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Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Die russische Adlige Ljubow Andrejewna kehrt mit ihrer Tochter Anja nach vielen Jahren aus Paris auf den Hof ihrer Familie zurück. Doch der Ort glücklicher Kindertage ist verkommen und heruntergewirtschaftet. Lethargie und Hoffnungslosigkeit machen sich breit. Schließlich wird, auf einen Vorschlag des zu Geld gekommenen Kaufmanns Lopachin hin, der unrentable Kirschgarten hinter dem Haus abgeholzt, um Ferienwohnungen zu weichen. Tschechows Stück, das auf leise Art von den gewaltigen gesellschaftlichen Umbrüchen am Ende des 19. Jahrhunderts erzählt, ist eines der meistgespielten Theaterstücke überhaupt.
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Seitenzahl: 104
Veröffentlichungsjahr: 2012
Anton Tschechow
Der Kirschgarten
Komödie in 4 Akten
Aus dem Russischen von Andrea Clemen
Fischer e-books
Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon.
Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.
Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.
LJUBOW ANDREJEWNA RANJEWSKAJA, Gutsbesitzerin
ANJA, ihre Tochter, 17 Jahre
WARJA, ihre Pflegetochter, 22 Jahre
LEONID ANDREJEWITSCH GAJEW, Bruder der Ranjewskaja
JERMOLAJ ALEXEJEWITSCH LOPACHIN, Kaufmann
PJOTR SERGEJEWITSCH TROFIMOW, Student
BORIS BORISSOWITSCH SIMEONOW-PISCHTSCHIK, Gutsbesitzer
CHARLOTTA IWANOWNA, Gouvernante
SEMJON PANTELEJEWITSCH JEPICHODOW, Buchhalter
DUNJASCHA, Stubenmädchen
FIRS, Lakai, ein Greis von 87 Jahren
JASCHA, junger Lakai
LANDSTREICHER
STATIONSVORSTEHER
POSTBEAMTER
GÄSTE
DIENSTBOTEN
Die Handlung spielt auf dem Gut der Ranjewskaja.
Ein Zimmer, das noch immer Kinderzimmer genannt wird. Eine der Türen führt in Anjas Zimmer. Der Morgen dämmert, bald wird die Sonne aufgehen. Es ist schon Mai, die Kirschbäume blühen, aber im Garten ist es kalt, es hat Nachtfrost gegeben. Die Fenster im Zimmer sind geschlossen. Dunjascha mit einer Kerze und Lopachin mit einem Buch in der Hand kommen herein.
LOPACHIN
Der Zug ist angekommen, Gott sei Dank. Wie spät ist es?
DUNJASCHA
Gleich zwei. Löscht die Kerze Es wird schon hell.
LOPACHIN
Wieviel Verspätung hat der Zug jetzt gehabt? Zwei Stunden doch mindestens. Gähnt und streckt sich Ich bin gut! Daß mir so etwas Blödes passiert! Fahre ich extra hierher, um sie am Bahnhof abzuholen, und dann verschlafe ich … Bin im Sitzen eingeschlafen. Ärgerlich … Hättest du mich doch geweckt.
DUNJASCHA
Ich dachte, Sie sind schon losgefahren. Lauscht Da, ich glaube, sie kommen.
LOPACHIN lauscht
Nein … bis die ihr Gepäck haben, und alles …
Pause
Ljubow Andrejewna hat fünf Jahre im Ausland gelebt, ich weiß nicht, wie sie jetzt ist … Ein guter Mensch war sie, ein freundlicher, einfacher Mensch. Ich weiß noch, als ich ein Junge war, vielleicht fünfzehn, hat mich mein verstorbener Vater – er hatte damals hier im Dorf einen Laden – so mit der Faust ins Gesicht geschlagen, daß mir das Blut aus der Nase lief … Wir waren damals aus irgendeinem Grund zusammen auf den Hof gekommen, und er war betrunken. Ljubow Andrejewna, das weiß ich noch wie heute, sie war noch so jung, so dünn, führte mich zur Waschschüssel, hier in diesem Zimmer, im Kinderzimmer und sagte: »Wein nicht, kleiner Bauer, bis zur Hochzeit ist alles wieder gut.«
Pause
Kleiner Bauer … Mein Vater war ja auch ein Bauer, und ich hier – in weißer Weste und gelben Schuhen! Wie ein Schweinerüssel in der Kuchenschüssel … Nur daß ich reich bin, viel Geld habe, aber wenn man es bedenkt, wenn man überlegt – Bauer bleibt Bauer … Blättert in dem Buch Ich habe das Buch hier gelesen und nichts verstanden. Habe gelesen und bin eingeschlafen.
