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Der Klavierspieler vom Gare du Nord E-Book

Gabriel Katz

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Beschreibung

Ein mitreißender Roman über die verbindende Kraft der Musik und eine ungewöhnliche Freundschaft Der Junge aus der Pariser Vorstadt und der Direktor des Konservatoriums wären sich nie begegnet, stünde da nicht ein Klavier am Gare du Nord. Der 20-jährige Mathieu ist auf die schiefe Bahn geraten und hat nichts außer einem großen musikalischen Talent. Pierre dagegen hat alles, steckt aber in einer tiefen Lebenskrise. Das ungleiche Paar schließt einen Pakt: Pierre ermöglicht Mathieu die Teilnahme am renommiertesten Klavierwettbewerb des Landes. Wird Mathieu die Chance seines Lebens ergreifen? Und warum tut Pierre all das für ihn? Gabriel Katz hat mit »Der Klavierspieler vom Gare du Nord« einen bewegenden Roman über eine ungewöhnliche Freundschaft und die verbindende Kraft der Musik geschrieben..

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Seitenzahl: 330

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Ähnliche


Gabriel Katz

Der Klavierspieler vom Gare du Nord

Roman

 

Aus dem Französischen von Eva Scharenberg und Anne Thomas

 

Über dieses Buch

 

 

Der Junge aus der Pariser Vorstadt und der Direktor des Konservatoriums wären sich nie begegnet, stünde da nicht ein Klavier am Gare du Nord. Der 20-jährige Mathieu ist auf der schiefen Bahn und hat nichts außer einem großen musikalischen Talent. Pierre dagegen hat alles, verwindet aber den Verlust seines Sohnes nicht. Das ungleiche Paar schließt einen Pakt: Pierre ermöglicht Mathieu die Teilnahme am renommiertesten Klavierwettbewerb des Landes. Wird Mathieu die Chance seines Lebens ergreifen? Und warum tut Pierre all das für ihn? Ein mitreißender Roman über eine ungewöhnliche Freundschaft, die mit allen Vorurteilen aufräumt.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Anne Thomas lebt seit 2013 als freie Übersetzerin aus dem Englischen und Französischen in Paris und Berlin. Sie dolmetscht bei Lesungen, übersetzt im Kulturbereich und arbeitet an poetischen, spielerischen Texten wie ›Paris Toujours‹ von Yimeng Wu, ›Papa ist doch kein Außerirdischer!‹ von Anna Boulanger und ›Mary Poppins. Auf und davon …‹ von Hélène Druvert.

 

Eva Scharenberg, geboren 1989, studierte Germanistik und Romanistik in Bonn und Literaturübersetzen in Düsseldorf und übersetzt seit 2014 aus dem Englischen, Französischen und Schwedischen. Zuletzt übersetzte sie Violaine Huisman, Shenaz Patel, Octave Mirbeau, Arthur Conan Doyle, Ann-Marie Ljungberg.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Für Julia

Der Aufzug ist kaputt. Der Aufzug ist immer kaputt. Wahrscheinlich hat er nie funktioniert, oder vielleicht vor langer Zeit einmal. Wenn man die Treppe bis in die siebte Etage hochsteigt, bezwingt man sie schließlich, weil man jeden Winkel kennt, jeden Riss. Es sind hundertvierzig Stufen, zwanzig pro Stockwerk. Sogar mit geschlossenen Augen, mit dem Zeigefinger an der Wand entlangstreichend, kann man ohne weiteres zu seiner Tür gelangen, ohne das Licht anzumachen, nur durch das Zählen seiner Schritte. Hundertvierzig Schritte. Begleitet von den Geräuschen, die ineinanderfließen, den Fernsehkanälen, die sich überlagern, den Schreien der verrückten Alten aus dem vierten Stock, dem Brutzeln der Bratpfannen. Und diesem Geruch nach Bleiche, Staub, fettigem Essen und Schimmel, so vertraut, dass man ihn schon gar nicht mehr wahrnimmt.

Aber da ist noch etwas.

Töne.

Töne, die dazu verleiten, die Augen auf der hundertsten Stufe zu öffnen, beim Zählen seiner Schritte durcheinanderzukommen. Ein Ton, der nicht zu diesem Haus gehört, der sich wie ein Dieb unter die anderen Geräusche schleicht, sie dämpft, verdrängt, und dennoch ist er zart und klar wie Vogelgezwitscher.

Der kleine Junge ist auf dem Treppenabsatz mit den gelben Wänden stehengeblieben, wo die Zahl Fünf heruntergerissen wurde, deren Schatten aber auf dem Putz noch sichtbar ist. Er hält nie auf dieser Etage an. Auch nicht woanders. Er steigt die Stufen hinauf wie man einen Berg erklimmt, wie Spider-Man an einer Fassade hochklettert, wie ein Flugzeug, das abhebt. Er klettert mit der Entschlossenheit großer Abenteurer. Er zieht aus in den hohen Norden, zu Sandwüsten, unbekannten Welten. Und unter dem Jubel eines unsichtbaren Publikums gewinnt er jeden Tag die Medaille für die Besteigung der siebten Etage, weil er jetzt groß ist, weil er ein Mann ist, weil er sieben Jahre alt ist, weil er keine Angst hat.

Dieses Mal hat er im fünften Stock angehalten. Ohne eigentlich zu wissen, warum. Vor einer braunen Tür, von der die Farbe abblättert, voller Graffiti und Kratzer. Eine Tür wie die anderen, aber eben nicht ganz, denn Töne dringen hindurch, als bestünde sie nur aus Wind. Musik hört man jeden Tag, Bässe, die die Erde erzittern lassen, und Gebrüll von zornentbrannten Menschen. Sie schwingen die Hüften mit den Kumpeln, werfen sich in Pose mit ihren Käppis, die ein paar Nummern zu groß sind, und versuchen, die Texte mitzurappen, ohne die Hälfte zu verpatzen. Das ist Musik. Nicht die Klänge, die durch diese Tür dringen und im Kopf perlen wie Wassertropfen. Wenn er die Augen schließt, sieht er kleine Dinge, die tanzen. Formen. Farben. Er ist traurig und irgendwie auch fröhlich. Er versucht zu denken, aber es geht nicht, also lässt er sich mit dem Strom treiben, der aufsteigt, absinkt, aufwirbelt, und die entflohenen Noten drehen sich wie ein Fischschwarm in der Sonne. Wie Nemo. Oder bunte Sterne am Himmel.

