Der Koffer - Thomas Heckler - E-Book
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Der Koffer E-Book

Thomas Heckler

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Beschreibung

Ein Koffer mit wertvoller Fracht wird am Flughafen aufgegeben, gelangt ins falsche Flugzeug und scheint in der Folge ein Eigenleben zu führen. Sein Inhalt wird das Leben mehrerer Personen durcheinanderbringen, auch weil am Flughafen von Mallorca der Servicemitarbeiter Rachid einige schwerwiegende Entscheidungen trifft, die eine Kette von ungeahnten Ereignissen in Gang setzen. Felicitas und ihr Freund wollen auf O'ahu, Hawaii heiraten. Doch kann eine Beziehung, die auf einer Lüge beruht, Bestand haben? Und will Melanie die Hochzeit ihrer Schwester wirklich verhindern? Welche Rolle spielt dabei Max, der weitgereiste Exfreund von Felicitas? Zehn Tage vor dem Hochzeitstermin sind alle Vorbereitungen getroffen, was soll jetzt noch schiefgehen? Eine wunderbare Geschichte über die Liebe, das Reisen und die Zufälle des Lebens, die immer wieder steuernd einzugreifen scheinen, gerade wenn wir es am wenigsten erwarten. Deutschland, Mallorca, Schottland und schließlich Hawaii sind die Schauplätze dieser wendungsreichen Geschichte. Feelgood von der ersten bis zur letzten Zeile! Dieses Buch sollten Sie bei Flugreisen sicherheitshalber unbedingt im Handgepäck aufbewahren!

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Seitenzahl: 230

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Vom Autor bereits erschienen:

Die mallorquinische Herberge (2024)

Über den Autor

Thomas Heckler lebt mit seiner Familie in Oberbayern. Der Diplompsychologe verbindet in seinen Romanen aktuelle Themen der Gegenwart mit Gespür für seine Protagonisten. Dies ist sein zweiter veröffentlichter Roman.

Inhaltsverzeichnis

Rachid

Tag 1 – zwei Tage zuvor

Tag 2

Andrew und der Quarter

Tag 3

Rachid II – wenige Stunden zuvor

Tag 4

Irina – ein paar Stunden zuvor

Tag 5

Max und Moritz am Flughafen von Palma de Mallorca

Tag 6

Julia

Tag 7

Dr. Maria Hoppenstedt – ein paar Stunden zuvor

Tag 8

Christina

Tag 9

Rachid III

Tag X

Isabel und Rodrigo

Epilog – München im Mai des Folgejahres

Nachwort

Lust auf mehr?

Für meine Töchter

Rachid

Rachid drückte den Stopp-Knopf. Einige der Koffer hatten sich offenbar verhakt, und er musste auf das nun stillstehende Gepäckförderband steigen, um zu sehen, was passiert war. Mit geübtem Handgriff hob er die zwei ineinander verkeilten Koffer vom Band und stellte sie erst einmal zur Seite. Anschließend drückte er den Start-Knopf. Das Band fuhr nach einem kurzen Ruckeln wieder an. Ein Koffer nach dem anderen fand seinen Weg auf den vielen Förderbändern tief unter dem Flughafen San Jordi von Palma de Mallorca.

Es handelte sich um Hartschalenkoffer, die nun neben ihm standen. Beide in etwa gleich groß, beide in einem dunkelblauen Farbton. Einer der beiden war ungewöhnlich leicht für das Gepäck eines typischen Mallorca-Urlaubers. Durch das Verhaken hatten sich die Anhänger mit den Flughafencodierungen gelöst. Rachid hatte sie vom Förderband aufgehoben, jetzt lagen sie neben ihm auf dem Boden. Auch die sonst immer angebrachten Barcodeaufkleber fehlten. Er stöhnte auf und sah sich die beiden baggage tags an. Der eine Koffer schien einem Mann mit englisch klingendem Namen mit Zielflughafen London zu gehören, der andere einer Deutschen aus München. Rachid nahm einen Streifen Klebeband aus seiner Arbeitstasche, brachte die Codierungsbänder wieder an und betrachtete zufrieden seine Arbeit.

Frauen nehmen zu viele Sachen in den Urlaub mit, dachte er. Ihre Koffer sind immer schwerer. Wir Männer haben da deutlich weniger dabei.

Er hob die beiden Koffer schwungvoll hoch und stellte sie auf das immer noch laufende Förderband.

Bald darauf war ein Koffer mit einem Hochzeitskleid auf dem Weg nach London.

Tag 1 – zwei Tage zuvor

»Sven, wo ist mein weißer Koffer?«, rief Felicitas aus der hintersten Ecke ihres kleinen Abstellraums.

