Der kleine Parthenon - Edvard Arroyo - E-Book

Der kleine Parthenon E-Book

Edvard Arroyo

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Beschreibung

Südfrankreich im Sommer 2008. Eine dreiköpfige Familie ist im Wohnmobil unterwegs: Pfarrer Clemens Birnenlohn, 58, aus dem Berner Seeland, seine Frau Gerlinde, 56, und der Sohn Lukas, 18. Aus einer Laune heraus will Gerlinde nach Lourdes fahren. Die beiden Männer sind fassungslos, fügen sich aber. Gerlinde verbringt die Zeit im Wohnmobil mit Schreiben und stirbt nach einigen Tagen an Herzversagen. Was sie in Lourdes wollte, bleibt ebenso im Dunkeln wie das Ende ihrer ersten Karriere als Schauspielerin. Lukas beginnt, Nachforschungen anzustellen. Und er fördert Unglaubliches zutage. Doch was davon ist wahr, was erfunden?

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Seitenzahl: 174

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2025 novum publishing gmbh

Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt

[email protected]

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-765-5

ISBN e-book: 978-3-99130-766-2

Lektorat: Mag. Eva Reisinger

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Zum Inhalt

Eine dreiköpfige Familie verreist im Sommer 2008 im Wohnmobil nach Südfrankreich: Clemens Birnenlohn, 58, Pfarrer im schweizerischen Witznach, seine Frau Gerlinde, 56, und der Sohn Lukas, 18. Aus einer Laune heraus und gegen den Willen der beiden Männer will Gerlinde nach Lourdes fahren, wo gerade das hundertfünfzigjährige Jubiläum der Marienerscheinungen begangen wird. Nach einigen Tagen stirbt sie dort an Herzversagen. Vater und Sohn brechen die Ferien vorzeitig ab. Der Tod der Mutter lässt Fragen offen. Was wollte sie, die evangelische Pfarrersfrau, ausgerechnet in Lourdes? Und was geschah in den Jahren, die sie vor der Geburt ihres Sohnes als Schauspielerin zugebracht hatte? Eine zentrale Figur ist ihr Bruder, der einschüchternde Regierungsrat Gotthold Wankdorf, 58. Ihn und Clemens verbindet seit Jugendzeiten eine tiefe, aber fast erloschene Freundschaft. Es häufen sich die Hinweise darauf, dass es mit dieser Familie eine rätselhafte Bewandtnis hat. Lukas reist in die Vergangenheit seiner Mutter und spürt in ihren nachgelassenen Schriften mühevoll Hinweise auf Tatsachen und Geschehnisse auf, die er kaum zu glauben wagt. Was ist wahr, was erfunden?

Vorbemerkungen

Dieser Roman basiert auf persönlichen Erlebnissen des Autors. Dennoch ist er absolut fiktiv. Allfällige Ähnlichkeiten zwischen den Romanfiguren und realen Personen beruhen auf Zufall.

Die im Text erwähnte »Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion« des Kantons Bern heißt inzwischen »Direktion für Inneres und Justiz«. Zur Zeit der Haupthandlung (Sommer 2008) trug sie noch ihre alte Bezeichnung.

Welten Chaos, Menschen Chaos,

Chaos in des Menschen Brust,

Heilge Liebe, glühend Hassen,

Düstrer Gram und heitre Lust!

Wie es lodert, wie es flammet,

Finstre Wolke, schwanker Kahn,

Heilger Mut und süßes Hoffen:

Bleibet in dem morschen Kahn.

Friederike Kempner

Montag, 21. Juli 2008

Packpapier bleibt seiner Rolle treu. Die zweidimensionale Ausbreitung ist seine Sache nicht. Auf einem geräumigen Tisch ließen sich seine widerspenstigen Kanten mit Klebeband vorübergehend fixieren. Doch auf dem Postamt gibt es nur kleine Tische.

Wer dort ein Paket einwickelt, benötigt eine dritte und eine vierte Hand. Zwei Hände für das Packpapier, zwei für die Platzierung des Paketinhalts. Ist man allein, können die beiden Ellenbogen einspringen. Das sieht zwar albern aus, aber wie gesagt, man ist ja allein.

