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Peter Berger

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Beschreibung

Das hat ihm gerade noch gefehlt. Gerade erst wieder gesundgeschrieben und dann diese Schnapsidee. Der Kriminalbeamte Major August Meixner, ein "Kiberer" wie er im Buche steht, wird mit der Leitung einer neuen Sonderkommission beauftragt. Die ihm unterstellten Mitarbeiter könnten unterschiedlicher nicht sein. Da sind Konflikte vorprogrammiert. Der erste Fall der Sonderabteilung für Schwerkriminalität - interne Angelegenheiten - kurz SASK/IA - führt die ungleiche Truppe in die Justizanstalt Stein bei Krems. Dort verschwinden offensichtlich junge Häftlinge spurlos. Was als Hirngespinst einer verwirrten Hochschwangeren begann, entwickelt sich zu einem perfiden Konstrukt aus Machtgelüsten, Gier und Hinterlist. Und Meixner stolpert mitten hinein, in diesen Sumpf seelenloser Abgründe, wo der Mensch zur Ware degradiert und das Gewissen zweitrangig wird.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Peter Berger

Der Kiberer

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Inhaltsverzeichnis

Was ist ein Kiberer?

1. Abstellgleis

2. Perspektiven

3. Konfliktpotential

4. Erster Fall

5. Irrwege

6. Auf Reisen

7. In Not

8. Offenbarungen

9. Vergangenheit

10. Zugriff

11. Recherche

12. Die berühmte Leiche im Keller

13. Alte Freunde

14. Feierabend

15. Die berühmte Leiche im Keller II

16. Taktik? Vorschlaghammer!

17. Wiedersehen

18. Flucht

19. Rot

20. Ein Skorpion als Haustier

21. Geistesblitze

22. Ruhe vor dem Sturm

23. Kleine Fische, große Fische

24. Abschied

Sehr geehrte Leserin, werter Leser!

Impressum

Was ist ein Kiberer?

Der Ausdruck Kiberer (auch Kieberer, Kiwara) für den einzelnen Polizisten, für die Organisation der Polizei: Kiberei (auch Kieberei, Kiwarei), wird in Österreich, speziell in Wien, umgangssprachlich für „Polizist“ bzw. als Bezeichnung für die gesamte Polizei verwendet.

Die Bezeichnung leitet sich aus dem rotwelsch-jiddischen Begriff „Kiewisch“ für Kiebitz ab und wird umgangssprachlich eher abwertend, insbesondere für Kriminalbeamte, verwendet. Als Kiebitz wurden Beamte, welche die Sperrstunde von Gaststätten überwachten, bezeichnet.

„Da Kiebitz,

durch´s Fenster linst er,

da Wirt schenkt aus in da Finster!“

(Alt-Wiener Redewendung)

1. Abstellgleis

Montag, zeitig am Morgen

Kalter Wind. Immer dieser kalte Wind. In dieser Stadt geht immer der Wind. Major August Meixner versucht seinen Kopf weit in den aufgestellten Kragen seines Mantels zu stecken. November, diese trostlose, nebelverhangene Zeit zwischen warmem Spätherbst und dem drohend näher rückenden Weihnachtswahnsinn drückt jedes Jahr ganz besonders auf sein Gemüt. Sein Blick fällt auf seine Schuhe, während er sich über die Pflastersteine des Michaelerplatzes, vorbei an der Hofburg, in Richtung Innenministerium in der Herrengasse schleppt. »Wie, verdammt nochmal, bin ich auf die Idee gekommen, bei dem Sauwetter durch die halbe Stadt hierher zu Fuß zu hatschen?«, flucht er leise. Die Schuhe haben auch schon bessere Zeiten gesehen, deutliche Gebrauchsspuren und abgestoßenes Leder zeichnen ein perfektes Gesamtbild seiner eigenen Person. Meixner muss an den Moment denken, als er sich diese Schuhe gekauft hat. Oder besser, als er sie kaufen musste. »Ein Mann mit Stil braucht Schuhe mit Stil!«, sagte seine Frau damals. Als hätte er sich selbst jemals als Mann mit Stil gesehen. In seinen Augen braucht man Schuhe, um seine Füße zu schützen. Dafür tut es auch die Massenware aus dem 08/15 Schuhgeschäft. Er selbst wäre nie auf die Idee gekommen, sich italienische Lederschuhe mit genagelter Sohle von irgendeinem schick klingenden Designer zu kaufen. Und nach eineinhalb Jahren sind sie auch so gut wie hinüber. Unvermeidlich muss er nun an jenen Urlaub denken, an dem das Unheil seinen Lauf nahm. Nicht wegen der Schuhe. Wegen der Frau.

In Gedanken versunken wäre Meixner beinahe an seinem Ziel vorbeigelaufen. Herrengasse 7. BMI, Bundesministerium für Inneres. Das letzte Mal, als er hierherkam, war es zur Angelobung als Kriminalbeamter. Noch fünf Minuten Zeit bis zu dem verordneten Termin. Zimmer 5a, 2. Stock. Ministerrapport. Meixner hat absolut keine Ahnung, was ihn bei dem Termin erwartet. Er ist erst seit gestern wieder als dienstfähig befunden.

Das letzte Jahr war eine reine Tortur für ihn. Scheidung, Depression und dieser Zwischenfall im Dienst. Dafür wurde er bereits gerügt, darum kann es wohl nicht gehen. Auch seinem Vorgesetzten, Oberst Josef Fenz, waren am Telefon kaum Informationen zu entlocken. »Gustl, schau, dass du einmal pünktlich bist! Und mach a gescheites Bild, schau aus wie a Polizist!«, waren seine Worte als er ihn von dem Termin in Kenntnis setzte.

Noch vier Minuten, eine schnelle Zigarette geht sich noch aus.

»Nachdem ich mit den Schuhen sowieso schon kein gescheites Bild mache, wird´s auch egal sein, dass sich die Rasur nicht mehr ausgegangen ist«, denkt Meixner, während er in seinen Manteltaschen nach dem Feuerzeug sucht. Endlich gefunden, betrachtet er das klobige Benzinfeuerzeug einen kurzen Augenblick. >>In Liebe und Dankbarkeit, Barbara<< steht eingraviert in dem glänzenden Metall. Er zündet sich seine Zigarette an und inhaliert einen tiefen Zug. »Vielleicht sollt ich damit diese verdammten Schuhe anzünden«, entkommt ihm ein Gedanke.

Ein Blick auf die Uhr, nachdem er seinen Glimmstängel ausgetreten hat. »Jetzt wird der Fenz wieder im Dreieck springen«, denkt Meixner und schreitet durch das imposante Eingangstor in den Innenhof der Behörde.

»Was wollen Sie hier? Verirrt? Die Caritas ist wo anders!«, hört Meixner eine Stimme, als er in das Foyer tritt.

