kreuzen. Hier trifft die Piste über den Babusar-Pass wieder auf den KKH. Hinter Chilas wurde das Tal dann weiter und man fühlte sich freier, auch unser Fahrer. Die Landschaft ist karg und unwirtlich und nur bei den Siedlungen sieht man grüne saftige Flecken. Es sind Oasen, die mit Wasser, das von den Gletschern durch Kanäle zu den Ansiedlungen geleitet wird, bewässert werden. Und nur da, wo eine Bewässerung möglich ist, findet man menschliche Siedlungen.

Kurz hinter Chilas stand plötzlich das Nanga-Parbat-Massiv in seiner vollen Größe und Pracht vor uns und erstrahlte in der Morgensonne. Es hatte sich aufgehellt und die Sonne zeigte sich endlich. Was für ein gigantischer Anblick! Man konnte den Blick nicht mehr von diesem Berg lassen. Die Tage zuvor hatte es immer wieder ziemlich stark geregnet, was die Fahrt nicht weniger unheimlich machte.

Wir kamen an eine Abzweigung mit dem Wegweiser ‚Fairy Meadows‘. Die berühmte Märchenwiese mussten wir kurz besuchen, und baten unseren Fahrer den Schotterweg hochzufahren, was er auch – wenn auch etwas widerwillig – tat. Die Märchenwiese liegt etwa 3500 Meter hoch im Rakhiot-Tal. Wenn man aus dem wüstenähnlichen Industal hier hoch kommt, wird man von blühenden Bergwiesen überrascht. Hier nahmen die vielen deutschen Nanga-Parbat-Expeditionen ihren Anfang. Das Basislager lag nur wenig höher, konnte aber nur noch zu Fuß erreicht werden.

Der Nanga Parbat – der nackte Berg – gehört mit seinen 8125 Metern Höhe zu den zehn höchsten Bergen der Welt. Die nach Süden gelegene Bergwand ist mit 4500 Metern die steilste und höchste der Erde. Der Nanga Parbat gilt unter Alpinisten als der am schwierigsten zu besteigende Berg. Viele Alpinisten und einheimische Träger sind hier ums Leben gekommen. Hier herrschen oft Temperaturen weit unter 0°C, und ständige Windböen um 100 km/h machen eine Besteigung fast unmöglich. Erfrierungen sind noch das kleinere Übel.

Ende der 1800er Jahre kam das Bergsteigen in England in Mode. In London wurde der erste ‚Alpine Club‘ der Welt gegründet. Der Brite Alfred Mummery war 1885 der erste Alpinist, der versuchte, den Nanga Parbat zu bezwingen. Im August brach er mit zwei Trägern auf. Alle drei wurden von einer riesigen Lawine begraben. Sie wurden nie gefunden.

Ab Juli 1932 gab es einige Erstbesteigungsversuche deutscher Alpinisten. Alle endeten in einer Tragödie. Auch der erfahrene deutsche Alpinist und Expeditionsleiter Willy Merkel kam in Schneestürmen ums Leben. 1934 starben vier deutsche Alpinisten mit sechs einheimischen Sherpas am Berg. Es wurden nur Höhen von etwas über 7000 Metern erreicht.

Nachdem 1936 die Deutsche-Himalaya-Stiftung gegründet wurde, startete 1937 die dritte Nanga-Parbat-Expedition des Dritten Reichs unter der Führung des Münchners Karl Wien mit einer Mannschaft von erfahrenen Bergsteigern. Am Fuße des Nanga Parbat wurde eine Gedenktafel für die getöteten Bergsteiger der Merkel-Expedition angebracht. Auch die Expedition unter Karl Wien endete in einem Desaster. Sieben deutsche Bergsteiger und neun Sherpas wurden unter einer Lawine begraben. Die überlebenden Sherpas flüchten ins Tal. Sie waren sich sicher, dass die Berggöttin