Der kleine Inselladen & Das kleine Eiscafé - Fenna Janssen - E-Book
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Der kleine Inselladen & Das kleine Eiscafé E-Book

Fenna Janssen

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Beschreibung

Zwei Sommerromane von Fenna Janssen in einem E-Book.

Der kleine Inselladen.

Nach Jahren in der Großstadt kehrt Spitzenköchin Jette zurück auf die Insel Spiekeroog. Entsetzt stellt sie fest, dass Oma Tildes Tante-Emma-Laden kurz vor dem Ruin steht. Für Jette kommt ein Verkauf nicht in Frage, schließlich verbrachte sie hier die schönsten Stunden ihrer Kindheit. Aber wie kann sie den Laden retten? Als dann plötzlich Benno vor ihr steht, wird es richtig kompliziert. Er war ihre erste große Liebe, doch nach ihrem gemeinsamen Sommer ist er einfach verschwunden. Und auf einmal befindet sich ihr Herz in Seenot … 

Das kleine Eiscafé.

Als Sophie von ihrem Freund verlassen wird, steht ihr Leben kopf. Angelo hat sich mit ihrem ganzen Ersparten davongemacht, nur seine alte Eismaschine ist noch da. Um Trost zu finden, fährt Sophie zu Tante Freda nach Langeoog. Aber statt sich im Strandkorb ihrem Liebeskummer hinzugeben, soll sie Fredas kleinen Kiosk hüten. Die Geschäfte laufen nur schleppend, nebenan wurde gerade ein Eiswagen aufgestellt. Aus Langeweile fängt Sophie an, ihre eigenen Eiskreationen herzustellen, was bei den Insulanern für großen Anklang sorgt. Besonders bei Matteo, dem Besitzer des Eiswagens ...

Romantisch und voller Witz – die perfekte Lektüre für den Strandkorb.

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Zwei Sommerromane von Fenna Janssen in einem E-Book!

Der kleine Inselladen.

Nach Jahren in der Großstadt kehrt Spitzenköchin Jette zurück auf die Insel Spiekeroog. Entsetzt stellt sie fest, dass Oma Tildes Tante-Emma-Laden kurz vor dem Ruin steht. Für Jette kommt ein Verkauf nicht in Frage, schließlich verbrachte sie hier die schönsten Stunden ihrer Kindheit. Aber wie kann sie den Laden retten? Als dann plötzlich Benno vor ihr steht, wird es richtig kompliziert. Er war ihre erste große Liebe, doch nach ihrem gemeinsamen Sommer ist er einfach verschwunden. Und auf einmal befindet sich ihr Herz in Seenot …

Das kleine Eiscafé.

Als Sophie von ihrem Freund verlassen wird, steht ihr Leben kopf. Angelo hat sich mit ihrem ganzen Ersparten davongemacht, nur seine alte Eismaschine ist noch da. Um Trost zu finden, fährt Sophie zu Tante Freda nach Langeoog. Aber statt sich im Strandkorb ihrem Liebeskummer hinzugeben, soll sie Fredas kleinen Kiosk hüten. Die Geschäfte laufen nur schleppend, nebenan wurde gerade ein Eiswagen aufgestellt. Aus Langeweile fängt Sophie an, ihre eigenen Eiskreationen herzustellen, was bei den Insulanern für großen Anklang sorgt. Besonders bei Matteo, dem Besitzer des Eiswagens ...

Romantisch und voller Witz – die perfekte Lektüre für den Strandkorb.

Über Fenna Janssen

Fenna Janssen wurde in Lübeck geboren und wuchs in Hamburg auf. Viele Jahre war sie als Journalistin für diverse Zeitungen tätig. Inzwischen arbeitet sie erfolgreich als Autorin und bleibt auch in ihren Büchern ihrer norddeutschen Heimat treu.

Im Aufbau Taschenbuch sind bereits ihre Romane „Der kleine Inselladen“ und „Das kleine Eiscafé“ erschienen.

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Fenna Janssen

Der kleine Inselladen&Das kleine Eiscafé

Zwei Sommerromane von Fenna Janssen in einem E-Book!

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Der kleine Inselladen

Teil 1 – Neubeginn am Meer

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

Teil 2 – Stürmische Zeiten

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

Teil 3 – Krabben zum Frühstück

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

Das kleine Eiscafé

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

Impressum

Fenna Janssen

Der kleine Inselladen

Roman

Teil 1 – Neubeginn am Meer

1. Kapitel

»Hallo Schatz«, sagte Jette und wischte sich mit einem Geschirrtuch über die Stirn. »Ist ein schlechter Moment.«

»Das ist es bei dir ja meistens.« Roberts Stimme klang leicht verzerrt durch das Smartphone, was jedoch auch am Brodeln, Köcheln und Dampfen um sie herum liegen mochte. »Aber diesmal kann es nicht warten. Ich werde befördert!«

Vor Schreck ließ Jette ihr schärfstes Messer auf das Schneidebrett fallen. Das Stück Thunfischfilet, das sie in dünne Scheiben schnitt, wurde in der Mitte aufgespießt, und als das Messer zur Seite kippte, klaffte ein Loch darin. Den konnte sie jetzt nicht mehr gebrauchen. Seufzend legte Jette das Filet beiseite.

Ihr passierte nur höchst selten ein Ungeschick in der Küche, und das wurde im italienischen Sternerestaurant »La Luna« auch nicht anders erwartet. In dem gut besuchten Lokal, nur einen Steinwurf entfernt vom Englischen Garten in München, arbeiteten nur absolute Spitzenköche, und Jette von Straten war stolz darauf, dass sie seit drei Jahren zur Mannschaft gehörte. Ihr Chef Pasquale Battelli hatte sie von Anfang an gefördert, aber wenn sie noch mehr von dem kostbaren japanischen Thunfisch verdarb, würde sie bald unten durch sein. So jovial Pasquale sich gern den Gästen gegenüber gab, so fröhlich er in seiner TV-Kochshow wirkte – Mitarbeiter, die Fehler machten, wurden bei ihm schneller gefeuert, als sie einen schwarzen Trüffel kleinhobeln konnten.

»Bist du noch dran?«, fragte Robert mit jenem Hauch von Gereiztheit, der seit einiger Zeit einfach nicht mehr aus seiner Stimme verschwinden wollte.

»Entschuldigung, ja.« Jette überlegte, ob sie gefahrlos den Pistazienmantel für die Thunfischscheiben vorbereiten konnte, während sie telefonierte. Aber dann beschloss sie, lieber schnell das Gespräch mit Robert zu führen und sich dann wieder mit voller Konzentration ihrer Arbeit zu widmen.

Wenn Pasquale sie mit dem Smartphone in der Hand erwischte, war ohnehin die Hölle los.

»Du wirst befördert«, presste Jette hevor. Ihr Herz geriet aus dem Takt, und sie musste sich mit der freien Hand an der Kante der Arbeitsfläche festhalten.

Plötzlich war er da, der Moment, vor dem sie sich seit mehr als einem Jahr fürchtete. Seit dem Tag, an dem Robert in einem ungewohnten Anfall von Abenteuerlust seine Stellung bei der Stadtsparkasse in München aufgegeben hatte, um für eine Privatbank aus Monaco zu arbeiten.

»Stell dir vor«, hatte er damals gesagt. »Mit etwas Glück könnte ich eines Tages im Fürstentum leben, wenn dort bei der Bank eine Stelle frei wird. Wäre das nicht herrlich? Keine verregneten Sommer und keine kalten Winter mehr, nur noch Sonne, schöne Menschen und leckere französische Küche.«

Jette mochte das Münchener Wetter eigentlich ganz gern, obwohl ihr manchmal der frische Wind über der Nordsee fehlte, ebenso wie der endlose Himmel ihrer flachen Heimat. Besonders an die Berge hatte sie sich noch immer nicht gewöhnt. Es war schwierig, wenn der Blick ständig gegen einen Gipfel knallte, anstatt frei in die Ferne zu schweifen. Die Leute hier fand sie eigentlich nicht besonders hässlich, nur der bayerische Dialekt bereitete ihr auch nach zehn Jahren noch immer Schwierigkeiten. Und die gehobene italienische Küche war ihr allemal lieber als französische Froschschenkel oder ähnliches Zeug. Da war sie stellvertretend für ihren Chef ganz italienisch-patriotisch. Aber sie hütete sich, ihre Meinung laut kund zu tun. Schließlich liebte sie Robert, und außerdem war eine Versetzung nach Monaco ja doch mehr als unwahrscheinlich, das jedenfalls sagte sie sich beides täglich aufs Neue.

Irrtum. Nun hatte sie den Salat. »Mit Stückchen von kalten Froschschenkeln an Vinaigrette, bestimmt.«

»Was hast du gesagt?« Roberts Stimme klang um einiges gereizter.

»Äh – nichts.« Sie wusste, jetzt wäre Jubel angebracht gewesen, aber sie hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Jetzt mach mal halblang, versuchte Jette, sich zu beruhigen. Eine Beförderung hatte gar nichts zu bedeuten. Bestimmt musste Robert noch viele Sprossen auf der Karriereleiter erklimmen, bevor er an eine Versetzung ins sonnige Monte Carlo überhaupt denken konnte.

Eine dumpfe Ahnung jedoch sagte ihr, dass die Dinge anders lagen, dass Robert womöglich schon bald wegziehen würde. Weg von München, weg von ihr. Sie versuchte, zu ergründen, was sie dabei empfand, aber außer einer diffusen Angst vor einsamen Nächten fand sie vorerst nichts.