Irgendwo in der wirklichen Welt heult ein Motorroller auf, ein gellendes, ohrenbetäubendes Geräusch. Es durchbricht die Noten, zerstreut den Fischschwarm, verscheucht die Sterne, die sich über den Himmel verteilen. Deshalb geht der kleine Junge näher, zögert, hält den Atem an und drückt sein Ohr an die Tür.

1

Ich mag keine Menschenmengen. Ich habe Menschenmengen noch nie gemocht. Ich bin keiner von denen, die sich in Stadien quetschen oder sich auf Terrassen zusammenscharen, um im Mief von Schweiß und Abgasen in der Sonne zu braten. Und niemand, der sich den Gare du Nord zur schlimmsten Tageszeit antut, doch man kann dem nicht immer entgehen. Paris ist eine sonderbare Stadt, die ständig zwischen Paradies und Hölle pendelt, doch wenn man die Maschinerien zähmt, kommt man eigentlich ganz gut zurecht. Man muss die Schleichwege kennen, die Schlupflöcher, die Gässchen. Die Flut meiden. Die Hauptverkehrsstraßen umgehen. Die Zeit im Auge behalten. Keinen Termin bei seinem Psychiater zu der Zeit ausmachen, wenn ganze Banlieues scharenweise auf die Abendzüge stürmen. Alles, damit ein Freudianer mit übereinandergeschlagenen Beinen, undurchdringlich wie ein Mönch, meine Misserfolge mit einem Kopfnicken bestätigt. Ich frage mich wirklich, warum ich meine Zeit mit diesem Typen verschwende.

Sich ein Taxi zu nehmen, ist übrigens die beste Methode, um eine Stunde im Stau zu sitzen, für fünfzig Euro, untermalt von Radio Nostalgie. Das halte ich nicht aus. Da fahre ich immer noch lieber Métro und ringe im Dunst kalter Zigaretten zwanzig Minuten um frische Luft.

Eine graue Masse, unförmig und disharmonisch, drängelt sich auf den Bahnsteigen, gafft und tritt von einem Fuß auf den anderen. Ich schlängle mich durch. Ich gebrauche die Ellbogen. Bemühe mich gar nicht erst, auf die Gesichter zu achten, die sich verwischen. Wie alle Pariser schaue ich die Leute an, ohne sie zu sehen. Wir sind nur Hindernisse in einer bewegten Szenerie, wo jeder sich beeilt, dem anderen auszuweichen.

Drei Soldaten auf Patrouille schauen finster drein und drehen sich nach mir um, als hätte ich eine Bombe. Ich schätze, mit meiner Hornbrille, meinem grauen, taillierten Mantel, meiner Umhängetasche aus Rohleder und meinen an diesem Morgen polierten Schuhen sehe ich wohl aus wie ein Terrorist. Ich habe mich immer gefragt, warum sie einen Kampfanzug in den Farben des Dschungels tragen müssen, um auf einem Bahnsteig auf- und abzugehen.

Ein Anflug von Schwindel zwingt mich, einen Augenblick stehenzubleiben und tief durchzuatmen. Die Erschöpfung, die Schlaflosigkeit, meine Schultern sind schwer. Ich schließe die Augen. Ich werde überholt, angerempelt, während ich aus meinen Reserven schöpfe, um gegen die Müdigkeit anzukämpfen. Geschützt hinter meinen geschlossenen Augenlidern, klinke ich mich mitten in der Menschenmenge aus. Und das danteske Tosen des Bahnhofs stürmt auf mich ein, dröhnt in mir wie ein Erdbeben. Das metallische Kreischen der Züge vermischt sich mit dem Summen der Menschenmenge, Handyklingeln, Rufen, Lachen, Hektik, die Stimme, die die Reisenden aus Paris–Lille aufruft, sich auf Gleis 17 zu begeben. Dann ein Ton. Und noch einer. Und wieder einer. So vertraut, dass ich beinahe glaube, es wäre eine innere Stimme. Es fühlt sich an, als würde ich einen alten Freund wiedertreffen, und es fühlt sich nicht nur so an, denn mit Bach habe ich angefangen, noch bevor ich schreiben konnte. Präludium und Fuge Nr. 2 in c-Moll.

Ich öffne die Augen wieder.

Die Töne folgen aufeinander, fließend, sanft und ruhig wie ein Fluss, und ich höre nur noch sie. Ich folge ihrer Fährte, schwimme gegen den Strom der Masse. Das kann nicht sein, denke ich, nein, das kommt vom Band. Niemand kann so auf einem Bahnhofsklavier spielen. Ich bin hier hundertmal vorbeigekommen und hörte Möchtegern-Klaviervirtuosen stümperhaft einen Abklatsch von Michel Berger spielen. Dieses Stück habe ich Dutzende Schüler verschandeln hören, ohne jemals erleuchtet zu werden. Berufsmusiker hämmerten es, als wäre das Klavier ein Amboss.

Der Klavierspieler ist ein Junge von zwanzig Jahren, er trägt eine Kapuzenjacke, ein Rucksack steht zu seinen Füßen. Ein Blondschopf mit zerzausten Haaren, die Augen geschlossen, und seine Finger huschen mit fliegender Gewandtheit über die Klaviertasten. Ohne Noten. Ich stehe einfach nur da und schaue ihm zu, ich kann es nicht fassen, frage mich, wie er es schafft, sich mit seinen riesigen Turnschuhen nicht in den Pedalen zu verheddern. Und ich lauere. Instinktiv. Ich lauere auf den Fehler, den Fehlgriff, den falschen Ton, den Ausrutscher. Nein, er spielt nicht perfekt. Eigentlich nicht. Nicht im technischen Sinne. Aber er reißt mich mit, hindert mich daran, zu filtern, zu beurteilen, sein Spiel in Worte zu fassen. Meinerseits die Augen schließend, nehme ich nur noch einen Gebirgsbach wahr, Wolken, die schnell über einen Gewitterhimmel ziehen, und die Ergriffenheit, die mir die Kehle zuschnürt.

Plötzlich reißt der Strom ab. Ein Ton hängt in der Luft, ein Rest, der fehlt, der Bahnhofslärm setzt wieder ein. Eine Stimme ruft: »He, du!«, und der Junge springt auf, schnappt sich seine Tasche. Flüchtig treffen sich unsere Blicke. Dann sucht er das Weite, während drei Polizisten sich einen Weg durch die Menge bahnen.

