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Das Leben ist wie die stürmische See und süßes Friesennougat: Der Wohlfühlroman der Bestsellerautorin von «Apfelkuchen am Meer» und «Der Duft von Kuchen und Meer» entführt uns auf die zauberhafte Insel Amrum: ein Neuanfang am Meer, der weite Horizont, eine neue Liebe und der Duft von Nüssen, Zimt und Schokolade. Bücher und Nougat, darin findet die achtunddreißigjährige Buchhändlerin Julia Trost, wenn sie traurig ist. Nach dem Tod ihres Großvaters, dessen Haus noch vom betörenden Duft gerösteter Haselnüsse erfüllt ist, fühlt sie sich verloren. Hat sie sich zu sehr um andere gekümmert, um noch zu wissen, was sie selbst möchte? Als sie im Nachlass des Großvaters ein geheimnisvolles Schriftstück und ein altes Foto von Amrum findet, reist sie kurz entschlossen auf die Insel ihrer Kindheitssommer. Die See ist aufgewühlt und stürmisch, doch Julia spürt instinktiv, dass sie inmitten von Wind und Meer die innere Ruhe finden wird, um sich über ihre eigenen Wünsche klar zu werden – und wieder Nougat zuzubereiten, so, wie früher. Doch nie hätte sie gedacht, wie sehr die Insel mit der reichen Seefahrervergangenheit ihr Leben verändern wird.
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Seitenzahl: 416
Veröffentlichungsjahr: 2025
Anne Barns
Roman
Das Leben ist wie die stürmische See und süßes Friesennougat.
Bücher und Nougat, darin findet die achtundreißigjährige Buchhändlerin Julia Trost, wenn sie traurig ist. Nach dem Tod ihres Großvaters, dessen Haus noch vom betörenden Duft gerösteter Haselnüsse erfüllt ist, fühlt sie sich verloren. Hat sie sich zu sehr um andere gekümmert, um noch zu wissen, was sie selbst möchte? Als sie im Nachlass des Großvaters ein geheimnisvolles Schriftstück und ein altes Foto von Amrum findet, reist sie kurz entschlossen auf die Insel ihrer Kindheitssommer. Die See ist aufgewühlt und stürmisch, doch Julia spürt instinktiv, dass sie inmitten von Wind und Meer die innere Ruhe finden wird, um sich über ihre eigenen Wünsche klar zu werden – und wieder Nougat zuzubereiten, so wie früher. Doch nie hätte sie gedacht, wie sehr die Insel mit der reichen Seefahrervergangenheit ihr Leben verändern wird.
Der Duft von Meer, Nüssen und Schokolade: der neue Wohlfühlroman der Bestsellerautorin Anne Barns.
Stimmen zu «Der Duft von Kuchen und Meer»:
«‹Der Duft von Kuchen und Meer› ist (…) ausgesprochen unterhaltsam. Ein richtiger Schmöker eben, den man in einem Ritt durchlesen möchte.» Freie Presse
«Anne Barns erzählt die Lebensgeschichten von Undine und Maren (…) so herzerwärmend, dass man sich auch als Leser in die kleine Nordsee-Insel verliebt.» Ruhr Nachrichten
«Nicht nur für Amrum-Urlauber ein schönes Buch.» Hellweger Anzeigen
«Das perfekte Buch für eine Auszeit im Strandkorb oder wenigstens auf der heimischen Couch, um sich (…) ans Meer (und in die nächste Konditorei) zu träumen.» nichtohnebuch.blogspot.com
Anne Barns ist das Pseudonym der Autorin Andrea Russo. Für ihre Leidenschaft hat sie den Lehrerinnenberuf gegen das Schreiben eingetauscht. Ihre Wohlfühlromane, die am Meer spielen (u.a. «Apfelkuchen am Meer», «Der Duft von Kuchen und Meer»), sind Bestseller. Die Küste ist ihr zweites Zuhause. Wann immer es möglich ist, zieht es sie nach Amrum, Rügen oder andere Orte am Meer – um aufzutanken, die Seele baumeln zu lassen oder um zu schreiben.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Zitat auf Seite 327: Theodor Storm, «Der Schimmelreiter». Aus: Theodor Storm. Sämtliche Werke in vier Bänden. Herausgegeben von Peter Goldammer, 4. Auflage, Berlin und Weimar. Aufbau, 1978
Covergestaltung SO YEAH DESIGN, Gabi Braun
Coverabbildung StockFood/The Picture Pantry; Shutterstock
ISBN 978-3-644-02227-0
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Amrum im November 1856, Ingeline
Der Wind kam von Westen. Er trug den salzigen Duft des Meeres heran und ließ das Dünengras leise rascheln. Es war ein recht angenehmer Tag für Oktober, klar, fast mild. Doch Ingeline wusste, dass das nicht von Dauer war. Bald kamen die Stürme. Die ersten kräftigen Böen würden das Meer aufpeitschen, die Wellen hoch ans Ufer jagen, und über der Insel würden sich dunkle Wolken auftürmen. Spätestens Mitte November lag Amrum in Regen und peitschendem Wind, und auf dem Wasser war dann kein Schiff mehr sicher.
Sie hoffte, dass Knut rechtzeitig zurückkam und sie wieder in seine starken Arme nahm. Seit März war er fort, seit jenem eisigen Abend, an dem sie mit den anderen Frauen, den Alten und den Kindern am Strand gestanden hatte und sie die Männer verabschiedet hatten, wie sie es seit jeher taten. Drei Wochen davor hatten sie mit dem Biakefeuer zum Frühjahrsting gerufen, und die Heuerverträge waren abgeschlossen worden. Die Flammen hatten hoch in den Himmel gelodert und die Dunkelheit, die Kälte und die Furcht vertrieben. Nun war die Zeit der Heimkehr, in der die Wartenden mit klopfendem Herzen aufs Meer hinausblickten und nach den ersten Segeln Ausschau hielten.
Dort draußen, irgendwo hinter dem Horizont, war das Schiff, das Knut kommandierte. Wenn alles gut gegangen war, hatten er und die Besatzung sich bereits Ende August durch den eisigen Nebel des Nordmeers gekämpft und den Kurs nach Süden genommen.
Plötzlich wehte eine starke Böe vom Meer in Richtung Ingeline, als wolle der Wind ihr eine Botschaft zurufen. Sie schloss für einen Moment die Augen. In ihrer Vorstellung sah sie Knut mit festen Schritten über das Deck gehen, die Hände rau und rissig vom Salzwasser und der harten Arbeit, das Gesicht gegerbt von Wind und Sonne. Er war ein starker Mann, ihr Knut, und klug dazu. Als Kommandör wusste er, wann er den Sturm abwarten musste und wie er die Kraft des Windes für sich nutzen konnte. Es lag ihm auch, seine Männer zusammenzuhalten, denn er hatte das Zeug dazu, eine Mannschaft zu führen. «Mit ruhiger Stimme und entschlossener Hand», so sagten die Amrumer Seemänner über Knut, und in ihren Stimmen lag ehrlicher Respekt. Knut war keiner, der laut werden musste, um sich Gehorsam zu verschaffen. Wenn er eine Anweisung gab, folgten sie ihm ohne Zögern, nicht aus Angst, sondern weil sie ihm vertrauten. Sie wussten, dass er das Meer kannte wie ein altes Lied, dass er die Gefahren sah, bevor sie sich am Horizont zusammenbrauten. Und sie waren sich sicher, dass er für sie einstehen würde, wenn die Lage brenzlig wurde. Sie alle fühlten eine tiefe Loyalität, eine Verbundenheit, die wuchs, wenn sie gemeinsam Stürmen trotzten, Nächte im Eis durchhielten und sich unterstützten, sollte die See sich gegen sie wenden.
