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Das frühe Meisterwerk der Weird Fiction & Vorbild für H. P. Lovecraft
Wer das liest, verliert den Verstand – so ergeht es allen, die das Theaterstück »Der König in Gelb« auch nur zu Gesicht bekommen, denn das fatale Werk enthält eine grässliche Wahrheit. Dieser Klassiker der Horrorliteratur ist feinster Stoff für alle, die abgründiges Entsetzen lieben. Chambers’ zehn Geschichten erzählen von Wahnsinn, Liebe, Krieg und anderen welterschütternden Dingen. Sie haben Großmeister H. P. Lovecraft tief beeindruckt und stark inspiriert. Die vollständige Ausgabe aus dem Jahr 1895 erscheint hier in neuer Übersetzung.
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Seitenzahl: 413
Veröffentlichungsjahr: 2025
Robert W. Chambers
Aus dem Englischen neu übersetzt von Eva Brunner und Bernhard Kempen
Anaconda
Die amerikanische Originalausgabe »The King in Yellow« erschien erstmals 1895 in zwei verschiedenen Ausgaben bei F. Tennyson Neely. Die beiden Ausgaben enthalten Textvarianten in der Erzählung »The Yellow Sign«. Die hier vorliegende Neuübersetzung folgt der Ausgabe Harper & Brothers, New York, London 1902, die ihrerseits der Neely-Ausgabe von 1895 mit dem Schmetterling auf dem Cover folgt.
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© 2025 by Anaconda Verlag, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
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Umschlaggestaltung: eisele grafik·design, München
Umschlagmotiv: © Shutterstock (Alexey Pushkin, Ovchinnkov Vladimir, ONYXprj)
Satz und Layout: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-33708-7V001
www.anacondaverlag.de
Der König in Gelb ist meinem Bruder gewidmet.
Inhalt
Der Wiederhersteller des Ansehens
übersetzt von Bernhard Kempen
Die Maske
übersetzt von Eva Brunner
Im Hof des Drachen
übersetzt von Bernhard Kempen
Das gelbe Zeichen
übersetzt von Bernhard Kempen
Die Demoiselle d’Ys
übersetzt von Eva Brunner
Das Paradies der Propheten
übersetzt von Bernhard Kempen
Die Straße der Vier Winde
übersetzt von Eva Brunner
Die Straße der ersten Granate
übersetzt von Eva Brunner
Die Straße unserer lieben Frau von den Feldern
übersetzt von Bernhard Kempen
Rue Barré
übersetzt von Bernhard Kempen
Am Ufer brechen die Wolkenwogen,
Die zwei Sonnen versinken hinter dem See,
Die Schatten werden länger
In Carcosa.
Fremd ist die Nacht, in der schwarze Sterne aufgehen
Und fremde Monde durch den Himmel kreisen,
Doch noch viel fremder ist es im
Verlornen Carcosa.
Lieder, die von Hyaden gesungen werden,
Wo die Lumpen des Königs flattern,
Müssen ungehört sterben im
Dämmrigen Carcosa.
Lied meiner Seele, meine Stimme ist tot,
Stirb du unbesungen, wenn unvergossne Tränen
Trocknen und sterben werden im
Verlornen Carcosa.
Cassildas Lied in »Der König in Gelb«, I. Akt, 2. Szene
Neraillons pas les fous; leur folie dure plus longtemps que la nôtre … Voilà toute la différence.*
Gegen Ende des Jahres 1920 hatte die Regierung der Vereinigten Staaten das Programm, das während der letzten Monate von Präsident Winthrops Amtszeit eingeführt worden war, so gut wie abgeschlossen. Im Land war es dem Anschein nach ruhig. Jeder weiß, wie die Zoll- und Arbeitsfragen geklärt wurden. Der Krieg gegen Deutschland infolge der Inbesitznahme der Samoa-Inseln durch dieses Land hatte keine sichtbaren Narben an der Republik hinterlassen, und die vorübergehende Besetzung von Norfolk durch die Invasionsarmee war in der Freude über die mehrfachen Seesiege und die nachfolgende Blamage der Streitkräfte des Generals von Gartenlaube im Staat New Jersey vergessen. Die Investitionen auf Kuba und Hawaii hatten sich zu einhundert Prozent bezahlt gemacht, und das Territorium von Samoa spielte die Kosten für seine Bekohlungsanlage wieder ein. Das Land war in hervorragender Verteidigungsbereitschaft. Jede Küstenstadt war gut mit Landbefestigungen ausgestattet; unter dem elterlichen Auge des Generalstabs, der nach dem Vorbild des preußischen Systems organisiert war, hatte man die Armee auf 300 000 Mann vergrößert, neben einer landesweiten Reserve von einer Million. Sechs großartige Geschwader aus Kreuzern und Schlachtschiffen patrouillierten die sechs Stützpunkte der schiffbaren Meere, während die Reserve von Dampfschiffen vollumfänglich ausreichte, um die heimischen Gewässer zu überwachen. Die Herren aus dem Westen waren schließlich zum Eingeständnis genötigt worden, dass eine Akademie zur Ausbildung von Diplomaten genauso notwendig war wie juristische Fakultäten für die Schulung von Anwälten; demzufolge wurden wir im Ausland nicht mehr von inkompetenten Patrioten vertreten. Die Nation florierte. Chicago war nach einem zweiten großen Brand für eine Weile gelähmt gewesen, doch dann aus den Ruinen wiederauferstanden, weiß und prächtig und viel schöner als die weiße Stadt, die man 1893 als Spielplatz erbaut hatte. Überall wurde schlechte Architektur durch gute ersetzt, und selbst in New York hatte ein plötzliches Verlangen nach Anständigkeit einen großen Teil der vorhandenen Gräuel hinweggefegt. Straßen waren verbreitert, ordentlich gepflastert und beleuchtet worden, Bäume waren gepflanzt, Plätze angelegt, höher gelegene Bauten abgebrochen und Untergrundstraßen als Ersatz angelegt worden. Die neuen Regierungsgebäude und Kasernen waren Beispiele ausgezeichneter Architektur, und die weitläufigen Anlagen aus gemauerten Kais, die sich rund um die Insel zogen, waren in Parks verwandelt worden, die sich als Segen für die Bevölkerung erwiesen. Die Subventionen für das Staatstheater und die Staatsoper waren ebenfalls ein Gewinn. Die Nationale Kunstakademie der Vereinigten Staaten war ganz wie europäische Institutionen dieser Art. Niemand beneidete den Minister der Schönen Künste, weder um seine Position im Kabinett noch um sein Ressort. Der Minister für Forstwirtschaft und Wildpflege hatte eine viel leichtere Aufgabe, dank der Neuorganisation der berittenen Polizei. Wir hatten sehr von den jüngsten Staatsverträgen mit Frankreich und England profitiert; die Ausgrenzung im Ausland geborener Juden war eine Maßnahme zum nationalen Selbstschutz, die Besiedlung des neuen unabhängigen Negerstaats Suanee, die Kontrolle der Einwanderung, die neuen Gesetze bezüglich der Einbürgerung und die allmähliche Zentralisierung der Macht in der Exekutive trugen allesamt zur Ruhe und zum Wohlstand der Nation bei. Als die Regierung das Indianerproblem löste und ein früherer Kriegsminister Schwadronen von indianischen Kavalleriescouts in ihrer traditionellen Tracht an die Stelle der kläglichen Verbände von skelettierten Regimentern setzte, atmete das Land erleichtert auf. Als nach dem riesigen Kongress der Religionen Bigotterie und Intoleranz zu Grabe getragen und verfeindete Sekten durch Güte und Wohltätigkeit zusammengeführt wurden, glaubten viele, das Tausendjährige Reich sei gekommen, zumindest in der Neuen Welt, die schließlich eine Welt für sich ist.