Meixner macht einen tiefen Luftzug, bevor er sich umdreht. Eine junge Beamtin mit der Statur einer Straßenlaterne steht vor ihm, die Hände in die Hüften gestützt, ein provokant wirkender Gesichtsausdruck macht Meixner die Sache nicht unbedingt leichter.

»Hör zu, i bin auch bei der Heh, schon a bissl länger als Sie. Und i hab´ es eilig, ich muss zum Minister«, versucht Meixner die Beamtin abzuwimmeln.

»Kann ein jeder sagen, Sie schauen nicht aus wie ein Kollege. Und außerdem müssen Sie sowieso zuerst durch die Sicherheitskontrolle!«, sagt sie in einer zum Gesichtsausdruck passenden Manier.

Meixner spürt, wie es in seinem Kopf langsam heiß aufsteigt.

»Pupperl, du schaust auch ned aus wie eine Polizistin und bist trotzdem eine. Meixner mein Name. Major Meixner. Ich muss zum Minister, Zimmer 5a, und zwar jetzt!«

Die Beamtin macht jedoch keine Anstalten, ihm in irgendeiner Weise entgegenzukommen.

»Erklären Sie das meinem Chef, denn den ruft das Pupperl jetzt an, Sie bleiben hier stehen!«, entgegnet die spindeldürre, etwas zu groß gewachsene Beamtin mit zickigem Ton.

»Außerdem kann das nicht stimmen, mit dem Minister. Denn der ist gar nicht da, der ist in Brüssel!«

Nun reicht es, Meixner muss der aufsteigenden Wut ein Ventil verschaffen.

»Bravo, erzählst du das jedem Dahergelaufenen, wie, wo, wann der Minister ist? Denke, das ist nicht der Sinn einer Sicherheitsbeamtin, die Zugangskontrollen machen soll. Also, i geh jetzt, wenn dein Vorgesetzter unbedingt von der Sicherheitslücke in seiner Truppe erfahren soll, er findet mich in Zimmer 5a. Und noch was, ich vergesse das mit der Caritas, und du das Pupperl, ham ma uns?«, entfährt es Meixner mit energischer Stimme.

Er dreht sich um, lässt die Straßenlaterne einfach stehen und hastet über die Stiegen in den 2. Stock.

»Na da schau her, der Herr Major gibt uns doch noch die Ehre seines Erscheinens«, plustert Fenz.

»Gustl, du hast jetzt ein ganzes Jahr ausschlafen können, wo warst denn, wir warten schon auf dich?«

Meixner kann fast den Rauch unter Fenz Schuhen sehen, so muss er schon im Kreis gelaufen sein.

»Die Sicherheitskontrolle hat a bissl länger gedauert, die haben geglaubt, ich hab´ mich verirrt und bin ein Sandler oder so…«, will Meixner sich rechtfertigen.

»Wundert mich nicht«, entspringt es der zweiten Person im Raum.

»Darf ich vorstellen, das ist der Herr Staatssekretär Vasky, er vertritt den Innenminister bei diesem Termin«, klärte Fenz Meixner auf.

Meixner mustert den Mann, der absolut nicht der Vorstellung eines angestaubten Politikers ähnelt, den man in so einem Amt vermuten würde. Er kann gerade mal Mitte 30 sein, sportliche Statur, profilstarke Gesichtszüge, stechend blaue Augen, gehüllt in einen maßgeschneiderten Anzug, sicherlich auch von einem dieser schicken Designer. Und dann noch diese italienischen Lederschuhe. Er wirkt fast wie ein Klon des neuen Ministers.

»Wissen Sie, warum Sie hier sind, Major Meixner?«, wendet sich der Staatssekretär an ihn.

»Nein, Herr …ähm… Sekretär, absolut nicht. Vielleicht gut so, sonst wäre ich gar nicht gekommen!«, antwortet Meixner leicht genervt.

»Mein Name ist Mag. Vasky und ich bin Staatssekretär. Nun, ich muss sagen, ich habe schon viel von Ihnen gehört, Meixner, es entspricht alles absolut der Wahrheit. Sie sind wirklich nicht besonders umgänglich, um es höflich auszudrücken.«

»Gustl, reiß dich zamm«, unterbricht Fenz den Staatssekretär, bevor Meixner die Chance erhält, sich noch weiter in Misskredit zu bringen.

»Josef, ich glaube, wir haben genug Arbeit, oder haben während meiner Abwesenheit die Verbrechen aufgehört. Dass ich ein Ungustl bin, dafür braucht es keinen Staatssekretär, das hat mir meine Ex-Frau schon zu verstehen gegeben. Ich will wieder arbeiten, also wenn wir hier dann fertig sind, mach ich mich auf den Weg ins Kommissariat.«

»Deswegen bist du hier, Gustl. Du wirst nicht mehr zurückkommen in die Mordkommission. Und jetzt setz dich hin und hör zu, wenn du so gnädig wärst!?«, tadelt Fenz den schon zur Tür gewandten Meixner.

Der Schock dieser Nachricht fährt Meixner wie ein Blitz ins Gebein. Wie von selbst macht er kehrt und lässt sich in den Sessel vor dem Schreibtisch von Fenz fallen. Ein Jahr lang hat er gekämpft, um überhaupt aus dem Bett zu kommen, sein Leben neu zu ordnen. Um nun endlich wieder etwas Regelmäßigkeit in die Überreste seines Lebens zu bekommen. Wieder zu arbeiten. Nicht, dass er die Gewalttaten, das Gesindel und den Abschaum, mit dem er es oft während des Dienstes zu tun hatte, besonders vermisst hätte. Aber etwas Sinnvolles zu tun, seine Ermittlungsarbeit, das, was er am besten kann, gab ihm im letzten Jahr die Kraft doch weiterzumachen. Und seine Tochter. Vor allem seine Tochter. Wie es ihr wohl geht, das letzte Telefonat ist schon eine Woche her. Seine Gedanken beginnen zu vagabundieren. Ob in London auch immer der Wind weht?

»Der Minister hat eine neue Sonderkommission ins Leben gerufen. Und Sie sollen sie leiten, Meixner!«, holt ihn der Staatssekretär zurück ins Hier und Jetzt.

Oh mein Gott, eine SOKO, denkt Meixner. Es scheint so etwas wie ein Hobby des neuen Innenministers zu sein, für alles Mögliche eine Sonderkommission zu gründen. SOKO Grenze, SOKO Burgenland, SOKO KFZ-Diebstahl. Und als Draufgabe vor kurzem die berittene Polizei in Niederösterreich. Gerade noch hat Meixner mit einer frühzeitigen Pensionierung oder einem Posten im tiefsten Kellerarchiv gerechnet. Was sonst sollte man mit einem ja offensichtlich nicht besonders umgänglichen, leicht ergrauten Kriminalbeamten machen? Man sucht ihm ein Abstellgleis, auf dem er keinen Schaden anrichten kann.

