Der Kasernendieb - Tobias Wolff - E-Book

Der Kasernendieb E-Book

Tobias Wolff

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Beschreibung

Sommer 1967: Während Boeing auf Hochtouren Bomber für den Vietnamkrieg produziert, wird vor den Kasernen gegen den Krieg demonstriert. Auch vor Fort Bragg in North Caroline, wo neue Rekruten zu Fallschirmjägern ausgebildet werden, darunter Bishop, Hubbart und Lewis.Wie so viele haben sie sich gemeldet, um der Enge der amerikanischen Provinz zu entkommen, dem Mief ihrer Elternhäuser. Die Abscheu vor dem unaufhörlichen Drill im Fort und die Panik vor den Grauen des Krieges sind das Einzige, was sie wirklich zusammenhält. Zwangsläufig mündet ihre Freundschaft - noch bevor sie eigentlich beginnt - in Entfremdung, und die Rekrutenschule wird zur Schule des Lebens.

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Tobias Wolff

Der Kasernendieb

Novelle

Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert

Gatsby

I

Als seine beiden Söhne noch klein waren, gewöhnte Guy Bishop sich an, abends auf dem Weg ins Bett einen Blick in ihr Zimmer zu werfen. Er sah auf sie nieder, wie sie dalagen und schliefen, dann setzte er sich in den Schaukelstuhl und lauschte ihrem Atmen. Er war ein Mann, der nie bei einer Sache geblieben war, unterwegs von Stadt zu Stadt, von Arbeit zu Arbeit und, auch nach seiner Heirat noch, von Frau zu Frau. Doch wenn er im Dunkeln zwischen seinen beiden schlafenden Söhnen saß, hatte er nicht das Bedürfnis, irgendwo anders zu sein.

Manchmal machte ihm dieses Gefühl des Friedens Angst, so unnatürlich schien es. Am meisten befürchtete er, seine Kinder irgendwie in Gefahr zu bringen, ja, sie dem Unglück auszuliefern, wenn er sie zu sehr liebte. Es gab Tage, da war er sich ganz gewiss, dass etwas Böses sich ihrer bemächtigen würde. Als die Jungen älter wurden, hatte er diese Angst etwas seltener, aber ab und zu überkam sie ihn immer noch. Dann versuchte er sich vorzustellen, welche Gestalt das Böse annehmen könnte, aus welcher Richtung es wohl kommen mochte. Wenn er solche Gedanken hatte, schloss er immer die Augen, schüttelte kurz den Kopf und konzentrierte sich auf etwas Angenehmeres.

Hin und wieder traf er sich mit einer Frau. Sie hatten viel Spaß miteinander, und mehr wollten sie beide nicht, zumindest nicht am Anfang. Dann kam die Zeit, da ging es ihnen schlecht, wenn sie nicht zusammen waren. Sie kamen überein, sich zu trennen, schafften es aber nicht. Manchmal wachte Guy Bishop nachts weinend auf. Irgendwann überlegte er, sich umzubringen, aber die Frau nahm ihm das Versprechen ab, es nicht zu tun. Als er es nicht länger aushielt, verließ er seine Familie und zog zu ihr.

Das war im Oktober. Keith, der jüngere der Söhne, hatte gerade auf der Highschool angefangen. Philip hatte noch zwei Jahre bis zu seinem Abschluss vor sich. Guy Bishop glaubte, sie seien alt genug, um diese Veränderung zu akzeptieren, ja an ihr zu wachsen, realistischer und anpassungsfähiger zu werden. Die meisten Sorgen machte er sich um seine Frau. Er wusste, dass sie unter dem Zerbrechen ihrer Ehe furchtbar leiden würde, und er bemühte sich, alles so zu arrangieren, dass ihr Leben, abgesehen davon, dass er sie verließ, weiterhin in den gewohnten Bahnen verlief. Er überschrieb ihr das Haus, und jeden Monat schickte er ihr den größten Teil seines Gehalts, behielt nur so viel, wie er zum Leben brauchte.