Irgendwann gelingt es doch, das Bündel ist nun braun eingewickelt und verklebt. Angeklebt wird der bereits vorbereitete Briefumschlag. Darin ein kurzer Brief mit der Anweisung, wie zu verfahren sei: »Bitte das Paket nicht weiter öffnen!«

Dann die ganze Übung noch einmal: Packpapier, zwei Hände, zwei Ellenbogen, viel Klebeband.

Eine zweite Schicht umhüllt jetzt das Ganze. Darauf geklebt wird die Etikette mit den Adressen des Absenders und des Empfängers.

Damit ist die Kleberei beinahe abgeschlossen. Was noch dazukommt, ist ein kleines Zollformular mit der Angabe des Inhalts.

Das Auslandsporto bedeutet einen schmerzlichen Aderlass für das Budget eines jungen Mannes.

Zum Abschluss gelangt das Paket in einen Behälter, in dem bereits viele andere Sendungen liegen. Von hier aus reisen sie in die ganze Welt. Für einen dermaßen berühmten Ort ist das Postamt überraschend klein.

Ein letzter Kontrollblick, ein banges Gefühl.

Wenn das mal gut ausgeht.

Montag, 28. Juli

Ornella klopfte kurz und trat ein. Zigarrenrauch schlug ihr entgegen und vermengte sich mit dem Duft aus der Kaffeetasse, die sie auf einem kleinen Tablett trug.

Der Chef schaute stumm von einem Dokument auf. Es sah aus wie eine Rede, und die schien ihm nicht zu gefallen. Ornella stellte das Tablett auf seinen Schreibtisch und schob sich durch die dicke Luft in ihr Vorzimmer zurück.

Wankdorfs Finger trommelten aufs Papier. »Trauerfeier«, stand da, »30. Juli 2008«, »Rede von Herrn Regierungsrat Gotthold Wankdorf«. Darüber der Briefkopf mit dem Berner Kantonswappen und der Bezeichnung »Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion«. Im Textblock das, was zu erwarten war: »Liebe Trauergemeinde«, »tragische Umstände ihres Todes« und so weiter. Gotthold schnaubte. Inzwischen war wohl alles tragisch, verdammt, selbst ein dämliches Wohnmobil. Er griff zum Hörer und ließ sich mit dem Pfarrhaus verbinden. Er würde es kurz machen.

»Hallo, ich bin’s. Hör mal, Birnenlohn, muss ich was sagen? Es reicht doch, wenn du das machst, das ist immerhin dein Job.«

Am anderen Ende der Leitung atmete Pfarrer Clemens Birnenlohn tief durch. »Du willst auf deine Rede verzichten? Das ist ja etwas ganz Neues. Was mich betrifft, so muss ich dich enttäuschen. Ich werde gar nichts sagen. Ich kann das nicht. Der Kollege Spreeling ist bereits aufgeboten.«

»Was ist denn das für einer?«

»Pfarrer in Allenwässern. Wird dir gefallen, zupackender Typ. Frisch aus Brandenburg eingeflogen.«

»Du garnierst meinen Auftritt mit einem Ossi? Schönen Dank, dass du mich im Stich lässt!«

»Ich instruiere ihn ja, den Ossi. Niemand zwingt dich, an der Beerdigung deiner eigenen Schwester zu sprechen. Jeder wird verstehen, wenn dir die Worte fehlen. Aber was ist eigentlich mit deinem Schreiberling?«

»Despierres ist kein Schreiberling.«

Natürlich nicht, dachte Clemens. Nicht, wenn man derselben Studentenverbindung angehört wie Wankdorf.