»Aha. Eine SOKO. Und welche SOKO ist es diesmal? Abgängige Haustiere?«, wendet sich Meixner abwertend an den Staatssekretär.

»Sonderabteilung Schwerkriminalität, interne Angelegenheiten, kurz SASK/IA. Sie wurden mir von Oberst Fenz als Idealbesetzung empfohlen. Ich muss ihnen sagen, ich teile seine Ansicht keineswegs. Ich kenne ihre Dienstakte, Sie sind ein Grenzgänger, was die Auslegung der Dienstvorschriften betrifft. Doch scheinen Sie ein engagierter Ermittler zu sein, der keine Scheu hat, jemandem auf die Füße zu treten. Sie sind als Leiter der SASK/IA direkt Oberst Fenz unterstellt, welcher laufend Bericht an mich abliefern wird. Sie stehen unter Beobachtung, also verhalten Sie sich angemessen Ihrer Position als leitender Kriminalbeamter. Alles Weitere wird Ihnen Oberst Fenz erläutern, ich muss zu einer Pressekonferenz. Meine Herren, es liegt an Ihnen!«, verabschiedet sich der Staatsekretär nach seinen Ausführungen.

Mit skeptischem Blick schüttelt er zuerst Fenz, dann Meixner die Hand und verlässt mit zackigem Schritt das Büro. Als die Tür hinter dem Staatssekretär ins Schloss fällt, blickt Meixner mit verstörtem Blick zu Fenz.

»Gustl, bevor du jetzt in die Höhe gehst, lass mich eines klarstellen! Das ist deine letzte Chance. Das Kommando wollte dich schon auf einen dauerhaften Innendienst-Posten versetzen. Doch ich weiß um deine Qualität als Kriminalist. Ich habe mich für dich stark gemacht, lass mich also nicht dumm aussehen! Dein Handeln schlägt sich auf mich nieder. Sieh es als einmalige Chance!«, versucht Fenz Meixner den Wind aus den Segeln zu nehmen.

»Und was genau macht diese SOKO? Interne Angelegenheiten, was soll das bedeuten?«, fragt Meixner.

»Es geht dabei vorwiegend um Fälle, die den Polizeiapparat nicht unbedingt gut aussehen lassen. Also Verbrechen, die das Bild der Polizei in der Öffentlichkeit beschädigen oder beeinträchtigen könnten. Alles, was für besondere Aufmerksamkeit und negative Publicity sorgt…«

»Dafür gibt’s doch die interne Revision?«, antwortet Meixner leicht verwirrt.

»Der Minister will in solchen Fällen vorangehend Ermittlungen der SASK/IA, um sich nicht im Nachhinein für Ermittlungspannen im eigenen Haus rechtfertigen zu müssen. Denk an die ganzen Untersuchungsausschüsse! Ich sag nur Kampusch! Eure Fälle werden direkt vom Innenministerium handverlesen und zugeteilt«, führt Fenz seine Erklärung weiter aus.

»Was meinst du mit EUREN Fällen? Wer ist noch dieser Schnapsidee zugeteilt?«, fragt Meixner, während er sich die Hand vor die Augen hält.

»Hier hast du die Akten deiner neuen Mitarbeiter. Sie wurden in Abstimmung mit dem Staatssekretär ausgewählt. Ich erwarte vorbildhaftes Verhalten ihnen gegenüber! Dein Büro wird im Untergeschoss des Kommissariats eingerichtet, das Archiv ist vor zwei Monaten hierher ins Ministerium übersiedelt, die Räume stehen leer«, sagt Fenz, während er Meixner einige Umschläge reicht.

»Sag jetzt nicht, ich krieg ein paar ehemalige Postler vor die Nase gesetzt, mit denen ich mich jetzt in den Keller hocken kann?«, trotzt Meixner seinem Vorgesetzten, während er flüchtig den Inhalt der Umschläge überfliegt.

»Nein, es sind alles Kriminalbeamte. Und ein Angestellter. Es wird noch etwas dauern, bis ihr eure Räumlichkeiten in vollem Umfang nutzen könnt, aber ein Platz zum Arbeiten ist schon vorhanden, die erforderliche Infrastruktur kommt nach und nach. Du bist nicht in der Position große Forderungen zu stellen, Gustl. Sei froh, dass du noch bei der Polizei bist. Ab morgen beginnt eure Arbeit, vermassle es nicht, Gustl!«, ermahnt Fenz ihn ein letztes Mal, bevor Meixner sich verabschiedet und Büro 5a verlässt.

Am Weg nach unten versucht er seine Gedanken zu ordnen, doch das geht wohl besser bei einer Melange in seinem Stammbeisl. Als er das Foyer betritt, wirft ihm die Straßenlaternen-Beamtin noch einen missbilligenden Blick zu, Meixner quittiert ihr Verhalten mit einem freundlichen Nicken. Insgeheim ist er wohl froh, ihren Vorgesetzten doch nicht auch noch gegen sich aufgebracht zu haben.

2. Perspektiven

Montag, am Vormittag

Es gibt in Wien nur eine Möglichkeit, wo der beißend kalte Herbstwind weicht. Wenn es regnet. Durchnässt betritt Meixner das kleine Lokal am Eck gegenüber seiner Wohnung. Der Mantel ist alles andere als wetterfest, auch die abgenutzten italienischen Schuhe haben gegenüber den regennassen Straßen aufgegeben. Bei jedem Schritt klingt es, als ob man in einem Fass voller Schlamm herumstapft.

Das Lokal hat keinen besonderen Charme, es ist ein einfaches Wiener Beisl. An der Theke sitzen wie immer um diese Zeit dieselben Bauarbeiter bei ihrem fünften Mittagsbier, diskutieren wie jeden Tag über dieselben Themen. Flüchtlinge, Fußball und Frauen. Im hintersten Eck sitzt wie jeden Tag der alte Mann mit seinem Hund und nuckelt an seinem Kaffee. Besonders heute drängt sich der Geruch des nassen Tieres Meixners Nase auf. Herr Bund heißt der alte Mann, und wie immer sitzt er mit aufgeschlagener Zeitung an dem Tisch, unter dem ein Wassernapf für seinen Hund Wasti steht. Jeden Tag ist Meixner im letzten Jahr hier gewesen. Und jedes Mal betrachtet er den alten Mann mitleidig. Am heutigen Tage mit besonderem Mitleid. Denn er sah sich kurzzeitig schon selbst in dem alten Mann. Falls man ihn in den vorzeitigen Ruhestand geschickt hätte. So gesehen ist die SOKO vielleicht nicht die schlechteste Sache, die ihm heute widerfahren ist. Meixner hängt seinen triefend nassen Mantel an einen Haken der Garderobe gleich hinter der gläsernen Eingangstür und lässt sich auf seinem Stammplatz nieder.