»Jette, hallo? Bist du noch dran? Was sagst du denn dazu?«

»Das ist toll!« Sie stellte auf Lautsprecherfunktion und legte das Smartphone auf einen sauberen Teller. Dann schnappte sie sich einen langen Holzlöffel und rührte in dem großen Topf mit Nudelsoße für das zweite Gericht, für das sie an diesem vorletzten Montagabend im April zuständig war: Tagliolini mit Pfifferlingen, Petersilie und Kalbsjus. Die Soße konnte nicht warten.

»Du freust dich ja gar nicht.« Robert klang richtig sauer.

Jette sah auf und bemerkte, wie Marie, ihre Kollegin und beste Freundin, mit dem Daumen über die eigene Kehle fuhr.

Upps! Gefahr im Anflug. Schätzungsweise in Gestalt von Pasquale.

»Doch, und wie!«, sagte sie schnell zu Robert. »Ich freue mich sehr für dich.«

»Hörst dich aber nicht so an.«

»Schatz, mein Chef kommt. Und wenn ich nicht in den nächsten zwanzig Sekunden meinen Job verlieren will, muss ich auflegen. Wir reden morgen, okay?«

Der frühe Vormittag war die einzige Zeit des Tages, in der sie einigermaßen entspannt zusammen sein konnten. Obwohl Jette von einer langen Nacht im »La Luna« oft noch übermüdet war, zwang sie sich, jeden Morgen um sieben aufzustehen, um mit Robert anderthalb Stunden zu verbringen, bevor er in die Bank musste.

Wenn er abends heimkam, war sie schon längst wieder bei der Arbeit.

Wie eine Beziehung auf Dauer so funktionieren konnte, war ihnen inzwischen beiden ein Rätsel, aber Jette ahnte, Robert wollte es lieber nicht wahrhaben, genauso wenig wie sie selbst.

Tja, dachte sie jetzt. Der sucht lieber das Weite.

»Bis morgen«, sagte sie noch und konnte regelrecht hören, wie ihr Freund beleidigt die Mundwinkel herabzog. Schließlich kannte sie ihn seit drei Jahren und wusste ziemlich genau, wie er tickte. Abgesehen von seinen fürstlichen Flausen war Robert das Paradebeispiel eines strebsamen und ernsthaften Norddeutschen. Auch ein bisschen dröge, wie man im Norden sagte, was nicht nur trocken bedeutete, sondern auch: ein wenig langweilig und nicht gerade humorvoll. Aber seine absolute Zuverlässigkeit machte diese kleinen Fehler Jettes Meinung nach zu hundert Prozent wieder wett. Sie hatte mit ihm das große Los gezogen, und Zweifel waren nicht geduldet. Mit Anfang dreißig und nach einigen Fehlversuchen musste eine Frau schließlich wissen, wohin sie gehörte. Und Robert war schnell beleidigt. Ein Sensibelchen eben. Da musste sie aufpassen.

Sie hatten sich in einer Schwabinger Kneipe an einem Stammtisch kennengelernt, der den griffigen Namen »Fischköpfe im Lederhosenland« trug, wo sich norddeutsche Zuwanderer einmal im Monat über ihren Kulturschock auslassen konnten. Und Robert Stelling war mit seiner mittleren Größe und dem raspelkurzen schwarzen Haar zwar nicht das Ebenbild eines Hanseaten, aber er sprach mit plattdeutschem Einschlag, er lachte über dieselben Witze wie Jette und schwärmte von einer leckeren panierten Nordseescholle.

Jette hatte zu der Zeit unter einem lang anhaltenden Anfall von Heimweh gelitten. Weniger nach Hamburg, wo sie aufgewachsen und zur Schule gegangen war, sondern nach der Nordseeinsel Spiekeroog, wo ihre heißgeliebte Oma Tilde lebte und wo sie als Kind in den Ferien so glücklich gewesen war, wie sie es in der feinen Villa ihrer Eltern in Hamburg-Blankenese niemals hatte sein können. Die Insel, das wusste sie, seit sie in München lebte, war ihre wahre Heimat. Wenn jemand sie aufforderte, doch mal von zu Hause zu erzählen, erwähnte sie selten ihre Eltern oder Hamburg, konnte sich dafür stundenlang über Spiekeroog auslassen, über das Wattenmeer und die Salzwiesen, über die Lachmöwen und die Brandgänse, über die Fischer und die Geschäftsleute, die den Touristen das Geld aus der Tasche ziehen konnten, wie einst die Strandräuber dem Meer seine Schätze abgerungen hatten.

Aber vor allem erzählte sie von Tilde, dieser starken Frau, die vor fünfzig Jahren ihrer großen Liebe Hinnerk Eriksen auf die Insel gefolgt und für immer geblieben war. Selbst nach dem viel zu frühen Tod ihres Mannes. Aus dem Nichts hatte sie einen kleinen Laden aufgebaut, in dem es von Angelhaken über Dosenpfirsiche bis hin zu Lockenwicklern so ziemlich alles zu kaufen gab, was man sich nur vorstellen konnte. Sie hatte ihre Tochter Martha allein großgezogen und ihr die Liebe zur Insel täglich eingetrichtert.

Bloß war sie damit gescheitert. Martha hatte es gar nicht abwarten können, von dort wegzukommen. Nach Hamburg, in die große weite Welt. Erst bei ihrer Enkelin war Tildes Heimatverbundenheit auf fruchtbaren Boden gestoßen. Und wenn es nach Jette gegangen wäre, dann wäre sie für immer dort geblieben. Jedenfalls bis sie so fünfzehn, sechzehn war. Später zog es auch sie fort, doch seitdem, seit mehr als zwanzig Jahren, hatte sie immer dieses seltsame Gefühl, dass etwas fehlte, dass sie nicht vollständig war. Zugleich konnte sie sich ein Leben auf der Insel schon längst nicht mehr vorstellen. Alles erschien ihr dort so klein, so eng. Jette musste sich eingestehen, dass sie sich inzwischen zu weit von Spiekeroog entfernt hatte. Diese Entfernung maß sich nicht nur in Kilometern, sondern auch in Lebenserfahrung, in Gewohnheiten.

In Tildes Inselladen hatte Jette schon als Kind gern hinter dem Tresen gestanden, auf einem Hocker, weil sie so klein war und auch nie wirklich groß werden sollte. Sie hatte die gutmütigen Sprüche der Kundinnen ertragen, die sich über diese lütte Deern mit den dunklen Augen und braunen Haaren wunderten, die in einer Familie von großen blonden Menschen aus der Art geschlagen war. Und dann hatte sie Mehl abgewogen, Eier gezählt und Zucker in dreieckige braune Tütchen gefüllt. Dort im Laden hatte sie schneller Kopfrechnen gelernt als in der Schule, und wenn sie sich genug in die Höhe gestreckt hatte, so hatte sie auch die alte monströse Registrierkasse bedienen können.

Und so erzählte und erzählte Jette, mit leuchtenden Augen und Sehnsucht im Herzen. Meistens war sie nur zum Schweigen zu bringen, wenn ihr jemand einen Küstennebel ausgab. Das war ein hochprozentiger Anisschnaps, der nach den Weiten der Nordsee schmeckte. Sonst redete sie womöglich noch die ganze Nacht.

»Man könnte meinen, du liebst diese blöde Insel mehr als mich«, hatte Robert sich mal beschwert. Was natürlich Blödsinn gewesen war, denn ein Mann war keine Insel.

Schade eigentlich.

Hinter Marie tauchte jetzt Pasquale auf. Jette kämpfte gegen die Versuchung an, das verdorbene Stück Thunfisch unter einem dicken Pistazienmantel zu verstecken. Es hätte keinen Sinn gehabt. Pasquale besaß ein unheimliches Gespür für Fehler. Und einem Gast, der bereit war, ein kleines Vermögen für ein Menü im »La Luna« auszugeben, durfte keine beschädigte Ware untergeschoben werden. Das war in den Augen des Chefs Hochverrat.

Jette erinnerte sich nur zu gut an den Kochlehrling im dritten Jahr, der einmal einen Fehler vertuscht hatte, indem er mit Pinienkernen statt mit Walnüssen gefüllte Ravioli hatte rausgehen lassen. Der Gast hatte das Gericht bemängelt, Pasquale war knapp an einem Schlaganfall vorbeigeschrammt, der Lehrling arbeitete heute in der bayerischen Provinz und kochte Schweinshaxe mit Knödeln.

»Robert«, flötete sie liebevoll in Richtung Smartphone. »Ich backe dir morgen früh Rosinenbrötchen. Dann erzählst du mir alles in Ruhe, ja?«

Sie würde dafür noch eine halbe Stunde früher aufstehen müssen als sonst, aber im Augenblick war sie zu jedem Opfer bereit, wenn sie ihn nur friedlich stimmte.

»Geht klar.« Seine Mundwinkel schienen sich zu heben, er hörte sich beinahe fröhlich an, bloß ein klein bisschen nervös.

Sie wollte schon auf das Display tippen, um das Gespräch zu unterbrechen, als er noch hinzufügte: »Dann besprechen wir auch den Umzug. Bis dann.«

Auf einmal hatte es Robert eiliger als Jette, das Telefonat zu beenden, und die Verbindung war tot, bevor sie nur den Arm ausstrecken konnte.

Kurz rieb sie sich über die Stirn. Eine Beförderung ist eine Beförderung, sagte sie sich. Keine Versetzung. Daran hielt sie sich fest. Und das abgebrochene Gespräch eben?, fragte eine lästige Stimme in ihrem Kopf. Jette hörte nicht hin. Bestimmt war nur der Akku seines Smartphones leer gewesen. Solche Kleinigkeiten vergaß Robert leicht. So gewissenhaft er in seinem Job war, so gedankenlos war er in alltäglichen Dingen. Ohne eine Frau, die Tag für Tag für ihn da war, ihm die Wäsche machte, die Wohnung putzte und für ihn kochte, wäre er nicht zurechtgekommen.