Doch der Selbstschutz ist das oberste Gesetz, und die Vereinigten Staaten mussten in hilfloser Sorge verfolgen, wie sich Deutschland, Italien, Spanien und Belgien im Griff der Anarchie wanden, während Russland vom Kaukasus aus zuschaute, sich auf sie stürzte und ein Land nach dem anderen in Ketten legte.
In der Stadt New York kündigte sich der Sommer des Jahres 1899 durch den Abbruch der Hochbahnen an. Der Sommer 1900 wird für einen langen Zeitraum in der Erinnerung der Menschen von New York weiterleben, da in jenem Jahr die Dodge-Statue beseitigt wurde. Im folgenden Winter begann die Aufregung um die Aufhebung des gesetzlichen Verbots von Selbstmord, das schließlich im April 1920 Früchte trug, als die erste Todesanstalt am Washington Square eröffnet wurde.
An jenem Tag war ich von Doktor Archers Haus an der Madison Avenue losgelaufen, der Termin war eine reine Formsache gewesen. Seit dem Sturz von meinem Pferd vor vier Jahren wurde ich zeitweise von Schmerzen im Hinterkopf und Nacken geplagt, doch inzwischen waren sie seit Monaten ausgeblieben, und der Arzt schickte mich an jenem Tag fort und sagte, dass an mir nichts mehr zu heilen war. Diese Erklärung war kaum sein Honorar wert, da ich es bereits selbst wusste. Dennoch missgönnte ich ihm das Geld nicht. Den Fehler, den er damals begangen hatte, trage ich ihm allerdings nach. Als man mich vom Pflaster aufhob, wo ich bewusstlos dalag, und nachdem jemand meinem Pferd gnädigerweise eine Kugel in den Kopf geschossen hatte, wurde ich zu Doktor Archer getragen, der eine Schädigung meines Gehirns erklärte und mich in seiner privaten Irrenanstalt unterbrachte, wo ich eine Behandlung wegen einer Geistesstörung erdulden musste. Schließlich entschied er, dass ich gesund sei, während ich wusste, dass mein Geist die ganze Zeit genauso klar wie seiner gewesen war, wenn nicht gar klarer, und ich »mein Lehrgeld zahlte«, wie er es im Scherz nannte. Ich sagte lächelnd zu ihm, dass ich ihm seinen Fehler heimzahlen würde, worauf er herzhaft lachte und mich bat, hin und wieder vorbeizukommen. Das tat ich und hoffte auf eine Gelegenheit, mit ihm abzurechnen, doch er gab mir keine, und ich sagte zu ihm, dass ich warten würde.
Der Sturz von meinem Pferd hatte zum Glück keine üblen Folgen gezeitigt, sondern im Gegenteil meinen ganzen Charakter zum Besseren verändert. Ich hatte mich von einem jungen Müßiggänger zu einem aktiven, energiegeladenen, gemäßigten und ganz besonders – oh ja, ganz besonders – ehrgeizigen Mann gewandelt. Es gab nur eine Sache, die mich beunruhigte, und obwohl ich mein Unbehagen verlachte beunruhigte sie mich doch.
Während meiner Genesungszeit hatte ich »Der König in Gelb« erworben und zum ersten Mal gelesen. Ich erinnere mich, dass mir nach der Lektüre des ersten Akts in den Sinn kam, dass ich lieber aufhören sollte. Ich sprang auf und warf das Buch in den Kamin; der Band traf das Stabgitter und klappte im Schein der Feuerstelle auf. Hätte ich keinen kurzen Blick auf die einleitenden Worte des zweiten Akts geworfen, hätte ich es nie ganz gelesen, doch als ich mich bückte, um es aufzuheben, waren meine Augen von der offenen Seite gefesselt, und mit einem Schrei des Entsetzens oder vielleicht auch der Freude, die so ergreifend war, dass ich sie mit jedem Nerv erlitt, riss ich das Ding aus der Glut und schlich zitternd zu meinem Schlafzimmer, wo ich es las und noch einmal las und weinte und lachte und mit einem Schrecken erzitterte, der mich immer noch gelegentlich überkommt. Das ist es, was mich besorgt, denn ich kann Carcosa nicht mehr vergessen, wo schwarze Sterne am Himmel stehen; wo die Schatten der Gedanken von Menschen am Nachmittag länger werden, wenn die zwei Sonnen im See Hali versinken; und ich werde für immer die Erinnerung an die Bleiche Maske behalten. Ich bete, dass Gott diesen Autor verfluchen wird, da der Autor die Welt mit dieser wunderschönen, erstaunlichen Schöpfung verflucht hat, furchtbar in ihrer Einfachheit, unwiderstehlich in ihrer Wahrheit – eine Welt, die nun vor dem König in Gelb zittert. Als die französische Regierung die übersetzten Exemplare beschlagnahmte, die soeben in Paris eingetroffen waren, war London natürlich begierig darauf, das Werk zu lesen. Es ist allgemein bekannt, wie sich das Buch ähnlich einer ansteckenden Krankheit verbreitete, von Stadt zu Stadt, von Kontinent zu Kontinent, hier verboten, dort konfisziert, von Presse und Kanzel angeprangert, selbst von den fortschrittlichen literarischen Anarchisten zensiert. Keine eindeutigen Prinzipien waren auf diesen verruchten Seiten verletzt worden, keine Doktrin verkündet, keine Überzeugungen empört worden. Es ließ sich mit keiner bekannten Richtschnur beurteilen, und obgleich anerkannt wurde, dass in »Der König in Gelb« die höchste Note der Kunst angeschlagen worden war, spürten doch alle, dass die menschliche Natur weder die Strapaze ertragen noch an Worten gedeihen konnte, in denen sich die Essenz des reinsten Gifts verbarg. Allein die reine Banalität und Unschuld des ersten Akts ermöglichte, dass der folgende Schlag eine umso schrecklichere Wirkung entfaltete.
Es war, wie ich mich erinnere, der dreizehnte Tag des April 1920, als die erste staatliche Todesanstalt an der Südseite des Washington Square eingerichtet wurde, zwischen der Wooster Street und der South Fifth Avenue. Der Block, der ehemals aus einem Haufen schäbiger alter Gebäude bestanden hatte, die als Cafés und Restaurants für Auswärtige genutzt wurden, war im Winter des Jahres 1898 von der Regierung erworben worden. Die französischen und italienischen Cafés und Restaurants wurden abgerissen; der gesamte Block wurde mit einem vergoldeten Eisengeländer umzäunt und in einen hübschen Garten mit Rasen, Blumen und Springbrunnen umgewandelt. In der Mitte des Gartens stand ein kleines weißes Gebäude von streng klassischer Architektur, umgeben von Dickichten aus Blumen. Sechs ionische Säulen trugen das Dach, und die einzige Tür war aus Bronze. Eine grandiose Marmorgruppe der »Schicksalsgöttinnen« stand vor der Tür, das Werk des jungen amerikanischen Bildhauers Boris Yvain, der mit nur dreiundzwanzig Jahren in Paris gestorben war.
Die Feierlichkeiten zur Einweihung waren im Gange, als ich den University Place überquerte und auf den Platz trat. Ich schlängelte mich durch die stille Zuschauermenge, wurde jedoch an der Fourth Street von einer Polizeikette aufgehalten. Ein Regiment von Lanzenreitern der Vereinigten Staaten wurde in einem Viereck rund um die Todesanstalt in Stellung gebracht. Auf einer erhöhten Tribüne gegenüber dem Washington Park stand der Gouverneur von New York, hinter ihm eine Gruppe mit dem Bürgermeister von New York und Brooklyn, dem Generalinspekteur der Polizei, dem Kommandanten der Staatstruppe, Colonel Livingston, dem Militärberater des Präsidenten, General Blount, Befehlshaber auf Governor’s Island, Major-General Hamilton, Befehlshaber der Garnison von New York und Brooklyn, Admiral Buffby von der Flotte auf dem North River, Surgeon-General Lanceford, der Belegschaft des National Free Hospital, den Senatoren Wyse und Franklin aus New York und dem Beauftragten für öffentliche Bauarbeiten. Die Tribüne war umgeben von einer Schwadron von Husaren der Nationalgarde.