Knut war einer von ihnen. Und er war noch mehr. Er war der Mann, den sie brauchten, wenn das Meer seine raue Seite zeigte. Aber auch der beste Seemann war der Gnade des Meeres ausgeliefert.
Ingeline strich sich eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht und spähte wieder über das Wasser. Noch war nichts zu sehen. Kein Segel, kein Mast, kein Zeichen von Heimkehrern.
Ein leises Geräusch ließ sie aufhorchen, Schritte im Dünensand. Sie drehte sich um und sah Thulke auf sich zukommen. Ihre Freundin war blass, die feinen Linien um ihren Mund verrieten, dass sie in den letzten Nächten nicht viel geschlafen hatte.
«Sie müssten längst zurück sein», sagte Thulke leise, als sie neben Ingeline stehen blieb. «Ich hoffe, sie sind nicht im Eis stecken geblieben.»
Thulkes Mann, Brar, war mit Knut ausgefahren. «So darfst du nicht reden», sagte Ingeline bestimmt. «Unsere Männer kommen zurück. Ich weiß es. Und sie werden viele Robben geschlagen haben.» Die See gab und nahm. So war es schon immer gewesen. «Und vielleicht haben sie sogar einen Wal abgeflenst.» Sie lächelte Thulke aufmunternd an. Zu siebt hatten sich die Männer mit Knuts Zweimaster auf den Weg nach Amsterdam gemacht, um dort auf einem Walfänger anzuheuern. Nur im Stillen betete Ingeline, dass dieses Mal alle, die aufgebrochen waren, auch heil zurückkehren würden.
Thulke nickte, doch ihre Hände zitterten leicht, als sie das Tuch fester um sich zog.
Der Wind wurde ein wenig frischer. Ingeline atmete tief durch und legte die Hände auf ihren Bauch. Ihr drittes Kind würde bald kommen. Mit oder ohne Knut – sie würde es in zwei bis drei Wochen zur Welt bringen.
Bei den vergangenen Geburten hatte Knuts Mutter Sike ihr beigestanden, und zum Glück würde sie auch diesmal an ihrer Seite sein. Ingeline lächelte leise in sich hinein, als sie daran dachte, was Sike vor ein paar Wochen zu ihr gesagt hatte: «Diesmal wird es ein Mädchen, da bin ich mir ganz sicher. Dein Gesicht sieht weicher aus als bei den beiden letzten Malen, und deine Hüften sind breiter.»
Ingeline wollte es glauben. Sie wünschte sich eine Tochter, nachdem sie Knut bereits zwei Stammhalter geschenkt hatte. Lorenz, ihr Ältester, war acht Jahre alt und sprach von nichts anderem, als bald selbst zur See zu fahren, wie sein Vater, sein Großvater und all die Männer vor ihm. Es lag in ihrem Blut, in ihrer Erziehung, in den Geschichten, die man ihnen erzählte. Lorenz fragte unermüdlich nach den Routen seines Vaters, nach den Sternen und den Stürmen. Er wollte wissen, wie man das Eis las und wie man die Zeichen des Windes deutete. Gerret, sein kleiner Bruder, tat es ihm gleich. Kaum fünf Jahre alt, eiferte er Lorenz in allem nach. Wenn der Ältere mit einem Stock im Sand Karten zeichnete, stand Gerret daneben und nickte, auch wenn er vielleicht nur die Hälfte verstand. Wenn Lorenz erklärte, wie man den Polarstern findet, reckte Gerret den Kopf und tat, als könnte er ihn sehen, auch wenn es taghell war.
Noch war es ein Spiel. Aber eines Tages würden auch sie gehen. Was sollten sie auch sonst tun? Die Männer verließen die Insel, segelten fort und ließen ihre Familien mit nichts zurück als der Hoffnung, dass sie eines Tages wiederkehrten. So war es immer gewesen.
Deshalb sehnte Ingeline sich nach einer Tochter, einem Mädchen, dem sie das Spinnen und Nähen beibringen konnte, wie man den besten Förtchenteig aus Quark, Eiern und etwas Mehl herstellte und wie man sie knusprig im Eisen ausbuk. Sie wünschte sich eine Tochter, die neben ihr stand, die Ärmel hochgekrempelt, die Schürze bemehlt, während sie gemeinsam Brot kneteten. Eine, mit der sie im Spätsommer durch die Hecken am Rand der Felder streifte, die Finger klebrig von dunklen Kratzbeeren, die sie später mit Zucker zu süßer Marmelade verkochten, damit man im Winter noch den Geschmack des Sommers auf der Zunge hatte.
Ein Mädchen, das mit ihr lachte, das blieb.
Sie legte eine Hand auf ihren Bauch, spürte die Wärme, das leise Pochen des Lebens darin. Vielleicht war es diesmal wirklich eine Tochter, und ihr Wunsch wurde endlich wahr.
Ingeline legte die Hände noch fester auf ihren Bauch. Die Hauptsache war, das Kind kam gesund zur Welt!
«Knut wird Augen machen, wenn er sieht, dass er wieder Vater wird», sagte Thulke mit einem schmalen Lächeln.
«Ja, das wird er.»
Noch wusste Knut nichts von dem Kind. Es war in einer der letzten Nächte passiert, die sie miteinander verbracht hatten, in einer dieser dunklen, klirrend kalten Winternächte, als die eisige Luft durch die Mauern des Hauses kroch und selbst das Feuer im Ofen kaum noch Wärme spendete.
Schnee war gegen die Tür gefegt, als wollte er sich einen Weg ins Innere bahnen. Im Alkovenbett hatten sie eng aneinandergeschmiegt gelegen, ihre Körper hatten sich gesucht und gefunden, um sich gegen die Kälte zu wärmen. Doch es war nicht nur das Frieren gewesen, das sie in jener Nacht so innig gemacht hatte. Es war auch das Wissen um den Abschied, der bald kommen würde, die lange Zeit des Getrenntseins.
Nun trug Ingeline das Kind dieser Nacht unter ihrem Herzen.
Sie empfand eine seltsame Mischung aus Hoffnung und Sorge. Knut würde sich freuen, da war sie sich sicher. Aber er wusste auch, was es bedeutete: eine weitere Verantwortung, ein Kind mehr, das satt werden wollte.
Ingeline strich sanft über ihren Bauch, als könnte sie damit jede Unsicherheit vertreiben. Sie würde das neue Leben auf jeden Fall willkommen heißen.
Sie wusste, wie sehr auch ihre Freundin sich wünschte, endlich Mutter zu werden. Aber bisher war es Thulke nicht vergönnt, es klappte einfach nicht. «Und bei dir wird es auch bald so weit sein.»
«Wenn du das sagst.»
Ingeline nickte. «Ja, das sage ich. Und du musst auch daran glauben, damit es wahr wird.» Sie sah ihre Freundin streng an. «Die Gedanken sind mächtig, Thulke. Du musst es dir vorstellen, es fühlen, als wäre es schon geschehen.»
Thulke schlang die Arme um sich. «Ich hoffe es so sehr», flüsterte sie schließlich und senkte den Blick. «Aber manchmal frage ich mich, ob es überhaupt für mich bestimmt ist.»
Ingeline drückte sanft ihre Hand. «Du bist noch jung, gerade mal sechsundzwanzig.»
«Du warst einundzwanzig, als Lorenz aus dir rausgeschlüpft ist», erwiderte Thulke.
«Rausgeschlüpft?» Ingeline blinzelte, dann prustete sie los. «Thulke, ich habe doch kein Ei gelegt, und Lorenz ist kein Küken.»