Jette tat es gern, auch wenn ihre Rollenverteilung auf andere Leute mittelalterlich wirkte. Ihr gefiel es, so sehr von ihrem Freund gebraucht zu werden. Und zum Ausgleich überraschte Robert sie immer mal wieder mit einer Einladung in ein Rockkonzert, mit Theaterkarten oder mit einem Ausflug an den Starnberger See.

Jette seufzte. Aber was sollte nun werden? Was tat Robert ihr nur an? Sie fühlte sich wie gelähmt und fragte sich einen schrecklichen Moment lang, wie sie den heutigen Abend durchstehen sollte.

Dann verbannte sie mit aller Kraft sämtliche negativen Gedanken, ließ das Smartphone in einer Besteckschublade verschwinden und rührte mit hochkonzentriertem Blick die Nudelsoße um.

Pasquale schlängelte sich an Köchen, Lehrlingen und Gehilfen vorbei direkt auf sie zu.

»Ich habe ein Stück Thunfisch versaut«, sagte Jette, als er vor ihr stand. Lieber gleich alles gestehen und das Donnerwetter ertragen. Das war ihre Devise. So hatte sie es von Oma Tilde gelernt. Einem Sturm aus Nordwest wich man auf einer kleinen Insel nicht aus. Man duckte sich und überstand ihn.

Zunächst hob ihr Chef nur angesichts ihrer Wortwahl seine buschigen grauen Augenbrauen. Ihren Hang zu deftigen Ausdrücken hatte sie auch von Tilde.

»Versaut?«, wiederholte Pasquale.

»Ein Loch reingebohrt«, präzisierte Jette. »Mitten durch.«

»In den japanischen Thunfisch für hundertzwanzig Euro das Kilo?«

»Jep.«

Pasquale begann, stoßweise zu atmen.

»Kratz bitte nicht gleich ab«, bat Jette. »Wäre schade um dich.«

Pasquale klappte den Mund auf und zu. Dann machte er abrupt kehrt und ging.

Noch mal davongekommen, dachte Jette erleichtert.

Über die Schulter sagte er: »Den Schaden ziehe ich dir vom Gehalt ab. Und übrigens wollte ich dir ein Angebot machen. Aber nun muss ich noch einmal darüber nachdenken.«

Spät in der Nacht saßen Jette und Marie zusammen in der leeren Küche auf dem spiegelblanken Fußboden bei einer Tasse Kaffee mit viel Zucker. Sämtliche Mitarbeiter waren heimgegangen, sogar die Lehrlinge im ersten Jahr, die bis zuletzt Pfannen, Töpfe, Arbeitsflächen, Kochplatten und Öfen geputzt hatten.

»Ein Angebot?«, hakte Marie nach und lehnte ihren Rücken so bequem wie möglich gegen einen der riesigen Kühlschränke. »Von unserem Chef? Ist es das, was ich denke?«

Marie stammte aus einem kleinen Ort in der Nähe von Magdeburg und hatte sich anfangs in München genauso fremd gefühlt wie Jette. Schnell waren sie Freundinnen geworden, und Marie machte es ihr leicht, weil sie niemals neidisch war. Vom ersten Tag an hatte sie Jette klargemacht, dass sie selbst vielleicht einen ganz guten Potager abgab, das war in einer großen Küche der für die Suppen zuständige Koch. Niemals jedoch würde sie Jettes Kunst und Können erlangen. Aber das sei auch in Ordnung, sie strebe gar nicht nach Höherem. Ein Job im »La Luna« sei schon hundertmal mehr, als sie sich jemals erhofft hatte.

»Ich weiß nicht«, gab Jette jetzt zurück, obwohl sie es in Wahrheit doch wusste.

»Pasquale bietet dir die Partnerschaft an«, sagte Marie mit fester Stimme. »Er hat doch schon mal davon geredet, weißt du nicht mehr? Vor drei Monaten auf der Weihnachtsfeier.«

»Da hatte er zu viel Prosecco getrunken.«

»Nö. Der war ziemlich nüchtern, als er sagte, er wolle in Zukunft mehr sein Leben genießen und deshalb einen Partner ins Geschäft aufnehmen. Dabei hat er zuerst die neue Kellnerin mit dem Doppel-D-Körbchen angestarrt und dann dich. Die Rollenverteilung war klar.« Marie kicherte.

Jette rührte umständlich ihren Kaffee um.

»Nach der Sache mit dem Thunfisch überlegt er es sich bestimmt noch einmal anders.«

Sie war sich nicht sicher, was sie sich wünschen sollte. Wenn ihr Chef sie wirklich auswählte, dann würde sie für diese Partnerschaft nicht nur ihre gesamten Ersparnisse plus einen Zuschuss von ihren Eltern benötigen. Sie wusste auch, Pasquale würde erwarten, dass sie einen zweiten Michelin-Stern für das »La Luna« erkochte. Und das würde ein ungeheuer großes Stück Arbeit werden. Von einer Sterneköchin wurde erwartet, dass sie einzigartige Gerichte servierte, dass sie die Kunst beherrschte, verschiedenste Geschmacksrichtungen harmonisch in Einklang zu bringen, und immer wieder kreativ war. Und noch so einiges mehr. Vor allem durfte sie niemals nachlassen, sondern musste sich jeden Tag aufs Neue der Herausforderung stellen. Wenn sie jetzt schon an die sechzig Stunden pro Woche arbeitete, würden es in Zukunft achtzig werden.

Mindestens.

Für ein Privatleben hätte sie dann keine Zeit mehr, und natürlich auch für keine Partnerschaft.

Jette zuckte zusammen. Sie dachte an Robert und an das, was er vor ein paar Stunden zu ihr gesagt hatte. Über seine Versetzung, über einen gemeinsamen Umzug. Robert ging wie selbstverständlich davon aus, dass Jette mit ihm nach Monaco ziehen würde. Wieso eigentlich?, fragte sie sich. War seine Karriere wichtiger als ihre?

»So ’n Shiet!«, stieß sie aus.

»Was ist denn los?«, fragte Marie.

»Ich brauche was Stärkeres als Kaffee.«

Ihre Kollegin grinste. »Deine komische Küstenwolke haben wir hier aber nicht.«

»Nebel, nicht Wolke.«

»Den auch nicht.«

»Ein Obstler tut’s auch.«

»In Ordnung.« Marie rappelte sich hoch, öffnete den Kühlschrank in ihrem Rücken und holte eine Flasche Birnengeist heraus. Dann schnappte sie sich zwei Gläser, goss ein und ließ sich von Robert und Monaco erzählen.

»Was wirst du jetzt tun?«, fragte sie, als Jette geendet hatte.

»Ich habe keine Ahnung.«

2. Kapitel

Der tiefe Klang eines Schiffshorns dröhnte über das Meer. Jette stand auf einer Braundüne am Nordstrand von Spiekeroog und beobachtete den großen Pott, der in Richtung Cuxhaven zur Elbmündung fuhr. Dort würde er dann den breiten Strom bis nach Hamburg durchpflügen, wo er seine Last abwerfen und neue aufnehmen würde. Der Riese war über und über mit Containern beladen, die von Jettes Aussichtspunkt aus wie bunte Legosteine wirkten. Oma Tilde hatte ihr erzählt, was sie von den alten Einheimischen aus der goldenen Zeit vor der Container-Schifffahrt erfahren hatte. Als die Pötte ihre Ladung noch im Frachtraum gestapelt hatten und als die Insulaner nur darauf warteten, dass ein dicker Sturm aufzog, der so manches Frachtschiff an ihr Ufer spülte. Das waren Freudenfeste gewesen, wenn sie Kisten voller Whisky, kostbares Tuch oder sogar Goldmünzen erbeutet hatten!

Manch ein Schiff blieb auch bei Ebbe im Wattenmeer liegen, weil die Kapitäne aus aller Welt nicht immer gut über die Gezeiten informiert waren. Dann wurde es jedoch schwieriger, Beute zu machen, denn die Mannschaften gaben ihre Fracht nicht kampflos her, und so mancher Mann von Spiekeroog überlebte einen solchen Raubzug nicht. Jette hatte dann wissen wollen, ob ihr toter Opa ein Pirat gewesen war, aber da hatte Oma Tilde immer aufgehört zu erzählen und sich schniefend über die Augen gewischt. Erst als sie schon erwachsen gewesen war, hatte Jette erfahren, dass Hinnerk Eriksen auf seinem Krabbenkutter einen Herzinfarkt erlitten hatte.

Er war nur fünfunddreißig Jahre alt geworden.

Wieder dröhnte das Schiffshorn laut durch die kleine Schwabinger Wohnung.

»Stell endlich die blöde Tröte ab«, schimpfte Robert im Halbschlaf.

Jette fuhr hoch. Okay, sie musste dringend einen anderen Weckton auf dem Smartphone einstellen.

Sie stand auf und verschwand aus dem Schlafzimmer.

Eine halbe Stunde später weckte sie Robert mit einem sanften Kuss.

»Die Rosinenbrötchen sind gleich fertig.«

»Hm«, brummte er nur. Aber schließlich wälzte er sich aus dem Bett und erschien kurz darauf frisch geduscht und topfit in der Küche. Kein Wunder. Er hatte ja auch seine acht Stunden Schlaf bekommen.