»Du meinst den, den du im letzten Herbst deiner Freundin geliehen hast?«

Verdammt! Das hatte sie ganz aus dem Blick verloren. Und Vanessa hatte es wohl auch völlig vergessen, ihr den Koffer wieder zurückzugeben. Felicitas wusste, dass Vanessa gerade auf einer Urlaubsreise war. Vermutlich mit ihrem Koffer, den sie jetzt eigentlich brauchte.

»Kann ich deinen nehmen?«

»Den dunkelblauen?«, kam es aus dem Wohnzimmer.

»Ja.«

»Den mit dem roten Griff?«

»Mensch, Sven, natürlich den mit dem roten Griff. Oder hast du etwa noch einen in einer anderen Farbe?«

»Nö.«

»Du kannst doch deinen schwarzen nehmen. Für mein Brautkleid brauche ich den größten, den wir haben, und das ist dein blauer. Mein Kleid und die Schleppe dürfen nicht gequetscht werden, sonst verknittert alles.«

Warum muss die Schleppe auch gefühlte fünf Meter lang sein, dachte Sven, behielt das aber lieber für sich. Er konnte sowieso nicht verstehen, warum Frauen sich für nur einen einzigen Tag im Leben ein so teures und aufwändig geschneidertes Kleidungsstück anschaffen mussten. Eines, das danach nie wieder angezogen wurde, im Kleiderschrank viel Platz beanspruchte und ein paar Jahre später den meisten Frauen auch nicht mehr passte. Zumindest war das bei den verheirateten Frauen seines Bekanntenkreises so.

»Geht in Ordnung, du kannst ihn haben.«

»Kann ich einen Hawaii-Aufkleber darauf anbringen? Dann finden wir unseren Koffer bei der Gepäckausgabe in den USA schneller wieder.«

»Geht ebenfalls in Ordnung.«

Darüber mit Felicitas zu diskutieren, würde nichts außer schlechter Stimmung bringen, und darauf hatte er aktuell absolut keine Lust. Den Aufkleber auf seinem Koffer konnte er nach ihrer Rückkehr wieder abziehen. Keine allzu große Sache. Keine, um ein Fass aufzumachen.

Felicitas, von ihren Freunden nur Feli genannt, war bereits dabei, den blauen Koffer aus dem obersten Regal des Abstellraums hervorzuziehen, was ihr bei ihren einen Meter und sechzig Körpergröße nur gelang, indem sie sich auf Zehenspitzen stellte. Sie rollte den Koffer in den Flur und blickte in die Küche, wo Sven gerade dabei war, sich einen Espresso zuzubereiten.

»Ich stelle ihn ins Gästezimmer. Wenn ich das Kleid heute aus dem Brautmodenatelier abhole und dann in den Koffer lege, gilt für dich: Finger weg! Der first look ist erst am Hochzeitstag in zehn Tagen. Klaro?«

»Klaro, ich kenne die Regeln!«

»Schatz, ich muss gleich los. Bitte denk daran, dass wir uns heute um drei im Schuhgeschäft in der Kaufingerstraße treffen. Sei pünktlich, ja?« Sie drückte Sven einen Kuss auf den Mund, ergriff ihren Schlüsselbund und verließ die gemeinsame Wohnung, um sich auf den Weg in die Münchner Fußgängerzone zu machen.

In den nächsten Stunden wollte sie die letzten Einkäufe für den am morgigen Tag bevorstehenden Abflug in die USA erledigen. Ihre zwei anderen Koffer waren seit dem Wochenende bereits fast vollständig gepackt.

Die Brautschuhe hatten allerdings in keinen der Koffer mehr gepasst, sie würde sie im Handgepäcktrolley verstauen müssen. Jetzt galt es, noch den dritten Koffer mit dem Brautkleid zu packen, das sie im Laufe des Tages im Atelier von Sophia von Meiningen in der Luitpoldstraße abholen wollte.

Zeitlich alles etwas eng, aber die von der Modedesignerin erst ganz zum Schluss vorgeschlagene – zugegebenermaßen extravagante und nicht ganz billige – Ergänzung war nicht schneller lieferbar gewesen.

Feli schaltete den Countdown auf ihrer neu erstandenen Smartwatch ein. »Noch 8 Tage, 5 Stunden und 28 Minuten«, murmelte sie und eilte die Stufen des Treppenhauses hinunter.

Inzwischen war Sven ins Gästezimmer geschlichen, hatte den auf dem Bett liegenden Koffer geöffnet, ein kleines, streichholzschachtelgroßes Teil aus seiner Hosentasche hervorgeholt und in einen an der Innenseite angebrachten Wäschebeutel gelegt. Unauffällig. Zumindest fand er das. Feli würde es nicht entdecken, da war er sich sicher.