»Wie immer, Herr Inspektor?«, fragt Elfi, die Betreiberin des Beisls.

Wie er diese Bezeichnung doch hasst. Inspektor. Immer wenn Elfi ihn so begrüßt, drehen sich die restlichen Gäste um und mustern ihn. Gleich darauf senken die beiden Bauarbeiter an der Theke ihre Stimme, denn die Polizei hört ja mit.

»Ja, Elfi, wie immer«, antwortet Meixner. Er nickt den beiden Bauarbeitern zu und wirft ihnen einen direkten Blick entgegen.

»Brauchts ned leiser reden, i kenn eure Gschichtln eh schon auswendig!«, sagt Meixner zu den beiden.

Elfi bringt Meixner seine Melange, das obligatorische Glas Wasser und ein Stück vom hausgemachten Apfelstrudel. Heute ist Montag, also ist er wirklich frisch. Mit dem Apfelstrudel verhält es sich wie mit Elfi selbst. Über die Woche wirft er immer mehr Falten und wirkt etwas weniger frisch. Elfis Gesicht ist gezeichnet von einer bewegten Vergangenheit. Trotz dicker Schminke lässt sich erkennen, dass diese Frau schon einiges erlebt hat. Ihre Haare hat sie wohl schon länger nicht mehr schwarz nachgefärbt, der weißgraue Nachwuchs ist deutlich zu erkennen. Früher selbst Stammgast in diversen Gaststätten, dem Alkohol nicht abgeneigt, ist sie irgendwann an den falschen Mann geraten. Und doch hat sie sich wieder aufgerappelt, nachdem ihr damaliger ihr zugemuteter Ehemann sie mehrmals krankenhausreif geprügelt hat. Sie hatte Meixner zu jener Zeit um Hilfe gebeten, und dieser verschaffte mit seiner direkten Art, Konfrontationen zu lösen, dem prügelnden Ehegatten eine neue Weltanschauung. Nun gut, ein paar Wochen schaute er auf die Zimmerdecke eines Krankenhauses. Oft erscheint es Meixner, Elfi sei mit diesem Lokal verwachsen. Es passt einfach zu ihr.

Elfi setzt sich gegenüber von Meixner. »Und, Herr Inspektor, sind wir wieder im Dienst? Verlier ich jetzt einen Stammgast?«, fragt Elfi mit einem leichten Lächeln.

»Wie oft soll i dir noch erklären, sag ned Inspektor. I bin der Gustl. Und ja, bin wieder in Amt und Würden, mehr oder weniger, weiß das selbst noch nicht so genau…«, antwortet Meixner leicht genervt, während er sich seine Umschläge zurechtlegt. War vielleicht nicht die schlaueste Idee, mit den Kartonumschlägen durch den Regen zu spazieren, schießt es Meixner durch den Kopf.

»Du bist auch a Stehaufmandl, Inspektor, wie ich. Unkraut vergeht ned«, sagt Elfi, tätschelt leicht die Hand von Meixner und geht zurück hinter die Theke.

»Chefin, ans nemma no!«, ruft ihr bereits einer der Bauarbeiter entgegen.

Meixner nimmt den ersten Umschlag, öffnet ihn und widmet sich dem Inhalt, um seine zukünftigen Kollegen in Augenschein zu nehmen.

>>Gratzer, Michael, Leutnant<< steht auf dem ersten. 34 Jahre alt, Polizeiausbildung mit Auszeichnung abgeschlossen, ein Jahr lang beim Einsatzkommando Cobra. Stammt aus einer Polizistenfamilie, Vater war bis zur Pension Postenkommandant in einem kleinen steirischen Ort. Hat per Abendschule die Matura nachgeholt. Einige Auffälligkeiten fallen Meixner beim Überfliegen der Akte auf. Es gab einige Dienstaufsichtsbeschwerden, meist von seinen direkten Kollegen. Ließ sich vom Einsatzkommando zu einem Kommissariat in einem Wiener Arbeiterbezirk versetzen. Von dort schaffte er es zur Kriminalpolizei, Abteilung Raub. Auch hier wurde eine Beschwerde eingereicht, von einer Beamtin.

>>Liebmann, Mag, Brigitte, Leutnant<< titelt der nächste Personalakt. 31 Jahre, Jusstudium abgeschlossen, danach direkt zur Rechtsabteilung im Innenministerium. Von dort Blitzkarriere, eine der jüngsten Kriminalbeamtinnen des Landes. Vater Richter am Wiener Landesgericht für Strafsachen, Mutter Professorin an der Wirtschaftsuniversität. Zuletzt in der Abteilung für organisiertes Verbrechen tätig, Pressesprecherin und zuständig für Öffentlichkeitsarbeit.

>>Sarif, Dipl. Ing, Rashid<< So lautet der Name des Polizeiangestellten. 29 Jahre alt. Hat in Amerika IT-Wissenschaften studiert, arbeitete zuletzt an der Technischen Universität in Hamburg, danach in Wien. Seine Eltern stammen aus Palästina, er selbst wurde in Wien geboren und ist hier aufgewachsen. Verheiratet, zwei Töchter im Alter von 6 und 8 Jahren.

Ein Paradepolizist, jedoch Sorgenkind, eine karrieregeile Juristin und ein Computerfuzzi. Na bravo, das kann was werden, denkt Meixner, während er den letzten Schluck seiner inzwischen kalt gewordenen Melange trinkt. Er zückt sein Handy und versucht wieder einmal verzweifelt die Bildschirmsperre zu entfernen. Dieses neumodische Gerät hat ihm seine Tochter letzte Weihnacht besorgt, denn damit kann man auch videotelefonieren. Ohne dieses Argument hätte er es nie in Betrieb genommen, aber die Möglichkeit, seine in London lebende Tochter zumindest hin und wieder auf dem Bildschirm zu sehen, war es mehr als wert, sich mit dem Ding herumzuschlagen. Endlich entsperrt, sucht er in den Kontakten nach Fen.z. Der Tippfehler war ihm passiert, als er versuchte die Nummer einzuspeichern. Wenn Pia das nächste Mal in Wien auf Besuch ist, muss sie ihm das ändern. Selbst wird er es nicht versuchen. Beim letzten Versuch, sich durch die unendlichen Weiten des Smartphones zu klicken, waren auf einmal sämtliche Menüs auf Türkisch umgestellt. Nur dank Ömer, dem Dönerladenbesitzer seines Vertrauens, kann er nun zumindest die grundlegenden Funktionen wieder in Muttersprache bedienen.

»Josef, das wird nix…«, eröffnet Meixner das Telefonat.

»Red gar ned weiter. Entweder leitest du die SOKO und fügst dich oder such um Frühpension an. Schau dir morgen die Leute an und behandle sie anständig, ich kenn dich!«, bremst Fenz Meixners Beschwerde.