Pause
DUNJASCHA
Die Hunde haben die ganze Nacht nicht geschlafen, sie spüren, daß die Herrschaft kommt.
LOPACHIN
Dunjascha, was bist du nur für eine …
DUNJASCHA
Mir zittern die Hände. Ich falle gleich in Ohnmacht.
LOPACHIN
Du bist zu fein, Dunjascha. Du ziehst dich an wie ein gnädiges Fräulein, und deine Frisur! Das ist nicht richtig. Man muß wissen, wohin man gehört.
Jepichodow tritt ein mit einem Blumenstrauß. Er trägt ein Jackett und auf Hochglanz geputzte Stiefel, die laut knarren, beim Eintreten läßt er den Strauß fallen.
JEPICHODOW hebt den Strauß auf
Hier, den schickt der Gärtner, der soll ins Eßzimmer, hat er gesagt. Übergibt Dunjascha den Strauß
LOPACHIN
Und bring mir Kwas!
DUNJASCHA
Jawohl. Ab
JEPICHODOW
Heute nacht hat es Frost gegeben, es ist drei Grad minus, und die Kirschbäume stehen in voller Blüte. Ich kann unser Klima nicht gutheißen. Seufzt Ich kann es nicht gutheißen. Unser Klima leistet seinen Beitrag nie zur rechten Zeit. Bitte, Jermolaj Alexejewitsch, gestatten Sie mir, das hinzuzufügen, vorgestern habe ich mir diese Stiefel hier gekauft, und ich darf Ihnen versichern, sie knarren dermaßen, daß es nicht zu ertragen ist. Womit könnte man sie einschmieren?
LOPACHIN
Laß mich in Ruhe. Du gehst mir auf die Nerven.
JEPICHODOW
Jeden Tag stößt mir irgendein Unglück zu. Aber ich murre nicht, ich habe mich daran gewöhnt und lächele sogar.
Dunjascha kommt herein, reicht Lopachin Kwas.
Ich gehe jetzt!
Stößt gegen einen Stuhl, der Stuhl fällt um.
Bitte … Fast triumphierend Bitte, sehen Sie, entschuldigen Sie den Ausdruck, aber was für eine Situation, nebenbei gesagt … das ist doch einfach bemerkenswert. Geht hinaus
DUNJASCHA
Stellen Sie sich vor, Jermolaj Alexejewitsch, Jepichodow hat mir einen Heiratsantrag gemacht.
LOPACHIN
Aha!
DUNJASCHA
Ich weiß nicht, wie ich … er ist ein ordentlicher Mensch, nur manchmal, wenn er anfängt zu reden, versteht man kein Wort. Er redet schön und gefühlvoll, nur – man versteht kein Wort. Gefallen tut er mir schon. Er liebt mich wahnsinnig. Ein Pechvogel, jeden Tag passiert ihm etwas. Sie ärgern ihn schon alle damit: Jeden Tag ein Schicksalsschlag.
LOPACHIN lauscht
Da, ich glaube, sie kommen …
DUNJASCHA
Sie kommen! Was ist mit mir – mir ist ganz kalt.
LOPACHIN
Sie kommen tatsächlich. Gehen wir raus, sie begrüßen. Ob sie mich noch erkennt? Fünf Jahre haben wir uns nicht gesehen.
DUNJASCHA aufgeregt
Ich falle gleich um … Ach, ich falle gleich um.
Man hört zwei Equipagen vor das Haus vorfahren. Lopachin und Dunjascha gehen schnell hinaus. Die Bühne ist leer. Dann hört man in den angrenzenden Zimmern Lärm. Firs, der Ljubow Andrejewna vom Bahnhof abgeholt hat, geht, auf einen Stock gestützt, eilig über die Bühne. Er trägt eine altmodische Livree und einen hohen Hut. Er redet irgend etwas vor sich hin, aber man kann kein einziges Wort verstehen. Der Lärm hinter der Bühne wird immer stärker. Stimme: »Kommt, gehen wir hier durch! …« Ljubow Andrejewna, Anja und Charlotta Iwanowna mit einem Hündchen an der Leine, in Reisekleidern. Warja in Mantel und Tuch, Gajew, Simeonow-Pischtschik, Lopachin, Dunjascha mit einem Bündel und einem Schirm, Dienstboten mit Gepäck – alle gehen durch das Zimmer.