»Aus dem Weg! Polizei!«

Ohne mich einen Millimeter von der Stelle zu rühren, beobachte ich, wie sie sich an seine Fersen heften, während er schon in der Menge verschwindet. Einen Moment lang erkenne ich noch seine blonden Haare und seinen grauen Rucksack, dann rennt er eine Treppe hinunter zur Métro, stürzt fast über die Leute. Zwei Polizisten sind ihm nachgelaufen, während ein dritter stehenbleibt, um etwas in sein Walkie-Talkie zu brüllen.

Ich habe das Gefühl, aus einem Traum aufzuwachen.

»Was hat er denn angestellt?«, fragt eine alte Dame, die sich an ihre Handtasche klammert.

»Ich weiß es nicht, Madame.«

»Hat er Ihnen etwas gestohlen?«

»Nein.«

Sie seufzt.

»Trotzdem … Nirgendwo ist man mehr sicher.«

Die Schaulustigen gehen weiter, die Alte zieht ab und schimpft auf diese traurigen Zeiten, und ich stehe da, fixiere die Stelle, wo der Junge verschwunden ist. Als könnte er zurückkommen, um die letzten Noten seines unvollendeten Stücks zu spielen. Zwei Mädchen haben sich an das Klavier gesetzt, jede mit halbem Hintern auf dem Hocker, um vierhändig eine grauenhafte Interpretation von Let It Be zum Besten zu geben. Niemand würde sich wundern, wenn die Polizei es auf sie abgesehen hätte.

*

»Hörst du mir zu?«

Nein, sie hört mir nicht zu. Mathilde hört mir schon seit langer Zeit nicht mehr zu, nicht so richtig, vielleicht mit halbem Ohr. Ihr Blick, verloren zwischen zwei Kissen, ist auf die Falten des Sofas geheftet.

»Entschuldige. Was hast du gesagt?«

»Nichts … Ich habe vorhin am Bahnhof ein kleines Wunder erlebt.

»Aha.«

»Eine erstaunliche Feinsinnigkeit. Außergewöhnlich.«

Sie nickt, bemüht sich, ihr Desinteresse zu verbergen, doch dafür kenne ich sie zu gut. Gut genug, dass ich ihr den Rest meiner Geschichte erspare, mit der sie nichts anfangen kann. Unsere Gespräche sind hoffnungslos banal geworden, so dass sie über das Zweckdienliche hinaus gar nicht mehr stattfinden. Denk dran, die Putzfrau zu bezahlen. Die Halogenlampe auszuwechseln. Den Nachbarn den geliehenen Parkausweis zurückzugeben. Genau das, was uns nie passieren würde, das hatten wir uns geschworen. Nicht uns. Nicht so.

Wie jeden Abend scheint mir die Wohnung zu groß, zu kalt, zu leer. Ich kann kaum glauben, dass wir hier vor noch gar nicht allzu langer Zeit glücklich waren, in dieser Theaterkulisse, wo alles seinen festen Platz hat. Die Sofas, die Beistelltische, die Lampen mit den Kupfer-Ständern, die Eiffel-Stühle, das Klavier. Alles in getrübten Farbtönen. Mausgrau. Taupe. Und die Bibliothek natürlich. Eine vernünftige Mischung aus klassischer und zeitgenössischer Literatur, ein paar antike Werke, einige Bildbände, Mainstream und Kontroverses. Jetzt, wo sie nur noch eine leere Hülle ist, scheint mir diese Wohnung künstlich und hohl wie ein Schauraum bei Ikea. Nur, dass die Möbel keine unaussprechlichen Namen haben, sie stammen aus dem Conran Shop, dem Louvre des Antiquaires oder dem Haus meines Vaters. Ich habe lange geglaubt, dass dieser Ort mir entspricht. Doch das tut er nicht. Vielleicht bin ich ja auch derjenige, der sich verändert hat.

»Hast du Hunger?«

Ich stelle diese Frage aus Prinzip, auch wenn ich die Antwort darauf kenne – möge der Tag nie kommen, an dem ich sie nicht mehr stelle.

»Nein. Ich esse später zu Abend.«

Ich stehe auf, überlasse sie der Betrachtung der Falten im Sofa, um allein in die Küche zu gehen, die so auf Hochglanz poliert ist, dass mein Spiegelbild mir bis zum Kühlschrank folgt. Er ist fast leer, ein Rest Schafskäse, zwei Scheiben Putenschinken. Ich lege sie auf die Anrichte aus gebürstetem Metall, dorthin, wo wir uns, wenn wir aus dem Theater kamen, über riesige Käseplatten hermachten. Noch mehr Erinnerungen werden wieder lebendig, ich weiß nicht, warum heute, vielleicht wegen dieses namenlosen Klavierspielers, der verdrängte Gefühle geweckt hat … Dieser Tisch hat noch andere Sinnenfreuden gesehen als den Löffel im Vacherin, Umarmungen, die mir heute so weit weg scheinen, dass ich hundert Jahre alt sein könnte. Hier haben wir voller Leidenschaft gevögelt. Wir zogen uns aus, fiebrig, stürmisch, in den Scherben eines zerbrochenen Tellers. Wir verschlangen uns gegenseitig.

Das Einzige, was von dieser Zeit übrig ist, ist der Keller, aus dem ich jeden Tag Flaschen heraufhole, die wir für besondere Gelegenheiten aufgehoben haben. Jetzt gibt es keine besonderen Gelegenheiten mehr, also trinke ich allein, um diesen kleinen Rest an Freude aufzuspüren und damit diese Nuits-Saint-Georges nicht bis in alle Ewigkeit darauf warten, dass man sie entkorkt. Dass Mathilde nur Badoit-Wasser trinkt, spielt keine Rolle. An diesem Abend begleitet ein Rest Vosne-Romanée den Fleury-Michon-Putenschinken, den ich zwischen zwei Scheiben labbriges Toastbrot lege. Das Beste in den schlimmsten Zeiten.

»Vielleicht sollten wir das Wohnzimmer neu streichen. Was meinst du dazu?«

Ich hebe den Blick, im Mund noch diese Putenscheiben mit Plastikgeschmack, die der Hersteller unbeirrt als Schinken bezeichnet. Mathilde steht in der Tür, starrt ins Leere, und ich würde ihr am liebsten antworten, dass ich gar keine Meinung dazu habe.