Der Gouverneur beendete soeben seine Antwort auf die kurze Ansprache des Surgeon-General. Ich hörte ihn sagen: »Die Gesetze zum Verbot von Selbstmord und die Bestrafung jedes Versuchs der Selbstzerstörung wurden aufgehoben. Die Regierung hielt es für angebracht, das Recht eines Menschen anzuerkennen, eine Existenz zu beenden, die für ihn untragbar geworden ist, aufgrund körperlichen Leidens oder seelischer Verzweiflung. Es wird angenommen, dass es allen zugutekommt, wenn solche Personen aus der Gesellschaft entfernt werden. Seit der Verabschiedung des Gesetzes ist die Anzahl der Selbstmorde in den Vereinigten Staaten nicht gestiegen. Nachdem die Regierung nun angeordnet hat, eine Todesanstalt in jeder Stadt und jedem Dorf des Landes zu errichten, bleibt abzuwarten, ob diese Gruppe menschlicher Geschöpfe, aus deren verzagten Reihen täglich neue Opfer der Selbstzerstörung zugrunde gehen, die nunmehr verfügbare Unterstützung annehmen wird oder nicht.« Er hielt inne und wandte sich der weißen Todesanstalt zu. Die Stille auf der Straße war vollkommen. »Dort wartet ein schmerzloser Tod auf denjenigen, der die Sorgen dieses Lebens nicht mehr ertragen kann. Wenn ihm der Tod willkommen ist, soll er ihn dort suchen.« Dann drehte er sich schnell zum Militärberater des Präsidentenhaushalts um und sagte: »Hiermit erkläre ich die Todesanstalt für eröffnet.« Er schaute wieder auf die riesige Menge und rief: »Bürger von New York und der Vereinigten Staaten von Amerika, durch mich erklärt die Regierung die Todesanstalt für eröffnet.«
Die feierliche Stille wurde durch einen scharfen Befehlsruf gebrochen, die Schwadron der Husaren ordnete sich hinter der Kutsche des Gouverneurs an, die Lanzenreiter schwenkten herum und formierten sich entlang der Fifth Avenue, um dort auf den Kommandanten der Garnison zu warten, und berittene Polizei folgte ihnen. Ich ließ die Menge zurück, um die weiße marmorne Todesanstalt zu bestaunen, danach überquerte ich die South Fifth Avenue und lief auf der westlichen Seite dieser Durchgangsstraße zur Bleecker Street. Dann wandte ich mich nach rechts und blieb vor einem heruntergekommenen Geschäft stehen, das mit diesem Schild ausgestattet war:
HAWBERK, WAFFENSCHMIED
Ich schaute durch den Eingang hinein und sah Hawberk am Ende des Flurs in seiner kleinen Werkstatt arbeiten. Er blickte auf, und als er mich bemerkte, rief er mit seiner tiefen, herzhaften Stimme: »Kommen Sie herein, Mr Castaigne!« Constance, seine Tochter, erhob sich zu meiner Begrüßung, als ich die Türschwelle überschritt, und hielt mir ihre hübsche Hand hin, doch ich sah, wie ihre Wangen enttäuscht erröteten, und wusste, dass es ein anderer Castaigne war, den sie erwartet hatte, meinen Cousin Louis. Ich lächelte über ihre Verwirrung und fand lobende Worte für das Banner, das sie nach dem Vorbild einer Farbtafel bestickte. Der alte Hawberk saß da und vernietete die abgenutzten Beinschienen irgendeiner uralten Rüstung, und das Ting! Ting! Ting! seines kleinen Hammers tönte angenehm in der wunderlichen Werkstatt. Bald ließ er den Hammer fallen und hantierte für eine Weile mit einem winzigen Schraubenschlüssel. Das leise Klirren des Kettenpanzers durchdrang mich mit freudiger Erregung. Gern hörte ich die Musik von Stahl, der über Stahl rieb, die sanfte Erschütterung des Schlägels auf den Schenkelteilen und das Klingeln des Kettenhemds. Das war der einzige Grund, warum ich Hawberk besuchte. Er hatte mich nie persönlich interessiert, genauso wenig wie Constance, abgesehen von der Tatsache, dass sie in Louis verliebt war. Das beschäftigte meine Aufmerksamkeit und hielt mich manche Nacht sogar wach. Doch in meinem Herzen wusste ich, dass alles gut ausgehen würde und dass ich ihre Zukunft vorbereiten sollte, wie ich auch die meines freundlichen Arztes John Archer vorzubereiten erwartete. Ich hätte es jedoch nie auf mich genommen, sie in diesem Augenblick zu besuchen, wäre es nicht so, dass die Musik des klingenden Hammers, ich sagte es bereits, diese starke Faszination auf mich ausübte. Ich konnte stundenlang dasitzen und unablässig zuhören, und wenn ein verirrter Sonnenstrahl den intarsierten Stahl traf, vermittelte mir das eine Empfindung, die beinahe zu scharf war, um sie ertragen zu können. Meine Augen blickten starr, sie weiteten sich mit einem Vergnügen, das jeden Nerv fast zum Zerreißen spannte, bis irgendeine Bewegung des alten Waffenschmieds den Sonnenstrahl zerschnitt, worauf ich mich weiterhin insgeheim hingerissen zurücklehnte und erneut auf das Geräusch des Polierlappens horchte, der mit einem Wisch! Wisch! Staub von den Beinschienen rieb.
Constance arbeitete an der Stickarbeit über den Knien, verharrte hin und wieder, um das Muster auf der Farbtafel vom Metropolitan Museum genauer zu mustern.
»Für wen ist das?«, fragte ich.
Hawberk erklärte, dass er zusätzlich zu den kostbaren Rüstungen im Metropolitan Museum, für die er als Waffenschmied bestellt war, auch für mehrere Sammlungen, die reichen Amateuren gehörten, die Verantwortung übernommen hatte. Dies war die fehlende Beinschiene einer berühmten Rüstung, den ein Klient von ihm in einem kleinen Laden in Paris am Quai d’Orsay aufgespürt hatte. Er, Hawberk, hatte um die Beinschiene verhandelt und sie beschafft, und nun war sie vollständig. Er legte den Hammer ab und las mir die Geschichte der Rüstung vor, die sich seit 1450 von einem Besitzer zum nächsten nachverfolgen ließ, bis sie von Thomas Stainbridge erworben worden war. Als seine vortreffliche Sammlung verkauft wurde, erstand dieser Klient von Hawberk die Rüstung, und seitdem war die Suche nach der fehlenden Beinschiene vorangetrieben worden, bis sie fast zufällig in Paris ausfindig gemacht worden war.
»Haben Sie die Suche so beharrlich weitergeführt, ohne die Gewissheit, dass die Beinschiene tatsächlich noch existiert?«, wollte ich wissen.
»Selbstverständlich«, antwortete er gelassen.
Da wurde zum ersten Mal mein persönliches Interesse an Hawberk geweckt.
»Sie war Ihnen einiges wert«, mutmaßte ich.
»Nein«, erwiderte er lachend, »meine Freude daran, sie zu finden, war meine Belohnung.«
»Streben Sie nicht nach Reichtum?«, fragte ich lächelnd.
»Ich strebe einzig danach, der beste Waffenschmied der Welt zu sein«, antwortete er mit ernster Miene.
Constance fragte mich, ob ich die Feierlichkeiten an der Todesanstalt gesehen hätte. Sie selbst hatte an jenem Morgen vorbeireitende Kavallerie auf dem Broadway bemerkt und sich gewünscht, an der Einweihung teilzunehmen, doch ihr Vater hatte gewollt, dass sie das Banner fertigstellte, und sie war auf seinen Wunsch hin geblieben.
»Haben Sie dort Ihren Cousin gesehen, Mr Castaigne?«, fragte sie mit dem leisesten Erzittern ihrer zarten Wimpern.