Gotthold sah sich veranlasst, jeden aufkommenden Verdacht auf personelle Fehlentscheidungen zu unterdrücken: »Despierres ist professioneller Redenschreiber und hat einen soliden PR-Hintergrund. Er hat in Genf sogar im United Nations Office gearbeitet, falls dir das was sagt. In Gerlindes Fall hat er sich richtig reingekniet, wie immer. Allerdings ist das seine erste Trauerrede, das muss man verstehen. Hör dir das mal an:

‹Liebe Trauergemeinde, ein lieber Mensch ist von uns gegangen, der immer ganz selbstverständlich zu meinem Leben gehört hatte.› Ist doch etwas abgedroschen, nicht? Und so geht es weiter: ‹Meine geliebte Schwester Gerlinde›, Ausrufezeichen. ‹Wenn da nur Leere wäre, wo sie einst für mich gewesen war, dann würde ich jetzt verstummen. Aber ich finde Fülle und Dankbarkeit. Sollten mir dennoch die Worte fehlen, dann wegen des Zuviels an Bildern und Klängen› etc. – Birnenlohn, so spricht doch kein Mensch!«

»Ich finde es ganz schön. Muss ich mir merken. Oje …«

»Hör auf zu kichern! Die Lage ist ernst.«

»Ich lache nicht und ich heule nicht. Hör mal, ich muss gleich den Ablauf festlegen. Sagst du jetzt etwas oder nicht?«

»Ich werde reden, Birnchen. Ich werde reden. Ohne Manuskript. Und wenn ich mit einer Schweigeminute anfange. Dann spreche ich einfach ihren Namen aus: Gerlinde! Der Rest kommt dann ganz von selbst.«

»Gut. Das wird sicher einen starken Eindruck machen.«

»Halt den Mund! Wir sehen uns am Mittwoch in der Kirche. Schreib deinem Brandenburger eine schöne Überleitung, damit ich ohne Verrenkungen loslegen kann.«

»Mache ich. Ob der sich daran hält, ist eine andere Frage.«

»Dann bau Druck auf, wenigstens einmal im Leben. Ich bin schließlich nicht irgendwer.«

»Wie konnte ich das vergessen.«

»Auf Wiedersehen.«

Mittwoch, 30. Juli

Es war halb zehn Uhr vormittags. In den feuchten Senken des Berner Seelands hatten sich die Dunstschleier der Nacht aufgelöst, im blassblauen Himmel über Witznach sirrten die Schwalben, und weit hinten zeichneten die Alpengipfel Zacken in den Horizont. Der Kirchturm warf seinen breiten Schatten auf den Friedhof und den Berner Barockgarten des Pfarrhauses, das ursprünglich ein Bauernhaus gewesen war.

Ein kleiner, zierlicher Mann im schwarzen Anzug trat aus dem Pfarrhaus und ging am Garten vorbei über den Vorplatz zur Kirche. Er öffnete ihre Tür und verschwand im Innern.

Dann stand derselbe Mann unter der Empore und schaute in die Leere seiner Kirche. Kein Schmuck außer zwei mächtigen Blumensträußen links und rechts des Taufsteins. Dazwischen die unscheinbare Urne aus Holz, Gerlindes letzte, nein vorletzte Station. Clemens Birnenlohn kämpfte mit einem leichten Schwindel.

Er ging durch den Mittelgang nach vorne. An der ersten Bank links klebte ein Zettel. »Reserviert für Angehörige.« Da werden wir eine Menge Platz haben, wir drei, dachte er, und setzte sich. Er sog die Stille und Kühle in sich auf.

Mit einem Klicken öffnete sich die Kirchentür. Schrill sang eine Männerstimme einen einzelnen hohen Ton, dann näherten sich rasche Schritte. Ein schlaksiger Mensch setzte sich neben Clemens und fasste ihm um die Schultern.

»Habe ich dich erschreckt? Ich prüfe in einer neuen Kirche immer zuerst die Akustik. Kleine Marotte von mir. Clemens, ich grüße dich!«

Clemens versuchte sich zu entwinden. »Grüß dich, Christoph, schon da?«

Spreeling zog seinen Arm zurück. »Aber gewiss doch, lieber Herr Kollege, es ist nicht gut, in solchen Momenten allein zu sein. Dieser Friede, diese Stille. Schöne Blumen, herrlich.«

»Ja. Vera macht das gut. Vera Nüth, die Sigristin.«

»Niedlich, diese Berufsbezeichnungen. Bei uns hieß das Kirchwart. Ich bin so stolz darauf, dass du mich als Stellvertreter eingesetzt hast. Also ich könnte das auch nicht, wenn der Mensch an meiner Seite, ach du lieber Gott, ich darf gar nicht daran denken. Dass du überhaupt erwogen hast, die Trauerfeier selbst zu leiten!«