Sven verließ ihre in Schwabing gelegene Dachgeschosswohnung nur wenige Minuten nach Feli. Im Gegensatz zu ihr musste er allerdings heute am letzten Tag vor ihrem Abflug noch in die Firma. Es standen einige wichtige Meetings an. Wenn man im Marketing eines international bedeutenden Medizintechnikunternehmens arbeitete, war hoher Arbeitseinsatz ein Anspruch an alle Führungskräfte, so hatte es der Firmeninhaber bei einer vor Kurzem stattgefundenen internen Veranstaltung gesagt. Sven wollte auf der Karriereleiter weiter nach oben klettern.

Feli aber auch, dachte er, und das könnte noch ein Problem werden, denn schließlich arbeitete sie nicht nur im gleichen Unternehmen, sondern sogar in derselben Abteilung. Im Marketing. Aktuell war im Unternehmen die Position des Marketingdirektors vakant – oder wie Feli immer sagte – der Marketingdirektorin. Nur einer von ihnen beiden würde eine Chance auf die Beförderung haben. Sven wollte heute an seinem ersten Urlaubstag mit zusätzlichem Arbeitseifer glänzen. Und bei einem der Meetings würde der Firmeninhaber ebenfalls anwesend sein. Das hatte er von einem Kollegen erfahren. Natürlich unter der Hand.

Sven stieg in seinen schwarzen Ford Mustang, brachte den Motor bereits im Leerlauf auf Hochtouren und fuhr schwungvoll aus der Tiefgarage des Hauses in Richtung Unterföhring, dem Firmensitz seines Arbeitgebers.

Feli, ruf mich an, es ist wichtig! Wir

müssen reden!

LG Meli

Melanie legte ihr Handy wieder auf den Küchentisch und blickte aus dem Fenster. Feli stellt sich wieder einmal stur. Und das bei einer so wichtigen Angelegenheit.

Es hatte einen riesen Streit zwischen ihnen gegeben. Am vergangenen Wochenende war Feli zu ihr nach Regensburg gekommen Schwesternwochenende mit Übernachtung, wie sie beide das nannten, und das letzte vor Felis Abflug in die USA. Bei strahlendem Sonnenschein waren sie die Donau entlang spaziert und hatten über vergangene Zeiten geredet. Arm in Arm, wie früher, und mit vielen ›Weißt du noch …?‹ Der anschließende abendliche Ausblick in die nahe Zukunft – Felis bevorstehende Heirat mit Sven – vor dem Fernseher und nach reichlichem Genuss von Rotwein hatte es in sich gehabt.

Wie kann Feli nur dermaßen blind sein und diesen Sven heiraten, ging es Melanie wieder durch den Kopf. Genau das hatte sie ihr, vermutlich alkoholbedingt nicht in ganz akzeptabler Wortwahl und Lautstärke, natürlich auch mitgeteilt. Sogar mehrfach, wenn sie sich richtig erinnerte.

»Misch dich nicht in mein Leben ein. Ich bin kein kleines Kind mehr, auf das du aufpassen musst! Bring erst mal dein eigenes Leben in Ordnung. Wie lange willst du denn noch in diesem miefigen Reihenhaus wohnen bleiben? Peter ist vor über zwei Jahren ausgezogen!«

Feli hatte die ganz große Show abgezogen. Es waren auf beiden Seiten Worte gefallen, die tief verletzt hatten. Sie hatten sich Dinge an den Kopf geworfen, die sie beide jahrelang unter der Decke gehalten hatten.

Es hatte damit angefangen, als sie Feli ihre Bedenken hinsichtlich Sven und der bevorstehenden Hochzeit mitteilte. Über Monate hinweg hatte sie hin und her überlegt, ob und vor allem wie sie ihrer kleinen Schwester sagen könnte, dass Sven ein zwar attraktiver, aber arroganter und vor allem nicht passender Ehemann für sie sei.

»Nicht passend für mich? Melanie, du bist vollkommen durchgeknallt. Du bist nicht meine Mutter. Ich allein entscheide über mein Leben! Und vielleicht erinnerst du dich … ich bin dreißig geworden. Du warst ja auf meiner Geburtstagsfeier dabei, oder?«

Die Worte quollen nur so aus Feli heraus. So hatte Melanie ihre Schwester schon lange nicht mehr erlebt. Beim Versuch, vom Sofa aufzustehen, stolperte Feli über den Teppich. Sie war nicht fähig, den Sturz abzufangen, und landete mit einem dumpfen Knall auf dem Boden. Dabei verteilte sie die noch halb volle Flasche Primitivo großflächig über den Teppich. Für ein paar Sekunden blieb sie regungslos liegen. Nachdem sie sich aufgesetzt hatte, brach sie in Tränen aus, entschuldigte sich stammelnd und verschwand schnell im Gästezimmer.