Jette hingegen fühlte sich wie gerädert, und vorhin im Spiegel hatte sie tiefe dunkle Ränder unter ihren Augen entdeckt.

Still saß sie mit ihrem Freund am Küchentisch und knabberte lustlos an einem halben Brötchen.

»Was ist los mit dir?«, fragte er gut gelaunt. »Träumst du mal wieder?« Er zog sie gern damit auf, dass sie von Zeit zu Zeit gar nicht richtig da war und gedankenverloren in die Ferne schaute. Heute hatte sie nicht mal ein müdes Lächeln dafür übrig.

»Nein. Ich schlafe noch.«

Sofort war er eingeschnappt. »Niemand zwingt dich, so früh aufzustehen.«

Jette presste die Lippen aufeinander. Jetzt ein falsches Wort, und es würde Streit geben. Dabei war es wichtig, dass sie friedlich miteinander redeten. Ihre Beziehung, das spürte sie, war an einem Scheideweg angekommen. Daher trank sie nur von ihrem Kaffee und wartete ab.

Robert hielt das Schweigen nicht lange aus.

»Also, in zwei Wochen geht’s los.«

»So bald schon?«, fragte Jette erschrocken. Sie hatte geglaubt, noch alle Zeit der Welt zu haben, um sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Ein solcher Transfer eines Mitarbeiters musste doch von langer Hand vorbereitet werden, oder?

Ihr kam ein Verdacht. »Wie lange weißt du es schon?«

Robert wich ihrem Blick aus. »Seit Anfang Februar.«

»Und mir sagst du es erst jetzt? Wir haben fast Ende April. Warum? Willst du mich auf den letzten Drücker vor vollendete Tatsachen stellen, damit ich keine Chance habe, irgendwie zu reagieren?«

Sein Gesichtsausdruck war ihr Antwort genug. Das schlechte Gewissen konnte er nicht verbergen.

Jette zwang sich, ein paarmal ruhig durchzuatmen.

»Wie stellst du dir das vor?«, fragte sie dann ruhig. »Ich habe eine Kündigungsfrist einzuhalten. Und ich kann Pasquale nicht so plötzlich im Stich lassen.«

Robert schwieg.

»Vor allem, weil er mir vielleicht ein Angebot machen will. Also, das wollte er jedenfalls gestern Abend tun. Dann habe ich ein Thunfischfilet zerstochen, und da war er erst mal sauer und hat gesagt, er zieht mir den Schaden vom Gehalt ab. Aber …«

Sie bemerkte, dass sie hektisch plapperte, und verstummte schlagartig.

Robert sagte immer noch nichts. Saß nur da und pickte die Rosinen aus seinem Brötchen. Sorgsam legte er sie an den Tellerrand, richtete sie in Reih und Glied auf, als seien sie Teil einer alten Rechentafel.

Jette schaute ihn ratlos an, Zeit verstrich. Und dann sickerte die Wahrheit in ihr Innerstes, langsam aber unaufhaltsam wie das Meer, wenn es mit der Flut ins Watt zurückkehrte und zuerst die Vertiefungen im Schlamm ausfüllte, bevor es einen ganzen Landstrich in Besitz nahm.

»Du willst gar nicht, dass ich mitkomme«, sagte sie tonlos.

Robert blickte hoch, und sie erschrak. Er schien glatt durch sie hindurchzusehen. Jette erinnerte sich daran, was ihre Oma ihr vor vielen Jahren mit auf den Weg gegeben hatte: »Verlieb dich nur in einen Mann, der dich wirklich sieht. Sein Blick muss bis in dein Herz reichen und nicht an deinem hübschen Gesicht haltmachen.«

Damals hatte sie das lächerlich gefunden. Vor allem, weil sie sich selbst nicht für hübsch hielt. Es war bloß das Gewäsch einer alten Frau. Doch heute begriff sie. Robert hatte sie niemals wirklich »gesehen.« Vielleicht hatte er sich ganz zu Anfang darum bemüht, aber bis zu ihrem Herzen war er niemals vorgedrungen.

»Es tut mir leid«, sagte er lahm. »Ich halte es für besser, wenn ich zunächst allein zurechtkomme.«

Das war eine Lüge, und sie wussten es beide. Robert war nicht der Mann, der allein leben konnte. Er brauchte eine Partnerin, die für Ordnung in seinem Alltag sorgte.

»Wie heißt sie?«, fragte Jette nur, während ihr innerlich so kalt wurde, dass sie zitterte.

»Wer?«

»Sei wenigstens ehrlich!«

Robert gab nach. »Sandra ist eine junge Kollegin von mir. Wir werden gemeinsam nach Monaco versetzt. Aber es ist nicht so, wie du denkst. Wir haben ein rein berufliches Verhältnis.«

»Ja«, erwiderte Jette bitter. »Noch. Das wird sich bestimmt bald ändern.«

Neues Land, neuer Job, neue Liebe.

Eines musste sie Robert lassen: Er flüchtete nicht kopflos, er handelte nach einem Masterplan.

»Ach, Jette, mit uns läuft es doch schon lange nicht mehr gut.«

»Das weiß ich selber!«, schrie sie, zornig auf einmal. »Aber ich habe mich bemüht!«

»Ich auch«, erwiderte er leise.

Dummerweise konnte sie dagegen nichts sagen. Ihre Wut verpuffte. Auch das Zittern ließ nach. Eine Weile saßen sie einander schweigend gegenüber und dachten darüber nach, dass sie auch gute Zeiten erlebt hatten, lustige Zeiten, innige Zeiten. Jette beschloss, nicht länger böse zu sein. Sie wollte die gute Erinnerung bewahren und dann nach vorn schauen. Ein Teil von ihr war sogar ein wenig erleichtert. Es war schon seit langem mühsam gewesen mit Robert, mit einer Liebe, die keine mehr war.

Dann kam ihr ein Gedanke. »Aber am Telefon hast du gestern gesagt, wir müssen den Umzug besprechen. Deshalb dachte ich, dass ich mitkommen soll.«

»Na ja«, Robert räusperte sich umständlich, bevor er fortfuhr. »Wie du weißt, gehört dieses Haus meinem Onkel.«

»Ja. Und?«

»Er will renovieren und Luxusapartments aus den Wohnungen machen.«

Es dauerte ziemlich lange, bis Jette verstand. »Soll das heißen, alle Mieter müssen raus?«

Robert nickte nur.

»Und seit wann weißt du das?«

»Erst seit kurzem, das schwöre ich dir. Er hat den Plan so lange geheim gehalten, damit niemand Zeit hat, groß dagegen zu protestieren.«

Sie glaubte ihm, es half bloß nichts. Ihr war, als ob sie den Boden unter den Füßen verlieren würde.

Vor etwas mehr als einem Jahr waren sie als Paar hier eingezogen, nachdem sie ewig nach einer bezahlbaren Bleibe in München gesucht hatten. Natürlich waren sie nur durch Roberts Beziehungen an diese Wohnung gekommen, aber Jette hätte nie gedacht, dass sich dies noch einmal rächen würde. Sie hatte Roberts Onkel Werner nur einmal getroffen. Er war schon vor dreißig Jahren nach München gezogen und hatte mit Immobilien ein Vermögen verdient. Offenbar hatte er noch nicht genug.

Sie wollte wieder wütend werden, fand aber nicht die Kraft dazu. Eine bleierne Müdigkeit ergriff sie.

»Aber wo soll ich denn hin?«, fragte sie und hasste sich dafür, dass ihre Stimme so hilflos klang.

Ein Hauch von Mitleid blitzte in Roberts Augen auf. »Du kannst bestimmt bei deiner Freundin unterkommen, bis du was Eigenes gefunden hast.«

Sie lachte bitter auf. Marie wohnte in einer WG mit fünf anderen Leuten. Ihr Zimmer war ungefähr halb so groß wie die Abstellkammer in der Villa von Jettes Eltern in Blankenese.

»Und bis dahin kannst du deine Sachen bei mir unterstellen«, fügte Robert schnell hinzu. »Ich habe einen Lagerraum gemietet, weil ich nicht gleich alles mitnehmen kann. Der ist groß genug für all unser Zeug.«

Sie starrte ihn an. »Ich will nicht, dass mein Bett und dein Sofa zusammenwohnen, wenn wir es nicht mehr tun.«

»Jette, was redest du da? Bist du irre?«

Vielleicht, dachte sie. Vielleicht drehe ich jetzt wirklich durch.

Sie stand auf. »Ich muss Schlaf nachholen.«

Ohne ein weiteres Wort wollte sie die Küche verlassen, aber Robert war mit zwei Sätzen bei ihr und schloss sie in seine Arme.

Einen kostbaren Augenblick lang ließ sie sich fallen. So hatten sie sich immer versöhnt, wenn es mal Probleme gegeben hatte. Nicht mit vielen Worten, mit einer Flasche Wein oder etwa Sex, sondern mit einer festen, stillen Umarmung, die manchmal nur ein paar Sekunden dauerte, manchmal über Minuten kein Ende fand.

Jette schlang ihre Arme um ihn und legte den Kopf an seine Schulter. Es fühlte sich gut an. Sicher.

Erst nach einer Weile bemerkte sie dieses leise Gefühl der Fremdheit. Es hatte sich während des Gesprächs eingeschlichen und ließ sich von der körperlichen Nähe nicht mehr vertreiben.

»Alles gut«, sagte sie und löste sich von ihm. So traurig war sie auf einmal, dass sie zum ersten Mal nach langer Zeit brennendes Heimweh nach Spiekeroog empfand. Nach Oma Tilde, nach dem kleinen Inselladen und der Wohnung darüber.