Thulke stimmte in das Lachen mit ein. «So habe ich das gar nicht gemeint», sagte sie, als sie beide sich wieder gefangen hatten. Sie kicherte wieder. «Die Vorstellung ist aber lustig.»
Ingeline schüttelte den Kopf. «Du bist mir eine!»
«Auf jeden Fall wird Brar sich ordentlich anstrengen müssen, damit ich auch endlich ein Kind bekomme», sagte Thulke und sah über das Wasser. «Ich hoffe wirklich, sie kommen bald.»
«Das werden sie», sagte Ingeline, doch ihre Gedanken waren bereits woanders. «Lass uns zurück ins Dorf gehen.»
Heute war noch viel zu tun. Sie musste die Netze flicken, der Kleine brauchte neue Strümpfe, und für den Großen wollte sie die abgetragenen Hosen stopfen. Dann war da noch die Vorratskammer, die sie sich vornehmen wollte. Die Körbe mit dem Trockenfisch mussten weiter nach oben, das Mehl sollte gut verschlossen werden und die Kartoffeln nach keimenden Stellen abgesucht werden. Draußen scharrten die Hühner ungeduldig. Sie warteten darauf, dass sie ihnen frisches Futter brachte. Und das Schwein, das sture, verfressene Tier, hatte sich am Mittag mal wieder selbstständig gemacht, weil Gerret vergessen hatte, die Tür zu schließen. Es hatte sich zufrieden im lockeren Boden des Beetes gerollt und dabei die Winterzwiebeln, die Ingeline erst vor zwei Wochen gesetzt hatte, großflächig platt gewalzt. Sie wollte das Beet nun gemeinsam mit Gerret neu anlegen.
Dann war da die Wäsche, die sie heute unbedingt noch im Wind trocknen wollte, bevor das Wetter umschlug. Und sie durfte auch nicht vergessen, nachzuschauen, ob die Tranlampen noch genug Öl hatten, um an den dunklen Abenden Licht zu spenden.
So viel Alltägliches, so viel, was das Leben auf der Insel ausmachte, während ihr Mann fort war.
Sie blickte über das Wasser, suchte ein letztes Mal nach einem Zeichen. Noch war nichts zu sehen. Aber sie würde trotz der Momente der Sorge warten und hoffen, voller Zuversicht, so wie sie es immer tat.
Ein leiser Tritt von innen ließ sie innehalten. Ein kleines, kräftiges Pochen unter ihren Händen. Ingeline lächelte. Seit Wochen machte sie sich Gedanken über den Namen und konnte sich nicht entscheiden. Aber gestern hatte Sike eine Anekdote über Knuts leider im letzten Jahr verstorbene Schwester erzählt. Die hatte als Sechsjährige ein großes wertvolles Stück Treibholz am Strand gefunden, das länger war als sie selbst. Es war ein breites, flaches Plankenstück, vom Meer abgeschliffen, von der Sonne getrocknet, hell wie Knochen und glatt wie ein Tischbrett.
Auch ein Fischer hatte es entdeckt und beanspruchte es für sich. «Wer es wegtragen kann, dem gehört es», hatte der Fischer gesagt und dabei wohl an sich selbst gedacht.
Doch Knuts Schwester war nicht bereit, es aufzugeben, hatte sich ohne ein Wort auf das Holz gesetzt, die Arme verschränkt und mit einem unschuldigen Lächeln erwidert: «Dann heb es doch hoch, wenn du kannst.»
Der Fischer sah sie überrascht an. «Mädchen, das zählt nicht. So geht das nicht.»
Sie zuckte mit den Schultern. «Warum nicht? Du hast gesagt, wer es wegtragen kann, dem gehört es. Versuch es doch.»
Der Fischer schnaubte und versuchte, sie samt Holz hochzuheben, aber sie war schwerer, als sie aussah. Nach ein paar erfolglosen Versuchen brach er in schallendes Gelächter aus.
«Na schön, du kleines Schlitzohr. Ich gebe mich geschlagen, du hast gewonnen!»
Und so bekam Knuts Schwester ihr Holz, nicht durch Kraft, sondern durch Köpfchen. Es hatte sie selbst einige Mühe gekostet, ihren Fund bis nach Hause zu schleppen. Schritt für Schritt hatte sie es den Strand hinaufgezerrt, barfuß im Sand, mit aufgescheuerten Händen, aber einem entschlossenen Funkeln in den Augen. Sie wusste doch, wie wertvoll das Holz war. Und wie sehr sich ihre Mutter darüber freuen würde.
Ingeline hatte nicht umhingekonnt, breit zu lächeln, als sie die Geschichte hörte.
Und jetzt, mit der Hand auf ihrem Bauch, war sie sicher, dass es keinen besseren Namen für ihr Kind gab.
«Mina», murmelte sie leise. «Ja, das passt.»
Der Wind rüttelte an den knorrigen Apfelbäumen. Ich stand am Fenster und sah hinaus in den Garten meiner Großeltern, die Hände um meine dampfende Tasse geschlungen. Die kahlen Äste tanzten im unruhigen Licht des Mondes, der ab und zu zwischen den Wolken hervorblitzte. Der Herbst war endgültig da: nass, stürmisch und wunderschön.
Der Duft von gerösteten Haselnüssen vermischte sich mit dem warmen Aroma meines Tees, einer Mischung aus zwei dünnen Orangenscheiben, etwas Zimt und einigen Rosinen, die ich in heißem Wasser ziehen ließ. Es war ein Rezept meiner Oma, und jedes Mal, wenn ich diesen Tee zubereitete, hatte ich das Gefühl, sie wäre noch hier, in einem der Zimmer dieses alten Hauses oder bei mir in der Küche, wo sie immer so gern war.
«Du hast schon wieder keine Pantoffeln an», hörte ich sie in Gedanken sagen und vorwurfsvoll mit der Zunge schnalzen.
Lächelnd bewegte ich meine Zehen in den dicken Wollsocken, die sie mir extra fürs Haus gestrickt hatte. Oma war vor vier Jahren gestorben, und es war schön, dass sie in so vielen kleinen Dingen noch bei mir war.
Regen peitschte gegen die Scheiben. Ich nahm einen Schluck Tee und ließ die Wärme durch meinen Körper strömen. Es war der perfekte Abend, um mich mit einem guten Buch zurückzuziehen. Aber erst einmal musste ich die Nüsse aus dem Ofen holen, damit sie mir nicht verbrannten. Einen Moment zu lang, und sie würden bitter schmecken.
Vorsichtig öffnete ich die Ofentür. Ein Hitzeschwall schlug mir entgegen, und schnell nahm ich das Blech heraus. Die Nüsse hatten genau die richtige Farbe, ein sattes, warmes Braun mit ein paar dunkleren Stellen. Ich schüttete sie auf das ausgebreitete Küchentuch und begann, sie aneinanderzureiben. Die dünne Haut löste sich in kleinen, knisternden Fetzen, und zurück blieben die glatten, warmen Kerne, die nach Herbst und Kindheit rochen. Ich liebte es, das leise Knacken der Nüsse im Stoff, wenn sie aneinanderschlugen, das trockene Rascheln, das Gefühl, mit den Händen etwas zu tun zu haben. Gestern Abend hatte ich die erste Fuhre geröstet und daraus einen Striezel mit einer saftigen Füllung gebacken. Die gleichmäßigen, vertrauten Handgriffe erdeten mich, und es machte mir Spaß, zu sehen und zu spüren, wie aus einfachen Zutaten etwas Besonderes wird.
Mein Blick fiel auf das bemalte Holzbrett an der Wand, das ich Oma vor vielen Jahren geschenkt hatte. Ich hatte es weiß gestrichen, die Kanten absichtlich unregelmäßig, damit es etwas rustikaler aussah. Mit taubenblauer Acrylfarbe hatte ich sorgfältig den Spruch daraufgemalt, mit dem Oma mich trösten wollte, als ich mit sechzehn meinen ersten großen Liebeskummer hatte.