Am darauffolgenden Morgen fand Melanie auf dem Küchentisch eine Notiz von Feli vor, auf der stand, dass ihr die Ereignisse in der Nacht leidtäten und sie hoffe, dass Melanie dennoch zur Hochzeit nach Hawaii kommen würde. »Wir sind doch Schwestern!«, stand als letzter Satz fast flehend auf dem Notizzettel. Ein mit Lippenstift gemaltes Herz umrahmte die Notiz.

Melanie ließ den Zettel sinken, der seit ihrem Streit vor ein paar Tagen immer noch auf dem Küchentisch lag, und sah sich um. Das Chaos, das sie beide am vergangenen Wochenende nachts im Wohnzimmer hinterlassen hatten, war natürlich inzwischen längst verschwunden. So als hätte es ihren Streit nicht wirklich gegeben. Die Flaschen hatte Feli ordentlich an der Spüle aufgereiht, die Gläser in den Geschirrspüler geräumt und den Rotweinfleck auf dem Teppich mit Salz eingeweicht.

Feli, die Ordentliche, deren Aufräumangewohnheiten manchmal ins Zwanghafte gingen. Aber das war jetzt auch egal. Melanie war einfach nur froh, dass Feli einen versöhnlichen Ton angeschlagen hatte, bevor sie nach München zurückgefahren war.

Melanie schaltete ihre Kaffeemaschine ein, machte sich einen doppelten Espresso und setzte sich im Wohnzimmer auf das Sofa. Sie genoss den Blick auf ihren kleinen, leicht verwilderten Garten.

In einem hat Feli recht, dachte sie. Ich muss selbst schauen, wie ich mein Leben nach der Trennung von Peter besser auf die Reihe bekomme. Aber das kann erst mal warten. Was nicht warten kann, ist Felis Zukunft. Ich bin zwar nicht ihre Mutter, aber als langjährige Ersatzmama kann ich sie nicht in ihr Unglück laufen lassen. Feli hat ja keine Ahnung, was Sven so anstellt.

Melanie trank einen Schluck des wunderbar heißen Espresso, nahm ihr Handy und schrieb eine weitere WhatsApp Nachricht.

Lieber Max, wir haben lange nichts mehr voneinander gehört. Viel zu lange …

»Kommst du mit ins Messerestaurant?«, fragte Lena. Der letzte Tag der alljährlich in Amsterdam stattfindenden Messe für Automobilzubehör war angebrochen. Alle Vertreter der mehr als einhundert Ausstellerfirmen krochen nach den zurückliegenden drei anstrengenden Messetagen förmlich auf dem Zahnfleisch.

»Geh schon mal vor, meine Pause ist erst in einer halben Stunde«, antwortete Max. Er war noch nicht hungrig und außerdem wollte er Lena, der ausgesprochen attraktiven Hostesse ihres Messestandes, keinen Anlass geben, ihn zu fragen, ob er heute Abend mit auf die After-Show-Party kommen würde. Diese wurde nach jeder Fachmesse für die Aussteller in einer meist stylischen Location durchgeführt.

Das Problem daran war, dass auf dieser Party viel Alkohol floss und die Hemmungen mit fortschreitender Stunde verloren gingen. Ein Kollege hatte ihm vor ein paar Tagen, noch vor ihrem Abflug in München, zwinkernd und feixend zugerufen »A bisserl was geht da immer.«

Darauf hatte Max allerdings keine gesteigerte Lust und er nahm sich vor, den letzten Abend in Amsterdam definitiv allein zu gestalten und statt einer wilden Party lieber durch die malerische Innenstadt zu schlendern. Sein Ziel war ein Café an einer Gracht mit Blick auf die Statue von Baruch de Spinoza, einem der bedeutendsten niederländischen Philosophen.

Vor Kurzem erst hatte er Irvin Yaloms Roman über diesen außergewöhnlichen und von seiner jüdischen Gemeinde exkommunizierten Philosophen des siebzehnten Jahrhunderts gelesen und war von diesem begeistert gewesen.

So schnell komme ich nicht wieder nach Amsterdam, dachte er. Diese Gelegenheit muss ich nutzen.

Lena signalisierte ihm mit einem Kopfnicken erneut ›ach komm schon, komm mit!‹.

Vergebens.

Sein auf stumm geschaltetes Handy brummte. Er nahm es aus der Innentasche seines Anzugs und las die eingegangene Nachricht.