»Wirklich?«, fragte Robert. Unauffällig linste er zu seiner Armbanduhr, aber sie sah es doch.

»Lass man. Du musst los.«

»Etwas Zeit habe ich noch. Ich könnte bleiben.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich lege mich noch ein wenig hin.«

»Okay. Dann – bis morgen früh.«

Jette ließ sich im Schlafzimmer aufs Bett fallen und starrte an die Decke. Sie hörte, wie Robert das Geschirr abräumte. Das tat er sonst nie. Dann bemerkte sie, dass er auf Zehenspitzen hereinkam, um nach ihr zu sehen. Schnell schloss sie die Lider. Kaum war er wieder weg, nahm sie die Betrachtung der Zimmerdecke wieder auf. Die Wohnungstür fiel ins Schloss.

Sie war allein. Was mache ich jetzt bloß?, fragte sie sich. Was zum Teufel soll ich tun?

Sie verbrachte den halben Tag in einer Art Dämmerzustand. Mal schlief sie für ein paar Minuten ein, dann schreckte sie wieder hoch. Als sie sich am späten Nachmittag auf dem Weg zum »La Luna« machte, war sie mit ihren Überlegungen noch keinen Schritt weitergekommen.

»Was ist passiert?«, fragte Marie sofort.

Aber Jette hatte keine Zeit, ihrer Freundin etwas zu erklären. Sie war spät dran, und in der Küche ging es bereits hektisch zu.

Etwas später knetete sie langsam einen Brotteig. Daneben lagen in einer großen Edelstahlschüssel vier sardische Lammrücken in einer Marinade aus Olivenöl, Rosmarinzweigen und Oregano. Lammrücken im Brotmantel war eine der Spezialitäten des Restaurants. Der Teig durfte nur per Hand geknetet werden. Pasquale lehnte Küchenmaschinen grundsätzlich ab. Manche seiner Köche spotteten, sie konnten froh sein, dass sie moderne Kochplatten und Öfen benutzen durften. Wenn es nach dem Chef gegangen wäre, hätten sie die Gerichte über dem offenen Feuer gegart.

Wenn Pasquale so etwas zu Ohren kam, gab’s ein Donnerwetter – und gern auch mal eine fristlose Entlassung. Auch deshalb herrschte in der Küche chronischer Personalmangel.

»Er beobachtet dich die ganze Zeit«, raunte Marie, als sie einmal mit einem großen Suppentopf in den Händen vorbeikam.

»Ich weiß«, flüsterte Jette. »Das macht mich ganz verrückt.«

Marie wagte es, ein paar Sekunden stehen zu bleiben. »Ich wette, der will dich als Partnerin, weil du so gut mit Leuten umgehen kannst. Wenn er hier nämlich weiterhin allein herrscht, hat er bald keine Köche mehr.«

Sie huschte weiter, als Pasquale auf sie aufmerksam wurde.

Dann näherte er sich Jette. Ihr taten inzwischen die Finger weh, aber sie konnte nicht aufhören, den Teig zu kneten. Wenigstens hatte sie so etwas zu tun.

»Ich hatte gehofft, du würdest heute etwas früher kommen.«

»Tut mir leid«, gab sie automatisch zurück. »War nicht möglich. Außerdem ist Dienstag. Ich dachte, wir wären nicht voll ausgebucht.«

»Nun, das sind wir aber. Und ich hätte mit dir sprechen wollen.«

»Tut mir leid«, sagte sie wieder, weil ihr nichts Besseres einfiel.

Pasquale stieß eine Art Knurren aus. »Dann morgen«, sagte er noch und entfernte sich wieder.

Jette ließ endlich den Brotteig in Frieden, wendete die Lammrücken und bepinselte sie mit der Marinade.

Als ihr Smartphone klingelte, glaubte sie schon, Robert wollte ihr eine neue Hiobsbotschaft überbringen.

Aber zu ihrer Überraschung erkannte sie auf dem Display den Namen ihrer Mutter.

Das war höchst ungewöhnlich. Martha von Straten rief nie von sich aus an. Sie vertrat die Ansicht, ihre Tochter habe sich bei ihr zu melden.

Sie war nicht lieblos und bemühte sich durchaus um ein gutes Verhältnis. Aber sie hatte so ihre Prinzipien.

Plötzlich wurde Jette von einem Schwindel erfasst. Schnell nahm sie das Gespräch an und lehnte sich Halt suchend gegen die Arbeitsfläche.

»Ist was mit Papa?«, fragte sie statt einer Begrüßung.

Ihren Vater Hajo liebte Jette heiß und innig. Obwohl er der vornehmen Hamburger Bankiersfamilie entstammte, in die Martha nur eingeheiratet hatte, war er viel weniger versnobt als sie und besaß ein großes Herz.

»Sag schon, Mama!«

»Was redest du da, Kind? Deinem Vater geht es gut. Der strotzt nur so vor Gesundheit.« Aus ihrem Mund klang es, als wäre sie nicht glücklich darüber.

»Also, hör zu, Jette. Ich rufe wegen deiner Großmutter Tilde an. Sie hatte einen Unfall.«

3. Kapitel

»Einen Unfall?«, fragte Jette zurück. Sie hörte selbst, wie ihre Stimme kreischte, konnte aber nichts daran ändern. »Was ist passiert?«

Ihre Kollegen hielten in der Arbeit inne und sahen zu ihr herüber. Marie ließ ihre Suppentöpfe stehen und kam auf sie zu.

»Kein Grund, hysterisch zu werden«, erwiderte Martha von Straten. »Tilde ist mit ihrem Fahrrad umgekippt und hat sich den Fuß verstaucht. Oder gebrochen. So genau weiß ich es nicht.«

»Das musst du doch wissen! Das ist ein verdammt großer Unterschied!«

»Hör auf zu fluchen! Sonst sage ich gar nichts mehr.«

Jette biss sich auf die Innenseite der Wange. Sie schmeckte Blut, sagte aber keinen Ton.

»Dieser schusselige alte Doktor Lührs hat sich eben nicht klar ausdrückt. Warte mal.« Jette konnte ihre Mutter regelrecht denken hören, bevor diese fortfuhr: »Angebrochen. Genau. Das hat er gesagt. Alles halb so wild.«

Halb so wild? Eine 77-jährige allein lebende Frau hatte sich den Fuß angebrochen, und Martha von Straten machte daraus eine Bagatelle.

Marie hatte sie inzwischen erreicht und legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm. Nur deshalb schrie Jette nicht los.

Ihre Mutter war offenbar irritiert, weil sie nichts sagte. »Na, ich habe ihr schon tausendmal verboten, in ihrem Alter noch mit dem Fahrrad zu fahren. Vor allem wenn es so windig ist. Aber auf mich hört ja keiner.«

Wieder zwang Jette sich zu schweigen. Spiekeroog war eine autofreie Insel. Ihre Großmutter hatte gar keine andere Wahl, als das Rad zu nehmen, wenn sie es mal eilig hatte. Und außerdem: Tilde Eriksen mochte auf die achtzig zugehen, aber sie war topfit.

»Die Arbeit hält mich jung«, hatte sie im vergangenen Sommer gesagt, als Jette für eine Woche zu ihr gefahren war.

Tatsächlich hatte Tilde in ihrem ganzen Leben noch keinen Tag Ferien gemacht. Aufgewachsen in einer kinderreichen, armen Familie, hatte sie schon früh die Schule verlassen, um in einer Hamburger Fabrik unzählige Kartons zu kleben. Später, als sie dem Krabbenfischer Hinnerk nach Spiekeroog gefolgt war, hatte sie bei anderen Leuten geputzt, war mit zwanzig schon Mutter geworden und hatte nach Hinnerks frühem Tod den Laden aufgebaut. Mit so etwas wie Freizeit wusste sie nichts anzufangen. Wenn Jette sie bat, mit ihr doch mal einen Spaziergang in den Dünen zu machen, einfach nur so, aus Spaß, schüttelte Tilde stets ungläubig den Kopf.

Ja, so war sie, und sie würde sich nicht mehr ändern. Ihre Tochter Martha war ganz anders geraten. Sie hasste schwere Arbeit, und sie angelte sich mit Anfang zwanzig den reichen Hajo, zog mit ihm nach Hamburg, gebar ihm eine Tochter und hatte damit ihre Pflicht erledigt, wie sie fand. Seitdem genoss sie das schöne Leben und kümmerte sich nur von Zeit zu Zeit um die Bedürftigen der Hansestadt, weil es sich in ihrer gesellschaftlichen Stellung so gehörte.

»Bist du noch dran?«, fragte Martha schließlich gereizt.

»Ja.«

»Also, du weißt jetzt Bescheid. Tschüs.«

»Halt! Warte!«

»Was ist denn noch?«

»Liegt sie in Wittmund im Krankenhaus?« Auf der Insel gab es nur eine Mutter-Kind-Klinik. Notfälle wurden mit dem Hubschrauber aufs Festland geflogen.

»Nicht mehr«, gab Martha Auskunft. »Die Sache ist schon letzte Woche passiert, und Tilde ist längst wieder zu Hause. Sie war bloß zum Röntgen und Gips anlegen dort. Nach einen halben Tag wurde sie schon wieder entlassen.«

»Und du erzählst es mir erst JETZT?«

»Schrei mich nicht an. Ich bin vorher nicht dazu gekommen. Diese vielen Verpflichtungen halten mich eben ziemlich auf Trab. Außerdem hatte dein Vater darauf bestanden, dass ich ihn übers Wochenende nach Paris begleite.« Ihrem Tonfall nach zu urteilen, war das eine Strafe gewesen.