»Nein«, erwiderte ich unbekümmert. »Louis’ Regiment ist bei einem Manöver draußen in Westchester County.« Ich erhob mich und nahm meinen Hut und Stock.
»Werden Sie nach oben gehen, um wieder den Irren zu besuchen?«, fragte der alte Hawberk lachend. Hätte Hawberk gewusst, wie sehr ich das Wort »Irrer« verachtete, hätte er es in meiner Anwesenheit nie benutzt. Es erweckt gewisse Gefühle in mir, die ich nicht erklären möchte. Dennoch antwortete ich ihm ruhig: »Ich denke, ich werde vorbeischauen und Mr Wilde für einen oder zwei Augenblicke besuchen.«
»Armer Kerl«, sagte Constance mit einem Kopfschütteln, »es muss schwer sein, Jahr für Jahr allein zu leben, arm, verkrüppelt und annähernd dement. Es ist sehr freundlich von Ihnen, Mr Castaigne, ihn so häufig zu besuchen.«
»Ich halte ihn für bösartig«, stellte Hawberk fest, der nun wieder mit seinem Hammer arbeitete. Ich horchte auf das goldene Klingeln an den Beinschienen; als er fertig war, erwiderte ich:
»Nein, er ist weder bösartig noch im Geringsten dement. Sein Geist ist eine Wunderkammer, aus der er Schätze hervorholen kann, für die Sie und ich Jahre unseres Lebens hergeben müssten, um sie zu erlangen.«
Hawberk lachte.
Ein wenig ungeduldig fuhr ich fort: »Er weiß mehr über Geschichte, als sonst jemand wissen kann. Nichts, mag es noch so banal sein, entgeht seiner Nachforschung, und sein Gedächtnis ist so vollkommen, so präzise in Details, dass die Menschen ihn gar nicht genug ehren könnten, wäre es in New York bekannt, dass ein solcher Mann existiert.«
»Unsinn«, murmelte Hawberk und suchte am Boden nach einer hinuntergefallenen Niete.
»Ist es Unsinn«, fragte ich und bemühte mich zu unterdrücken, was ich empfand, »ist es Unsinn, wenn er sagt, dass die Tassetten und Diechlinge der emaillierten Rüstung, die allgemein als der ›Schmuck des Prinzen‹ bekannt ist, unter einem Haufen aus Theaterrequisiten, zerbrochenen Öfen und Lumpensammlerabfall auf einem Dachboden in der Pell Street zu finden ist?«
Hawberks Hammer fiel zu Boden, doch er hob ihn wieder auf und fragte mit großer Gelassenheit, woher ich wusste, dass die Tassetten und der linke Diechling am »Schmuck des Prinzen« fehlten.
»Ich wusste es nicht, bevor Mr Wilde es neulich mir gegenüber erwähnte. Er sagte, sie befinden sich auf dem Dachboden des Hauses 998 Pell Street.«
»Unsinn«, rief er, doch ich bemerkte, dass seine Hand unter seiner Lederschürze zitterte.
»Ist auch dies Unsinn?«, fragte ich freundlich. »Ist es Unsinn, wenn Mr Wilde fortwährend von Ihnen als dem Marquis von Avonshire spricht und von Miss Constance …«
Ich sprach nicht weiter, denn Constance war aufgesprungen, während ihr das Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand. Hawberk sah mich an und glättete langsam seine Lederschürze. »Das ist unmöglich«, bemerkte er, »Mr Wilde mag sehr viele Dinge wissen …«
»Über Rüstungen, zum Beispiel, und den ›Schmuck des Prinzen‹«, warf ich lächelnd ein.
»Ja«, fuhr er bedächtig fort, »auch über Rüstungen – vielleicht –, doch er irrt sich hinsichtlich des Marquis von Avonshire, der, wie Sie wissen, vor Jahren den Verleumder seiner Frau tötete und nach Australien ging, wo er seine Frau nicht allzu lange überlebte.«
»Mr Wilde täuscht sich«, murmelte Constance. Ihre Lippen waren erbleicht, doch ihre Stimme war lieblich und ruhig.
»Dann lassen Sie uns darüber einig sein, wenn es Ihnen recht ist, dass Mr Wilde in diesem einen Sachverhalt falsch liegt«, sagte ich.
Ich stieg die drei ramponierten Treppen hinauf, die ich schon so oft erstiegen hatte, und klopfte an eine kleine Tür am Ende des Korridors. Mr Wilde öffnete die Tür, und ich trat ein.
Nachdem er die Tür zweifach verriegelt und eine schwere Truhe davorgeschoben hatte, kam er herüber, setzte sich neben mich und blickte mit seinen kleinen hellen Augen zu mir auf. Ein halbes Dutzend neuer Kratzer überzogen seine Nase und die Wangen, und die silbernen Drähte, die seine künstlichen Ohren hielten, waren verrutscht. Ich dachte, dass ich ihn noch nie so abscheulich faszinierend erlebt hatte. Er besaß keine Ohren. Die künstlichen, die nun schief am dünnen Draht abstanden, waren seine eine Schwäche. Sie waren aus Wachs gemacht und in Zartrosa bemalt, wohingegen der Rest seines Gesichts gelb war. Vielleicht hätte er sich besser dem Luxus einiger künstlicher Finger für seine linke Hand hingeben sollen, die völlig fingerlos war, doch das schien ihm keine Unannehmlichkeiten zu bereiten, und er war mit seinen Wachsohren zufrieden. Er war sehr klein, kaum größer als ein Kind von zehn Jahren, aber seine Arme waren prächtig entwickelt und seine Schenkel so dick wie die eines Athleten. Doch das Bemerkenswerteste an Mr Wilde war, dass ein Mann mit seiner phänomenalen Intelligenz und seinem großen Wissen einen solchen Kopf haben konnte. Er war flach und zugespitzt, wie die Köpfe vieler jener bedauernswerten Menschen, die man in Anstalten für die Geistesschwachen einsperrt. Viele bezeichneten ihn als verrückt, aber ich kannte ihn als jemanden, der geistig genauso gesund war wie ich.
Ich streite nicht ab, dass er exzentrisch war; die Manie, mit der er diese Katze hielt und sie neckte, bis sie ihm wie ein Dämon ins Gesicht sprang, war ganz gewiss exzentrisch. Ich konnte nie verstehen, warum er das Geschöpf bei sich hatte oder welche Art von Vergnügen er darin fand, sich mit dem griesgrämigen, bösartigen Tier in seinem Zimmer einzuschließen. Ich erinnere mich, wie ich einmal vom Manuskript aufschaute, das ich im Schein einiger Talglichter studierte, und Mr Wilde regungslos auf seinem Hochstuhl sitzen sah, während seine Augen vor Erregung geradezu glühten, als die Katze, die sich von ihrem Platz vor dem Ofen erhoben hatte, genau auf ihn zugekrochen kam. Bevor ich mich rühren konnte, drückte sie den Bauch flach auf den Boden, kauerte sich hin, erzitterte und sprang ihm ins Gesicht. Wütend und schäumend rollten beide hin und her, kratzten und krallten, bis die Katze aufschrie und unter den Schrank flüchtete, und Mr Wilde drehte sich auf den Rücken, und seine Glieder zogen sich zusammen und rollten sich ein wie die Beine einer sterbenden Spinne. Er war in der Tat exzentrisch.
Mr Wilde war auf seinen Hochstuhl geklettert, und nachdem er mein Gesicht gemustert hatte, nahm er ein eselsohriges Kassenbuch und schlug es auf.
»Henry B. Matthews«, las er vor, »Buchhalter für Whysot Whysot and Company, Kirchenschmuckhändler. Besuch am dritten April. Ansehen auf der Rennbahn geschädigt. Als Preller bekannt. Ansehen wiederherzustellen bis zum ersten August. Vorschuss fünf Dollar.« Er blätterte die Seite um und fuhr mit den fingerlosen Knöcheln die eng beschriebenen Spalten hinunter.