… du hast es vermutlich noch nicht

gehört … Feli wird heiraten. In zehn

Tagen. Noch überraschender ist

vielleicht, dass sie Sven, ihren Kollegen,

heiraten wird. Das ist der, der sie früher

mal angebaggert hat. Ja, ich gebe es zu,

ich mag ihn nicht besonders … Das alles

kommt sicher überraschend für dich,

aber Feli möchte, dass ihr beide das

Kriegsbeil begrabt, und lädt dich

deswegen zu ihrer Hochzeit ein. Die

findet in Hawaii statt, genauer gesagt, am

Waikiki Beach auf O’ahu. Ich weiß, der

Weg ist weit, und der Weg, über deinen

Schatten zu springen, mag noch weiter

sein. Bitte überleg, ob du nicht kommen

willst. Es ist wirklich Felis Herzenswunsch!

Und du bist ihr einen Gefallen schuldig,

so wie das damals mit euch beiden

auseinandergegangen ist. Die Hochzeit ist

am 6. Juni. Nähere Informationen sende

ich dir später. Bitte denk darüber nach,

ja?

Melanie

Melanie, Feli, eine Hochzeit, Hawaii und ausgerechnet der 6. Juni! Max schluckte. Er spürte seinen Herzschlag laut und kräftig schlagen. Baruch de Spinoza war vergessen, alles nur ansatzweise Philosophische hatte keinen Platz mehr in seinem Kopf, in dem die Gedanken wie in einem Flipperautomaten wild umherkreisten. Er klappte seine Handyhülle zu. Feli – er hatte die vergangenen Monate damit verbracht, sie zu vergessen. Bis gerade eben hatte er geglaubt, es wäre ihm inzwischen ganz gut gelungen. Eine Fehlannahme. Denn nur ein Augenblick hatte gereicht, um ihn wieder Achterbahn fahren zu lassen und in die gleiche Sinnkrise zu stürzen wie im Sommer vor einem Jahr.

Max brauchte frische Luft und vor allem einen Ort, an dem er in Ruhe nachdenken konnte.

»Steve, ich mach doch jetzt schon Mittagspause. Kannst du für mich den Stand übernehmen? Wenn der Geschäftsführer von Glenrothes & Co. vorbeikommt, sag ihm bitte, dass ich in zwanzig Minuten wieder zurück bin.«

Steve nickte. Er würde ihn gut vertreten, da war sich Max sicher, schließlich war Steve aus der Entwicklungsabteilung Es war kein Geheimnis, dass er die technischen Aspekte ihrer Produkte viel besser erklären konnte. Als Global Sales Manager hatte Max lediglich technische Basiskenntnisse.

Max schlängelte sich durch die gut gefüllten Messehallen und verließ wenig später die Halle durch eine Tür ins Freie. Er ging zügig in Richtung einer der zahlreichen hochaufragenden Fichten und nahm dort auf einer noch freien Parkbank Platz. Mit dem Rauchen hatte er vor Jahren aufgehört, aber jetzt hätte er sich gern eine Zigarette angezündet. Auch wenn Feli das gar nicht gut gefunden hätte. Schon wieder Feli. In ihm steckte noch viel mehr Feli drin, als ihm lieb war.

Der 6. Juni. Natürlich. Zweimal die Zahl sechs. Max schüttelte den Kopf. Ein anderes Datum hätte es gar nicht sein können. Felis Ticks, ihr Zählzwang und vor allem ihre Suche nach sich angenehm anfühlenden und runden Zahlen, wie sie es genannt hatte. Die sechs war aus Felis Sicht so eine Zahl – eine Zahl, die sie als beruhigend empfand. Der Würfel hat sechs Seiten, gleich und dennoch so verschieden, hatte sie erklärt bei ihrem Versuch, ihm das mit ihrem Zählzwang verständlich zu machen.

Er hatte daraufhin die zwei Seiten einer Medaille, die vier Himmelsrichtungen und die Geschichte mit den sieben Zwergen über den sieben Bergen genannt. Feli hatte das damals gar nicht lustig gefunden und ihm klargemacht, dass in diesen Ticks, die bei ihr immer dann besonders heftig auftraten, wenn sie etwas beunruhigte oder sie in Stress geriet, auch eine innere Kraft wohnte. Eine Kraft, die ins Positive gewendet, zu sehr strukturierten und hervorragenden Arbeitsergebnissen führte.

Meistens.

Außer wenn die Ticks sie zu überwältigen drohten. Aber das war in den fast drei Jahren, die sie ein Paar gewesen waren, nur sehr selten passiert. In solchen Phasen hatte sie gelegentlich eine Therapeutin aufgesucht.