Wo Kuchen ist, da ist auch Zuversicht.
Und weil ich so unglücklich war, hatte sie mir gleich zwei Stücke ihres weltbesten Käsekuchens auf den Teller geladen: «Am besten isst du gleich beide auf, damit es auch wirkt.»
Oma hatte diesen unvergleichlichen Humor, der mich immer wieder aufrichtete.
Das Brett hing noch immer an der Wand, als stille Erinnerung an sie. Und an die Weisheit, die in den kleinen, einfachen Dingen des Lebens verborgen war. Es war nicht perfekt bemalt, aber es bedeutete mir heute mehr denn je. Denn seit drei Wochen lag mein Opa wegen seiner Herzinsuffizienz im Krankenhaus. Dort hatte er sich dazu noch eine Lungenentzündung zugezogen und wurde auf die Intensivstation verlegt. Noch schlug das Antibiotikum nicht an, und er war immerhin schon achtundachtzig Jahre alt. Zuversicht war genau das, was wir alle im Moment so dringend brauchten.
Ich konnte mir kaum vorstellen, dass er irgendwann nicht mehr da sein würde. Mein Opa war jemand, der immer etwas zu sagen hatte, der laut werden konnte, wenn er sich ärgerte, aber auch ein kluger Kopf war, der mich schon als Kind herausforderte. Er brachte mich dazu, über Dinge nachzudenken, die andere Erwachsene mir nicht zutrauten oder bei denen sie erst gar nicht auf die Idee kamen, dass sie mich interessieren oder mir einfach nur Spaß machen könnten.
Ich schmunzelte. Ja, so war er, mein Opa, nicht immer einfach, aber genau das machte ihn aus. Er hielt an Prinzipien fest und legte Wert auf Bildung und Debatten, auch wenn diese oft hitzig endeten. In der Familie war er gefürchtet wegen seiner scharfen Zunge und seines unerschütterlichen Willens, immer das letzte Wort zu haben. Aber wir beide, wir hatten schon immer einen besonderen Draht zueinander.
Er nahm mich ernst, selbst als ich noch ein Kind war. Gleichzeitig war es manchmal genau umgekehrt. Ich wusste, wenn Opa nur aus Prinzip stritt, denn dieses kleine Funkeln in seinen Augen verriet es mir. Statt mich in Diskussionen hineinziehen zu lassen, blieb ich gelassen und lächelte, wenn er seine Argumente mit theatralischer Dramatik vortrug, was er liebend gern tat. Meine demonstrative Gelassenheit wiederum amüsierte ihn insgeheim. Er war nicht nur mein Opa, er war mein Mentor, mein Kritiker und manchmal, wenn er mir mit einem liebevollen Zwinkern den Rücken stärkte, mein größter Unterstützer. Und noch war er nicht gegangen.
Ich nahm eine Nuss und steckte sie mir in den Mund. Sie war noch warm, knackig und hatte diesen leicht süßlichen Geschmack, den die gekauften Nüsse nie hatten.
Zufrieden füllte ich eine Handvoll in eine kleine Schüssel, nahm meine Teetasse, stellte beides im Wohnzimmer auf das Tischchen neben den Ohrensessel und ging zu Opas Bücherregal.
Es war das Herz des Hauses und erstreckte sich vom Boden bis zur Decke über die komplette Wand. Mein Opa hatte sich über Jahrzehnte hinweg eine ganz eigene Welt erschaffen. Seine Anordnung der Bücher folgte keinem herkömmlichen Muster, wie man es zum Beispiel in Bibliotheken findet. Er hatte sein eigenes System entwickelt. Es war weder eine alphabetische noch eine thematische Sortierung, jedenfalls nicht im klassischen Sinne. Sie folgte einer Logik, die nur er verstand und die nicht nur mit den Büchern selbst zu tun hatte, sondern auch mit den Erinnerungen, die er mit ihnen verband. Mein Opa hatte die Bücher nach Wichtigkeit sortiert. Auf Augenhöhe standen die, die ihm besonders am Herzen lagen. Die er für literarisch herausragend oder besonders inspirierend hielt. Die er ab und zu hervorholte und in denen er nach all der Zeit doch noch immer mal etwas Neues entdeckte. Darunter waren die Bücher, die er auch noch bequem erreichen konnte, wenn er sich bückte. Die waren auch wichtig, aber nicht ganz so nah an seinem Herzen wie andere. Ganz oben standen die, die es immerhin in sein Regal geschafft hatten. Um sie zu erreichen, brauchte er seine Leiter, die immer in der Ecke an der Wand lehnte. Sie war alt, aus Holz, mit abgewetzten Sprossen, und er besaß sie schon seit Ewigkeiten. Als Kind hatte ich sie immer staunend betrachtet, weil sie nicht nur irgendeine Leiter war, sondern ein Schlüssel zu den entlegenen Schätzen seines Bücheruniversums. Er las sie kaum, die Bücher oben, wollte sie aber trotzdem um sich haben. Wie alte Bekannte, zu denen er kaum Kontakt hatte, die aber nicht ganz aus seinem Leben verschwinden sollten. Manche davon waren verstaubt, die Seiten vergilbt, die Einbände leicht zerfleddert, mit Spuren der Zeit, die ihnen eine eigene Geschichte verliehen.
Ich erinnerte mich daran, wie ich als Kind fasziniert davon gewesen war, wenn er dann doch einmal die Leiter an eins der oberen Holzbretter lehnte, vorsichtig auf die Sprossen stieg und mit bedachten Bewegungen einen Band herauszog. «Jedes Buch», hatte er einmal gesagt, «hat seinen Platz, so wie jeder Mensch in meinem Leben.»
In diesem Moment spürte ich eine eigentümliche Ehrfurcht vor diesem Regal, vor seiner Ordnung, vor der Bedeutung, die es für meinen Großvater hatte.
Meine Finger glitten über die Buchrücken in der Reihe der wichtigen Titel, bis sie an einem Einband stoppten, der mir sofort vertraut war. Ich zog das Buch heraus und blickte erstaunt auf das zweigeteilte gelb-weiße Cover mit den frechen Illustrationen.
Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer.
Wie konnte es sein, dass es mir all die Jahre nicht aufgefallen war? Dabei hatte ich doch unzählige Male vor dem vertrauten Regal gestanden, hatte Bücher herausgezogen und zurückgestellt. Aber dieses hier, mein eigenes Buch, hatte ich nicht bemerkt. Hatte es mein Opa erst vor Kurzem hineingestellt? Oder lag es daran, dass ich als Buchhändlerin in den letzten Jahren häufiger Neuerscheinungen gelesen hatte und seltener hier im Haus meiner Großeltern in diese alten Geschichten eingetaucht war?
Ich schlug es auf, und auf der ersten Seite war sie, die Widmung, in Opas markanter Handschrift verfasst:
Für große Entdeckerinnen – Für Julia von Opa Georg. Oktober 1993.
Ich war fünf gewesen, als er mir das Buch geschenkt hatte. Und jetzt, dreiunddreißig Jahre später, hielt ich es wieder in den Händen.
Wann immer ich meine Großeltern besuchte, hatte Opa sich die Zeit genommen, mir vorzulesen. Anfangs waren es kleine Bilderbücher mit dicken Pappseiten, die ich selbst umblättern konnte, mit kurzen Erzählungen von kleinen Hasen, die sich verirrt hatten, von Katzen, die Abenteuer erlebten, von mutigen Kindern, die die Welt erkundeten. Ich liebte die bunten Illustrationen ebenso wie die einfachen Worte, die ich bald selbst nachsprechen konnte.