Philip lernte tatsächlich, ohne seinen Vater zurechtzukommen, hauptsächlich, indem er ihn verachtete. Seine Mutter schlug sich auch wacker, besser, als Guy Bishop erwartet hatte. Alle paar Wochen brach sie zusammen, aber die meiste Zeit war sie fest entschlossen, gute Laune zu verbreiten. Nur Keith war niedergeschlagen. Er konnte nicht aufhören zu trauern. Ihm kamen schnell die Tränen, manchmal ohne ersichtlichen Grund. Die beiden Jungen waren einander nah gewesen; jetzt ging Philip zu Keith auf Distanz, selbst wenn er ihn tröstete. Zwischen ihnen lagen nur anderthalb Jahre, aber auf einmal schienen es fünf oder sechs zu sein. Eines Nachts, als Philip von einer Party nach Hause kam, rüttelte er Keith wach, er wollte sich mit ihm aussprechen, aber nachdem Keith aufgewacht war, schüttelte ihn Philip immer weiter und sagte kein Wort. Eine der Katzen hatte bei Keith geschlafen. Sie machte einen Buckel, starrte Philip mit aufgerissenen Augen an und sprang auf den Boden.

»Du musst auch mithelfen«, sagte Philip.

Keith sah ihn einfach nur an.

»Du Scheißkerl«, sagte Philip. Er stieß Keith ins Kissen zurück. »Heul schon«, sagte er. »Los, heul schon.« Er wünschte sich wirklich, dass Keith weinte, weil er ihn gern in die Arme nehmen wollte. Aber Keith schüttelte nur den Kopf und drehte das Gesicht zur Wand. Seitdem behielt er seine Gefühle für sich.

Im Februar verlor Guy Bishop seinen Arbeitsplatz bei Boeing. Er erzählte allen, die Firma würde Leute entlassen, aber genau das Gegenteil war der Fall. Es war 1965. Präsident Johnson hatte die Bomber auf Nordvietnam losgelassen, und Boeing hatte mehr Aufträge für neue Flugzeuge, als zu schaffen war. Von überall wurden Leute geholt, von Lockheed und Convair, Jungs, die frisch von der Uni kamen. Anscheinend konnte jeder bei Boeing arbeiten, bloß Guy Bishop nicht. Philips Mutter rief die Frauen einiger Männer an, die vielleicht wussten, wo der Haken an der Sache war, aber entweder hatten sie nichts gehört, oder sie sagten es nicht.

Guy Bishop fand eine andere Arbeit, aber er hielt nicht lange durch, und kurz vor den Schulferien bot Philips Mutter das Haus zum Verkauf an. Sie verschenkte ihre fünf Katzen bis auf eine und nahm einen Job als Kassiererin in einem Innenstadtkino an. Da hatte sie auch 1945 gearbeitet, als sie Guy Bishop kennenlernte. Das Haus war innerhalb eines Monats verkauft. Ein pensionierter Captain von der Küstenwache nahm es. Er fuhr fast jeden Tag mit seiner Frau am Haus vorbei, manchmal parkten sie mit laufendem Motor davor.

Philips Mutter mietete eine Wohnung in West-Seattle. In diesem Sommer arbeitete Philip als Ferienlager-Trainer, und während er fort war, zogen sie und Keith nochmals um, nach Ballard. Im Herbst wurden die beiden Jungen an der Ballard-Highschool angemeldet. Diese Schule war viel größer als ihre vorherige, und es war schwer, Leute kennenzulernen. Philip blieb mit seinen alten Freunden in Verbindung, aber jetzt, da sie nicht mehr auf der gleichen Schule waren, hatten sie sich wenig zu sagen. Wenn er mit ihnen auf Partys ging, hockte er am Ende meistens allein im Wohnzimmer, sah fern oder unterhielt sich mit irgendwelchen Eltern, während alle anderen im Freizeitkeller Blues tanzten.

 

Nach einer dieser Partys saßen Philip und der Junge, der ihn mitgebracht hatte, in dessen Wagen, ließen einen Pappbecher Wodka hin- und hergehen und redeten darüber, was sie früher alles gemacht hatten. Irgendwann bei ihrem Gespräch wurde Philip klar, dass sie keine Freunde mehr waren. Ihm war unbehaglich, und er stieg aus dem Auto. Da stand er und starrte das inzwischen dunkle Haus auf der anderen Straßenseite an. Er wollte irgendetwas tun. Am liebsten wäre er richtig betrunken gewesen.

»Ich muss weg«, sagte der andere Junge. »Mein Dad will, dass ich heute früh zu Hause bin.«

»Einen Augenblick«, meinte Philip. Er hob einen Stein auf, wog ihn in der Hand und warf ihn auf das Haus. Eine Fensterscheibe zerbrach. »Einer erledigt«, stellte Philip fest. Er hob einen zweiten Stein auf.