Dieser vermaledeite 6. Juni. Das Datum, das den Anfang vom Ende ihrer Beziehung bedeutet hatte. Und jetzt lud sie ihn auf ihre Hochzeit ein, in weniger als zwei Wochen. Hawaii … das passte zu Feli, das hatte Stil. Wenn damals alles anders verlaufen wäre, wenn er den richtigen Moment nicht verpasst hätte, dann würde vielleicht er statt Sven mit ihr am Waikiki Beach Hochzeit feiern.

Max wünschte sich sehnlichst eine Zigarette und überlegte, einen der in der Nähe stehenden Raucher anzuschnorren.

Doch er entschied sich dagegen. »Feli hätte etwas dagegen gehabt«, murmelte er vor sich hin, bevor er sein Handy zückte und schrieb.

Hallo Melanie, danke für die News. Ich

weiß nicht, ob das so eine gute Idee

wäre.

Grüße, Max

Die Nachmittagssonne schien durch die Ritzen der heruntergefahrenen Verdunkelungsrollos. Sven stand an der Frontseite des gut gefüllten Besprechungsraumes und erläuterte gerade anhand einer PowerPoint-Präsentation die neue Marketingstrategie, als sein Handy zu brummen begann.

»Sorry, guys, das war so nicht geplant.« Sven drückte Felis Anruf weg und stellte sein Handy auf lautlos.

»Junger Mann, bitte das nächste Mal Ihr Handy vorher stummschalten«, brummte der Seniorchef aus dem Hintergrund des Besprechungsraumes.

Alle anderen Kollegen nickten und signalisierten dem Firmenchef damit, dass sie genau derselben Meinung waren. Die wenigen anwesenden weiblichen Kolleginnen hingegen schwiegen beschämt und senkten ihre Blicke. Niemand wagte zu widersprechen oder Sven gar helfend zur Seite zu springen. Einem Herrn Thies widersprach man nicht. Tat man es dennoch, konnte man sich anschließend seine Papiere in der Personalabteilung abholen. Sven schob den Gedanken an Feli beiseite und fuhr mit der Präsentation fort. »Wenn wir uns das hier auf Seite 31 dargestellte Upside-Potential ansehen, werden wir den Break-even schon im nächsten Jahr erreichen …«

Wenig später klopfte es an der Tür und die persönliche Assistentin des Firmenchefs trat ein. »Sven, ein Anruf, es scheint wichtig zu sein. Könntest du bitte kurz rauskommen?« Sie wandte sich an Herrn Thies. »Entschuldigung, Herr Thies, ein Notfall … ein Kunde verlangt umgehend nach Herrn von Bernsen.«

Thies zog seine buschigen Augenbrauen nach oben und gab mit einem Nicken zu verstehen, dass er einverstanden war. Kundenanliegen hatten immer Priorität. Außerdem machte es auch für Hendrick Thies keinen Sinn, seiner langjährigen Assistentin zu widersprechen.

Schließlich würden sie sich beide heute nach Dienstschluss – in mehr privater Atmosphäre – wiedersehen.

»Mike, bitte übernimm du den Rest der Präsentation, mit meinem Teil bin ich fertig«, sagte Sven und folgte Beatrix Bredow, die eine beeindruckende blumige Parfümduftnote im stickigen Besprechungsraum hinterlassen hatte, nach draußen.

»Es ist Feli … nimm mein Telefon«, sagte sie und reichte Sven verschwörerisch ihr iPhone.

»Feli? Ich bin gerade in einer megawichtigen Präsentation, da kannst du mich doch nicht einfach herausholen.« Dass der Firmenchef ebenfalls an der Präsentation teilnahm, musste er ihr ja nicht unbedingt sagen.

»Ich stehe hier vor dem Schuhgeschäft in der Kaufingerstraße und warte auf dich. Wir hatten drei Uhr ausgemacht! Erinnerst du dich? Warum gehst du nicht an dein Handy, wenn ich anrufe?« Feli war aufgebracht.

Sven blickte auf seine neue Omega Seamaster, ein Geschenk seiner Mutter zu seinem dreißigsten Geburtstag. Feli hatte recht. Es war kurz nach drei, daran gab es nichts zu rütteln. Ein echtes Dilemma, in dem er sich da befand. Die Präsentation war fast beendet, sein Kollege Mike würde die letzten paar Folien auch ohne ihn hinbekommen, und Sven hatte den Eindruck, dass Herr Thies bis zu Felis Anruf mit seiner performance, wie es im Firmenjargon hieß, durchaus zufrieden gewesen war. Sven hatte beobachtet, dass er sich während der Präsentation mehrfach Notizen gemacht hatte. Auf einem Notizblock, total old-school.