Jette war sich hundertprozentig sicher, dass Hajo nichts vom Unfall seiner Schwiegermutter gewusst hatte. Sonst hätte er seine Frau höchstpersönlich nach Spiekeroog verfrachtet.

»Aber ich habe mich um Oma gekümmert«, fügte Martha hinzu. »Ich habe die Frau des Doktors gebeten, nach ihr zu sehen.«

Na klasse, dachte Jette. Tilde Eriksen und Dorothea Lührs waren sich seit ungefähr vierzig Jahren spinnefeind. Worum es dabei ging, wusste niemand, nur Jette hatte so eine Ahnung, dass es mit dem Sohn von Ehepaar Lührs zu tun hatte. Karsten Lührs hatte ebenfalls Medizin studiert und arbeitete heute als Neurochirurg am Uni-Klinikum in Hamburg-Eppendorf. Irgendetwas musste damals vorgefallen sein, aber Jette kam nie dahinter, was es war. Sie hegte nur den Verdacht, dass ihre Mutter etwas damit zu tun gehabt hatte. Martha war mit Karsten aufgewachsen.

»Hast du noch Fragen, Jette?«

Ja, so einige. Aber die haben nichts mit Omas Unfall zu tun.

»Nein. Danke, dass du mich angerufen hast.« Sie ahnte, ihre Mutter war mit der Lösung Dorothea Lührs vielleicht doch nicht glücklich. Nur deshalb hatte sie Jette benachrichtigt. Weil sie genau wusste, ihre Tochter würde sich um die Oma kümmern.

Martha von Straten beendete das Gespräch nach einem kurzen Abschiedsgruß.

»Was ist denn los?«, fragte Marie sanft. »Du bist weiß wie eine gekochte Hühnerbrust.«

Jette erwachte aus ihrer Starre und sah ihre Freundin an. »Ich muss weg.« Innerhalb von wenigen Sekunden hatte sie eine Entscheidung getroffen.

»Okay. Ich deck dich beim Chef. Bleib nicht zu lange.«

»Du verstehst nicht. Ich verreise. Für … ich weiß nicht, für wie lange.«

Ihr war klar, dass sie nach Spiekeroog fahren musste. Oma Tilde war ihr Leben lang für sie da gewesen. Nun war es an ihr, der alten Frau zu helfen.

Sie überlegte, ob sie Tilde zuvor anrufen sollte. Aber erstens war es acht Uhr abends, und ihre Oma ging immer um sieben schlafen. Zweitens würde Tilde nur versuchen, Jette von einem Besuch abzuhalten. Die alte Frau hasste es, Hilfe annehmen zu müssen.

Kurz dachte Jette auch an Robert. Sie schrieb ihm eine WhatsApp-Nachricht: »Tilde hatte einen Unfall. Ich fahre zu ihr. Von mir aus kann mein Bett mit deinem Sofa zusammenwohnen.«

Sie stand unter Schock, ganz klar.

Er schrieb umgehend zurück und bat um Aufklärung.

»Später«, antwortete sie. »Ich kläre die Sache mit meinem Chef, dann komme ich kurz nach Hause.« Sie bat ihn noch, schon ihren Koffer zu packen.

Dann ging sie zu Pasquale. Der wurde genauso blass wie Jette, aber zu ihrer Überraschung sagte er: »Nimm dir so viel Urlaub, wie du brauchst.«

Sie konnte ihn nur fassungslos anstarren, aber er lächelte müde. »Ich bin Italiener, Piccola. Die Familie geht über alles. Grüß deine Nonna schön von mir und wünsche ihr gute Besserung.«

»Danke«, konnte sie nur stammeln, bevor sie die Küche verließ.

Marie kam ihr noch nachgelaufen und umarmte sie fest. Die Freundin wusste, wie sehr Jette an ihrer Großmutter hing.

»Wird schon alles gut gehen«, sagte sie.

Zwei Stunden später lenkte Jette bereits ihren Kleinwagen aus München hinaus. Sie war überdreht, wusste aber, dass sie nicht die ganze Nacht durchfahren durfte. Irgendwann würde die Müdigkeit zuschlagen. Also plante sie zwei Zwischenstopps auf dem Weg nach Norden ein, und so dauerte es fast fünfzehn Stunden, bis sie ihren Wagen in Neuharlingersiel auf einem Dauerparkplatz abstellte und sich zu Fuß auf den Weg zur Fähre machte.

Robert hatte sich ganz wunderbar verhalten. Er hatte nicht nur ihren Koffer mit bequemen, wetterfesten Klamotten gepackt, sondern ihr auch ein Proviantpaket vorbereitet. Die Brötchen schmeckten zwar seltsam, wahrscheinlich hatte er Honig mit Senf verwechselt, aber Jette war ihm trotzdem dankbar. Nur den Kaffee aus der Thermoskanne spuckte sie gleich wieder aus. Der schmeckte nach flüssigem Teer.

»Ruf an, wenn du gut angekommen bist«, hatte er noch gebeten, »und halte mich auf dem Laufenden.«

Sie versprach es, und während der langen Fahrt durch die Nacht in den Morgen hinein dachte sie, wie seltsam das Leben doch war. Manchmal floss es wie ein träger großer Fluss dahin, und nichts Besonderes passierte. Dann stürzte es einen Wasserfall hinunter, und die Ereignisse überschlugen sich.

Ein kräftiger Wind aus Nord-West fegte über das von der Flut überspülte Wattenmeer heran und schob graue Wolkenberge vor sich her. Jette stand an Deck der Fähre und sog tief die nach Salz und Seetang duftende Luft ein. Wie hatte ihr das gefehlt! Es fühlte sich an, als würde ihr Kopf einmal kräftig durchgepustet, und alle Sorgen verwehten in der starken Brise. In München hatte der Frühling Ende April schon seine ganze Pracht entfaltet und, begünstigt vom warmen Föhn, den Bäumen und Büschen ein frisches Grün geschenkt und den Wiesen eine bunte Blumenpracht beschert.

Hier oben im Norden ließ der Winter noch nicht so ganz mit sich verhandeln. Es mochte schon warme Tage geben, und auch die Farben der Zwergeichen und Birken, die der Mensch gegen die Dünenwanderung angepflanzt hatte, wurden hell, doch heute war definitiv kein solcher Tag. Jette fröstelte und kroch tiefer in ihre gefütterte Jacke, aber sie war fest entschlossen, die knapp einstündige Überfahrt an Deck zu verbringen.

Sie war mittags in Neuharlingersiel angekommen, aber sie hatte Stunde um Stunde auf die Abfahrt der Fähre warten müssen. Die Flut musste hoch stehen, denn die Fahrrinne war schmal und nicht sehr tief, und als der Nachmittag sich schon seinem Ende zuneigte, war es eine Zeit lang fraglich gewesen, ob die Insel heute überhaupt noch angefahren werden konnte. Eine andere Fähre war da gerade zur Nachbarinsel Wangerooge aufgebrochen, aber für Jette hätte es keinen Sinn gehabt, dort an Bord zu gehen. Es gab keinen Schiffsverkehr zwischen den ostfriesischen Inseln.

Zum Glück hatte es dann doch noch geklappt.

Am Horizont schlichen Tanker groß wie Ungetüme entlang, und sie dachte an ihren wiederkehrenden Traum. Diesmal waren die Pötte echt. Kein Weckton würde das Bild zerstören. Ihre Gedanken wanderten zu Robert, zu der kleinen Schwabinger Wohnung, zu ihrem gemeinsamen Leben. Sie merkte, dass ihre Augen feucht wurden, und wischte sich energisch übers Gesicht. Das war nur die Gischt, bestimmt nur die Gischt.

Aber sie wusste es besser. Erst jetzt, an diesem späten Nachmittag auf dem Weg zu Tilde, kam Jette zur Ruhe, und die Erkenntnis, dass ihr Leben mit Robert vorbei war, sickerte wie ein von den Wellen glattgespülter Kieselstein hinab in ihre Seele.

Der graue Tag verkroch sich hinter dem Horizont, und als die Fähre Spiekeroog erreichte, brach der Abend an. Nur wenige Leute waren mitgefahren, Einheimische, die auf dem Festland Besorgungen erledigt hatten. Obwohl das Dorf nur achthundert Einwohner zählte, kannte Jette keinen von ihnen.

Touristen gab es schon, aber nicht annähernd so viele wie in der warmen Jahreszeit. Nur Hartgesottene kamen im April an die Nordseeküste. Sie freuten sich auf Spiekeroog, die auch die grüne Insel genannt wurde, auf die frischen Farben der vielen Bäume und Gärten, und sie trotzten den messerscharfen Winden. In jedem Sommer waren die rund dreitausendfünfhundert Gästebetten nahezu durchgehend belegt, und dennoch herrschte eine angenehme Ruhe auf der kleinen Insel. Es gab keinen Autoverkehr, keine laute Discomusik. Wer nach Spiekeroog kam, der machte auch Urlaub vom Großstadtlärm.

Auf der Fähre wurden die Dieselmotoren abgestellt.

Einen Moment lang dröhnte die Stille in Jettes Ohren, und ihr wurde schwindelig.

Dann fing sie sich, ging von Bord und zog ihren schweren Rollkoffer hinter sich her. Der breite gepflasterte Weg zum Dorf war lang, und sie geriet ins Schwitzen. Fest richtete sie ihren Blick auf den Boden, um bloß nicht zu stolpern.

»Brauchst du Hilfe, Lütte?«

Jette zuckte zusammen und sah auf. Sie mochte es nicht, Lütte genannt zu werden. Schließlich war sie nicht klein, sondern mit viel gutem Willen mittelgroß, fand sie. Aber bei dem Mann, der jetzt vor ihr aufragte, machte sie eine Ausnahme. Er war ein Riese, dabei blond wie ein Wikinger, mit sturmgrauen Augen und Schultern, breit wie ein Schrank.