»P. Greene Dusenberry, Prediger des Evangeliums, Fairbeach, New Jersey. Ansehen in der Bowery geschädigt. Baldmöglichst wiederherzustellen. Vorschuss einhundert Dollar.«
Er hustete und fügte hinzu: »Besuch am sechsten April.«
»Demnach sind Sie nicht knapp bei Kasse, Mr Wilde«, bemerkte ich.
»Hören Sie«, sagte er und hustete erneut.
»Mrs C. Hamilton Chester am Chester Park, New York City, Besuch am siebten April. Ansehen in Dieppe, Frankreich, geschädigt. Wiederherzustellen bis zum ersten Oktober. Vorschuss fünfhundert Dollar. – Anmerkung: C. Hamilton Chester, Kapitän der U.S.S. ›Avalanche‹, vom Südsee-Geschwader nach Hause beordert am ersten Oktober.«
»Nun«, sagte ich, »das Gewerbe eines Wiederherstellers des Ansehens ist durchaus lukrativ.«
Seine farblosen Augen blickten in meine. »Ich wollte nur demonstrieren, dass ich recht hatte. Sie sagten, es sei unmöglich, als Wiederhersteller des Ansehens erfolgreich zu sein; und selbst wenn es mir in gewissen Fällen gelänge, würde es mich mehr kosten, als ich damit verdienen könne. Heute stehen fünfhundert Männer in meinen Diensten; sie sind schlecht bezahlt, aber sie erledigen die Arbeit mit einem Eifer, der sich möglicherweise auf Furcht gründet. Diese Männer bewegen sich durch jede Schicht und Stufe der Bevölkerung; manche sind sogar die Pfeiler der vornehmsten gesellschaftlichen Tempel; andere sind die Stütze und der Stolz der Finanzwelt; wieder andere haben unstrittig Einfluss unter jenen mit ›Fantasie und Talent‹. Ich wähle sie nach Gutdünken aus denen aus, die auf meine Annoncen antworten. Es ist sehr einfach, denn sie alle sind Feiglinge. Ich könnte die Anzahl in zwanzig Tagen verdreifachen, wenn ich wollte. Sie sehen also, jene, die das Ansehen ihrer Mitbürger in Gewahrsam halten, habe ich in Anstellung.«
»Sie könnten sich gegen Sie wenden …«, gab ich zu bedenken.
Er rieb sich mit dem Daumen über die gestutzten Ohren und rückte den Wachsersatz zurecht. »Ich glaube nicht«, murmelte er nachdenklich. »Ich muss nur selten die Peitsche anwenden, und dann auch nur ein einziges Mal. Außerdem gefällt ihnen die Entlohnung.«
»Wie wenden Sie die Peitsche an?«, wollte ich wissen.
Sein Gesicht war für einen Moment schauderhaft anzusehen. Seine Augen schrumpften zu zwei grünen Funken.
»Ich lade sie ein, zu kommen und ein wenig mit mir zu plaudern«, sagte er mit sanfter Stimme.
Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn, und sein Gesicht nahm wieder den liebenswürdigen Ausdruck an.
»Wer ist da?«, erkundigte er sich.
»Mr Steylette«, lautete die Antwort.
»Kommen Sie morgen«, erwiderte Mr Wilde.
»Unmöglich«, setzte der Mann an, wurde jedoch durch eine Art Gebell von Mr Wilde zum Schweigen gebracht.
»Kommen Sie morgen«, wiederholte er.
Wir hörten, wie sich jemand von der Tür entfernte und um die Ecke an der Treppe bog.
»Wer ist das?«, fragte ich.
»Arnold Steylette, Besitzer und Chefredakteur der großen New Yorker Tageszeitung.«
Er trommelte mit der fingerlosen Hand auf dem Kassenbuch und fügte hinzu: »Ich bezahle ihn sehr schlecht, aber er glaubt, es sei ein gutes Geschäft.«
»Arnold Steylette!«, wiederholte ich erstaunt.
»Ja«, sagte Mr Wilde mit einem selbstzufriedenen Hüsteln.
Die Katze, die ins Zimmer getreten war, während er sprach, zögerte, schaute zu ihm auf und knurrte. Er kletterte von seinem Stuhl herab, hockte sich auf den Boden, nahm das Geschöpf in die Arme und liebkoste es. Die Katze hörte auf zu knurren und stimmte bald ein lautes Schnurren an, dessen Klangfarbe sich zu erhöhen schien, während er sie streichelte.
»Wo sind die Aufzeichnungen?«, fragte ich. Er zeigte auf den Tisch, und zum hundertsten Mal nahm ich das Bündel aus Manuskripten auf, das folgenden Titel trug:
DIEIMPERIALEDYNASTIEAMERIKAS
Eine nach der anderen studierte ich die abgenutzten Seiten, nur durch meine Handhabung abgenutzt, und obwohl ich alles auswendig kannte, vom Anfang »Als von Carcosa, den Hyaden, Hastur und Aldebaran …« bis »Castaigne, Louis de Calvados, geboren am 19. Dezember 1877«, las ich es mit begierig gebannter Aufmerksamkeit und hielt nur inne, um Teile laut zu wiederholen, und verweilte insbesondere bei »Hildred de Calvados, einziger Sohn von Hildred Castaigne und Edythe Landes Castaigne, Erster in der Erbfolge«, etc., etc.
Als ich fertig war, nickte und hustete Mr Wilde.
»Was Ihre legitime Zielsetzung betriff«, sagte er, »wie kommen Constance und Louis miteinander zurecht?«
»Sie liebt ihn«, antwortete ich nur.
Die Katze auf seinem Knie drehte sich unvermittelt um und schlug nach seinen Augen, und er warf sie fort und stieg wieder auf den Stuhl mir gegenüber.
»Und Doktor Archer! Aber das ist eine Angelegenheit, die Sie zu jeder gewünschten Zeit erledigen können«, fügte er hinzu.
»Ja«, entgegnete ich, »Doktor Archer kann warten, aber es ist an der Zeit, dass ich meinen Cousin Louis aufsuche.«
»Es ist an der Zeit«, bestätigte er. Dann nahm er ein anderes Buch vom Tisch und ging rasch die Seiten durch.
»Inzwischen stehen wir im Austausch mit zehntausend Männern«, murmelte er. »Wir können auf einhunderttausend in den ersten achtundzwanzig Stunden zählen, und in achtundvierzig Stunden wird sich der Bundesstaat en masse erheben. Das Land folgt dem Staat, und der Teil, der es nicht tun wird, ich meine Kalifornien und den Nordwesten, wären besser nie besiedelt worden. Ihnen werde ich das Gelbe Zeichen nicht schicken.«
Das Blut stieg mir rauschend zu Kopf, aber ich antwortete nur: »Ein neuer Besen kehrt gut.«
»Der Ehrgeiz von Caesar und Napoleon verblasst vor dem, das keine Ruhe fand, bevor es die Gedanken der Menschen ergriff und sogar die ihrer Ungeborenen beherrschte«, sagte Mr Wilde.
»Sie sprechen vom König in Gelb«, stöhnte ich erschaudernd.
»Er ist ein König, dem Imperatoren gedient haben.«
»Ich bin einverstanden, ihm zu dienen«, entgegnete ich.
Mr Wilde rieb sich mit der verkrüppelten Hand die Ohren. »Vielleicht liebt Constance ihn gar nicht«, legte er nahe.