Aber dann, an einem Herbstabend wie diesem, schenkte Opa mir ein ganz besonderes Buch. Ich erinnerte mich erstaunlicherweise noch genau daran, wie der Regen damals gegen die Fenster prasselte, der Ofen in der Stube knisterte, und auch an den Geruch des brennenden Holzes. Es war kein dünnes Bilderbuch, sondern ein dicker Band mit vielen Seiten, mit für mich damals kleinen Buchstaben und nur wenigen Abbildungen und Zeichnungen. Selbst lesen konnte ich noch nicht, aber das spielte keine Rolle.
«Das ist für große Entdeckerinnen, wie du eine bist», hatte Opa gesagt und mir aufmunternd zugezwinkert. Dann setzte er sich neben mich, schlug das Buch auf, strich mit den Fingern über die erste Seite und begann vorzulesen. Ich lehnte mich an ihn, lauschte gebannt und ließ mich von seinen Worten forttragen nach Lummerland, der winzigen Insel mit zwei Bergen. Ich stellte mir vor, wie Frau Waas einen leckeren Kuchen für alle Lummerländer backte, wenn sie wollte, dass traurige Gedanken davonsausten. Und ich wünschte mir auch eine Lokomotive, die mich als treue Gefährtin auf meinen Abenteuern begleitete.
Ich verstand damals nicht jedes Wort, aber das machte nichts. Opas tiefe Stimme zog mich in diese Welt und die Art, wie er die Figuren lebendig werden ließ, seine Begeisterung für die Sprache. Mit jeder Seite wuchs meine Faszination, und zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass eine Geschichte größer war als die Seiten, auf denen sie gedruckt stand. Sie war eine Welt, die darauf wartete, von mir entdeckt zu werden.
Als ich älter wurde, nahm ich das Buch selbst in die Hand. Anfangs las ich mühsam, tastete mich Satz für Satz mit dem Finger unter den Wörtern entlang, dann wurde es leichter, bis ich irgendwann nicht mehr aufhören konnte. Dieses Buch war der Anfang von allem gewesen. Es war der Moment, in dem ich verstand, dass Bücher Türen waren, in Abenteuer, in ferne Länder, in andere Zeiten. Und Opa war derjenige gewesen, der mir den Schlüssel dazu gegeben hatte.
Ich setzte mich in den Sessel, blätterte weiter, strich mit den Fingern darüber, wie Opa es gemacht hatte, und versank im Lummerland.
Kaum hatte ich das erste Kapitel beendet, klingelte mein Handy.
Ich sah den Namen auf dem Display aufleuchten und legte das Buch zur Seite. Tobias rief an.
Mein Herz schlug etwas schneller, als es sollte. Es war mittlerweile vier Monate her, dass wir uns getrennt hatten und ich kurzerhand zu meinem Opa gezogen war. Aber ein Teil von mir, so klein er auch sein mochte, hatte Tobias noch immer nicht ganz losgelassen.
«Heute nicht», sagte ich entschlossen, denn ich ahnte, was Tobias von mir wollte. Er meldete sich in der Regel nur, wenn er meine Hilfe brauchte.
Ich atmete tief durch und wartete, bis das Klingeln aufhörte.
Doch die Stille, die folgte, währte nicht lang. Mein Handy piepte, eine Nachricht war eingegangen.
Tobias hatte mir ein Foto von Sherlock Holmes geschickt. Der schokobraune Labrador saß auf seiner Decke, die Ohren leicht nach hinten geklappt und mit diesem Blick, als wüsste er nicht, ob er gleich ausgeschimpft oder gestreichelt wird. Zwischen den Zähnen hielt er einen leicht zerknitterten Zettel mit drei Worten.
Bitte sag Ja.
Mein Herz machte einen winzigen Satz. Es war Tobias’ Hund. Und doch hatte es sich für mich immer so angefühlt, als wäre er meiner. Ich war diejenige, die mit Sherlock bei Wind und Wetter die langen Spaziergänge gemacht hatte, wenn Tobias lieber auf dem Sofa blieb. Ich hatte Sherlock zum Tierarzt gebracht, als er sich eine Scherbe in die Pfote getreten hatte oder als seine Impfung fällig war. Ich war es, die sich in der Nacht aus dem Bett geschlichen hatte, wenn er unruhig war, nur um sicherzugehen, dass es ihm gut ging.
Vielleicht lag er mir auch so am Herzen, weil er noch ein Welpe gewesen war, erst drei Monate alt, als ich Tobias kennengelernt hatte. Ich hatte Sherlock mit aufwachsen sehen, hatte sein Halsband gegen ein bequemeres Geschirr ausgetauscht, war mit ihm in die Hundeschule gegangen und hatte mich über seine Fortschritte gefreut.
Über Tobias war ich weitgehend hinweg. Aber der treue schokobraune Labrador fehlte mir. Ich vermisste seine tapsigen Schritte durch die Wohnung, das rhythmische Klappern seiner Krallen auf dem Boden, wenn er mir hinterherlief, als wollte er mich keinen Moment aus den Augen lassen.
Ich ließ den Kopf gegen die Sofalehne sinken, und während ich noch mit mir kämpfte, traf die nächste Nachricht ein.
Ich weiß, es ist sehr kurzfristig, aber könntest du vielleicht auf Sherlock aufpassen? Es wäre auch nur für heute Abend und morgen bis so gegen 18 Uhr. Ich habe ein spontan angesetztes Meeting, und du hast doch deinen freien Tag, oder? Ich möchte ihn ungern zu meiner Mutter bringen.
Seine Mutter ließ Sherlock selbst bei Regen den ganzen Tag über im Garten. Bei schlechtem Wetter lag er zusammengerollt auf der überdachten Terrasse, die Ohren hingen schlaff hinunter, während er mehr oder weniger geduldig darauf wartete, abgeholt zu werden. Tobias kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich bei der Alternative nicht einfach Nein sagen konnte. Generell fiel es mir schwer, jemanden abzuweisen, aber wenn es um Sherlock ging, war es geradezu unmöglich.
Heute war Sonntag, ich hatte gestern gearbeitet und morgen tatsächlich frei. Wie jeden zweiten Montag im Monat, das wusste Tobias.
Draußen pfiff der Wind um das Haus, rüttelte an den Fenstern.
Okay.
Seine Antwort kam postwendend.
Bin in einer halben Stunde da. Du bist die Beste!
Es juckte mir in den Fingern, darauf zu antworten, dass das so nicht stimmte. Denn sonst wäre er nicht mit einer anderen Frau im Bett gelandet.
Ich starrte mit angehaltenem Atem auf die drei kleinen Punkte, die anzeigten, dass Tobias noch etwas schrieb. Doch dann verschwanden sie wieder, und nichts kam nach.
Also ging ich in den Keller, holte das Körbchen sowie die beiden Näpfe. Und auch den einfachen Futterball, den ich für Sherlock besorgt hatte.
Es war ein simples Prinzip: rollen, und das Leckerli kommt raus. Das war Sherlocks Tempo. Er war kein listiger Detektiv und auch kein brillanter Spürhund mit logischer Raffinesse. Aber er war treu. Und herzensgut. Genau das war es, was ich an ihm liebte.
Pünktlich um neun klingelte es.
Ich kam vorerst nicht dazu, Tobias zu begrüßen, denn Sherlock preschte mir entgegen wie ein Wirbelsturm. Er wackelte mit dem ganzen Körper, als wäre er von Kopf bis Schwanz eine einzige große Begeisterung. Seine Pfoten rutschten auf den glatten Fliesen, und ehe ich mich’s versah, sprang er an mir hoch, versuchte meine Hände zu erwischen, meine Wange abzulecken.