»Schatz, ich bin in fünf Minuten bei dir, trink doch bitte dort noch einen Kaffee, ja? Und dann hast du meine volle Aufmerksamkeit für das Auswählen deiner Schuhe. Versprochen!«. Er legte auf und gab Beatrix das Handy zurück. »Ich stehe in deiner Schuld, Beatrix«, sagte Sven mit zerknirschter Miene. »Danke, dass du gegenüber Herrn Thies verschwiegen hast, dass Feli am Telefon war. Das bleibt unter uns, oder?«

Beatrix nickte verständnisvoll.

»Sorry, ich muss los. Feli und Schuhe. Du als Frau verstehst das sicher …«

Beatrix Bredow verstand. Eine Hochzeit – das war immer ein Ausnahmezustand. Sie würde ihrem Chef gegenüber Stillschweigen über diesen Anruf bewahren, auch wenn Herr Thies und sie ansonsten nur wenige Geheimnisse voreinander hatten.

Sven fuhr unter hartnäckigem Ignorieren der zahlreichen Geschwindigkeitsbeschränkungen mit seinem Cabrio so schnell wie möglich in Richtung Innenstadt.

Je näher die Abreise in die USA und damit auch die Hochzeit rückt, ging ihm durch den Kopf, desto anstregender wird Feli.

Was war das mit diesem Unbedingt-einmaßgeschneidertes-Designerkleid-haben-wollen?

Warum tat es nicht einfach ein preisgünstiges Modell? Diese Fixierung, dieser Nachdruck, mit dem sie klargemacht hatte »Ich zahle das Kleid, also kann ich auch bestimmen, was es kosten darf« … fast so, als müsste sie sich etwas beweisen. Er schüttelte den Kopf. Feli konnte ziemlich stur sein. In anderen Situationen wieder – und die gefielen ihm deutlich besser – zeigte sie ihre zärtliche Seite. Dann war er zur Stelle.

Feli hatte beschlossen, sich nicht weiter über Sven aufzuregen.

Immerhin ist er jetzt auf dem Weg, dachte sie.

Sie hatte in der Fußgängerzone ein paar Besorgungen gemacht – Sonnencremes und solche Sachen für den Urlaub. Ihr Highlight des heutigen Tages war der Besuch im Brautmodenatelier von Sophia von Meiningen gewesen. Das Hochzeitskleid war eigentlich schon vor zwei Wochen abholbereit gewesen, als die Inhaberin ihr noch die Idee mit den Swarovski-Steinen schmackhaft gemacht hatte.

»Ganz dezent natürlich, hier oben am Dekollté könnte ich mir einen Besatz mit smaragdgrünen Steinen in Herzform gut vorstellen …«, hatte sie vorgeschlagen und damit bei ihr genau ins Schwarze getroffen.

Der Preis, nun ja, nicht ganz billig, aber es war ja ihr Geld, und es handelte sich schließlich um ein maßgeschneidertes Unikat, da machte dieser Aufpreis auch nichts mehr aus. Frau von Meiningen hatte die Steine anschließend direkt über ihre hervorragenden Kontakte bei Swarovski in Österreich bestellt, und voilá – das Kleid war fertig und sie hatte es heute abgeholt, zwischenzeitlich nach Hause gebracht und in den Koffer gelegt. Nicht ohne diesen danach gut zu verschließen. In dieser Hinsicht konnte man Sven nicht trauen. Vermutlich hätte er trotz ihres ausdrücklich ausgesprochenen Wunsches, nun ja, eher Verbotes, dennoch einen Blick in den Koffer geworfen. Daher hatte sie den Code an seinem Koffer kurz entschlossen auf 123 geändert – eine Standardkombination, die Sven nicht erraten würde, sollte er es doch versuchen. Zu einfach. Fast hätte sie die Zahlenfolge 666 gewählt, ihre Lieblingskombination. Aber darauf wäre Sven vielleicht mit etwas Nachdenken gekommen.

Als Sven seinen Wagen in einem Parkhaus in unmittelbarer Nähe der Fußgängerzone abstellte und ausstieg, fühlte er sich nicht nur, als hätte er gerade ein Autorennen hinter sich gebracht, sondern er war vermutlich auch um mindestens zweihundert Euro ärmer, denn der Blitzer auf dem Mittleren Ring hatte ein weiteres Foto für seine bereits beeindruckende Schönheitsgalerie gemacht.

Feli erwartete ihn bereits ungeduldig vor dem Schuhgeschäft.

»So, Schatz, jetzt habe ich nur noch Augen für dich und deine Schuhe«, sagte er und umarmte Feli strahlend.

»Na ja, das ist aber das Mindeste.« Feli stieg auf die Zehenspitzen, denn Sven war mindestens dreißig Zentimeter größer als sie, und gab ihm einen versöhnlichen Kuss. »Komm, lass uns reingehen.«

Zusammen betraten sie das Geschäft und wurden umgehend von einer eifrigen Verkäuferin in Empfang genommen. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ich suche ein Paar elegante Schuhe, die ich abends an der Hotelbar tragen kann«, antwortete Feli.