ANJA
Gehen wir hier durch. Mama, weißt du noch, welches Zimmer das ist?
LJUBOW ANDREJEWNA glücklich, unter Tränen
Das Kinderzimmer!
WARJA
Kalt ist das! Meine Finger sind ganz steif. Zu Ljubow Andrejewna Ihre Zimmer, das weiße und das violette, sind genauso geblieben, wie sie waren, Mama.
LJUBOW ANDREJEWNA
Das Kinderzimmer, mein liebes, schönes Kinderzimmer … Hier habe ich geschlafen, als ich ein kleines Mädchen war … Weint Und jetzt bin ich wieder wie ein kleines Mädchen … Küßt ihren Bruder, dann Warja, dann wieder ihren Bruder Und Warja ist immer noch die gleiche, genau wie früher, wie eine Nonne. Und Dunjascha habe ich auch erkannt … Küßt Dunjascha
GAJEW
Zwei Stunden Verspätung hat der Zug gehabt. Was? Was sind das für Zustände?
CHARLOTTA zu Pischtschik
Mein Hündchen frißt sogar Nüsse.
PISCHTSCHIK erstaunt
Ach, sieh mal an!
Alle gehen hinaus außer Anja und Dunjascha.
DUNJASCHA
Wir haben so auf Sie gewartet! … Nimmt Anja Hut und Mantel ab
ANJA
Vier Nächte habe ich nicht geschlafen unterwegs … Jetzt bin ich ganz erfroren.
DUNJASCHA
Sie sind in der Fastenzeit weggefahren, da lag Schnee, da war Frost, aber jetzt? Meine Liebe! Lacht, küßt sie Wir haben so auf Sie gewartet, meine Freude, mein Sonnenschein … Ich muß Ihnen etwas sagen, jetzt gleich, ich halte es keine Minute mehr aus …
ANJA matt
Schon wieder …
DUNJASCHA
Der Kontorist Jepichodow hat mir nach Ostern einen Heiratsantrag gemacht.
ANJA
Du hast immer nur das eine im Kopf … Richtet sich die Haare Ich habe meine ganzen Haarnadeln verloren … Sie ist sehr müde, schwankt sogar.
DUNJASCHA
Ich weiß einfach nicht, was ich denken soll. Er liebt mich, er liebt mich so.
ANJA schaut in ihr Zimmer, zärtlich
Mein Zimmer, meine Fenster, als sei ich nie weg gewesen. Zu Hause! Morgen früh stehe ich auf und laufe gleich in den Garten … Oh, wenn ich nur einschlafen kann! Ich habe die ganze Fahrt nicht geschlafen, die Unruhe hat mich so gequält.
DUNJASCHA
Vorgestern ist Pjotr Sergejewitsch gekommen.
ANJA froh
Petja!
DUNJASCHA
Er schläft im Badehaus, da wohnt er auch. Ich habe Angst, ich störe, sagt er. Schaut auf ihre Taschenuhr Man hätte ihn wecken sollen, aber Warwara Michajlowna hat es nicht erlaubt. Du weckst ihn nicht, hat sie gesagt.
Warja kommt herein, sie trägt einen Schlüsselbund am Gürtel.
WARJA
Dunjascha, schnell, Kaffee … Mama fragt nach Kaffee.
DUNJASCHA
Eine Sekunde! Geht ab
WARJA
Ach, Gott sei Dank, seid ihr da. Du bist wieder zu Hause. Streichelt sie Mein Herzchen ist wieder da! Meine kleine Schönheit ist wieder da!
ANJA
Was ich durchgemacht habe.
WARJA
Das kann ich mir vorstellen!
ANJA
In der Karwoche bin ich weggefahren, es war kalt. Charlotta redete die ganze Fahrt über und machte Kunststückchen. Warum hast du mir nur Charlotta an den Hals gehängt?
WARJA
Du kannst doch nicht alleine reisen, mein Herz. Mit siebzehn Jahren!
ANJA
Wir kommen in Paris an, es ist kalt, Schnee. Mein Französisch ist entsetzlich. Mama wohnt im fünften Stock, ich komme zu ihr, da sind irgendwelche Franzosen, irgendwelche Damen, ein alter Pater mit einem Büchlein, es ist vollgeraucht und ungemütlich. Plötzlich tat Mama mir so leid, so leid, ich habe ihren Kopf in meine Hände genommen und ihn festgehalten, ich konnte gar nicht loslassen. Und dann hat Mama mich die ganze Zeit gestreichelt und hat geweint.