«Sherlock! Runter!», rief ich, aber ich musste lachen, während ich ihn wegschob. «Ja, ja, du hast mich auch vermisst», murmelte ich und kraulte ihn kurz, bevor ich Tobias endlich ansah.
Er stand noch in der Tür, hielt Sherlocks Leine in der Hand und beobachtete mich. Sein Blick war nachdenklich.
«Du bist wunderschön, wenn du lachst», sagte er.
Mein braunes schulterlanges Haar hatte ich zu einem straffen Zopf gebunden. Das tat ich immer, wenn ich in der Küche werkelte, denn eigentlich hatte ich vorgehabt, aus den Nüssen noch Nougat zu machen.
Tobias fand jedoch immer, ich wirke streng damit, er mochte es lieber offen. Ich sah an mir herunter: Mein altes hellgraues Baumwoll-Sweatshirt, das zwei Nummern zu groß war, hatte am Bund schon ein paar kleine Löcher. Die Beinenden der schwarzen Hose aus warmem Fleece hatte ich in Omas grau-rosa geringelte Wollsocken gesteckt.
Er bemerkte meinen skeptischen Blick. «Der Schlabberlook hat was.»
«Auch wenn ich nicht lache?» Im nächsten Moment schüttelte ich den Kopf. «Vergiss es, die Antwort möchte ich gar nicht hören.» Ich beugte mich zu Sherlock hinunter, rieb ihm kurz über die Ohren und sagte mit fester Stimme: «Was hältst du von einem Stückchen Käse?»
«Ist es okay für dich, wenn ich kurz reinkomme?», fragte Tobias.
Kurz zögerte ich. Der größere Teil, der nicht mehr an Tobias hing und immer noch sauer auf ihn war, sträubte sich. Aber wir hatten auch schöne Zeiten gehabt.
«Ja.»
In der Küche versorgte ich Sherlock mit einem kleinen Stück Gouda. Und weil er mich so lieb anschaute, bekam er noch ein zweites.
«Du verwöhnst ihn», sagte Tobias.
«Morgen Abend ist er ja wieder bei dir, dann kannst du ihn auf Diät setzen», konterte ich und kraulte den Hund am Hals. «Wir beide, wir lassen es uns richtig gut gehen, du und ich.»
«Das mit dem Verwöhnen habe ich gar nicht negativ gemeint», sagte Tobias. «Warum verstehst du immer gleich alles als Kritik? Ich bin doch dankbar, dass du dich so gut um ihn kümmerst, wenn er bei dir ist.» Tobias strich sich durch das dunkle Haar und fuhr sich mit den Fingern über den Nacken. Das tat er immer, wenn er unsicher war oder nach Worten suchte.
Ich wurde wachsam.
«Ich weiß ja noch, wie gut es sich angefühlt hat …», sagte er mit weicher Stimme. «Wie du dich um mich gekümmert hast.» Er schnupperte. «Und hier riecht es verdammt gut. Hast du Kuchen gebacken?»
«Nüsse geröstet.» Ich verschränkte die Arme. «Was ist los?»
Tobias atmete tief durch, als würde er gegen sich selbst ankämpfen. Dann sah er mich an, dieses Mal direkt, ohne Ausweichmanöver.
«Ich überlege, ob ich umziehe.» Er räusperte sich. «Es steht noch nicht fest. Aber ich habe ein wirklich gutes Jobangebot in Berlin bekommen.»
Unwillkürlich wanderte mein Blick zu Sherlock. Es störte mich, dass Tobias mich nach Belieben als Hundesitter einspannte. Aber bei dem Gedanken, dass ich Sherlock dann vielleicht gar nicht mehr oder nur sehr selten sehen würde, zog sich etwas in meiner Brust schmerzhaft zusammen. Im nächsten Moment fiel mir ein, dass er seine Affäre damals in Berlin auf einer beruflichen Fortbildung kennengelernt hatte. Sie wohnte allerdings in Essen, nicht weit weg von hier.
«Berlin?», hakte ich nach. «Das war doch eigentlich nie deine Stadt.» Zu laut, hatte er gesagt, zu unübersichtlich, zu anonym. Ihm fehlten die kurzen Wege, das Gefühl, in einer Stadt zu leben, die man in- und auswendig kannte. Der Ruhrpott war sein Zuhause. «Hier kenn ich jede Ecke», hatte er mal gesagt, als wir durch die Oberhausener Innenstadt gingen. «Hier weiß ich, wo es den besten Döner gibt, wo ich sonntags Brötchen bekomme und wo ich besser nachts nicht langgehe.»
Tobias zuckte unmerklich mit den Schultern. «Ja, schon, aber manchmal ändern sich Dinge. Das Jobangebot ist verdammt gut. Dazu gehört sogar eine Wohnung.» Er streichelte Sherlock. «Darin sind Hunde allerdings verboten, außerdem ist sie zu klein und mitten in der Stadt.»
Sherlock schnaufte leise und lehnte sich an meine Beine. Als ob er schon wusste, was ich jetzt erst begriff.
«Willst du etwa ohne Sherlock gehen?»
«Nur wenn er bei dir bleiben kann», antwortete Tobias wie aus der Pistole geschossen. «Du bist die Einzige, bei der ich ihn lassen würde. Und genau genommen war er ja eigentlich schon immer auch dein Hund.»
Ich setzte mich auf einen der Küchenstühle, sah zu Tobias, zu Sherlock, dann nickte ich. «Alles klar. Er bleibt bei mir! Ab wann?» Natürlich musste ich es noch mit meinem Opa besprechen. Aber ich war mir sicher, dass er nichts dagegen haben würde. Er mochte Sherlock.
«Ich habe drei Monate Kündigungsfrist, es könnte aber sein, dass ich früher freigestellt werde.» Tobias zuckte mit den Schultern. «Sherlock wird mir fehlen. Und du mir noch mehr. Aber ich denke, ein Neuanfang in einer anderen Stadt ist genau richtig für mich.» Er seufzte wehleidig. «Du weißt, wie sehr ich meinen Fehler bereue und wie viel du mir noch immer bedeutest.»
Ich hielt Tobias zugute, dass er es von sich aus beendet hatte. Zufällig hatte ich das Telefongespräch zwischen den beiden mitbekommen, sonst hätte ich womöglich nie davon erfahren. Ich stand im Flur, hatte nur mein vergessenes Portemonnaie holen wollen, als ich seine Stimme hörte, leise, aber deutlich.
«Es war schön, aber es ist vorbei», hatte er gesagt. «Bitte hör auf, mir zu schreiben. Ich habe mich entschieden.»
Auch ich hatte meinen Anteil daran, warum das passiert war, so dachte ich damals, und fragte mich, ob ich doch zu unaufmerksam gewesen war, Tobias zu wenig gegeben hatte. Nicht nur einmal hatte er mir vorgeworfen, ich würde mich zu viel um andere kümmern und zu wenig um uns. Und gewissermaßen hatte er recht. Ich kümmerte mich viel. Einiges davon war selbstverständlich, weil Oma und Opa mich brauchten, anderes hätte auch gut einmal wer anders übernehmen können. Ich war es, die mit Oma regelmäßig zum Arzt fuhr, Opa bei Problemen mit dem Internet half und, als Oma gestorben war, so oft wie möglich bei ihm war. Ich war diejenige, die auf die Tochter meiner Freundin aufpasste, wenn ich nicht gerade Überstunden machte, weil die Aushilfe mal wieder krank war oder weil eine Kollegin mich fragte, ob ich ihr helfen könnte. Und ich war auch diejenige, die bei unserer fast neunzigjährigen Nachbarin die Heizungen entlüftete, wenn sie gluckerten, obwohl der Sohn nur zwei Häuser weiter weg wohnte.