»Haben Sie schon bestimmte Vorstellungen oder soll ich Ihnen die ganze Bandbreite unserer Kollektion zeigen?«

Feli entschied sich für die ganze Bandbreite. Die Kollektion war tatsächlich sehr umfangreich, wie Sven wenig später feststellen musste. Feli schien wirklich alle vorhandenen Modelle anprobieren zu wollen. Für Sven lag die eigentliche Schwierigkeit darin, dass er zu jedem Paar Schuhe seine Meinung abgeben sollte. Ob sie ihm gefallen würden, warum sie ihm gefallen würden, und vor allem, ob dieses Paar ihm besser gefallen würde als das zuvor. Die reinste Folter, stellte er bald erschöpft fest. Bislang war Feli immer alleine Kleidung einkaufen gegangen oder sie hatte eine ihrer Freundinnen mitgenommen. Ihn hatte sie damit bisher verschont.

Bisher.

Doch heute hatte keine ihrer Freundinnen Zeit gehabt. Er hatte daran glauben müssen.

»Was hältst du von diesem Paar mit der goldfarbenen Applikation an der Schnalle?«, fragte sie.

Eindeutig eine Fangfrage.

»Kannst du in denen denn bequem gehen?« Sven hatte bei dem Blick auf die turmhohen Absätze da so seine Zweifel.

»Schatz, das sind keine Gehschuhe. Das sind Stehschuhe.«

»Okay, dann formuliere ich meine Frage um: Kannst du in ihnen gut stehen?«

Feli war anscheinend zu abgelenkt, um den leichten Sarkasmus in seiner Frage wahrzunehmen. Außerdem war sie inzwischen wieder auf dem Weg zu der Verkäuferin, die mehrere weitere Schuhkartons aus dem Lager geholt hatte.

Sven sah nur noch einen Ausweg, er griff mehr oder weniger wahllos nach einem Paar Schuhe, das Feli bereits vor etwa einer Stunde anprobiert hatte, ging ihr hinterher und sagte: »Mir haben diese pinkfarbenen Schuhe eindeutig am besten gefallen. Nimm doch die, die sind wirklich wunderschön.« Dabei setzte er sein bezauberndstes Lächeln auf.

Eine weitere Stunde später verließen die beiden das Geschäft mit einem Paar weißer High Heels. Svens Vorschlag war abgelehnt worden. Diese Schuhe waren eindeutig Stehschuhe, wie er an der Kasse und mit inzwischen geübtem Blick bemerkt hatte.

Zurück in ihrer Wohnung ging Feli ein weiteres Mal die Checkliste durch, die sie Wochen zuvor für die Hochzeit und ihre Reise nach Hawaii erstellt hatte.

Die drei Koffer standen abfahrtsbereit im Flur der kleinen Wohnung. In einem der Koffer befand sich das Hochzeitskleid und füllte diesen vollständig aus. Die Brautschuhe hatten nicht mehr reingepasst, also beschloss Feli, diese morgen früh samt Karton in ihrem Handgepäck zu verstauen. Die neu erstandenen High Heels hingegen hatten glücklicherweise noch in einem der beiden anderen Koffer Platz gefunden.

»Die Hotels sind gebucht, die Bestätigungen liegen vor, der Hochzeitsredner hat meine Inputs erhalten und zugesagt, pünktlich zu erscheinen, die Flugtickets sind auf dem Handy abgespeichert und zur Sicherheit zusätzlich ausgedruckt. Die Reisepässe sind gültig, die USA-Einreisegenehmigungen liegen vor und die Hochzeitslizenz für Hawaii ist auch da.« Sie hob den Blick vom Blatt und schaute Sven an. »Hast du deinen internationalen Führerschein eingepackt?«

»Klaro«, kam es vom Sofa, auf dem Sven es sich mit einer Tüte Chips und einer Flasche Bier bequem gemacht hatte. »Ein letztes gutes bayerisches Bier, bevor ich die nächsten zwei Wochen nur das amerikanische Leichtbier bekomme. Oder Craftbiere, die ich nicht mag.«

»Trink nicht zu viel. Wir wollen ja später noch zum Flughafen, um die Koffer aufzugeben.«

»Mach dir keine Sorgen, Feli. Das bekommen wir alles hin.«

Aber so einfach war das nicht. Sie benötigte Struktur in ihren Gedanken und Handlungen. Es galt, das Chaos zu ordnen. Nur dann konnte sie – wenigstens für eine kurze Zeit – loslassen und sich entspannen.