»Warum nicht.«

»Das würde zu den neuen Vorhängen passen.«

»Stimmt.«

»Ich habe an etwas Helles gedacht, Blassgelb vielleicht. Oder sogar Pastellblau.«

»Gute Idee.«

»Es ist dir egal.«

»Nein, überhaupt nicht.«

Wir sprechen ein bisschen über Farben. Und Möbel. Als könnte es irgendetwas ändern, wo mein Lesesessel steht, wo wir doch längst im freien Fall sind. Als könnte uns ein neues Esszimmer dazu bewegen, wieder Gäste einzuladen. Für eine Sekunde ist mir danach aufzustehen, die zwei Meter, die uns trennen, zu überwinden und sie sanft in den Arm zu nehmen, aber es ist zu spät, darüber sind wir hinaus. Oder vielleicht habe ich nicht mehr die Kraft.

Heute habe ich einen Hauch Leben gespürt.

Aber nicht hier.

Ich muss diesen Jungen wiederfinden.

2

Alter, so langsam geht der mir echt auf den Sack mit seinen Wheelies. Der fährt jetzt bestimmt schon zum zehnten Mal mit seiner Yamaha an uns vorbei, das macht mehr Lärm als ein Düsenjet beim Start. Mal ganz abgesehen von dem Benzingestank, geschmortem Gummi auf Asphalt und dem Qualm. Der Rauch von der Shisha steigt mir auch zu Kopf, und von dem Apfelgeschmack kommt’s mir langsam hoch. Ich setze aus.

»Willst du nicht mehr?«

»Nö.«

Driss reicht den Schlauch an Kevin weiter, und ich hab ein Déjà-vu. Wahrscheinlich, weil ich genau das gestern und vorgestern und die ganze letzte Woche gesehen habe. Es ist so normal geworden, auf der Rückenlehne der Bank zu sitzen, inzwischen tut mir nicht mal mehr der Arsch weh. Links von mir Kevin, wie immer mit seinem Paris-Saint-Germain-Trikot, rechts von mir Driss in seiner überweiten Jogginghose, in die locker zwei von ihm reinpassen. Wir gehören zur Ausstattung. Wie die Geier hocken wir vor Wohnblock B und lassen alles an uns vorbeiziehen, Leute, Autos, das Motorrad von dem Blödmann.

»Ey, was hast du denn da an?«

Stimmt, das war gestern noch nicht da: die knallroten Air Max an Driss’ Füßen. Hundertsiebzig musst du dafür blechen. Kevin kapiert’s nicht, und ich auch nicht, weil es über ein Jahr her ist, dass Driss ein Gehalt hatte, das war bei der Essensausgabe in der Pablo-Neruda-Schule – und da haben sie ihn nach drei Tagen rausgeschmissen, weil er die Kids zum Rauchen animiert hat.

»Sind die echt?«, fragt Kevin.

»Ja, klar, sind die echt. Direkt aus LA!«

»Laber nicht!«

»Doch, ich schwör! Hat mir mein Cousin organisiert.«

Ich schmeiß mich weg. Driss’ Cousin kennen wir schon. Oder besser gesagt, kennen wir nicht, weil es den nämlich nur in Driss’ Kopf gibt. Jahrelang haben wir auch an ihn geglaubt, einer von uns, der in Kalifornien sein Glück versucht hat. Er hat als Rapper eingeschlagen, Ferraris, Klamotten, I-Phones und Waffen vertickt, Battles im Surfen, Thaiboxen und MMA gewonnen, Models abgeschleppt und eine Mojito-Bar am Strand aufgemacht. Dann wurden wir älter, suchten ihn auf Facebook, Instagram und Snapchat, und, klar, da war er nicht, nirgends, weil es ihn nicht gibt. Driss’ Cousin ist eigentlich er selber, in seinen Träumen.

Mir geht das am Arsch vorbei, weil es eh zu spät ist, aber Kevin lässt nicht locker.

»Alter, jetzt hör doch mal mit dem Scheiß auf! Wo hast du die Nikes her?«

»Hab ich doch gesagt, du Penner, von meinem Cousin!«

»Als ob! Gibt’s den jetzt, oder wie?«

Ich klinke mich aus und gucke auf die Uhr, während Kevin an einem von Driss’ Schuhen herumzerrt, um ihn Driss auszuziehen. Fehlt mir grade noch, dass ich meinen Zug verpasse, ich bin diese Woche schon zweimal zu spät gekommen.

»Ha, fake, wusste ich’s doch!«, schreit Kevin triumphierend und hält einen roten Air Max hoch. »Made in China! Sogar das Logo ist falschrum!«

»Red kein Scheiß!«, grummelt Driss.

Ich schnappe mir meinen Rucksack, nehme einen letzten widerlich schmeckenden Zug aus der Shisha – keine Ahnung, wieso – und gehe Richtung Bahnhof. Sie rennen mir hinterher, jeder will mich auf seine Seite ziehen, sie halten mir den Schuh unter die Nase, damit ich Schiedsrichter spiele.

»Ist das fake oder nicht?«

»Was weiß ich, ist mir auch scheißegal, ich bin spät dran.« Kevin klopft mir mitleidig auf die Schulter.

»Echt, arbeitest du immer noch da? Alter, hast du nicht die Schnauze voll?«

»Wieso, ist mein Traumjob.«

»Jetzt mal ohne Scheiß … wie lange willst du das noch machen?«

»So lange, bis du mir ein Gehalt zahlst.«

Er grinst verschwörerisch und setzt eine geheimnisvolle Miene auf, wie immer, wenn er eine Schnapsidee hat. Beim letzten Mal ging es um das neueste Samsung, frisch vom Laster, für nur vierzig Euro. Wart’ ich bis heute drauf.

»Ist vielleicht gar nicht mal so unwahrscheinlich …«

»Was? Dass du mich bezahlst, damit ich hier bleibe?«

»Nein. Aber ich bin da an einem großen Ding dran. Wenn das erst mal läuft, kannst du aufhören mit deinem Scheißjob.«

»Lass mal, deine Dinger kennen wir schon.«

»Das hier noch nicht.« Ich zucke mit den Schultern, aber Driss hat angebissen und sieht sich schon auf seiner Dachterrasse in Los Angeles.

»Was denn jetzt? Worum geht’s da?«

»Kann ich noch nicht sagen. Aber wenn, seid ihr die Ersten.«

»Was Großes?«

»Genug, dass du dir echte Nikes kaufen kannst. Und den kompletten Foot-Locker-Laden!«

»Jetzt sag halt schon, Mann, um was geht’s da?«

Wie immer wird Driss ihn ewig bearbeiten müssen, ehe er’s endlich ausspuckt, und dann geht’s los, Spinnereien für mindestens eine Woche. Ich scheiß drauf, ich fall da nicht mehr drauf rein, ich hab weder vierzig Euro, die ich in ein imaginäres Handy stecken könnte, noch die Absicht, wieder bei krummen Dingern mitzumachen, die auf meine Mutter zurückfallen. Hätte ich jedes Mal, wenn meine Mutter meinetwegen zur Polizei musste, hundert Euro gekriegt, wäre ich reich. Letzte Woche erst hab ich ein I-Pad geklaut, das lag am Bahnhof auf einem Koffer, total dumm, total riskant, und es ist nur ein Fünfziger dabei rausgesprungen. Jetzt ist Schluss mit dem Scheiß.