»Es war keine leichte Entscheidung, glaub mir.«

»Gewiss nicht, gewiss nicht. Aber wer wollte im Ernst im Stande sein, dich zu ersetzen? Ohne dein Exposee wäre ich glatt aufgeschmissen. Wahnsinnig gut geschrieben, es ist, als hätte ich deine Frau leibhaftig gekannt, so plastisch kommt das rüber.«

»Ich hatte eher das Gefühl, sie kommt mir mit jedem Wort mehr abhanden.«

»Das ist ganz normal, mein lieber Clemens. So gesehen ist es sehr beachtlich, dass von Jesus Christus nach zweitausend Jahren unablässiger Zerredung überhaupt noch etwas übriggeblieben ist. Da sieht man mal, wie toll der Mann war. Beziehungsweise ist.«

Clemens zog unangenehm berührt das Gesicht zusammen. »Gut, Christoph, dann lassen wir den Herrn für heute mal ruhen, nicht? Ich hätte es ausnahmsweise lieber weltlich.«

»Äh …«

»Ja, einfach mal ohne diesen Überbau. Ich hatte ein wenig zu viel davon in letzter Zeit.«

»Ach so, ja. Lourdes. Kenne ich. Verstehe ich. Dieses ganze katholische Brimborium, nicht? Wie wunderbar dagegen, Gottes Wort in der nüchternen Atmosphäre einer Berner Landkirche verkünden zu dürfen!«

»Bitte!«

»Gut, dann bin ich halt aus den Trümmern des ostdeutschen Atheismus nach Zwinglistan gezogen, um hier die Gottlosigkeit zu predigen. Keine Angst, war ein Witz, ich mache das schon. Wär doch jelacht!«

Jemand hüstelte, die Kirchentür fiel leise ins Schloss. Vorsichtig näherte sich ein weiterer schwarz gekleideter, etwas unförmiger Mann. In der Rechten hielt er eine schwere zerknautschte Aktenmappe. Die beiden Geistlichen erhoben sich.

Clemens stellte den Ankömmling vor: »Christoph, das ist Konrad Klotz, unser Organist. Konrad, das ist Pfarrer Christoph Spreeling, meine Vertretung.«

Spreelings Hand schnellte nach vorne, Klotz beeilte sich, die seine freizukriegen. »Herr Spreeling, freut mich, Sie kennen zu lernen.«

»Ach, bitte nennen Sie mich doch Christoph. Freut mich auch sehr, Herr Klotz. Darf ich Konrad sagen? Nein, fühlen Sie sich zu rein gar nichts verpflichtet, das ist halt so meine Art als real existierender Senftenberger. Ich meine übrigens das Brandenburger Senftenberg, ich muss dies betonen. Es gibt nämlich noch ein Senftenberg in Niederösterreich, aber dort wäre aus mir vermutlich ein verknöcherter Priester geworden, der niemanden duzt außer den lieben Gott und die putzigen Ministranten.«

Clemens ächzte leise. Klotz lächelte unsicher. »Nein, geschätzter Christoph, es freut mich, wenn …«

Spreeling klatschte in die Hände. »Toll, dann ist das ja geklärt. Du bist meine Rettung, Konrad. In der Musik offenbart sich Gottes Nähe sogar dann, wenn er unerwünscht ist. Kleiner Scherz am Rande, ich plage jetzt unseren apostatischen Hinterbliebenen nicht länger.«

Klotz lächelte irritiert. »Du musst wissen, Christoph, dass mich mit der Verstorbenen außerordentlich viel verbindet. Wir haben zusammen musiziert. Ihr wunderbares Cellospiel da oben auf der Empore, dazu meine Wenigkeit an der Orgel …«

Klotz wischte sich eine Träne weg. Clemens schaute ihn ausdruckslos an und schwieg.

Spreeling sah sich veranlasst, die Stille zu durchbrechen: »Aber mein lieber Konrad, das ist doch wunderbar, ich meine, dann wird uns Gerlinde in deiner Musik gegenwärtig, viel mehr, als es durch meine dürren Worte geschehen könnte!«

»Vergiss Wankdorf nicht«, warf Clemens trocken ein.