Meixner legt einfach auf. Früher konnte er seinen Vorgesetzten meistens in die Richtung biegen, die ihm gelegen war. Doch das Wort Frühpension alleine reichte aus, um ihn in die Knie zu zwingen. Meixners Blick fällt sofort wieder auf den alten Mann in der Ecke, der gerade seinen Hund tätschelt, um gleich danach wieder die einstudierte Bewegung mit dem Kaffeehäferl zu den Lippen zu vollziehen. Zum gefühlten millionsten Mal. »Was soll´s, lang wird’s die SOKO ned geben, danach geht’s wieder an richtige Arbeit, von mir aus geh ich dann auch zu den Giftlern!« denkt Meixner und meint damit die Abteilung für Suchtmittelmissbrauch.

»Elfi, zahlen bitte!«, ruft Meixner in Richtung Theke.

»Komm schon, Herr Inspektor!«, antwortet Elfi.

Meixner bezahlt seinen Kaffee und den Apfelstrudel, schnappt sich seinen nach wie vor triefend nassen Mantel und verlässt mit noch immer nassen Schuhen das Lokal.

»Jetzt geh ich mir neue Schuhe kaufen!« fasst Meixner einen festen Entschluss.

Irgendwie fühlt er sich besser. Er kann es nicht einordnen, ist es die bevorstehende Aufgabe oder dass er endlich diese verhassten italienischen Schuhe loswird.

Montagabend

Meixner sitzt in seiner kleinen Wohnung. Zum ersten Mal seit einem Jahr hat er es geschafft anständig Ordnung zu schaffen. Keine herumliegenden Zeitungen, kein schmutziges Geschirr, keine vollen Aschenbecher, keine schmutzige Kleidung auf dem orangefarbenen Sofa. Das Sofa passt gar nicht in die Wohnung. Pia hat es ausgesucht, nachdem sie es im Internet gefunden hatte. Für ihn war nur der funktionelle Nutzen von Interesse, also dass man darauf fernsehen und schlafen kann. Doch für eine Tochter, die noch dazu Kunstgeschichte studiert, war es ein farbenfroher Tupfer in der sonst trostlosen Wohnung. »Ein Kontrast zum Grau!«, nannte es Pia. Ganz hatte Meixner das nicht verstanden, jedoch war es um sein Kunstverständnis allgemein nicht gut bestellt.

Im Badezimmer surrt die Waschmaschine vor sich hin. Er konnte sich an die Bedienung des Gerätes gar nicht sofort erinnern. Meixner geht in die Küche, öffnet das Fenster und steckt sich zufrieden eine Zigarette an. Bisher war es ihm egal, dass der blaue Dunst überall in der Wohnung hing und es morgens immer nach kaltem Rauch stank. »Irgendetwas ist heute geschehen«, denkt Meixner. Es steckt ja doch noch ein normaler Mensch in dieser Hülle. Er streicht sich mit der Hand über das frisch rasierte Kinn. Der ungepflegte Bart ist Geschichte. Vielleicht war es eine Art Trotzreaktion, dass er ihn sich hat stehen lassen. Seine Frau hasste Bärte und schon beim kleinsten spürbaren Stoppel wurde er sofort zur Körperpflege in das Badezimmer beordert. Hin und wieder vermisst er das Haus, in dem sie damals alle zusammen als Familie lebten. Doch dann denkt er an die damit verbundene Arbeit, das Rasenmähen im Sommer, das Schneeschaufeln im Winter. Und die immer utopischer werdenden Vorstellungen der Gattin. Pool. Sauna. Wintergarten. Und schon gefällt es ihm in seiner unromantischen, einfachen und absolut Deko-freien Wohnung wieder. Mit dem orangen Sofa. Zwecks Kontrasts. Und einem neuen Paar Schuhe, aus billigem Kunstleder vom 08/15 Schuhgeschäft, in der Garderobe.

3. Konfliktpotential

Dienstagmorgen

Mit noch geschlossenen Augen tastet sie hastig nach ihrem Handy. Das Lied, welches der Wecker mit schrillem Ton wiedergibt, war einmal ihr Lieblingslied gewesen. Doch da sie davon jeden Morgen unsanft aus dem Schlaf gerissen wird, erzeugt die Melodie nur mehr puren Hass in ihr. Als der Refrain zum dritten Mal angestimmt wird findet sie das unsäglich nervende Ding endlich im Spalt zwischen Kopfteil und Matratze. Als sie die Uhrzeit am Display erblickt fährt es wie ein Stromschlag durch ihren Körper.

»Shit, verdammte Schlummerfunktion, ich bin zu spät!«, schimpft sie mit sich selbst, während sie wie vom Blitz getroffen aus dem Bett Richtung Badezimmer stürmt.

Mit verklebten Augen späht sie in das Spiegelbild, welches ihr der Badezimmerschrank zuwirft. Es ist nicht das Bild der taffen, redegewandten Beamtin, welches sie immer zu pflegen versucht. Die langen, dunkelbraunen Haare leicht verfilzt und weit vom Haupt abstehend, die Schminke vom Vortag zeichnet ein weiteres, schreckliches Bild des letzten Abends.

Nach dem Streit mit ihrem Vater, wobei es wieder einmal um ihre berufliche Zukunft und den weit auseinanderklaffenden Vorstellungen mit dem Herrn Papa ging, war der lockere Abend mit ihrer besten Freundin Silvia eine willkommene Ablenkung. Sie war schon zu lange nicht mehr in der angesagten Cocktailbar in der Innenstadt gewesen. Sie ist sich auch sicher, dass sie dort die einzige Person war, welche einen alkoholfreien Cocktail nach dem anderen in sich schüttete. Doch das Spiegelbild verrät ihr, dass es doch schlauer gewesen wäre früher heimzugehen. Vor ein paar Jahren wäre sie mit zu wenig Schlaf noch einen Marathon gelaufen, doch seitdem vor ihrem Alter ein Dreier steht, scheint es immer mehr bergab zu gehen.

Schnell werden die Haare gekämmt, die Verunstaltung des Gesichtes aufgehoben und neues Makeup aufgetragen. Im Handumdrehen blickt wieder die selbstbewusste, attraktive Frau aus dem Spiegel. Zumindest optisch.

Auf dem Weg hinunter über die Stufen Richtung Haustüre hört sie die Stimmen ihrer Eltern. Es geht noch immer um dasselbe Thema. Ihre Mutter versucht Partei für ihre Tochter zu ergreifen, stößt beim Herrn Richter jedoch auf taube Ohren.

»Diese Stelle ist eine Sackgasse! Wofür haben wir sie studieren lassen? Sie ist schon einunddreißig! Langsam reicht es mit den Flausen und Abenteuern. Vielleicht verstehst du es erst, wenn sie von einem Kriminellen umgebracht wird! Willst du das, Herta? Ich hab´ jeden Tag mit denen zu tun als Richter!«, poltert der Vater Richtung Mutter.