Weil Tobias mir wichtig war, hatte ich uns noch eine Chance geben wollen, nachdem ich von der Affäre erfahren hatte. Aber mit der Zeit und wieder klaren Gedanken stellte ich fest, dass mein Blick auf ihn sich veränderte. Sein Fehler, wie er es nannte, hatte sich über ein paar Wochen hingezogen, was eine gewisse Abgebrühtheit voraussetzte. Tobias hatte mich belogen, ohne rot zu werden, wenn er spät nach Hause gekommen war und mit einem beiläufigen Lächeln erklärt hatte, dass das Meeting länger gedauert hätte oder dass er noch «schnell mit Marc ein Bier trinken» gewesen wäre.
Wenn er danach später nach Hause kam, wurde ich unruhig, weil ich ihm nicht mehr vertraute. Um mich an die schönen Momente zu erinnern, las ich alte Nachrichten von uns, betrachtete Fotos, erinnerte mich an Gespräche. Und je mehr ich sah, desto mehr wurde mir bewusst: Ich war nicht immer nur weg, nein, ich war da gewesen. Ich hatte geliebt. Und mich «gekümmert», auch um ihn.
Drei Monate später war ich diejenige gewesen, die sich gegen uns entschieden hatte.
«Das muss ein gutes Jobangebot sein», sagte ich und ging absichtlich nicht auf seinen letzten Satz ein, wie viel ich ihm noch bedeutete. Wir hatten schon so oft darüber gesprochen, dass das nicht der Punkt war.
Und der Gedanke, dass Sherlock bei mir bleiben sollte, gefiel mir.
«Ich werde Leiter der Cybersecurity-Abteilung bei einem großen Berliner Fintech-Unternehmen. Die Firma entwickelt KI-gestützte Betrugserkennung für Banken und Zahlungsdienstleister.» Tobias’ Augen leuchteten, als er das sagte.
«Wow!» Ich pfiff leise durch die Zähne. «Das klingt echt interessant. Und du weißt ja, dass Sherlock es bei mir sehr gut haben wird.»
«Dann ist es also beschlossene Sache», sagte er mit einem Anflug von Traurigkeit, sah mich jedoch mit einem Blick an, in dem so etwas lag wie Hoffnung, bevor er nach einer kleinen Pause hinzufügte: «Es sei denn, du kannst mir doch noch verzeihen.»
«Das habe ich längst, das weißt du. Aber vergessen kann ich es nicht.»
Tobias nickte, als wenn er letztlich nicht ernsthaft mit einer anderen Antwort gerechnet hätte, bevor er sich zu Sherlock hinunterbeugte und ihn hinter den Ohren kraulte. «Mach’s gut, Großer. Ich hol dich morgen wieder ab. Noch wohnst du bei mir.»
Bevor er die Tür hinter sich schloss, rief er: «Danke noch mal, Julia. Und ach ja, Sherlock müsste noch zu einer letzten Runde raus. Ich hab das leider nicht mehr geschafft. Würdest du …? Ansonsten kannst du ihn ja auch einfach in den Garten lassen.»
«Typisch dein Herrchen», schimpfte ich mit einem Blick aus dem Fenster auf das nasse Wetter, das uns erwartete. Aber ich freute mich. Spätestens in drei Monaten würde Sherlock für immer bei mir einziehen.
Um halb zehn schlüpfte ich in meine Regenjacke und Gummistiefel. Das Haus meiner Großeltern lag herrlich gelegen am Rande eines renaturierten weitläufigen Parks, der sich über vierzig Hektar erstreckte. Zwischen Bäumen, dichten Sträuchern und verschlungenen Wegen gab es offene Wiesenflächen, auf denen Wildblumen blühten. Schon als Kind hatte ich mich immer auf den Mai gefreut, wenn die Saison losging. Erst habe ich mit Oma Holunderblüten gepflückt, dann Johannisbeeren, Wildkirschen, danach die Holunderbeeren, Äpfel, Birnen, Quitten. Ab Mitte September haben wir Haselnüsse, Esskastanien und Walnüsse eingesammelt.
In den letzten drei Jahren war ich dann ohne Oma unterwegs gewesen. Ein paar Mal hatte ich versucht, meinen Opa zu überreden, mich zu begleiten. Aber er hatte seine Nase lieber in eine seiner Tageszeitungen oder in ein Buch gesteckt. Meine Oma hatte es immer geschafft, ihn für einen Spaziergang zu gewinnen, aber seit sie nicht mehr da war, hatte er sich noch mehr in seine Gewohnheiten verkrochen.
Wenn er rausging, dann nur, weil er musste und weil es schon immer zu seinen Aufgaben gehört hatte. Jeden Donnerstagmorgen schob er die Mülltonnen auf den Bürgersteig, die am nächsten Tag geleert wurden. Am Morgen holte er die Zeitung aus dem Briefkasten, oft noch im Schlafanzug und mit Pantoffeln an den Füßen. Und am Nachmittag sah er nach der Post, meist mit einem missmutigen Blick auf die Rechnungen oder Werbung, die er sofort vor der Altpapiertonne sortierte. Hin und wieder fuhr er mit dem Fahrrad zum Friedhof, um Omas Grab zu besuchen. Er sprach nie darüber, aber ich wusste, wenn er dort gewesen war, weil er an den Abenden immer besonders still war und ein Glas Wein mehr trank als sonst. Sehr selten gingen wir gemeinsam. Mein Opa war lieber allein mit seiner Trauer, und ich konnte das gut nachempfinden. Wenn ich ohne ihn dort war, sprach ich leise mit Oma, erzählte ihr, was in meinem Leben gerade passierte. Jedes Mal nahm ich eine Blume mit und legte sie auf das Grab, einen leuchtend roten Zweig mit Hagebutten oder ein Kastanienmännchen, das ich selbst gebastelt hatte – so wie sie es mir früher beigebracht hatte. Und beim letzten Mal hatte ich ihr ein paar Haselnüsse dagelassen, die ich unterwegs noch gefunden hatte.
Jetzt ging ich allein in der Dunkelheit, die Kapuze ins Gesicht gezogen, während Sherlock neben mir an der Leine zog, die Nase tief im feuchten Laub. Der Regen hatte aufgehört, aber der Wind pfiff ordentlich um unsere Nasen. Die Luft war frisch und roch nach Herbst, schwer von Erde und dem würzigen Duft nasser Baumrinde.
Der Park war nicht beleuchtet. Nur der Mond spendete Licht. Und das neongrüne Halsband, das Sherlock trug, leuchtete im Dunkeln wie ein kleines Irrlicht.
Er war schokobraun, fast schwarz, wenn er im Schatten lief. Ohne das Leuchtband hätte ich ihn auf der offenen Wiese kaum gesehen, besonders jetzt, wo sich das Mondlicht nur zaghaft durch die Wolken schob.
Ich zog die Kapuze noch etwas tiefer ins Gesicht, während Sherlock unermüdlich schnüffelnd durch das feuchte Laub trottete.
Als wir die große Wiese erreichten, auf der er sich austoben konnte, blieb ich stehen.
«Na los, Großer», sagte ich und hakte die Leine vom Geschirr.
Sherlock sprang mit einem freudigen Satz nach vorn. Ich folgte mit den Augen dem Lichterband, das sich mit einem grünlichen Schimmer über die Wiese bewegte. Die kühle Nachtluft füllte meine Lungen, und ich freute mich darüber, dass ich in Zukunft wieder regelmäßig mit Sherlock in diesem verborgenen Refugium im Grünen unterwegs sein würde.