»Herrgott«, sagte der andere Junge. »Was machst du da?«

»Fensterscheiben einschmeißen«, antwortete Philip. In dem Augenblick ging im oberen Stockwerk ein Licht an. Er warf den Stein, aber der traf nicht und knallte gegen die Hauswand.

»Ich hau ab hier«, sagte der andere Junge. Er startete den Wagen, und Philip stieg wieder ein. Er fing an zu lachen, als sie wegfuhren, obwohl er wusste, dass das, was er getan hatte, nicht witzig war. Der andere Junge starrte geradeaus und sagte gar nichts. Philip konnte sehen, dass er angewidert war. »Warte mal«, sagte Philip und griff nach dem Ärmel der Nehrujacke, die der andere Junge trug. »Nicht zu fassen. Wo hast du die Nehrujacke her?« Als der andere Junge nicht antwortete, sagte Philip: »Sag nichts – sie gehört deinem Dad. Deswegen will er dich heute Abend früh zu Hause haben. Er will wissen, wo seine Nehrujacke ist.«

Als sie zu Philips Apartmenthaus kamen, saßen sie eine Zeit lang da, ohne etwas zu sagen. Schließlich meinte Philip: »Es tut mir leid«, und streckte seine Hand aus. Doch der andere Junge wandte sich ab.

Philip stieg aus. »Ich ruf dich an«, meinte er, und als keine Antwort kam, fügte er noch hinzu: »Mit der Nehrujacke, das war doch bloß ein Witz. Die hat bestimmt ganz toll ausgesehen, vor zwanzig Jahren oder so.«

 

Philip hatte immer auf das Reed College gehen wollen, doch als er die Highschool beendete, waren seine Noten so schlecht, dass er nur mit Glück durch die Abschlussprüfung kam. Reed schickte ihm einen Formbrief mit der Ablehnung, desgleichen die University of Washington, seine zweite Wahl. Er suchte sich einen Job als Hilfskellner in einem Motelrestaurant und blieb der Wohnung möglichst fern. Keith war immer da, ließ Schallplatten laufen oder hing einfach bloß rum; seine Traurigkeit war offensichtlich, obwohl er sich eine coole Sprechweise angewöhnt hatte. Philip hatte den Verdacht, dass er oft high war, aber er wusste nicht, was er dagegen tun sollte, ob er überhaupt etwas tun sollte. Obwohl ihm Keith leidtat, konnte Philip ihn immer weniger ausstehen. Er wollte jeden Ärger mit ihm vermeiden, um seine Abneigung nicht noch zu verstärken. Außerdem genehmigte er sich ab und zu selber einen Joint. Dann fühlte er sich interessant – geistreich, sensibel, hellwach.

Manchmal brachte der Besitzer des Kinos, wo Philips Mutter arbeitete, sie nach Hause. Eines Abends, als Philip selbst spät heimkam, sah er, wie die beiden im Wagen saßen und sich küssten. Er machte auf dem Absatz kehrt und ging die Straße wieder hoch. Am nächsten Tag weigerte er sich, mit ihr zu sprechen, ihr auch nur den Grund dafür zu erklären, obwohl er wusste, wie theatralisch und unfair er sich aufführte. Schließlich brach sie in Tränen aus. Philip saß da und las und hörte sie in der Küche schluchzen. Er sprang auf, dachte zuerst, sie hätte sich verbrannt. Er fand sie über die Spüle gebeugt, das Gesicht in den Händen vergraben. Was war passiert mit ihnen? Wo waren sie? Wo waren ihr Zuhause, ihre Katzen, ihr Garten? Wo war das gute nachbarschaftliche Verhältnis, die Liebe ihrer Familie? Alles weg.

Philip tat sein Bestes, um sie zu beruhigen. Es war nicht leicht, aber nach einer Weile kam sie mit auf einen Spaziergang, und er riss sich zusammen. Philip wusste, er war im Unrecht gewesen. Er sagte seiner Mutter, es tue ihm leid, und seine Launen hätten nichts mit ihr zu tun – er sei bloß ein bisschen überreizt. Sie drückte seinen Arm. So geht das nicht ewig weiter, dachte Philip. Schweigend drehten sie weiter ihre Runden durch den kleinen Park. Es war August und immer noch warm, aber die Bänke waren leer. Ab und zu landete eine Taube mit lautem Flattern, sah sich um und flog wieder fort.