»Sie ist ein kluges Mädchen. Sie hat ihren eigenen Kopf. Je mehr du gegen sie wetterst, desto eher treibst du Brigitte in diesen Job!«, entgegnet die Mutter.

Sie schnappt sich ihre Jacke und verlässt fluchtartig das Haus. »Wie erbärmlich bist du eigentlich, Brigitte. Mit einunddreißig noch bei den Eltern zu wohnen. Bist wohl doch nicht die so taffe Beamtin, die du gerne wärst!«, denkt sie bei sich. Sie steigt in ihren Mercedes, wendet in der großen gepflasterten Einfahrt und macht sich, vom Ärger über sich selbst getrieben, auf ihren neuen Arbeitsweg.

Bereits am Hernalser Gürtel zerfallen ihre Hoffnungen, doch noch pünktlich am neuen Arbeitsplatz zu erscheinen, zu Staub. Der allmorgendliche Stau unzähliger zur Arbeit fahrender Fahrzeuge bringt den Verkehr zum Erliegen.

»Na super, das macht ja ein tolles Bild beim neuen Vorgesetzten!«, ärgert sie sich über sich selbst.

Sie hat von Kollegen schon einiges über ihn erfahren, den Major Meixner. Er hat einige der schwierigsten Mordfälle gelöst, scheint innerhalb der Mordkommission jedoch eine eher gefürchtete Legende zu sein. Jedes Mal, wenn sie seinen Namen fallen ließ, wurde sie mit großen Augen angestarrt. Sie solle auf sich aufpassen. Der würde über Leichen gehen. Ein paar Mal wurde er sogar als korrupt und als Spezi von Unterweltgrößen bezeichnet. Doch sie wollte sich ein eigenes Bild von dem Herrn Major machen.

Als die Stelle ausgeschrieben wurde, zögerte sie keinen Moment, um sich darum zu bewerben. Nicht wegen der aussichtsreichen Karriere oder um Punkte beim neuen Minister sammeln zu können. Auch nicht wegen eines hohen Einkommens, welches es im gesamten Apparat der Polizei sowieso nicht gibt. Jobs mit diesen Beweggründen hatte ihr ihr Vater bereits mehrmals angeboten. Referatsleiterin im Justizministerium, Juristin am Höchstgericht. Lauter Schreibtischjobs, wo dem Töchterchen ja nichts passieren kann. Und wo der Herr Papa jede Möglichkeit ergreifen würde, ihr unter die Nase zu reiben, dass sie diese Anstellung nur ihm zu verdanken habe. Nein, so geht das nicht weiter. Rein zum Trotz bewarb sie sich um die Stelle in einer Sonderkommission. Bei der Erklärung der Stellenbeschreibung vor ihren Eltern hat sie sogar noch etwas ausschmückend übertrieben. Waffen und Nahkampfausbildungen etc. Doch als sie damals, beim Abendessen, den Namen Meixner gegenüber ihrem Vater fallen ließ, war dieser knapp am Rande eines Herzinfarkts. Vielleicht sollte sie ihren neuen Chef mal zum Abendessen mitbringen?

Lautes Hupen reißt sie aus ihren Gedanken. Die Ampel beginnt bereits wieder grün zu blinken, der Autofahrer in dem BMW hinter ihr hängt sich bereits aus dem Fahrerfenster, um laut schimpfend seinen Unmut ihr gegenüber zu äußern.

»Schleich di, du Trampel, reiß o mit deim Stern!«, hört sie in original wienerischem Dialekt. Bei dunkelorangem Ampelsignal fährt sie los, öffnet das Fenster und quittiert die Bemerkung des nachfolgenden Fahrzeuges noch kurz mit einem gestreckten Mittelfinger. Wenn das der Herr Papa gesehen hätte!

*****

»Na geh, was is des für ein Klumpert?«, schimpft er und rüttelt noch fester an dem Automaten. Bereits den dreifachen Betrag hat er in den Schlitz eingeworfen, doch leider weigert sich die Maschine den gewünschten Kaffee zu servieren. Er tritt zornig gegen den Sockel des Automaten.

»Sogar Polizisten werden von der Polizei schon beschissen!«, sagt er zu einem zufällig vorbeikommenden Passanten, welcher kopfschüttelnd einen schnelleren Schritt einlegt.

»Der Münzeinwurf ist da oben, neben dem Eurosymbol«, sagt eine Stimme hinter ihm.

Er dreht sich um und sieht eine dunkelhäutige Person mit Kinnbart, Brille und einem Laptop unter den Arm geklemmt. Selbiger wirft eine Münze in den Automaten, wählt die Taste für >>Mokka schwarz<< und wartet, bis der Automat das gewünschte Gebräu fertig zubereitet hat.

»Na, du musst es ja wissen, mit Kaffee kennt ihr euch ja aus!«, sagt er zynisch zu seinem Gegenüber.

»Wie meinen Sie das, wer sind wir?«, fragt der Laptopträger etwas beleidigt.

»Ich mein nur, passt schon. Geh, lass mich jetzt zum Automaten! Ohne Kaffee lauf ich nicht rund.« Er schmeißt die Münze nun in den richtigen Schlitz und wählt >>Café Latte<<.

»I mag mein Kaffee eher hell. Ohne den Sud, wo der Löffel stecken bleibt!«, kommentiert er seine Auswahl.

»Haben Sie irgendein Problem?«, fragt der Laptopträger nun schon sichtlich erbost.

»Na, i vertrag nur keine Klugscheißer vor meinem ersten Kaffee«, kläfft er zurück, dreht sich von dem Mann weg und schreitet den Flur entlang.

Genau in dem Moment, als er durch die Glastür zurück in den Eingangsbereich des Kommissariats gehen will, fliegt ihm selbige mit einer ruckartigen Bewegung entgegen. Ein etwas unbeholfener Seitwärtsschritt verhindert zwar, von der auffliegenden Flügeltüre getroffen zu werden, jedoch ergießt sich das so hart erkämpfte Heißgetränk vom Hemdkragen abwärts bis zum Gürtel.

»So eine Scheiße, hast keine Augen im Schädl, Prinzessin?«, schimpft er. »Schau, wie ich jetzt ausschau!«

»Ja, seh ich. Und das Hemd ist auch voller Kaffee!«, antwortet die durchaus attraktive Frau.

Fassungslos starrt er die unverfroren grinsende Frau in ihrem dunkelblauen Businesskostüm an. Mit leicht geöffnetem Mund und braunem Fleck über den gesamten Oberkörper wirkt er, als fehle ihm irgendein Enzym. Doch als die größte Frechheit empfindet er es, als sie sich einfach umdreht, weitergeht und ihn hier wie einen Idioten stehen lässt.