»Nein«, murmelte sie, lächelte aber dabei. Das Lächeln veränderte sie, aber davon ahnte Jette nichts. Sie hielt sich insgesamt für mittelmäßig, mit ihrem braunen Haar und einem Gesicht, das ihr bei jedem Blick in den Spiegel nur durchschnittlich hübsch vorkam. Doch wenn sie lächelte, ging ein Leuchten von ihr aus, das den Menschen in ihrer Nähe das Herz wärmte.

Benno Kerk starrte sie an. Eben war ihm noch trotz Norwegerpulli und Öljacke kalt gewesen, jetzt schoss ihm plötzlich die Hitze den Hals hinauf. Jette schien ihn nicht zu erkennen, aber er wusste genau, wer sie war. Tildes Enkelin, mit der er jeden Sommer gespielt hatte, wenn sie die Ferien auf Spiekeroog verbrachte. Schon damals hatte ihr Lächeln ihn bezaubert, obwohl er im Alter von zehn, elf Jahren eigentlich alle Mädchen doof gefunden hatte.

Später hatte er sie aus den Augen verloren, weil er sein Glück auf einer Handelsschule in Bremen versucht hatte. Er war als junger Mann fest entschlossen gewesen, etwas Besseres zu werden als bloß ein Krabbenfischer. Er wollte nicht sein Leben lang nachts um drei aufstehen, damit er um vier mit dem Kutter rausfahren konnte. Er wollte nicht mit halb abgefrorenen Fingern und stinkenden Klamotten heimkommen, völlig zerschlagen von dieser Knochenarbeit. Er wollte nicht vor der Zeit altern und gebeugt über die Insel schlurfen, weil das Rheuma keine Gnade kannte bei Männern, die ihr Leben auf See verbracht hatten.

Er hatte Jahre gebraucht, bis er eingesehen hatte, dass er für einen Bürojob nicht geschaffen war. Dass sein ganzer Körper schrumpfte, wenn er hinter einem Schreibtisch saß, dass seine Ohren unter dem ständigen Krach der Stadt Höllenqualen litten, und dass sein Herz elendig verkümmerte. Also war er zurückgekehrt, hatte den Kutter seines Vaters übernommen und den Traditionsberuf ausgeübt. Allerdings nur ein paar Jahre lang. Dann hatte er gemerkt, dass er viel mehr Geld verdienen konnte, wenn er Touristen bei Flut übers Wattenmeer schipperte. Die reichen Krabbenfänge von einst gehörten ohnehin der Vergangenheit an. Nur zu Schauzwecken holte Benno von Zeit zu Zeit noch ein paar Körbe voll mit Krabben aus dem Meer.

»Na komm, ich helfe dir mit dem Gepäck«, sagte der Mann und hob sich den Koffer auf die Schulter, als sei er bloß mit Dünengras gefüllt. Dabei hatte Jette eben noch gedacht, Robert musste Steine hineingetan haben. Er stapfte los. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

»Woher wollen Sie wissen, wo ich hin will?«, rief sie ihm nach, ziemlich sauer, weil er so einfach das Kommando übernommen hatte. Und weil er sie duzte.

»Na zu Tilde, ist doch deine Oma.«

Jette runzelte die Stirn. Sollte sie ihn kennen? Dieser Schrank, der da vor ihr herlief, weckte keinerlei Erinnerungen bei ihr.

»Benno Kerk«, sagte er, als hätte er ihre Gedanken erraten.

Das half ihr erst mal nicht weiter.

»Wir haben zusammen Prielwürmer gefangen.«

Da erst dämmerte es ihr, und sie erinnerte sich an die endlosen Sommerabende ihrer Kindheit, als die Tage den Nächten frech die Stunden gestohlen hatten, als Jette mit dem großen Jungen von Fischer Kerk über das Watt gelaufen war. Nie war sie in Sorge gewesen, sie könnten es nicht rechtzeitig vor der nächsten Flut zurück auf die Insel schaffen. Mit Benno an ihrer Seite war sie sicher gewesen.

»Dunnerlittchen!«, rief sie aus. »Sie … Du hast dich aber bannig verändert!«

Sein Lachen kam tief aus der Brust und dröhnte wahrscheinlich bis Wangerooge hinüber. Der Koffer auf seiner Schulter schwankte bedenklich.

»Du nicht«, sagte er, ohne stehen zu bleiben.

Jette fragte sich, wie er das wohl meinte. Dann überlegte sie, warum sie ihn bei ihren Besuchen in den vergangenen Jahren nie getroffen hatte.

»Manchmal fahre ich für eine Woche oder länger raus«, klärte er sie auf, nachdem sie ihre Frage laut ausgesprochen hatte. »Es gibt Gäste, die zahlen gut, um mal das Gefühl für das echte Leben eines Fischers zu bekommen.«

»Aha«, sagte Jette matt.

Inzwischen hatten sie das Dorf erreicht. Die Klinkerhäuser mit ihren spitzen Giebeln duckten sich vor den Gezeiten, auch die alte Inselkirche, die Kark to Spiekeroog, widerstand seit mehr als dreihundert Jahren Wind und Wetter, indem sie sich schön klein machte. Nur die Neue Evangelische Kirche wagte sich weiter in die Höhe und überragte das Dorf.

In den Dünen am westlichen Ortsrand, das wusste Jette nur zu gut, stand auch die Katholische Kirche St. Peter. Ihr asymmetrisches Dach gefiel nicht jedermann, aber für Jette und ihre Freunde war sie früher ein guter Treffpunkt gewesen. Dann waren sie zum Strand gelaufen und hatten sich schreiend und lachend in die stets eisige Nordsee geworfen, oder sie waren abends in den Dünen spazieren gegangen, mit einer Flasche Cola oder Limo in der Hand. Später kamen dann Bierdosen hinzu, manchmal auch verbotene Lagerfeuer und die ersten Küsse.

Plötzlich spürte Jette, wie sie über und über rot wurde. Sie erinnerte sich daran, dass Benno zu den Jungs gehört hatte, die sie probehalber geküsst hatte.

Und dann erinnerte sie sich an etwas anderes, und eine alte Wut stieg in ihr auf.

Sofort beschleunigte Jette ihren Schritt, holte ihn ein und riss ihm ihren Koffer von der Schulter. »Den kann ich allein tragen.«

Sie hatte sich ziemlich strecken müssen, um ranzukommen, doch es war ihr gelungen.

»Aber …«

»Ich will nichts mit dir zu tun haben!«, fuhr sie ihn aufgebracht an.

»Aber …«

»Verschwinde!«

Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging, und plötzlich kam sie sich ein ganz klein bisschen albern vor. Ihre Wut war verpufft, und sie fühlte sich erschöpft. Langsam setzte sie sich in Bewegung und bog, als sie das Dorf erreicht hatte, rechts ab. Sie lief am Rosengarten vorbei, der erst später im Jahr seine duftende Pracht entwickeln sollte. Nur ein paar Minuten darauf erreichte sie ihr Ziel. Oma Tildes Heim war ein typisches altes Friesenhaus. Es bestand aus drei kleinen Wohnräumen und einem ins Haus einbezogenen Stall. Die kleinen Sprossenfenster lugten zwischen rotem Backstein hervor, die Türen waren niedrig, und das Dach war weit heruntergezogen.

Sie lächelte, weil sie sich daran erinnerte, was Tilde ihr einst über die Funktion dieser Dächer erzählt hatte. Sie ließen sich mit wenigen Handgriffen vom Haus lösen, um den Bewohnern bei Überflutung als Rettungsfloß zu dienen. Ihre ganze Kindheit hindurch hatte Jette auf ein solches Hochwasser gehofft. Sie wollte unbedingt mit dem Hausdach Boot fahren. Dann hätte sie was zu erzählen gehabt, bei den eingebildeten Puten in Blankenese, die in der Schule immer so auf sie herabsahen, weil sie nicht vornehm genug war, weil ihre Mutter bloß die Tochter einer Krämerin war.

Aber leider war es nie geschehen.

»Der kleine Inselladen« stand auf einem verwitterten Holzschild am Zaun. Einen richtigen Namen hatte er nie gehabt, Tilde hatte behauptet, dazu fehle ihr die Phantasie. Der Zaun brauchte mal einen neuen Anstrich, befand Jette. Auch der kleine Garten sah ungepflegt aus, die Holzbank vor dem Haus war verwittert, und in der Regenrinne wucherte das Unkraut. Eine ungute Vorahnung überkam sie, als sie nun über den kurzen Weg zur Haustür ging. Diese war zugleich die Ladentür, denn Tilde war vor bald fünfzig Jahren mit ihrer Tochter ins winzige Obergeschoss gezogen, als sie ihr Geschäft eingerichtet hatte. Die ehemaligen Wohnräume dienten als Laden, der einstige Stall als Warenlager.

Der eigentliche Reichtum war das Grundstück hinter dem Haus. Es gehörte seit Generationen Tildes Familie. Ein großes Kurhotel hätte locker darauf gepasst. Samt Außenanlagen. Aber bislang waren die Eriksens klug genug gewesen, ihren Grund und Boden zu behalten. Inzwischen, dachte Jette, musste das Land Unsummen wert sein.

Sie stieß die Tür auf, und die kleinen Silberglöckchen darüber klingelten.