WARJA unter Tränen
Sprich nicht weiter, sprich nicht weiter …
ANJA
Ihr Landhaus bei Menton hatte sie schon verkauft, sie hatte nichts mehr, nichts. Und ich hatte auch keine Kopeke, wir konnten gerade noch hierher fahren. Und Mama begreift nicht! Wenn wir uns am Bahnhof zum Essen setzen, bestellt sie das Allerteuerste und gibt jedem Lakai einen Rubel Trinkgeld. Und Charlotta auch. Jascha bestellt sich auch eine Portion, einfach entsetzlich. Mama hat doch einen Lakaien, Jascha, wir haben ihn mitgebracht …
WARJA
Ich habe ihn schon gesehen, den Taugenichts.
ANJA
Und? Was ist? Habt ihr die Zinsen bezahlt?
WARJA
Woher denn.
ANJA
Oh, mein Gott, oh, mein Gott …
WARJA
Im August wird das Gut verkauft …
ANJA
Oh, mein Gott …
LOPACHIN schaut zur Tür herein und blökt
Mäh – äh – äh …
Verschwindet
WARJA unter Tränen
So möchte ich’s ihm geben … Droht mit der Faust
ANJA umarmt Warja, leise
Warja, hat er dir einen Antrag gemacht?
Warja schüttelt den Kopf.
Aber er liebt dich doch … Warum erklärt ihr euch nicht, worauf wartet ihr?
WARJA
Ich glaube, es wird nichts mit uns. Er hat so viel zu tun, er hat andere Sachen im Kopf … Er beachtet mich gar nicht. Na ja, soll er machen, was er will. Nur, daß ich ihn ständig sehe, ist schwer für mich … Alle reden von unserer Hochzeit, alle gratulieren, und in Wirklichkeit ist gar nichts, alles nur ein Traum … In verändertem Ton Deine Brosche sieht aus wie eine kleine Biene.
ANJA traurig
Die hat Mama gekauft. Geht in ihr Zimmer, spricht fröhlich, wie ein Kind In Paris bin ich mit einem Luftballon geflogen.
WARJA
Mein Herzchen ist wieder da! Meine kleine Schönheit ist wieder da!
Dunjascha ist inzwischen mit der Kaffeemaschine zurückgekommen und bereitet Kaffee. Warja steht in der Tür.
Den ganzen Tag, mein Herz, kümmere ich mich um den Haushalt und träume dabei vor mich hin. Wir müßten dich mit einem reichen Mann verheiraten, dann wäre ich ruhig, dann könnte ich in Frieden zur Einsiedelei pilgern und dann nach Kiew … und dann nach Moskau, und immer weiter von einer heiligen Stätte zur anderen … immer weiter, immer weiter … Wie selig wäre ich!
ANJA
Die Vögel singen im Garten. Wie spät ist es jetzt?
WARJA
Sicher drei. Du mußt schlafen, mein Herz. Geht zu Anja ins Zimmer Wie selig wäre ich!
Jascha kommt mit einem Plaid und einer Reisetasche herein.
JASCHA geht über die Bühne, geziert
Ist es gestattet, hier durchzugehen?
DUNJASCHA
Man erkennt Sie gar nicht wieder, Jascha. Wie Sie sich verändert haben im Ausland.
JASCHA
Hm … Und wer sind Sie?
DUNJASCHA
Wie Sie hier weggefahren sind, war ich so … Zeigt vom Fußboden hoch Dunjascha, die Tochter von Fjodor Kosojedow. Sie erinnern sich nicht mehr!
JASCHA
Hm … kleines Gürkchen!
Sieht sich um, umarmt sie; sie schreit auf und läßt eine Untertasse fallen. Jascha geht schnell hinaus.
WARJA in der Tür, mit ungehaltener Stimme
Was ist hier los?
DUNJASCHA unter Tränen
Ich habe eine Untertasse zerbrochen.
WARJA
Das bringt Glück.
ANJA kommt aus ihrem Zimmer
Wir müssen Mama vorwarnen: Petja ist hier.
WARJA
Ich habe befohlen, ihn nicht zu wecken.
ANJA nachdenklich
Vor sechs Jahren ist mein Vater gestorben, einen Monat später ist mein Bruder Grischa im Fluß ertrunken, ein lieber Junge von sieben Jahren. Mama hat es nicht ausgehalten, sie ist fortgegangen, fortgegangen, ohne sich umzusehen. Erschauert Wie gut ich sie verstehe, wenn sie wüßte!
Pause