*

Gang 13, Stellplatz B3. Zwei Bewegungen mit dem Schaltknüppel, Rückwärtsgang. Die Gabeln vom Gabelstapler schieben sich unter die Palette und heben sie fast mühelos an. Und es geht nach oben. Hoch über meinem Kopf, es wackelt ein bisschen, aber der Karton bleibt, wo er soll, und fällt brav an seinen Platz. Genau wie die anderen. Wie die vierunddreißig anderen vor ihm heute Nachmittag, alle mit der Aufschrift »zerbrechlich«, eine ständige Warnung, dass eine falsche Bewegung mich meine Prämie kosten kann. Die ersten paar Tage hat mich das gestresst, ich hatte feuchte Hände. Jetzt nicht mehr, ich weiß, wie’s geht. Mein Job ist wie ein riesiges Lego-Spiel, man muss Kisten auf Kisten stapeln, und das Lager ist so scheißgroß wie eine ganze Stadt. Einfach, mechanisch, stumpf, macht den Kopf frei und bringt am Monatsende tausend Euro ein, abzüglich der Vermittlungsgebühr an die Zeitarbeitsfirma. Verglichen mit der Arbeit bei Mäcces ist das ein echter Glücksgriff: Meine Klamotten stinken nicht, mir kommt nicht das Kotzen, und niemand schreit mich an. Darf nur nicht dran denken, dass ich mein Leben in diesen grauen Gängen verbringe, die so lang sind, dass man fast glauben könnte, sie führen irgendwohin.

Ich beschleunige.

Gaspedal durchdrücken.

Das ist mein kleines Vergnügen, volle Kanne durchs Lager, der ganze Fenwick vibriert, bis hinter zur Laderampe.

»Hey, piano, Malinski! Du bist hier nicht beim Großen Preis von Monaco!«

Ich bremse.

Die kotzen mich alle an, beim kleinsten Furz werden die Zügel angezogen, als ob ich was kaputt mache. Ich hab noch nie was verkackt, und auf den Bereichsleiter scheiß ich, der hasst sowieso alles – zu schnell fahren, zu langsam fahren, kurz Pause machen. Also setz ich meine Kopfhörer auf und drücke auf Play, so bring ich ihn zum Schweigen. Und dann dreh ich auf. Bis das Präludium von Bach die ganze Lagerhalle ausfüllt, vom Boden bis zur Decke. Wenn ich die Augen zumache, habe ich fast das Gefühl, dass meine Finger über die Tasten gleiten, dass ich im Takt des Fenwick spiele, auf den Tönen dahinfahre. Die Rädchen, das Geklapper, das Vibrieren, alles verschmilzt mit der Musik, und ich hebe ab, als würde ich auf Wolken schweben. Der Rückwärtsgang ist in c-Moll. Das Quietschen der Gabeln gibt das Tempo vor. Und die Musik strömt zu mir zurück, bis in die Fingerspitzen, ist im vibrierenden Lenkrad, wird eins mit meinem Herzschlag, und ich denke an nichts mehr, vergesse das Lager, die Kisten, die Stimme, die irgendwas in den Lautsprecher bellt, vergesse alles. Ich bin eins mit dem roten Stapler, verschmolzen mit dem Metall, bin ein Notenregen, und er auch.

Plötzlich ertönt ein durchdringendes Klingeln. Schrill. Endlos.

Feierabend.

Wie in der Schule.

»Ey, Mathieu, bist du taub, oder was?«

Nein, ich bin nicht taub, ganz im Gegenteil, aber ich hasse es, mitten im Stück einfach abzubrechen, das ist, als würde ich dem Pianisten den Klavierdeckel auf die Finger hauen.

Ein paar Lageristen in grauen Overalls gehen zu den Spinden, während ich den anderen hinterherfahre und meinen Fenwick ordentlich einparke, Stellplatz 7. Hier hat alles seinen Platz. Nur ich nicht.

»Was hörst’n?«, fragt der dicke Marco, er hat auf mich gewartet.

»Nichts. Radio.«

Er nickt automatisch, weil’s ihm im Grunde wurscht ist, was ich höre. Die Leute reden, um zu reden, um ihre Einsamkeit zu übertönen, und überhaupt besteht nicht die geringste Chance, dass er Bachs Präludium kennt. Niemand kennt Bachs Präludium. Marco ist Johnny-Hallyday-Fan, er hat sogar sein Konterfei auf dem Arm, mit einer Harley im Hintergrund; darunter steht Quelque chose de Tennessee in gotischer Schrift.

Auf dem Heimweg behalte ich das Präludium weiter im Ohr, damit ich den RER ertrage, als würde ich weiter allein durch leere Gänge fahren statt im vollen Zug. Komisches Wetter heute, weder schön noch schlecht, die Wolken hängen so tief, dass sie den Horizont verdecken. Nicht, dass es was zu sehen gäbe, aber trotzdem, wenn die Landschaft verschwindet, kommt mir die Fahrt noch länger vor. Zu viele Leute. Zu viel Lärm. Kein Bock, hier zu sein. Nicht mal Bock, nach Hause zu gehen, wo ich meinem Bruder Abendessen mache und dann vor der Glotze hänge oder noch mal zu den anderen runtergehe, wo wir über alles und vor allem über nichts reden, bis zwei Uhr morgens. Wenigstens mit einem hat Kevin recht: Tausend Euro ist nicht grad viel Geld für so ein beschissenes Leben.

Am Gare du Nord gibt es ein großes Gedrängel beim Aussteigen, zu den Rolltreppen stürzen, zu den Zügen in die Vororte sprinten. Ich halte mich rechts. Die Woge an Menschen, die wie angestochen die Treppen hochrennen, überholt mich, ich werde angerempelt und schaue einem Hintern in zu engen Jeans hinterher. Ein Kind lächelt mir zu, ein Typ im Anzug schreibt SMS, zwei Touristen streiten. Ich beobachte gerne Leute, das ist, als würde man ihnen kleine Stücke aus ihrem Leben klauen.

Oben schaue ich möglichst stur geradeaus.