Spreeling griff sich an die Stirn. »Ach ja, der ist ja auch noch. Das liebe Bruderherz. Ich habe ihn mir bereits im Netz angesehen. Poh, was für ein Kerl! Den muss man wohl nicht vorstellen.«

»Nein, tu ihm das nicht an«, sagte Clemens, »der setzt voraus, dass man ihn kennt. Und das tun die meisten tatsächlich. Ich habe dir hier das Nötigste aufgeschrieben.« Er übergab Spreeling ein Blatt Papier.

Spreeling las es durch. Er stutzte. »Ihr seid Jugendfreunde?«

»Ja, wir gingen zusammen aufs Gymnasium.«

»Dann kanntest du Gerlinde schon im Sandkasten? Meine Güte!«

»Nein, wir waren bereits Teenager, als wir uns kennenlernten, da war der Sandkasten schon lange kein Thema mehr. Unser lieber Klotz käme da schon eher in Frage. Wie alt warst du da, anno sechsundsechzig, gab es dich da überhaupt schon?«

Klotz errötete und stammelte: »Zwei, ich war zwei Jahre alt, was für eine komische Frage. Ich glaube, ich muss mal hinaufgehen und die Register einstellen. Gibt es Änderungen im Ablauf?«

Clemens sah ihn lange an und sagte: »Nein, am Ablauf ändert sich nichts.«

Klotz errötete wieder und eilte davon.

***

Nun war die Kirche voll. Warum mochten sie alle gekommen sein? Wegen Gerlinde? Oder vielleicht doch eher wegen ihres prominenten Bruders? Clemens saß rechts, Gotthold links, dazwischen Lukas. Von draußen drang das Glockengeläut herein. Spreelings Akustikprüfung erwies sich längst als wertlos, die vielen Menschen dämpften jedes Echo.

Clemens war viel nervöser als sonst, er mochte sie nicht, die Schar in seinem Nacken. War er letztlich nur Pfarrer geworden, weil er es schon als Kind gehasst hatte, in einer Menge zu sitzen? Er gehörte nach vorne, wo er Luft und die Kontrolle hatte. Hier drohte er zu ersticken.

Vor einer Stunde hatten sie die Urne begraben, im engsten Familienkreis. Lukas war der Einzige gewesen, dem die Tränen gekommen waren. Es war wohl in erster Linie ein Zeichen der Entspannung nach diesem verrückten Sommer. Fast zehn Tage lang hatten sie warten müssen, bis die Urne aus Südfrankreich hergebracht werden konnte.

Die Glocken schwiegen. Klotz spielte sein Eingangsspiel. Spreeling stand auf und wartete mit aufgeräumtem Lächeln auf seinen Einsatz. Dann schwieg die Orgel, Spreeling hielt das Eingangsgebet und begrüßte die Gemeinde. Clemens ahnte sogleich, dass sich hier eine gewisse liturgische Unbekümmertheit ankündigte, denn er hatte ein feines Gespür für die Temperatur, Sprache und Funktion der einzelnen Programmteile. Spreeling dagegen stellte gleich am Anfang klar, dass er vom geschätzten Pfarrer Birnenlohn als Ersatz einbestellt worden war und dass ihm dies eine große Ehre bedeute. Das hätte an anderer Stelle kommen sollen.

Clemens schielte verstohlen zu seinem Sohn hinüber. Achtzehn war der nun schon, hoch aufgeschossen, ein schöner Mensch auf ungewöhnliche Art, und immer etwas rätselhaft. Wie seine verstorbene Mutter. Mit ihm musste etwas geschehen sein, dort unten in Lourdes. Hoffentlich keine Marienvision. Er war traurig, ganz klar, aber da leuchtete auch etwas wie Glück in seinen Augen. Wobei er dieses verträumte Lächeln schon als kleines Kind gehabt hatte. Clemens liebte ihn sehr, aber das behielt er für sich. Ihm graute davor, dass Lukas in einem Jahr seine Maturität ablegen und dann wohl in eine Universitätsstadt ziehen würde. Und er selbst allein im Pfarrhaus, genau wie vor neunzehn Jahren und all die langen Jahre zuvor. Clemens seufzte.