Ich setzte zu einer Antwort an, doch ein plötzlicher Ausbruch von Militärmusik unten auf der Straße übertönte meine Stimme. Das zwanzigste Dragonerregiment, ehemals in Mount St. Vincent stationiert, kehrte von den Manövern in Westchester County zurück in die neue Kaserne am East Washington Square. Es war das Regiment meines Cousins, ein prächtiger Trupp Kameraden in ihren blassblauen, eng sitzenden Jacken, flotten Tschakos und weißen Reithosen mit dem doppelten gelben Streifen, die mit ihren Gliedmaßen verschmolzen schienen. Jede zweite Schwadron war mit Lanzen bewaffnet, von deren Metallspitzen gelbe und weiße Fähnchen flatterten. Die Kapelle zog vorbei, während sie den Marsch des Regiments spielte, dann folgten der Colonel und der Stab auf gedrängten und trampelnden Pferden, deren Köpfe im Einklang wippten, und die Fähnchen flatterten an den Lanzenspitzen. Die Soldaten, die mit dem schönen englischen Sattel ritten, waren tiefbraun nach ihrem unblutigen Feldzug zwischen den Farmen von Westchester, und die Musik ihrer Säbel, die gegen die Steigbügel schlugen, und das Klirren von Sporen und Karabinern klang für mich herrlich. Ich sah Louis mit seiner Schwadron reiten. Er war einer der stattlichsten Offiziere, die ich je gesehen hatte. Mr Wilde, der einen Stuhl am Fenster bestiegen hatte, sah ihn ebenfalls, sagte aber nichts. Louis drehte sich und schaute genau auf Hawberks Werkstatt, als er vorbeikam, und ich konnte das Erröten seiner braunen Wangen erkennen. Ich denke, dass Constance am Fenster stand. Als die letzten Soldaten vorbeigetrappelt waren und die letzten Fähnchen in der South Fifth Avenue verschwanden, verließ Mr Wilde seinen Stuhl und zog die Truhe von der Tür fort.
»Ja«, sagte er, »es ist an der Zeit, dass Sie Ihren Cousin Louis besuchen.«
Er entriegelte die Tür, und ich nahm Hut und Stock und trat in den Korridor hinaus. Die Treppe war dunkel. Ich tastete mich voran und setzte den Fuß auf etwas Weiches, das knurrte und fauchte, und ich zielte einen mörderischen Hieb auf die Katze, doch mein Gehstock zersplitterte an der Balustrade, und das Tier huschte zurück in Mr Wildes Zimmer.
Als ich erneut an Hawberks Tür vorbeikam, sah ich, dass er immer noch an der Rüstung arbeitete, doch ich hielt nicht an, sondern trat auf die Bleecker Street hinaus, der ich bis zur Wooster Street folgte, passierte das Gelände der Todesanstalt, durchquerte den Washington Park und ging direkt zu meiner Wohnung im Benedick. Hier aß ich behaglich zu Mittag, las den Herald und den Meteor und ging schließlich zum Stahltresor in meinem Schlafzimmer und stellte die Zeitschaltung ein. Die nötige Wartezeit von drei und drei Viertelminuten, bis sich das Zeitschloss öffnet, sind goldene Augenblicke für mich. Von dem Moment, in dem ich die Kombination eingebe, bis zu dem, wenn ich die Knöpfe ergreife und die soliden Stahltüren aufschwingen lasse, lebe ich in einer erwartungsvollen Ekstase. Diese Zeit muss wie ein Aufenthalt im Paradies sein. Ich weiß, was ich am Ende dieser Zeitspanne finden werde. Ich weiß, was der schwere Tresor für mich sicher verwahrt, nur für mich, und das exquisite Vergnügen des Wartens steigert sich kaum, wenn sich der Tresor öffnet und ich vom Samtkissen ein Diadem aus reinstem Gold mit funkelnden Diamanten emporhebe. Das tue ich jeden Tag, und dennoch scheint sich die Freude des Wartens und endlich der erneuten Berührung des Diadems nur zu verstärken, während die Tage vergehen. Dieses Diadem ist eines Königs der Könige würdig, eines Imperators der Imperatoren. Der König in Gelb mag es verschmähen, doch es soll von seinem fürstlichen Diener getragen werden.
Ich hielt es in den Armen, bis der Alarm des Tresors schroff ertönte, worauf ich es behutsam und stolz zurücklegte und die Stahltüren schloss. Gemächlich ging ich in mein Arbeitszimmer mit Blick auf den Washington Square zurück und lehnte mich gegen den Fenstersims. Die Nachmittagssonne schien durch meine Fenster herein, und eine sanfte Brise bewegte die Äste der Ulmen und Ahorne im Park, die jetzt mit Knospen und zarten Blättern besetzt waren. Ein Schwarm Tauben kreiste um den Turm der Memorial Church; manchmal landeten sie auf den purpurnen Dachziegeln, manchmal flogen sie hinab zum Lotusbrunnen vor dem Marmorbogen. Die Gärtner waren mit den Blumenbeeten rund um den Springbrunnen beschäftigt, und die frisch umgegrabene Erde roch süß und würzig. Ein Rasenmäher, gezogen von einem fetten weißen Pferd, stapfte über den grünen Rasen, und Bewässerungswagen verströmten Sprühnebel über die asphaltierten Fahrwege. Rund um die Statue von Peter Stuyvesant, die 1897 die Monstrosität ersetzt hatte, die angeblich Garibaldi darstellen sollte, spielten Kinder im Licht der Frühlingssonne, und Hausmädchen schoben aufwendige Kinderwagen mit rücksichtsloser Missachtung der blassgesichtigen Insassen, was sich vermutlich durch die Anwesenheit eines halben Dutzends adretter Dragonersoldaten erklären ließ, die gelangweilt auf den Bänken herumlümmelten. Durch die Bäume schimmerte der Washington Memorial Arch wie Silber im Sonnenschein, und dahinter, auf dem östlichen Ausläufer des Platzes, waren die steinerne Kaserne der Dragoner und die Artilleriestallungen aus weißem Granit von Farbe und Bewegung erfüllt.
Ich schaute zur Todesanstalt gegenüber, an der Ecke des Platzes. Ein paar Neugierige hielten sich immer noch am vergoldeten Eisengeländer auf, doch auf den Außenanlagen waren die Wege menschenleer. Ich beobachtete, wie die Springbrunnen plätscherten und glitzerten; die Spatzen hatten diese neue Badestelle bereits entdeckt, und die Becken waren überfüllt von den staubfarben gefiederten kleinen Wesen. Zwei oder drei weiße Pfauen zogen pickend über den Rasen, und eine fahlgraue Taube saß so regungslos auf dem Arm einer der Schicksalsgöttinnen, dass sie ein Teil der Steinskulptur zu sein schien.
Als ich mich sorglos abwandte, weckte eine leichte Unruhe in der Gruppe der neugierigen Bummler an den Toren meine Aufmerksamkeit. Ein junger Mann war eingetreten und lief mit nervösen Schritten über den Kiesweg, der zu den Bronzetüren der Todesanstalt führte. Er blieb für einen Moment vor den Schicksalsgöttinnen stehen, und als er zu den drei geheimnisvollen Gesichtern aufschaute, erhob sich die Taube von ihrem steinernen Sitzplatz, flog kurz im Kreis herum und drehte dann nach Osten ab. Der junge Mann schlug sich die Hände vors Gesicht, und mit einer undefinierbaren Geste sprang er dann die Marmorstufen hinauf, die Bronzetüren schlossen sich hinter ihm, und eine halbe Stunde später schlichen sich die Bummler davon, und die verängstigte Taube kehrte zu ihrem Platz in den Armen der Schicksalsgöttin zurück.
Ich setzte meinen Hut auf und ging hinaus in den Park, um vor dem Abendessen einen kleinen Spaziergang zu machen. Als ich den zentralen Weg überquerte, kam eine Gruppe von Offizieren vorbei, und einer von ihnen rief: »Hallo, Hildred!« Dann kam er zu mir zurück, um mir die Hand zu schütteln. Es war mein Cousin Louis, der lächelnd dastand und mit der Reitpeitsche gegen seine gespornten Fersen klopfte.