Auf Anzeigen, Abfahrtszeiten.

Klavier ignorieren.

Aber niemand spielt. Pech gehabt. Ich hatte gehofft, es ist besetzt, eine Menschentraube drum herum, doch nein, es wartet auf mich, niemand da, ein leerer Klavierhocker und verwaiste Tasten. Als hätte ich ihm gefehlt. Als würde es mich stumm rufen. Jeden Tag dasselbe, immer gleich verlockend, und ich weiß nur zu gut, dass das eine bescheuerte Idee ist, weil die Bullen mich schon eine ganze Weile auf dem Kieker haben.

Zum Glück kann ich schnell rennen.

Der Form halber zögere ich noch einen Moment. Dabei weiß ich ganz genau, wie das ausgeht. Dann setze ich die Kapuze auf – nein, ist nicht unauffälliger, und ja, das sieht assi aus – und setze mich. Meine Finger gleiten über die Tasten, meine Füße suchen die Pedale. Ich atme ein paarmal tief durch. Langsam. Um meinen Atem zu beruhigen. Um mich zu beruhigen. Diesen Moment muss man genießen, wie ein Raucher den ersten Zug. Das ist meine Atempause heute. Die einzige, die ich habe. Gleich höre und sehe ich nichts mehr und denke nicht mehr an mein Leben.

3

Präludium und Fuge Nr. 2 in c-Moll. Wie beim ersten Mal. Mit derselben fliegenden Gewandtheit, derselben Energie, derselben Unbeschwertheit. Jede Note fällt dahin, wo ich sie erwarte, da, wo sie sein muss, in dieser unsichtbaren Harmonie, die der kleinste Fehler zerreißen könnte. Ein Musikstück ist wie ein Kartenhaus, ein Lufthauch genügt. Ich gehe langsam näher, fürchte, dass der Augenblick sich verflüchtigen könnte, dass dieser Junge, den ich gesucht habe wie Aschenputtel, wieder verschwindet. Schon seit einer Woche lebe ich von dieser Erinnerung, geistere in der Hoffnung, ihn wiederzusehen, um diese Uhrzeit im Gare du Nord herum. Ich weiß, wie ich aussehe, und das ist mir völlig egal. Beinahe hoffe ich, mich getäuscht zu haben, dass sein Präludium nur ein mühevolles Training, ein verkappter Geniestreich war, aber nein, seine Finger fliegen mit erstaunlicher Leichtigkeit über die Tasten.

Die Fahrgäste in diesem Feierabendgewühl sind in Eile, laufen um das Klavier herum, stoßen mit ihren Rollkoffern an den Hocker. Keiner von ihnen scheint sich von der Musik in ihren Bann ziehen zu lassen, und dabei … Der Gedanke, dass manche viel Geld für einen Platz in der ersten Reihe im Salle Pleyel für diese Interpretation von Bach bezahlen, ist komisch. Ich gehe vorsichtig noch einen Schritt näher, und kann noch immer nicht die Gesichtszüge des Jungen unter seiner Kapuze erkennen. Sein ganzer Körper schwingt mit der Musik, wie von einer Welle getragen, und seine großen Turnschuhe treten die Pedale mit einer Art beherrschter Gewalt herunter.

Zwei Polizisten patrouillieren, kaum zehn Meter entfernt.

Sie schauen her.

Ich halte den Atem an.

Dem Jungen auf die Schulter zu tippen, ihn aus seiner Trance zu reißen, wage ich nicht, doch dann wenden sie sich ab, und ich atme auf, denn ich denke gar nicht dran, ihn ein zweites Mal entwischen zu lassen. Jetzt, da ich ganz nah bin, sehe ich sein Gesicht, ich sehe, dass er mit geschlossenen Augen spielt. Ohne Zögern, ohne danebenzugreifen. Blind.

Ich muss mit ihm sprechen.

»Entschuldigen Sie …«

Diese zwei Wörter lassen ihn aufschrecken wie ein Pfiff. Aus seinem Präludium gerissen, als sei er aus dem Bett gefallen, schaut er mich verständnislos an, seine klaren blauen Augen funkeln voller Misstrauen. Er steht auf. Nimmt seinen Rucksack. Und stiefelt geradewegs davon, ohne sich umzudrehen.

»Warten Sie, gehen Sie nicht …«

Er wird schneller, und ich fange an zu laufen, mein Herz klopft. Den Kopf zwischen die Schultern gezogen, setzt er seinen Rucksack auf und bahnt sich einen Weg durch die Menge, wobei ihm seine jugendliche Geschicklichkeit, seine Turnschuhe und seine Erfahrung mit Stoßzeiten zugutekommen. Ich dagegen bin achtundvierzig Jahre alt, die Sohlen meiner Stiefeletten sind glatt, und es ist schon lange her, seit ich zuletzt in einem Fitnesszentrum gewesen bin.

»Ich möchte nur mit Ihnen sprechen!«

Verstohlen, mit dem Blick eines gehetzten Tiers, dreht er sich um.

»Ich hab nichts gemacht.«

»Oh, doch, Sie haben etwas gemacht: Sie haben das Präludium in c-Moll gespielt, wie ich es noch niemanden habe spielen hören.«

Nachdem er sich flüchtig umgeschaut hat, schenkt er mir ein leicht ironisches Lächeln.

»Und? Wollen Sie jetzt ein Autogramm?«

»Ich will nur eine Minute Ihrer Zeit.«

»Wozu?«

»Um mit Ihnen zu sprechen. Das ist das zweite Mal, dass ich Sie spielen höre und …«

Und Ende. Er verschwindet schon wieder im Getümmel, diesmal noch schneller, ich muss ihm fast hinterher sprinten.

»Warten Sie kurz … Ich heiße Pierre Geithner. Ich arbeite im CSMP. Das kennen Sie bestimmt.«

Ohne langsamer zu werden, ohne sich umzudrehen, als ob ich zu einer Kapuze sprechen würde, antwortet er kurz angebunden:

»Wo?«

»Im Conservatoire supérieur de musique de Paris, dem Pariser Konservatorium. Ich leite den Fachbereich Musik.«

Er stoppt abrupt, seine Haltung drückt seine Angriffslust aus, und ich erkenne ihn kaum wieder.

»Ich weiß nicht, was Sie wollen, aber ich muss meinen Zug kriegen. Also sind Sie jetzt mal bitte so nett und lassen mich in Ruhe.«

Hektisch wühle ich in der Innentasche meiner Jacke nach einer Visitenkarte, die, wie ich hoffe, seine Zweifel an meinen Absichten ausräumen wird. Und da er wieder weitergeht, schiebe ich mich durch die Scharen von Menschen, die sich auf dem Bahnsteig drängen.