*****

»So ein Prolet, der hat mir noch gefehlt!«, rümpft sie die Nase, als sie den Flur entlangschreitet. Ein hastiger Blick auf das Handydisplay, sie ist schon zehn Minuten zu spät. Wo ist das verdammte Büro UG17?

»Entschuldigen Sie, ich suche Büro UG17?«, fragt sie einen uniformierten Kollegen, welcher ihr entgegenkommt und laufend an seinem Funkgerät herumhantiert.

»Schau i aus wie a Atlas? Da vorne ist die Information!«, keift sie der Beamte an, während über sein Funkgerät eine krächzende Stimme seine weitere Aufmerksamkeit erfordert.

»Heut san alle deppert!«, gibt er noch von sich, macht eine eindeutige Handbewegung vor seiner Stirn und geht weiter seines Weges.

»Typisch uniformierte Streifenhörnchen«, denkt sie, macht ebenfalls kehrt und geht den Flur entlang zurück.

»Hoffentlich ist der Kaffeeheini nicht mehr da«, sagt sie zu sich selbst, »der fehlt mir noch zu meinem Glück!«

»Guten Tag, mein Name ist Brigitte Liebmann, ich gehöre zur neuen Sonderabteilung. Mein Büro soll auf Zimmer UG17 sein, wo finde ich dieses?«, wendet sie sich gezwungen höflich an die Dame hinter dem Informationsschalter.

»Gleich hier rechts die Stufen hinunter, folgen Sie immer der Beschilderung >>ARCHIV<<. Ihre Kollegen sind eh schon unten!«, antwortet die Dame, ohne sie dabei auch nur eines Blickes zu würdigen.

Leicht verstört macht sich Liebmann auf den Weg die Stufen hinunter. Grauer Beton an den Wänden, Fliesen aus den sechziger Jahren, leicht flackerndes Licht aus den Neonröhren, wie sie üblicherweise in Kellerräumen zu finden sind. »Hier soll das Büro der neuen Sonderkommission sein?«, denkt sie bei sich und sieht sich suchend um. Am Ende des Ganges erkennt sie ein grünes Schild mit der Aufschrift >>ARCHIV<< und einem Pfeil nach rechts. Sie schreitet den Gang weiter entlang, folgt dem nächsten Gang nach rechts und traut im ersten Moment ihren Augen nicht.

Neben der grünen Metalltür, auf welcher ein Schild mit der Aufschrift UG17 ARCHIV angebracht ist, steht der Kaffeeheini, knöpft sich sein Sakko zu und versucht so, die Sauerei, welche der verschüttete Kaffee angerichtet hat, zu verdecken. Mit mehr oder weniger erfolgreichem Ausgang, er wirkt eher wie ein unbeholfener Teenager vor seinem ersten Date. »Um Gottes Willen, das ist der Meixner…«, denkt sie, als sie den Mann erblickt. Sie kann sich keinen Millimeter weiterbewegen, der Schreck ist ihr ins Gesicht geschrieben. Mit leicht geöffnetem Mund ist nun sie diejenige, welcher offensichtlich ein Enzym fehlt. Der Mann wirkt zwar jünger als sie ihn sich vorgestellt hat, aber die Art und Weise, wie er sie bei dem Missgeschick mit dem Kaffee angefaucht hatte, passt perfekt zur Beschreibung ihrer Kollegen. »Da kommst du eh schon zu spät und dann auch noch das! Damit hast du dir dein eigenes Grab geschaufelt!«, resümiert sie ihr erstes Aufeinandertreffen mit dem neuen Vorgesetzten.

*****

Er bemerkt die Person, welche soeben den Flur betreten hat, zuerst gar nicht. Verzweifelt versucht er sein Sakko zuzuknöpfen, doch die braunen Flecken am Kragen kann er nicht verbergen. Als er aufblickt und die Frau in ihrem blauen Kostüm sieht, steigt augenblicklich die Hitze in seinem Kopf auf.

»Du! Was suchst du da? Für eine Entschuldigung ist es schon zu spät, darauf kann i gern verzichten, außer du zauberst ein frisches Hemd aus deinem Hintern, Prinzessin!«, entfährt es ihm wutentbrannt in Richtung der sichtlich erschrockenen Frau.

»Es tut mir tatsächlich leid. Ich wusste ja nicht… dass Sie… Ich war schon sehr in Eile, ich hab´ hier heut meinen ersten Arbeitstag und komm zu spät…«, stammelt sie verlegen.

»Bist du in der SASK/IA? Das darf nicht wahr sein. Da hast du dir einen guten Einstand geleistet!«, fährt er sie sofort wieder an.

»Herr Major, es tut mir wirklich leid!«, versucht sie sich zu rechtfertigen. »Brigitte Liebmann mein Name. Ich bin ihre neue Mitarbeiterin. Ich hoffe, wir können nochmal neu anfangen?«, hofft sie ihr Gegenüber etwas besänftigen zu können.

»I bin kein Major, noch nicht. Hast du geglaubt, i bin der Meixner?«, entgegnet er. »Prinzessin, jetzt hast d´ Glück gehabt. Ich bin auch in der SASK/IA, Leutnant Michael Gratzer. Der Chef ist noch nicht da. Und mein Büro ist auch noch zugesperrt!«, klärt er Liebmann auf.

»Und es wird noch schlimmer und schlimmer, eine einzige Katastrophe!«, denkt sie insgeheim. Nicht nur ihre absolut peinliche Aktion gegenüber dem vermeintlichen Vorgesetzten, mit diesem Idioten soll sie nun jeden Tag zusammenarbeiten?

»Woher soll ich denn wissen, dass Sie nicht der Major Meixner sind, sondern nur irgendeiner? Und wer hat Ihnen erlaubt mich zu duzen? Von daheim keine Manieren mitbekommen? Und außerdem, das ist mein Büro!«, versucht sie schnippisch die Oberhand in dem Gespräch zu gewinnen.

»So eine Tussi hat mir noch gefehlt, ein studierter Trampel per excellence!«, ist sein nicht gerade positiver Gedanke. Doch noch bevor er der Frau in ihrem Business-Kostüm Konter geben kann, hört er eine laute Stimme hinter sich.

»Das ist mein Büro! Und wer seid ihr beide? Liebmann und Gratzer, nehme ich an!« Meixner betrachtet die beiden Personen vor sich, beide waren sichtlich aus der Fassung geraten. Die Frau erscheint ihm absolut fehl am Platz, sie passt besser ins Fernsehen, vielleicht als Nachrichtensprecherin. Und der Mann wirkt eher als Karikatur, bis obenhin zugeknöpftes Sakko, wie ein Firmling. Er geht an beiden kopfschüttelnd vorbei, sperrt sein Büro auf und betritt den Raum vor ihm.