Kein Licht brannte. Kein Mensch war zu sehen. Ein kalter Schauder kroch Jette über den Rücken. Hier stimmte etwas nicht. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht. Sie durchquerte mit drei Schritten den schmalen Hausflur und betrat das Geschäft.

4. Kapitel

Der kleine Inselladen wirkte vernachlässigt. Einst war dies die gute Stube gewesen. Dann hatte Tilde in den fünfziger Jahren die Zimmertür herausnehmen lassen und ihr Geschäft eingerichtet. Aber nur die Einrichtung erinnerte noch daran sowie ein paar haltbare Waren. In der gläsernen Verkaufstheke, wo früher Käse, Wurst und Milch akkurat nebeneinander gelegen hatten, herrschte gähnende Leere. Der Eierkorb darüber enthielt nur ein paar alte Hühnerfedern, und in den hölzernen Regalen an den zwei Seitenwänden verstaubten Konservendosen, Einmachgläser und Getränkeflaschen vor sich hin. Unter Jettes Schuhen knirschte der Schmutz, als sie eintrat. Sie machte Licht an dem vorsintflutlichen Drehschalter, aber nur ein Teil der Glühbirnen funktionierte. So blieb der Laden im Halbdunkel. Die hintere Wand, die von zwei Sprossenfenstern durchbrochen wurde, war früher die Obst- und Gemüseecke gewesen. Doch auch hier: nichts. Auch keine Reste, nicht einmal verschrumpelte Äpfel und Birnen oder verwelkte Salate. Innerhalb von wenigen Sekunden begriff Jette zweierlei: Erstens, Oma Tildes Laden war schon seit Längerem geschlossen, nicht erst seit ihrem Fahrradunfall vor einer Woche. Zweitens, bereits im vergangenen Jahr waren die Anzeichen deutlich gewesen. Jette hatte sie bloß ignoriert, weil sie ihre einzige Woche auf Spiekeroog auskosten wollte, weil sie Ruhe brauchte, weil sie die gute Luft voll von Meerwassertröpfchen und frei von Umweltschmutz tief einatmen und auf langen Spaziergängen wieder zu sich kommen wollte.

Während nun die Staubwölkchen vor ihren Augen im Lampenlicht tanzten, erinnerte sie sich, dass sie ganz am Rande wahrgenommen hatte, wie ruhig es bei Tilde zuging. Früher war der kleine Inselladen ein Treffpunkt der Inselfrauen gewesen. Hier kam man her, um noch schnell Mehl, Zucker oder zwei Eier zu besorgen, hier erledigten die wenigen Kundinnen, die nicht regelmäßig aufs Festland in die großen Supermärkte kamen, auch ihren Wocheneinkauf. Und dann blieb man ein Weilchen, klönte über dies und das, hechelte den Dorfklatsch durch und bekam, wenn Tilde gute Laune hatte, ein Tässchen Tee im Becher serviert, im Winter auch mal mit einem Schuss Rum drin.

Doch während Jettes Urlaubswoche hatte sie solche Treffen nicht ein einziges Mal erlebt. Was hatte Tilde noch gesagt? Ach ja: »Die dummen Puten latschen jetzt alle zum Discounter. Die werden schon sehen, was sie davon haben, wenn sie von den Lebensmitteln aus Massenproduktionen eine nach der anderen krank werden. Bei mir haben sie immer beste Qualität bekommen.«

Damals hatte Jette nichts darauf geantwortet, war lieber zu einer Wattwanderung aufgebrochen. Heute jedoch dachte sie: Qualität gut und schön, aber die Inselbewohner mussten aufs Geld achten. Reich war niemand, obwohl sich die Lage der meisten Leute dank der Touristen natürlich verbessert hatte. Aus einer Gemeinschaft von bitterarmen Fischern waren Menschen geworden, denen es recht gut ging. Doch die Sparsamkeit lag ihnen auch im Blut, und da konnte natürlich niemand den Discounterpreisen widerstehen.

Erst jetzt, an diesem frühen Abend Ende April, begriff Jette, dass der kleine Inselladen, den sie als Kind so geliebt hatte, praktisch nicht mehr existierte. Wie von selbst wanderte ihr Blick zur niedrigen Decke. Von dort hing wie eh und je das Skelett eines Grindwals. So tief, dass Jette sich nicht strecken musste, um den Unterkiefer des Mauls zu berühren. Erleichterung durchflutete sie. Wenigstens etwas war so wie immer.

Einer der Vorfahren von Opa Hinnerk war Walfänger gewesen, und dieses Skelett wurde von Generation zu Generation weitergegeben.

Jette wandte sich um, trat auf den Flur hinaus und ging auf die schmale Holzstiege zu. Dabei rief sie laut: »Hey Tilde, ich bin’s!«

»Wer zum Henker ist ich?«, dröhnte von oben eine raue Stimme. Laut und unfreundlich wie eh und je.

Das erleichterte Jette noch mehr. Ihre Oma mochte sich den Fuß angeknackst und ihr Geschäft verloren haben, aber sie war noch immer die alte reizbare Frau, die sie kannte.

»Jette!«, rief sie nach oben.

»Jette? Was zum Teufel willst du hier?«

Der Henker und der Teufel innerhalb von zehn Sekunden. Große Klasse!

»Dich besuchen!«

Sie stieg die uralten, knarrenden und gefährlich ausgetretenen Holzstufen nach oben. Wieder drehte sie einen Lichtschalter. Das Dachgeschoss bestand aus einem einzigen Raum und einem winzigen Badezimmer. Nur in der Mitte konnte eine fast kleine Person wie Jette aufrecht stehen, eine große Frau wie Tilde Eriksen hatte im Laufe der Jahrzehnte vom vielen Bücken krumme Schultern bekommen. Jette entdeckte ihre Großmutter erst nach einem Moment. Sie saß auf ihrem alten Ehebett, das fast die Hälfte des Raumes einnahm, und tat – nichts.

Jetzt bekam Jette es wirklich mit der Angst zu tun. So lange sie zurückdenken konnte, war Tilde niemals untätig gewesen. Den ganzen Tag über wirbelte sie herum, schnitt Wurst und Käse, wog Mehl und Zucker ab, kassierte und füllte Regale auf, kaufte Obst und Gemüse ein. Und selbst am Abend, wenn sie manchmal mit ihrer Enkelin zusammensaß, stopften ihre Hände eine Socke, häkelten einen Schal, strickten einen Pullover.

Diese knochigen und von der vielen Arbeit knotig gewordenen Hände lagen nun wie leblos im Schoß.

Ihr ganzer Körper wirkte eingesunken. Groß war nur der Gips an ihrem linken Fuß. Bloß Tildes Augen blitzten streitlustig und temperamentvoll wie immer.

»Wer hat dich hergeschickt? Die blöde Kuh Dorothea oder deine Gans von Mutter?«

Jette kicherte. Noch ein paar Leute, und Tilde würde die Tiere eines Bauernhofs durchhaben.

»Was gibt’s da zu gackern? Und starre mich nicht an wie ein verschrecktes Huhn, sondern komm her und lass dich ansehen.«

Jette ging zu ihr und hockte sich auf die Bettkante.

»Mama hat mir Bescheid gegeben.«

»Dachte ich’s mir doch. Zu mehr taugt meine missratene Tochter nicht.« Sie musterte Jette scharf von Kopf bis Fuß und sagte ohne Überleitung: »Du siehst schlecht aus, Lütte.«

Ihre Oma durfte sie so nennen. »Ich bin die Nacht durchgefahren.«

»Die paar Augenringe meine ich nicht. Man könnte meinen, du bist von der Flut aufs offene Meer gezogen und dann in letzter Sekunde von Wellen wieder ausgespuckt worden.«

»Ich …« Jette musste schlucken. Tilde hatte schon immer die Fähigkeit besessen, ihr auf den Grund der Seele zu schauen.

Bis zu diesem Moment hatte sie sich gut gehalten, hatte vernünftig die veränderte Situation akzeptiert. Doch jetzt brachen alle Dämme. Sie heulte los und konnte lang nicht wieder aufhören.

Tilde tat nichts, schwieg, wartete ab.

Als Jette wieder zu Atem gekommen war, sagte sie: »Robert hat mich verlassen, und ich muss aus unserer Wohnung raus.«

»Wegen dem langweiligen Ochsen mach dir man keinen Kopp. Der passte sowieso nicht zu dir.«

Jette hatte Robert vor zwei Sommern nach Spiekeroog mitgebracht. Er war schon nach zwei Tagen vor Tildes spitzer Zunge geflüchtet und hatte lieber in Hamburg seine Verwandten besucht.

»Aber das mit der Wohnung ist Shiet. Was wirst du tun?«

So war sie, Oma Tilde. Hielt sich nicht lange mit romantischem Kram auf, sondern wandte sich den praktischen Dingen zu.

Jette fischte ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und schnäuzte sich. Sie spürte, dass ihre Tränen den größten Kummer bereits fortgespült hatten. Auch die Tatsache, dass sie hier bei ihrer Großmutter in der Dachkammer saß, half ihr. Und sie begriff, dass sie auf jeden Fall nach Spiekeroog gekommen wäre. Auch ohne Tildes Unfall.

»Das weiß ich noch nicht. Es wird schwer sein, eine bezahlbare Unterkunft in München zu finden. Glücklicherweise hat mir mein Chef erst mal unbezahlten Urlaub gegeben.«

»Na, dann ist doch alles klar«, sagte Tilde. »Du bleibst fürs Erste hier. Und wenn dein Italiener dich zurück am Herd haben will, sagst du, deiner armen alten Oma geht es noch furchtbar schlecht. Vielleicht fange ich mir eine Entzündung ein, oder der Fuß fällt ab.«