»Kommen Sie zu mir ins Konservatorium«, sage ich und halte ihm meine Karte hin. »Wir könnten über Ihre Pläne reden, Ihre Karriere …«

»Genau, gute Idee«, antwortet er, ohne sie zu nehmen.

Ich beharre darauf. Viel tiefer kann ich in meinem Stolz jetzt auch nicht mehr sinken, und ich will mir nicht vorwerfen müssen, dass ich nicht alles versucht hätte.

»Nehmen Sie sie, das ist doch ganz unverbindlich … Bitte.«

Er ist schon mit einem Fuß auf dem Trittbrett des Zuges, als er sich ein letztes Mal umdreht, ärgerlich, aber auch neugierig. Als ich mit meiner ausgestreckten Hand dastehe, habe ich das unangenehme Gefühl, ein Zeuge Jehovas zu sein, der einem Atheisten eine Bibel anzudrehen versucht.

»Scheiße, Sie lassen echt nicht locker.«

»Nicht, wenn etwas es wert ist.«

Nach kurzem Zögern nimmt er schließlich die Karte, ohne sie anzuschauen, und vergräbt sie in der Gesäßtasche seiner Jeans. Ein Signal kündigt an, dass die Türen sich jetzt schließen, die letzten Fahrgäste zwängen sich in den Zug, und der Junge verschwindet, nachdem er sich mit einem Blick vergewissert hat, dass ich noch auf dem Bahnsteig stehe. Ich bin noch da. Ohne zu wissen, was ich eigentlich davon halten soll. Voller widersprüchlicher Gefühle. Und Musik. Meine innere Klaviatur schwingt noch im Rhythmus des Präludiums, dieses unvollendeten Stücks, von dem ich vielleicht niemals das Ende hören werde.

*

Rauchen ist wie eine alte Narbe, man wird sie nie wirklich los. Die letzte Zigarette ist fünf Jahre her, vielleicht länger, aber das Verlangen kommt manchmal in Wellen wieder, so stark, dass ich die Wärme zwischen meinen Fingern spüre. Und dieses Päckchen, schwarz, hässlich, mit Fotos von Raucherlungen bedruckt, zieht mich an wie ein Magnet.

»Willst du eine?«

»Nein, danke. Ich will nicht wieder anfangen.«

»Weiß ich doch, aber …«

Aber ich habe allen Grund, es zu tun. Ressigeac weiß das, wie alle, und trägt weiter sein beruhigendes Lächeln zur Schau, das genauso falsch ist wie eine von einem Erstsemester gespielte Sonate. Ich kenne ihn in- und auswendig. Ich weiß, dass er nach den richtigen Worten sucht, um mir das beizubringen, was ich seit Monaten befürchte.

Er faltet die Hände, stützt die Ellbogen auf den Tisch, holt tief Luft. Ich fand immer, dass er an einen Politiker erinnert, mit seinen graumelierten Haaren, seinen blauen Hemden, seinen tadellosen Sakkos und in dieser steifen Kulisse, wo alles in Reih und Glied steht. Ein großer Schreibtisch aus Glas, ohne den kleinsten Fingerabdruck, ein Chefsessel, ein gerahmtes Notenblatt und Fotos von Orchestern an der Wand – natürlich in Schwarzweiß. Nicht zu vergessen die scheußliche bronzene Mozartbüste aus dem 19. Jahrhundert, die ihm als Briefbeschwerer dient – fehlt nur noch eine Plakette »Souvenir aus Salzburg«. Sie ist der Stilbruch, die Kleinigkeit, die ihn verrät. Ressigeac haben die neuen Räumlichkeiten des Konservatoriums nie gefallen, zu modern, zu groß, zu hell, als ob der Schatten seiner Ahnen ihn zum Staub lockte. Wenn er die Wahl gehabt hätte, würde er diese ehrwürdige Institution von einem Schreibtisch aus Leder und dunklem Holz aus leiten, in einem Haus aus dem Zweiten Kaiserreich im Parc Monceau, sich Ballerinas halten und Havannazigarren rauchen statt seiner Marlboros Light.

»Ich will nicht um den heißen Brei reden, Pierre. Ich habe mit dem Ministerium gesprochen, und, gelinde gesagt, sind sie nicht zufrieden. Sie wollen uns die Mittel kürzen.«

»Das ist doch nichts Neues«, sage ich schulterzuckend.

»Die Anmeldungen sind im letzten Quartal um zwanzig Prozent zurückgegangen, das muss ich dir ja nicht sagen.«

Er sagt es mir nicht, sondern erinnert mich daran. In diesem zugleich scharfen und honigsüßen Ton, der so typisch für ihn ist.

»Ich kenne die Zahlen, André. Die Zeiten sind schlecht, das gilt für uns alle.«

»Nicht für alle Fachbereiche. Deiner befindet sich im freien Fall … Wenn das so weitergeht, werde ich die Professoren entlassen müssen.«

Mit dem Zeigefinger schiebe ich das Zigarettenpäckchen zurück, das mich betört wie eine Nixe auf einem Felsen.

»Was soll ich dazu sagen?«

»Nichts. Ich verstehe, dass du überfordert bist … Das wäre jeder an deiner Stelle. Aber versetz dich mal in meine Lage. Du lehnst Einladungen ab, lässt dich nicht mehr auf den Premieren sehen …«

»Das ist oberflächlicher Kram. Ich habe immer meine Arbeit gemacht.«

»Repräsentieren gehört dazu, Pierre. Du kannst das nicht vernachlässigen und hoffen, dass dein Fachbereich sich über Wasser hält.«

Da mir kein Argument einfällt, ziehe ich als Antwort nur die Augenbrauen hoch, was ihn hoffentlich an all die Jahre erinnern wird, in denen ich mich aufgeopfert habe, dank derer ich so weit gekommen bin. Man vergisst so leicht. All die Stunden, die sich angesammelt haben, die abgesagten Urlaube, die Leidenschaft, die ich in diese Abteilung investiert habe, die jetzt ins Schwimmen kommt.

»Du solltest dir etwas Zeit für dich nehmen«, spricht er mit einem väterlichen Lächeln weiter, das mich nicht täuschen kann. »Du und Mathilde, ihr müsst euch wieder ein bisschen zusammenraufen … Mal durchatmen, verreisen … Wie geht es ihr eigentlich?«

»Gut, danke.«

Ich hätte gern hinzugefügt: »Viele Grüße«, aber Ironie würde es nur noch schlimmer machen.