»Soeben zurück aus Westchester«, sagte er, »war ziemlich ländlich, Milch und Quark, du weißt schon, Melkmädchen mit Sonnenhäubchen, die ›Hulloh‹ und ›Ich glaub nicht‹ sagen, wenn man ihnen erzählt, dass sie hübsch sind. Für eine anständige Mahlzeit bei Delmonico’s könnte ich sterben. Was gibt es Neues?«
»Nichts«, antwortete ich freundlich. »Heute früh habe ich gesehen, wie dein Regiment hereinkam.«
»Wirklich? Ich habe dich nicht gesehen. Wo warst du?«
»An Mr Wildes Fenster.«
»Oh, verdammt!«, begann er ungehalten, »dieser Mann ist völlig verrückt! Ich verstehe nicht, warum du …«
Er bemerkte, wie verärgert ich über diesen Ausbruch war, und bat um Verzeihung.
»Wirklich, alter Knabe«, sagte er, »ich wollte nicht über einen Mann herziehen, den du magst, aber ich kann beim besten Willen nicht verstehen, was zum Teufel dich mit Mr Wilde verbindet. Er ist nicht aus gutem Hause, um es wohlwollend auszudrücken; er ist grauenhaft missgebildet; sein Kopf ist der einer kriminell geistesgestörten Person. Du selbst weißt, dass er in einer Irrenanstalt war …«
»Genauso wie ich«, unterbrach ich ihn ruhig.
Louis sah mich für einen Moment überrascht und verwirrt an, doch dann fasste er sich wieder und schlug mir herzhaft auf die Schulter.
»Du wurdest vollständig geheilt«, setzte er an, doch wieder fiel ich ihm ins Wort.
»Ich schätze, du meinst, dass lediglich anerkannt wurde, dass ich nie geisteskrank war.«
»Natürlich … genau das habe ich gemeint«, sagte er lachend.
Mir missfiel sein Lachen, weil ich wusste, dass es gezwungen war, doch ich nickte unbekümmert und fragte ihn, wohin er unterwegs sei. Louis schaute seinen Offizierskameraden nach, die nun fast den Broadway erreicht hatten.
»Wir hatten beabsichtigt, einen Brunswick Cocktail zu kosten, doch um die Wahrheit zu sagen, habe ich nach einem Vorwand gesucht, stattdessen zu Hawberk zu gehen. Komm mit, ich werde dich zu meinem Vorwand machen.«
Wir fanden den alten Hawberk frisch in einen gepflegten Frühlingsanzug gekleidet vor der Tür seiner Werkstatt stehen, während er schnuppernd die Luft prüfte.
»Ich hatte soeben beschlossen, Constance vor dem Abend zu einem kleinen Spaziergang mitzunehmen«, beantwortete er die ungestüme Salve aus Fragen von Louis. »Wir dachten uns, über die Parkterrasse am North River zu gehen.«
In diesem Moment erschien Constance und wurde abwechselnd blass und rosig, als Louis sich über ihre kleinen Finger im Handschuh beugte. Ich versuchte, mich zu entschuldigen, gab eine Verabredung im Norden der Stadt vor, doch Louis und Constance wollten nichts davon wissen, und ich erkannte, dass von mir erwartet wurde, dass ich blieb und die Aufmerksamkeit des alten Hawberk in Anspruch nahm. Schließlich konnte ich ebenso gut Louis im Auge behalten, dachte ich, und als sie an der Spring Street einen Pferdewagen riefen, stieg ich nach ihnen ein und nahm neben dem Waffenschmied Platz.
Die wunderschöne Reihe von Parks und Granitterrassen mit Blick auf die Hafenkais entlang des North River, die seit 1910 erbaut und im Herbst 1917 fertiggestellt wurden, waren zu einer der beliebtesten Promenaden der Metropole geworden. Sie erstreckten sich vom Battery Park bis zur 190th Street und boten eine gute Aussicht auf den erhabenen Fluss und auf das Ufer von Jersey und das gegenüberliegende Hügelland. Cafés und Restaurants lagen hier und dort verstreut zwischen den Bäumen, und zweimal pro Woche spielten Militärkapellen der Garnison in den Pavillons auf den Brüstungen.
Wir setzten uns im Sonnenschein auf die Bank am Fuß der Reiterstatue von General Sheridan. Constance neigte den Sonnenschirm, um ihre Augen zu schützen, dann begannen sie und Louis eine gemurmelte Unterhaltung, die unmöglich zu verstehen war. Der alte Hawberk lehnte sich auf seinen Gehstock mit Elfenbeinknauf, entzündete eine vortreffliche Zigarre, nachdem ich eine ebensolche höflich abgelehnt hatte, und lächelte müßig. Die Sonne hing tief über den Wäldern von Staten Island, und die Bucht war in Goldfarben getönt, die sich an den sonnengewärmten Segeln der Schiffe im Hafen spiegelte.
Briggs, Schoner, Jachten, klobige Fähren, auf deren Decks es von Menschen wimmelte, Eisenbahnen mit Reihen aus braunen, blauen und weißen Güterwaggons, stattliche Dampfschiffe, heruntergekommene Trampdampfer, Küstensegler, Schwimmbagger, Schuten und unverfrorene kleine Schlepper, die überall in der Bucht schnauften und aufdringlich pfiffen – das waren die Fahrzeuge, die das sonnenbeschienene Wasser aufwühlten, so weit das Auge reichte. Im Kontrast zur Eile der Segelschiffe und Dampfer lag eine reglose Flotte aus weißen Kriegsschiffen ruhig in der Strommitte.
Constances vergnügtes Lachen weckte mich aus meiner Träumerei.
»Worauf starren Sie?«, wollte sie wissen.
»Nichts – die Flotte«, sagte ich lächelnd.
Dann erklärte Louis uns, was es für Schiffe waren, indem er uns jedes in der relativen Position zum alten Roten Fort auf Governor’s Island zeigte.
»Dieses kleine zigarrenförmige Ding ist ein Torpedoboot«, führte er aus. »Davon gibt es noch vier weitere, die nahe beieinander liegen. Das sind die ›Tarpon‹, die ›Falcon‹, die ›Sea Fox‹ und die ›Octopus‹. Die Kanonenboote gleich darüber sind die ›Princeton‹, die ›Champlain‹, die ›Still Water‹ und die ›Erie‹. Daneben liegen die Kreuzer ›Farragut‹ und ›Los Angeles‹ und darüber die Schlachtschiffe ›California‹ und ›Dakota‹ und die ›Washington‹, das Flaggschiff. Diese beiden plumpen Metallklötze mit den zwei Türmen, die dort vor Castle William ankern, sind die Monitore ›Terrible‹ und ›Magnificent‹; dahinter liegt das Rammschiff ›Osceola‹.«
Constance sah ihn mit großer Anerkennung in den schönen Augen an. »Wie viele Sachen du doch weißt für einen Soldaten«, sagte sie, und wir alle stimmten in das darauffolgende Lachen ein.
Schließlich erhob sich Louis, nickte uns zu und bot Constance seinen Arm an, und sie schlenderten über die Ufermauer davon. Hawberk schaute ihnen für einen Moment nach wandte sich dann mir zu.
»Mr Wilde hatte recht«, sagte er. »Ich habe die fehlenden Tassetten und den linken Diechling vom ›Schmuck des Prinzen‹ in einer alten Rumpelkammer an der Pell Street gefunden.«
»In der 998?«, erkundigte ich mich mit einem Lächeln.
»Ja.«
»Mr Wilde ist ein sehr intelligenter Mann«, stellte ich fest.
»Ich will ihm für diese höchst bedeutende Entdeckung Anerkennung zollen«, fuhr Hawberk fort. »Und ich beabsichtige, bekannt werden zu lassen, dass ihm der Ruhm dafür gebührt.«
»Das würde er Ihnen nicht danken«, erwiderte ich scharf. »Bitte sagen Sie nichts darüber.«
»Wissen Sie, was es wert ist?«, fragte Hawberk.