Spreeling leitete bereits zum Lebenslauf über. Sicheres liturgisches Gewässer, dachte Clemens.

»Gerlinde Birnenlohn wurde am 3. April 1952 als Gerlinde Wankdorf in Bern geboren. Ihre Eltern waren Albert und Louise Wankdorf, geborene Gognat, ihren zwei Jahre älteren Bruder Gotthold dürfen wir heute in unserem feierlichen Kreise begrüßen. Gerlinde erlebte eine ruhige und glückliche Kindheit und Jugend. Sie offenbarte schon früh ihre außergewöhnlichen Talente als Cellistin, Sängerin und Schauspielerin. 1971 machte sie in Bern die Matura und trat in die Schauspielklasse des Berner Konservatoriums ein. Vier Jahre später trat sie ihr erstes Engagement in Kaiserslautern an, 1980 wechselte sie nach Bielefeld, 1984 nach Aachen. Aber 1989 kam die große Wende in ihrem Leben.«

O ja, dachte Clemens. Das Tiananmen-Massaker und der Mauerfall waren dagegen Fußnoten.

»Sie gab ihre Karriere als Schauspielerin auf, um den Freund ihrer Jugend zu heiraten und ihrem reichen Leben einen neuen Sinn zu geben. An der Seite von Clemens Birnenlohn wurde sie die Pfarrersfrau von Witznach und gebar ihrem Mann am 14. März 1990 einen prachtvollen Sohn, unseren Lukas hier in der ersten Reihe. Man könnte sagen, die begnadete Unterhalterin gab dem Wort Unterhaltung eine neue Bedeutung: Unterhaltung der Familie, des Hauses, der Kirche, der Gemeinde, des christlichen Dialogs.«

Womit mein Exposee bereits jetzt Makulatur wäre, dachte Clemens. Was erzählt er da für einen Unsinn?

»Jedes Leben, liebe Trauergemeinde, folgt unsichtbaren Spuren und Gesetzmäßigkeiten. Manche, zu denen auch ich mich zähle, sehen hier Gottes Hand am Werk, andere sprechen von Schicksal oder etwas düsterer von Verhängnis. Egal, das kann jeder handhaben, wie er will. Schauspielerinnen und Schauspieler sind Wesen des Gebens, des Sich-Verausgabens, des Sich-Verschenkens und Sich-Preisgebens. Woher kommt diese scheinbar nie versiegende Energie? Und was, wenn sie dann doch versiegt, wenn sich eine tiefe Erschöpfung des Körpers und der Seele einstellt? Ich weiß nicht, ob das bei Gerlinde der Fall war, aber sie hatte sicher ihre guten Gründe, in ihr schönes Heimatland zurückzukehren. Als Deutscher verstehe ich das bestens, denn auch ich gewinne hier eine Energie, die ich in meiner Heimat Brandenburg vermisst habe. Es gibt so etwas wie die teutonische Erschöpfung, und das nicht nur im Osten. Hier dagegen herrscht der ewige Urlaub.«

Ich wusste es, irgendwann kommt Brandenburg, dachte Clemens.

»Diese Mutmaßung meinerseits hat einen bestimmten Grund, nämlich Gerlindes tragischen Tod in Lourdes. Ausgerechnet Lourdes, möchte man sagen, das Mekka oder zumindest Medina der katholischen Welt. Die Familie Birnenlohn gelangte auf ihrer Südfrankreichreise zufällig dorthin, und das sollte wider jedes Erwarten der letzte Ort sein, den Gerlinde lebend erreichte. Sie starb am 19. Juli im Alter von sechsundfünfzig Jahren an Herzversagen. In Frieden ruhe ihre Seele.«

Jetzt muss er aufpassen, dass er sich nicht verheddert, dachte Clemens. Doch Spreeling griff den Faden wieder auf.