»Übrigens«, fährt er fort, »habe ich mich gefragt, ob du es nicht mit einer ruhigeren Stelle versuchen möchtest … Ein Konservatorium in einem Stadtteil zum Beispiel. Das würde dir helfen, ein bisschen zu verschnaufen, es wäre nur ein kurzer Anruf für mich.«

»Zu gütig.«

»Überleg es dir: Das könnte eine gute Lösung sein, so lange, bis du wieder auf Kurs bist.«

»Mit anderen Worten, du schmeißt mich raus«, sage ich mit einem kalten Lachen.

»Unsinn, Pierre. Ich will nur dein Bestes, und das weißt du.«

Ohne zu antworten, stehe ich auf. Ich habe genug gehört, und ich habe nicht vor, meiner eigenen Hinrichtung tatenlos zuzuschauen.

»Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, räumt Ressigeac ein und steht auch auf. »Kennst du Alexandre Delaunay?«

Diese Frage, eine rhetorische Frage, jagt mir einen kalten Schauer über den Rücken. Natürlich kenne ich Alexandre Delaunay, diesen kleinen karrieregeilen Streber, den Leiter des Konservatoriums in Bordeaux, das Prunkstück unter den letzten Schülern von Boulez, der weder eine Premiere noch ein Buffet auslässt, so dass er sich ausschließlich von Petit-Fours ernähren könnte. Ein Hai der jungen Generation, herangezüchtet von Sponsoren und Partnerschaften, die es fertigbringen würden, ihre Logos im Holz der Stradivari zu verewigen. Jeder kennt Alexandre Delaunay. Und jeder weiß, dass er seit jeher Paris anvisiert.

»Er ist interessant, jemand mit neuen Ideen«, fährt er in einem Ton fort, der mich beschwichtigen soll. »Ich treffe ihn nächste Woche, und ich denke, er könnte Lösungsstrategien für den Fachbereich haben … Dir zur Hand gehen, dir helfen, es anzupacken.«

»Ich brauche ihn nicht. Und auch sonst niemanden.«

Sein zweifelndes, herablassendes Lächeln ist wie ein Schlag ins Gesicht.

»Wie du meinst. Aber ich halte es für riskant, nicht nach dem Rettungsring zu greifen, wenn man am Tiefpunkt ist.«

Die Verlockung, ihm die Meinung zu sagen, ist fast noch stärker als der Ruf der Zigarette, aber ich werde dem nicht nachgeben. Ich kann mir nicht erlauben, meine Arbeit zu verlieren, das ist alles, was mir noch bleibt, sie ist mein Lebenssinn. Also schiebe ich meinen Stolz beiseite und bettele, wobei ich den Eindruck habe, meine letzte Munition zu verschießen.

»Du musst mir einfach vertrauen, André … Du kennst mich! Ich werde das Ruder rumreißen, ich schwöre dir, ich finde eine Lösung.«

»Wenn es nach mir ginge …«

»Gib mir noch ein bisschen Zeit. Nur ein bisschen Zeit. Mehr verlange ich gar nicht.«

Großmütig legt König Salomon mir die Hand auf die Schulter.

»Einverstanden«, willigt er mit einem Lächeln ein. »Aber ich erwarte von dir, dass du dich ins Zeug legst.«

»Das kannst du.«

Ich schleiche aus seinem Büro wie ein Kind, das gerade versprochen hat, nun artig zu sein, lehne mich an die Wand im Flur und atme endlich durch. Und ich lächle. Vor Erleichterung, aus Scham, vor Wut, ich kann es gar nicht mehr sagen. Diesen Fachbereich habe ich vor zehn Jahren eigenhändig aufgebaut, wurde mit Komplimenten und Ehrungen überschüttet. Und all das, um mich jetzt hier wiederzufinden, betteln zu müssen um meinen eigenen Posten, in einem Sinkflug, der mich unaufhaltsam zum Grund zieht. Und das Komischste ist – wenn ich so sagen darf –, ich bin fast sicher, dass ich untergehen werde.

4

Seit sie die Autos davor angezündet haben, sieht der Basketballplatz aus wie Syrien, nur dass wir hier Scheißwetter haben. Die Wände sind getaggt, die Linienmarkierungen fast verwischt, das Netz am Korb ist weg und beim Anblick der Hochhäuser will man sich am liebsten die Kugel geben. Ich hab da auch ein-, zweimal gespielt, weil Driss für den Versuch, ein zweiter Tony Parker zu werden, einen Partner brauchte. Lange ging das nicht, nicht viel länger als der Plan, Surfen zu lernen, auf einem Holzbrett, mit einem Youtube-Tutorial. Ohne Meer war das allerdings auch ziemlich ehrgeizig. Und nun komme ich jeden Tag zu diesem öden Spielfeld und hole meinen kleinen Bruder ab, der nur für den Basketball lebt. Schon witzig, wie sicher er sich ist, dass er in der NBA einschlagen wird wie eine Bombe, wenn er groß ist, als ob er die ganzen Typen nicht sieht, die ihre Träume begraben haben und nun im fettigen Dunst Chicken McNuggets servieren. Ist schon toll, wenn man erst neun Jahre alt ist.

»David!«

Ich rufe ihn zum dritten Mal, und zum dritten Mal winkt er mir kurz zu und rennt weiter. Wie jeden Tag. Das Match steht auf der Kippe, es geht um den Punkt des Jahres, und ich muss diskutieren, ihn förmlich vom Platz zerren, als würde es mir Spaß machen, mich um seine Hausaufgaben zu kümmern. Manchmal denke ich, dass ich zu oft auf meinen Bruder aufgepasst habe, um selbst Kinder zu wollen.

»Verdammt nochmal, David!«

Eine letzte Runde High-Fives und Umarmungen – als würden sie sich nie wiedersehen – und dann kommt er endlich, verschwitzt und außer Atem, aber ungeheuer froh, dass er einen letzten Korb werfen durfte.

»Die haben wir richtig gefickt!«

»Du redest mal bitte nicht so, weil am Ende werd ich angeschnauzt.«

Er schmeißt sich weg mit seinem Kindergesicht, das so gern älter aussehen will.

»Stimmt aber, wir haben die gefickt! Was soll ich denn sonst sagen?«

»Keine Ahnung, was du willst, aber nicht ›gefickt‹. Oder du klärst das mit Maman.«

»Okay … wir haben die geschlagen.«

»Na also, geht doch.«