 

Ihr früherer Gemeindepfarrer hatte Freunde bei den ortsansässigen Jesuiten. Er schaffte es, dass die Seattle University Philip probeweise aufnahm. Das war eine gute Universität, aber Philip wollte von zu Hause weg. Im September zog er nach Bremerton und schrieb sich dort am Junior College ein. Tagsüber versuchte er, im Unterricht wach zu bleiben, und nachts arbeitete er auf der Werft der Navy, machte in Lagerhäusern Inventur und wich Gabelstaplern mit unfähigen Fahrern aus.

Philip lernte nicht viele Leute in Bremerton kennen, aber manchmal, wenn er um Mitternacht von der Arbeit kam, ging er mit ein paar Seeleuten von der Wachmannschaft einen trinken. Bremerton war ein ruhiger Hafen für sie, nach einem Jahr Vietnam. Sie hatten mitgekämpft, und einige von ihnen waren verwundet worden. Sie hatten alle eine leichte Meise. Philip verstand ihre Witze nicht, und wenn er trotzdem lachte, sahen sie ihn schief an. Sie redeten über »Zivilistenärsche«, als wäre er nicht dabei.

Die Marinesoldaten duldeten Philip, weil er ein Auto hatte, einen alten Pontiac, den er für fünfzig Dollar auf einer Polizeiversteigerung gekauft hatte. Er chauffierte sie zu verschiedenen Bars und manchmal zu Partys, dann zurück zur Werft, durch neblige, feuchte Straßen, und während sie lachten und aus dem Fenster schrien und sich mit Bier bespritzten, versuchte er wach zu bleiben. Wenn einer von ihnen in eine Schlägerei verwickelt wurde, stiegen die anderen sofort darauf ein, Fragen wurden nicht gestellt. Philip war oft entgeistert über ihre Rohheit, aber manches Mal, wenn er sie abgesetzt hatte und ihnen nachsah, wie sie zusammen durch das Tor gingen, beneidete er sie.

An Weihnachten bat ihn seine Mutter, mal ein Wort mit Keith zu reden. Keith war schlecht in der Schule, und kurz vor den Ferien hatte ihn ein Lehrer erwischt, wie er in einem Besenschrank einen Joint rauchte. Er war allein gewesen, was Philip grotesk vorkam. Wenn er sich Keith vorstellte, wie er dort im Dunkeln, zwischen all den Besen und Putzmitteln und Klopapierrollen, ganz allein vor sich hin paffte, dann wurde ihm richtig schlecht. Den Direktor von einer Anzeige bei der Polizei abzuhalten, war Philips Mutter nur gelungen, indem sie zur Schule ging und ihn anbettelte, »vor ihm auf dem Bauch kroch«, wie sie es ausdrückte. Stattdessen war er für zwei Wochen vom Unterricht ausgeschlossen worden.

»Ich werde mit ihm reden«, versprach Philip, »aber es wird nichts bringen.«

»Vielleicht doch«, meinte sie. »Er bewundert dich. Weißt du noch, wie er dir immer alles nachgemacht hat?«

Sie saßen im Wohnzimmer. Philips Mutter rauchte und hatte die Füße auf den Sofatisch gelegt. Ihre Zehennägel waren rot lackiert. Sie merkte, wie Philip darauf starrte, und konzentrierte sich weiter auf ihren Drink.

»Ich komme mit meinem Leben nicht weiter«, sagte Philip. Er stand auf und trat ans Fenster. »Ich melde mich freiwillig«, verkündete er. Die Idee hatte er schon seit einiger Zeit gehabt, aber als er sich das sagen hörte, war er doch überrascht und verspürte einen Anflug von Angst.

Seine Mutter beugte sich vor. »Du meldest dich freiwillig? Wie kommst du denn darauf?«

»Falls du noch nichts davon gehört hast«, erwiderte Philip, »es ist gerade Krieg.« Es klang falsch in seinen Ohren, und er merkte, dass es auch für seine Mutter falsch klang. »Ich will es eben«, meinte er und zuckte mit den Schultern.

Seine Mutter setzte ihr Glas ab. »Wann?«

»Ziemlich bald.«

»Lass mir noch ein Jahr«, bat sie. Sie stand auf und ging zu Philip hinüber. »Oder wenigstens ein halbes. Versuch doch zu verstehen. Die Sache mit Keith bringt mich völlig durcheinander.«

»Keith«, sagte Philip und schüttelte den Kopf. Schließlich willigte er ein, ein halbes Jahr abzuwarten.