»Noch einmal frage ich: Warum ausgerechnet Lourdes, liebe Trauergemeinde? Lourdes, wo einer unscheinbaren jungen Frau vor genau hundertfünfzig Jahren angeblich die Muttergottes erschien, wo plötzlich eine Quelle zu sprudeln begann, deren Wasser heute jedes Jahr von Millionen von Menschen in alle Ecken der Welt getragen wird? Man kann daran glauben oder nicht, der Ort hat etwas ganz Besonderes, ich habe es selbst erfahren. Es verhält sich dort wie mit der Schweiz. Manche nennen es Kraftorte. Gerlinde wollte unbedingt von diesem Wasser trinken, und schließlich trank sie nichts anderes mehr. Um es metaphorisch auszudrücken: Sie suchte die Quelle, die ihres Glaubens und die ihres Lebens. Sie wollte sich wieder einverleiben, was ihr in Aachen als Schauspielerin genommen worden war.«

Clemens wunderte sich über nichts mehr, auch nicht über die kühnste Hypothese.

»Aber vielleicht war alles ganz anders. Aachen, die Kaiserstadt, die Domstadt, ist ja ebenfalls ein katholischer Hotspot, und Quellen gibt es dort auch. Das Wasser schmeckt dort zwar nach Schwefel, und der steht bekanntlich für jene unerfreuliche Tiefenzone, die von lehrgetreuen Katholiken nach wie vor als real existierend begriffen wird.«

Spreeling formte seine rechte Hand zum Telefonhörer und sprach im tiefsten Bass: »Hallo, arme Seelen, Sie sprechen mit der Hölle, mein Name ist Teufel, was kann ich für Sie tun?«

Einzelne Gemeindemitglieder lachten zögerlich.

»Ja, er hat einen gewissen spektakulären Mehrwert, der Katholizismus, und das kann der Schauspielerin Wankdorf nicht entgangen sein. Es ist ja auch eine wunderliche Welt, und ich verstehe Gerlindes Faszination sehr gut. Sehr gerne entsinne ich mich einer ökumenischen Veranstaltung, bei der ich verschiedenen katholischen Würdenträgern vorgestellt wurde, darunter ein netter Monsignore. Er trug da so ein Schildchen mit seinem Namen drauf: Arno Schwan-Zengel. Mit Bindestrich. Natürlich vor dem Z in Zengel. Wo denn sonst? Menschenskind!« Spreeling gab den Fassungslosen.

Große Heiterkeit. Spreeling machte sofort weiter: »Nein, er war wirklich sehr freundlich. Ich sprach ihn mit ‹Herr Monsignore› an, worauf er mich höflich korrigierte. Den Herrn könne man weglassen, der sei im Monsignore schon drin. Nun, wer ein einigermaßen geschultes theologisches Gehör hat, dem werden hier tausend Lichter aufgehen.«

Spreeling breitete die Hände aus und wiederholte den Satz mit priesterlich singender Fistelstimme: »Der Herr ist im Monsignore schon drin!« Dann löste er seine Pose mit einem durchtriebenen Grinsen auf. Die Dämme des schicklichen Verhaltens barsten, die Kirche war erfüllt von Gelächter.

Clemens fragte sich, ob er der Sache ein Ende machen sollte, konnte sich ein Schmunzeln aber auch nicht verkneifen. Verstohlen blickte er nach links. Lukas saß da mit seinem stillen Lächeln. Gottholds Reglosigkeit gemahnte an die Sitzbilder von Abu Simbel.

»Scherz beiseite, liebe Trauergemeinde. Den Teufel habe ich nicht ganz umsonst erwähnt. Er gehört zu einem berühmten Trio: Ritter, Tod und Teufel. Es gibt noch ein zweites solches Trio, mit derselben tiefen Wesensgemeinschaft: Schauspieler, Pfarrer und Politiker. Womit ich nicht andeuten will, der Schauspieler sei der Ritter, der Pfarrer der Tod und der Politiker der Teufel, verehrter Herr Regierungsrat!«

Ausgelassene Heiterkeit. Clemens wurde langsam angst und bange.

»Nein. Es ist ganz einfach so, dass man in jedem dieser drei Berufe immer auch Anteile der beiden anderen hat. Mancher junge Mensch fühlt sich zugleich von der Bühne und der Kanzel angezogen, und wer gerne vor Menschen auftritt, verfügt eigentlich schon über alles, was man als Politiker so braucht. Man kann das vollständig durchrechnen und kommt immer