»Nein, vielleicht fünfzig Dollar.«
»Es wird auf fünfhundert geschätzt, doch der Besitzer des ›Schmuck des Prinzen‹ wird der Person, die seinen Anzug vervollständigt, zweitausend Dollar geben; diese Belohnung steht Mr Wilde zu.«
»Das will er nicht! Er verweigert es!«, entgegnete ich wütend. »Was wissen Sie über Mr Wilde? Er braucht das Geld nicht. Er ist reich … oder wird reich sein … reicher als jeder lebende Mann außer mir selbst. Was wird uns Geld dann interessieren … was wird uns noch interessieren, ihn und mich, wenn … wenn …«
»Wenn was?«, wollte Hawberk erstaunt wissen.
»Sie werden sehen«, antwortete ich, wieder auf der Hut.
Er betrachtete mich argwöhnisch, ganz wie Doktor Archer es zu tun pflegte, und ich wusste, dass er dachte, ich sei geistig gestört. Vielleicht war es sein Glück, dass er in diesem Moment nicht das Wort »Irrer« benutzte.
»Nein«, beantwortete ich seinen unausgesprochenen Gedanken. »Ich bin nicht geistesschwach; meine Psyche ist genauso gesund wie die von Mr Wilde. Ich möchte jetzt noch nicht erklären, was ich in petto habe, doch es ist eine Investition, die sich mehr auszahlen wird als in bloßem Gold, Silber und kostbaren Steinen. Es wird das Glück und das Wohlergehen eines Kontinents sichern – ja, einer Hemisphäre!«
»Oh«, sagte Hawberk.
»Und schließlich«, fuhr ich etwas ruhiger fort, »wird es das Glück der ganzen Welt sichern.«
»Und zufällig auch Ihr Glück und Ihr Wohlergehen sowie das von Mr Wilde?«
»Genau«, sagte ich lächelnd. Aber ich hätte ihn für diesen Tonfall erdrosseln können.
Er sah mich eine Weile schweigend an und sagte dann sehr behutsam: »Warum geben Sie Ihre Bücher und Studien nicht auf, Mr Castaigne, und machen eine Wanderung durch die Berge oder anderswo? Früher haben Sie gern gefischt. Werfen Sie in den Rangelys die Angel nach den Forellen aus.«
»Fischen interessiert mich nicht mehr«, antwortete ich ohne eine Spur von Verärgerung in der Stimme.
»Früher hat Sie alles interessiert«, fuhr er fort, »Athletik, Segeln, Schießen, Reiten …«
»Seit meinem Sturz bin ich nicht mehr geritten«, sagte ich leise.
»Ach ja, Ihr Sturz«, wiederholte er und wandte den Blick ab.
Ich fand, dass es mit diesem Unsinn nun weit genug gegangen war, also lenkte ich die Unterhaltung auf Mr Wilde zurück; doch er musterte mein Gesicht erneut auf eine Weise, die für mich zutiefst beleidigend war.
»Mr Wilde«, wiederholte er. »Wissen Sie, was er heute Nachmittag gemacht hat? Er kam die Treppe herunter und nagelte über der Eingangstür ein Schild neben meinem an die Wand, auf dem stand:
MRWILDE
Wiederhersteller des Ansehens
3. Klingel
Wissen Sie, was ein Wiederhersteller des Ansehens sein könnte?«
»Ich weiß es«, antwortete ich und unterdrückte den Zorn in mir.
»Oh«, sagte er noch einmal.
Louis und Constance kamen vorbeigeschlendert und blieben stehen, um zu fragen, ob wir uns zu ihnen gesellen wollten. Hawberk schaute auf seine Uhr. Im selben Moment schoss eine Rauchwolke aus den Kasematten von Castle William, und der Knall der Abendkanone rollte über das Wasser und kam als Echo vom Hügelland gegenüber zurück. Die Fahne wurde am Mast heruntergezogen, die Hörner ertönten auf den weißen Decks der Kriegsschiffe, und das erste elektrische Licht funkelte am Ufer von Jersey.
Als ich mich mit Hawberk der Stadt zuwandte, hörte ich, wie Constance murmelnd etwas zu Louis sagte, das ich nicht verstand; doch Louis flüsterte »Meine Liebste« als Antwort; und als ich mit Hawberk über den Platz vorausging, hörte ich wieder ein gemurmeltes »Liebling« und »meine Constance«, und ich wusste, dass nun fast die Zeit gekommen war, um mit meinem Cousin Louis über wichtige Angelegenheiten zu sprechen.
Eines Morgens früh im Mai stand ich vor dem Stahltresor in meinem Schlafzimmer und drehte am juwelenbesetzten goldenen Rad. Die Diamanten versprühten Feuer, als ich mich dem Spiegel zuwandte, und das schwere gehämmerte Gold brannte wie ein Heiligenschein um meinen Kopf. Ich erinnerte mich an Camillas gequälten Schrei und die furchtbaren Worte, die durch die dämmrigen Straßen von Carcosa hallten. Das waren die letzten Zeilen des ersten Akts, und ich wagte nicht an das zu denken, was folgte – wagte es nicht einmal im Frühlingssonnenschein, dort in meinem eigenen Zimmer, umgeben von vertrauten Gegenständen, beruhigt durch die Geschäftigkeit auf der Straße und die Stimmen der Diener draußen im Hausflur. Denn jene vergifteten Worte waren langsam in mein Herz gesickert, wie Todesschweiß auf ein Bettlaken tropft und aufgesogen wird. Zitternd nahm ich das Diadem vom Kopf und wischte mir die Stirn ab, aber ich dachte an Hastur und mein eigenes rechtmäßiges Streben, und ich erinnerte mich an Mr Wilde, wie ich ihn das letzte Mal zurückgelassen hatte, das Gesicht völlig aufgerissen und blutig von den Krallen dieser Teufelskreatur, und an das, was er sagte – ah, was er sagte! Die Alarmglocke im Tresor surrte schroff, und ich wusste, dass meine Zeit um war; doch ich wollte nicht darauf hören, setzte mir den glitzernden Reif wieder auf den Kopf und wandte mich trotzig dem Spiegel zu. Ich stand lange Zeit da und vertiefte mich in den wechselnden Ausdruck meiner eigenen Augen. Der Spiegel zeigte ein Gesicht, das wie meines war, aber weißer und so mager, dass ich es kaum wiedererkannte. Die ganze Zeit wiederholte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen »Der Tag ist gekommen! Der Tag ist gekommen!«, während der Alarm im Tresor surrte und zeterte und die Diamanten über meiner Stirn funkelten und flammten. Ich hörte, wie eine Tür geöffnet wurde, doch ich achtete nicht darauf. Erst als ich zwei Gesichter im Spiegel sah – erst als ich ein anderes Gesicht sah, das sich über meine Schulter erhob und zwei andere Augen in meine blickten. Ich fuhr wie der Blitz herum und ergriff ein langes Messer von meinem Frisiertisch, und mein Cousin war sehr blass, als er zurücksprang und rief: »Hildred! Um Gottes willen!« Und als meine Hand niedersank, sagte er: »Ich bin es, Louis, kennst du mich nicht mehr?« Ich stand stumm da. Ich hätte auf gar keinen Fall etwas sagen können. Er kam zu mir und nahm mir das Messer aus der Hand.
»Was hat das zu bedeuten?«, erkundigte er sich mit sanfter Stimme. »Bist du krank?«
»Nein«, antwortete ich. Doch ich bezweifle, dass er mich hörte.
»Komm schon, alter Knabe«, rief er. »Nimm diese Messingkrone ab und troll dich ins Arbeitszimmer. Gehst du zu einer Maskerade? Was hat all der theatralische Krempel überhaupt zu bedeuten?«
Ich war froh, dass er dachte, die Krone bestünde aus Messing und Leim, doch es gefiel mir keineswegs, dass er so dachte. Ich ließ zu, dass er sie mir vom Kopf nahm, im Wissen, dass es das Beste war, ihn bei Laune zu halten. Er warf das prächtige Diadem in die Luft, fing es auf und wandte sich mir lächelnd zu.
»Das ist etwa fünfzig Cent wert«, sagte er. »Was ist das?«