Und doch spürte ich plötzlich eine seltsame Beklemmung in der Brust.
Es war nichts Konkretes, nur ein Gefühl, ein Flüstern im Wind, eine unerklärliche Schwere, die in der Luft lag.
«Hierher, Sherlock!», rief ich.
Er hörte aufs Wort und kam sofort angeprescht. Tobias hatte ihn sehr gut erzogen, das musste ich ihm lassen.
Ich hakte die Leine wieder am Halsband ein und strich Sherlock über den Rücken. Er schien nichts Ungewöhnliches wahrzunehmen.
«Komm, wir gehen nach Hause», sagte ich leise und drehte mich um.
Der Wind rauschte in den Bäumen, die Äste knackten unter seinen Böen. Ich zog die Kapuze noch tiefer ins Gesicht und setzte mich in Bewegung, den Blick nach vorn gerichtet.
Da zog Sherlock plötzlich an der Leine, als hätte er etwas gewittert. Ich runzelte die Stirn und folgte seinem Blick in die Brombeerbüsche. Und da war er, der Fuchs.
Ein wunderschönes Tier mit dichtem, rotbraunem Fell, schlank und elegant, mit wachsamen, schmalen Augen. Er stand ein paar Meter entfernt, reglos, aufmerksam. Unsere Blicke trafen sich für einen Moment, dann legte er den Kopf leicht schief, als würde er mich prüfen.
«Na, du bist ja auch wieder unterwegs», sagte ich leise.
Sherlock war völlig aus dem Häuschen. Sein Körper vibrierte vor Aufregung, er wollte unbedingt losstürmen, doch ich hielt ihn zurück.
«Vergiss es», sagte ich und kraulte ihn hinter den Ohren. «Das ist Omas Freund.»
Ich flüsterte es mehr für mich selbst als für Sherlock.
«Er kennt mich», hatte Oma einmal gesagt, als ich sie fragte, warum sie jeden Tag ein Ei für den Fuchs auf die Terrasse legte. «Und er weiß, dass er sich auf mich verlassen kann.»
Er war damals noch jung gewesen. Immer zur gleichen Zeit war er gekommen, sagte Oma. Als ich einmal zu Besuch war und mit Oma am Fenster stand, hatte er sich vorsichtig der Terrasse genähert und uns aus sicherer Entfernung beobachtet. Oma hatte ihn nie gezähmt, nie versucht, ihn näher an sich heranzulocken. Aber er hatte ihr vertraut, genug, um bis auf die Stufen zu kommen und sein Ei zu holen, bis in den nächsten Herbst hinein.
Doch nach Omas Tod war auch der Fuchs verschwunden.
Seitdem hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Und jetzt stand er wieder da. Ich hätte ihn für einen gewöhnlichen Fuchs halten können. Hier waren einige unterwegs. Aber irgendetwas sagte mir, dass er es war, auch wenn es schon vier Jahre her war, dass ich ihn das letzte Mal gesehen hatte.
«Du bist tatsächlich wieder da», flüsterte ich.
Der Fuchs bewegte sich immer noch nicht. Er beobachtete mich nur, ruhig und wachsam.
Mein Herz klopfte schneller. Ein seltsames Gefühl überkam mich, eine Mischung aus Wehmut, Trost und etwas, das ich nicht ganz benennen konnte.
Sherlock winselte leise, zappelte ungeduldig an der Leine, aber ich hielt ihn sanft zurück. Der Fuchs blinzelte langsam. Dann drehte er sich mit einer geschmeidigen Bewegung um und verschwand lautlos zwischen den Büschen.
Ich stand noch eine Weile da, die Finger in Sherlocks Fell vergraben, und blickte in die Dunkelheit, in die das rotbraune Tier verschwunden war. Vielleicht war es ein Fuchs wie jeder andere. Aber vielleicht auch nicht.
Gerade war ich im Begriff weiterzugehen, als ich plötzlich eine Stimme hinter mir hörte.
«Nicht erschrecken.»
Ich drehte mich um und sah eine ältere Dame mit einem kleinen Dackel an der Leine. Sie trug einen langen, dunkelgrünen Mantel und ein kariertes Wolltuch, das sie um den Kopf gewickelt hatte, sodass nur ein paar graue Locken hervorlugten. Ihr Gesicht war freundlich, von feinen Falten durchzogen, ihre Augen wach und neugierig, wie ich sah, als sie näher kam.
Ich kannte sie. Sie war eine Nachbarin, die irgendwo im Viertel wohnte. Früher hatte ich sie hin und wieder mit meiner Oma sprechen sehen. Jetzt, wo sie mir gegenüberstand, fiel mir jedoch ihr Name nicht ein.
«Guten Abend», sagte ich.
«Guten Abend, Julia», erwiderte sie, und bevor ich nachfragen konnte, stellte sie sich vor. «Ich bin Frau Hartmann und wohne am Ende der Parallelstraße, in der roten Doppelhaushälfte mit dem wilden Vorgarten. Früher habe ich mir immer mal einen Tipp in Sachen Pflanzen von Ihrer Oma geholt.» Sie zeigte auf ihren Hund, den sie kurz an der Leine hielt, weil er aufgeregt um Sherlock herumschnüffelte. «Das ist meine Dackeline. Sie heißt Clementine.»
Ich musste lachen, über die Dackeline, über den hübschen Namen, den sie ihrer Hündin gegeben hatte, und über Sherlocks stoische Ruhe, mit der er Clementines Annäherungsversuche über sich ergehen ließ.
«Das ist Sherlock Holmes», sagte ich.
«Sherlock Holmes, soso …» Sie schmunzelte. «Ist er denn genauso scharfsinnig wie sein Namensvetter?»
Ich streichelte Sherlock über den Kopf. «Er kann verlorene Leckerlis aufspüren und genau erkennen, wann es Zeit für sein Abendessen ist. Also ja, auf seine Weise ist er ein Meisterdetektiv.»
«Dann hätte ich meine Clementine vielleicht Miss Marple nennen sollen», scherzte sie und wurde plötzlich ernst. «Wie geht es Ihrem Großvater? Ich habe gehört, er ist im Krankenhaus.»
Ein stiller Druck breitete sich in meiner Brust aus. «Seit ein paar Wochen. Sein Herz war zu schwach. Und jetzt liegt er mit einer Lungenentzündung auf der Intensivstation.»
«Das tut mir leid. Ihr Großvater ist ein stolzer Mann. Schade, dass er sich so zurückgezogen hat. Als Ihre Großmutter noch lebte, hatten er und ich, sagen wir mal …» Sie schmunzelte wieder «… ein paar sehr interessante Gespräche.»
«Das hört sich ganz nach Opa an!»
Sie legte die Hand auf meinen Arm. «Ich hoffe, es geht ihm bald besser.»
«Danke», sagte ich und fragte spontan: «Wollen wir noch ein paar Schritte zusammen gehen?»
«Sehr gern.»
Gemeinsam setzten wir uns in Bewegung, unsere Schritte platschten auf dem regennassen Weg, während Dackeline Clementine mit erhobenem Kopf eifrig neben uns hertrippelte. Sie bewegte sich mit einer Entschlossenheit, als hätte sie ein klares Ziel vor Augen, während Sherlock wie immer einfach nur froh war, dabei zu sein.
«Ihr Großvater hat mir mal von Ihnen erzählt», sagte Frau Hartmann, als wir unseren Gehrhythmus gefunden hatten. «Er hat gesagt, dass Sie das Talent zum Geschichtenerzählen haben. Dass Sie eine besondere Art haben, Dinge zu sehen. Er war glücklich darüber, dass Sie Ihrem Traum gefolgt und Buchhändlerin geworden sind.»