An den Wänden stehen unzählige Schwerlastregale, auf einigen liegen noch Zettel oder Kartons, großteils sind sie jedoch leer. In der Mitte sind einige Schreibtische zusammengeschoben, dazu passend Drehstühle, welche ihre besten Tage auch bereits hinter sich haben. Die blanken Betonwände füllen den kargen und trostlosen Raum mit weiterem, eiskaltem Ambiente. Das flackernde Licht der zahlreich verbauten Neonröhren tat dasselbe. Das aufgelassene Archiv des Kommissariats soll nun der Stützpunkt der neuen Schnapsidee des Ministers sein. Meixner kann nicht umhin, als diese Räumlichkeit als das zu bewerten, was es nun einmal war. Eine Endstation. Ganz unten angekommen.

Nun betreten auch seine beiden Mitarbeiter den Raum, wortlos betrachten sie ihren neuen Arbeitsplatz.

»Ein Gemeinschaftsbüro mit der Tussi, na bravo!« denkt Gratzer, als sein Blick über die Schreibtische wandert. Auch Liebmann denkt Ähnliches, allein das alltägliche Ertragen dieses Proleten wird ein unglaubliches Martyrium werden. In diesem Moment betritt ein südländisch wirkender Mann mit Laptop unter dem Arm das zukünftige Büro.

»Und wer sind Sie?«, fragt Meixner mit resoluter Stimme, wohl wissend, wer die Person ist.

»Das ist der Kaffee-Ali! Vielleicht der Hausmeister!?«, übernimmt Gratzer das Wort, noch bevor sich der Laptopträger selbst vorstellen kann.

Mit zornigem Gesichtsausdruck schreitet der Mann zu einem der Schreibtische, knallt den Laptop auf eben diesen und wendet sich Gratzer zu.

»Was ist Ihr Problem, Mann? Sie waren offensichtlich nicht nur zu blöd, einen Kaffee aus dem Automaten zu bekommen, auch beim Trinken scheint es nicht gut gelaufen zu sein!?«, schreit der Mann Gratzer ins Gesicht und zupft dabei mit dem Zeigefinger am kaffeeverschmutzten Hemdkragen seines Gegenübers.

»Mein Name ist Rashid Sarif! Ich bin der zivile Angestellte in der SASK/IA. Nicht der Hausmeister! Und bevor Ihnen eine weitere rassistische Bemerkung entkommt, warum ich mich trotz meines Ihnen offensichtlich missfallenden Äußeren mit Ihnen unterhalten kann, ich bin in Wien geboren! Ich werde unser erstes Aufeinandertreffen ihrer Kleingeistigkeit zuschreiben und es ignorieren!«, tadelt Sarif den auf Konfrontation ausgerichteten Gratzer.

»Willst du damit sagen, i bin deppert?«, faucht Gratzer dem zu ihm aufblickenden, vor Wut kochenden Mann mitten ins Gesicht.

»Besser hätte ich es nicht formulieren können, der erste Eindruck stimmt immer!«, meldet sich nun auch Liebmann zu Wort.

»Und damit beide Herren gleich noch einen Grund haben sich aufzuregen, ich bin Jüdin!«

Im gleichen Atemzug versucht Liebmann selbst zu verstehen, warum sie das nun gesagt hat. Beide Männer schauen sie verdutzt an und verstehen wohl nicht, was ihre neue Kollegin damit bezwecken will.

»Und augenblicklich halten jetzt alle den Mund!«, schreit Meixner in den Raum, worauf die drei Personen sichtlich aufschrecken und sich ihm zuwenden. Vergebens warten sie darauf, dass der neue Vorgesetzte nun für Ordnung sorgen würde. Meixner hingegen schüttelt erneut den Kopf und verlässt energischen Schrittes das Büro, wenn man es überhaupt so nennen kann.

»Herr Major, wo gehen Sie denn jetzt hin?«, fragt Liebmann ihren neuen Chef, dem sie auf den Gang hinaus gefolgt war.

»I geh heim!«, antwortet Meixner, geht die Stufen hinauf und verschwindet durch das Foyer Richtung Ausgang.

4. Erster Fall

Dienstag, Vormittag

Meixner rührt mit dem Löffel in seiner Melange. Elfi gesellt sich zu ihm. Ihr ist bereits an der Art und Weise, wie der Inspektor das Lokal betreten hat, aufgefallen, dass etwas nicht stimmt.

»Na, was ist los, Inspektor?«, fragt sie Meixner und stützt ihre Ellbogen auf den Tisch, um auf den Händen ihren Kopf aufzulegen.

»Nix ist los. Bin heut nicht in der Stimmung für ein Gespräch. Hast du keine anderen Gäste, die du sekkieren kannst?«, fährt Meixner die Lokalbesitzerin schroff an.

»Siehst noch wen hier? Der Herr Bund hat erst vor einer halben Stunde seinen Kaffee bestellt, also wird es noch eine Ewigkeit dauern, bis er den nächsten will. Also, jetzt hab´ dich nicht so, Inspektor. Erzähl, was dich bedrückt! Dachte, du bist wieder zurück im Geschäft bei der Heh?«, gibt Elfi nicht klein bei.

»In den Kindergarten haben´s mich versetzt! Und der ist im Keller!«, beginnt Meixner. Elfi kann nicht ganz folgen.

»Die hohen Herren der Politik haben wieder einmal eine Schnapsidee gehabt. Ich soll eine neue Abteilung leiten. Von einer Rumpelkammer im Keller aus. Als Mitarbeiter haben sie mir drei unreife Jungspritzer hineingesetzt!«, fährt Meixner fort.

»Kennst du deine neuen Kollegen schon von früher?«, fragt Elfi.

»Wie i noch ein richtiger Kiberer war, waren die drei noch gar nicht auf der Welt, vermute ich! Und mir haben schon die fünf Minuten, in denen ich sie kennengelernt habe, gereicht! Von mir aus sollen sie mich in Pension schicken, oder aufs AMS, aber das wird nix!«, lässt Meixner nun seinem Unmut freien Lauf.

»Also verlässt der Herr Inspektor die Bühne, bevor er sie betreten hat? Vielleicht bist wirklich nicht mehr der Kiberer, der du einmal warst?«, versucht Elfi Meixner herauszufordern.

»Wie? Weißt was, hier, für die Melange und den Apfelstrudel. Der war übrigens nicht mehr besonders gut. Ich brauch sicher keine Belehrung von einem Schanktraktor!«, keift er Elfi an.

Sichtlich erschrocken starrt sie Meixner an, so hat sie ihn noch nie erlebt. Ihr ist zwar klar, dass er nicht unbedingt zartbesaitet ist und in Gefühlssachen eher einem Caterpillar gleicht, aber diese Reaktion ihres Stammgastes hat sie nicht erwartet. Meixner schiebt seine zur Hälfte getrunkene Melange beiseite, steht auf und begibt sich Richtung der großen gläsernen Eingangstür.

---ENDE DER LESEPROBE---