Der Krähenwolf - Lonna Haden - E-Book

Der Krähenwolf E-Book

Lonna Haden

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Beschreibung

Auf dem Nachhauseweg werden der junge Bejran und seine Mutter von einem Wolf angefallen. Schwer verletzt überlebt Bejran den Angriff. Doch irgendetwas hat sich verändert. Während er im Fieber liegt, quälen ihn Träume und die Erinnerungen an den Angriff. Und was hat es mit der Krähe auf sich, die ihn verfolgt? Ist sie ein Todesbote oder hat er ihr gar sein Leben zu verdanken?

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Seitenzahl: 168

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Lonna Haden

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen, 2104

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode./

Bildrechte:

© Elena Schweitzer – fotolia.com

© Kiselev Andrey Valerivich – shutterstock.com

1.Auflage

ISBN 978-3-944737-85-0

ISBN 978-3-944737-86-7 (epub)

1

Bejran hatte die Hände tief in die Taschen geschoben und trottete mit gesenktem Haupt hinter seiner Mutter her. Der Wind hatte ihre Spuren vom Hinweg längst zugeweht, aber es hatte nicht erneut geschneit. Das war auch gut so, denn die Äste trugen bereits schwer an ihrer Last. Seit Tagen waren die Männer im Dorf dabei, die Dächer der Häuser vom Schnee zu befreien, damit sie nicht einstürzten. Jeden Morgen mussten sie von Neuem mit der Arbeit beginnen. Heute aber war es für frischen Schnee viel zu kalt. Eine blasse Sonne stand an einem fast weißen Himmel. Ihr Licht ließ die Schneekristalle glitzern wie ein Meer von Diamanten. Die Schönheit dieser Winterwelt traf Bejran bis ins Herz und er musste ein Seufzen unterdrücken. Er wollte seine Mutter nicht auf sich aufmerksam machen, konnte die Enttäuschung in ihren Augen nicht ertragen, wenn sie sich zu ihm umdrehte. Es genügte ihm, die Unzufriedenheit in ihrer Stimme zu hören. Seit sie außer Hörweite des Köhlers waren, redete sie. Bejran kannte jeden ihrer Sätze längst auswendig.

Er war bald zwanzig Jahre alt, aber in den Augen seiner Mutter war er immer noch ein Kind. Nachdem klar geworden war, dass niemand im Dorf ihn ausbilden würde, hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, außerhalb nach Arbeit für ihn zu suchen. Seit diesem unseligen Kuss auf dem Dorffest jedoch eilte ihm sein Ruf voraus. Und seitdem musste er sich auch diese Predigten anhören.

„Nicht einmal der Köhler!“, schimpfte seine Mutter gerade, doch beim letzten Wort stockte sie. Bejran wäre beinahe in sie hineingelaufen, so abrupt war sie stehen geblieben. Die plötzliche Stille war wie ein Dröhnen in seinen Ohren und er öffnete den Mund, um zu fragen, was los sei. Aber seine Mutter hob warnend die Hand und er schluckte seine Frage hinunter. Langsam drehte sie sich zu ihm um und flüsterte: „Hast du das gehört?“

Bejran hielt den Atem an und lauschte. Er hörte nichts, aber etwas hatte sich verändert, als hielte der Wald ebenfalls den Atem an. Der Wind hatte schlagartig nachgelassen und obwohl es immer noch kalt war, war die Luft auf einmal stickig, wie in einem Pferdestall. Bejran stellten sich die Nackenhaare auf. Noch immer wagte er kaum zu atmen. Nervös leckte er sich die trockenen Lippen. Sein Herz schlug wie wild, als er nach der Hand seiner Mutter griff und ihr in die Augen sah. Bejran erschrak bei ihrem Anblick. Er entdeckte eine Angst in ihren Augen, die er so nicht kannte. Seine Mutter hatte in ihrem Leben genug durchgemacht, um vor nichts mehr Angst zu haben. Jetzt sah sie aus, als wäre sie von einem Geist gestreift worden. Bejran fühlte sich beobachtet, wagte aber nicht, sich umzusehen. Da knackte es hinter ihnen im Unterholz. Bejrans Herz stolperte vor Schreck und er gab seiner Mutter einen Stoß.

„Lauf!“

Seine Lippen formten das Wort, ohne dass er es wirklich aussprach, doch als er seine Mutter losließ, preschte sie davon. Kaum war sie losgerannt, sprang etwas aus dem Gebüsch und schoss ihr nach. Ein Wolf! Aber keiner wie Bejran ihn je gesehen hatte. Die breiten Schultern des Tieres waren auf Höhe seiner Hüfte und es wog gewiss mindestens so viel wie er. Wie ein grauschwarzer Schatten pflügte der Wolf durch den weißen Schnee. Bejran zögerte keine Sekunde und jagte der Bestie nach. Doch er war zu langsam. Schon stürzte sich der Wolf auf seine Mutter und warf sie zu Boden. Ihr Schrei zerriss die Stille des Waldes. Bejran keuchte auf.

„Nein!“

Das Entsetzen schnürte ihm die Luft ab. Endlich hatte er die beiden erreicht und warf sich auf den Rücken des Wolfes. Doch das Tier schien ihn nicht einmal zu bemerken. Zu sehr war es mit Bejrans Mutter beschäftigt. Die wehrte sich verzweifelt und versuchte den Wolf zu würgen. Bejran konnte nicht hinsehen. Zu viel Blut tränkte bereits den Schnee und ließ ihn schmelzen. Mit der Linken krallte er sich im Fell des Wolfes fest, das sich rau und staubig anfühlte. Die Rechte ballte er zur Faust und ließ sie immer wieder auf den Schädel der Bestie niedersausen. Der Wolf nahm keine Notiz davon. So sehr Bejran auch an ihm zerrte, an seinem Fell riss, ihn schlug oder trat – das Tier ließ nicht von der Frau am Boden ab. Bejrans Kräfte schwanden. Ein letztes Mal suchte er den Blick seiner Mutter. Das Leben wich bereits aus ihren Augen. Bejrans Griff lockerte sich nur für einen Atemzug, doch im selben Augenblick wurde der Wolf seiner gewahr. Mit einem Knurren warf er ihn ab und schnappte nach ihm. Seine Zähne gruben sich tief in den Arm des jungen Mannes. Bejran brüllte auf und merkte kaum, wie er hart auf dem gefrorenen Boden aufschlug. Sterne explodierten vor seinen Augen. Das Rauschen seines Blutes war so laut, dass es jeden Gedanken aus seinem Kopf vertrieb, außer dem einen: Jetzt werde ich sterben.

Mit halb aufgerichtetem Oberkörper lag er am Boden und sah dem Wolf in die gelben Augen. Das Tier stand einfach nur da und starrte ihn an. Blutiger Speichel troff von seinen Lefzen. Bejrans Atem ging keuchend. Seine Haare waren nass von seinem Schweiß. Die Hände steckten bis zu den Handgelenken im Schnee. Seine Finger begannen bereits, taub zu werden. Die Bisswunde an seinem Arm brannte wie Feuer. Er hatte gesehen, wie schnell der Wolf war. Es hatte keinen Sinn, wegzulaufen. Jeden Moment würde die Bestie losspringen und dann war es aus mit ihm! Er sah schon, wie der Wolf seine Muskeln spannte. Bejran stemmte seine Füße in den Boden und schob sich rückwärts. Er versuchte, hochzukommen, aber seine Beine versagten ihm den Dienst. Der Wolf hob eine Pfote, als sei er noch nicht sicher, ob er Bejran folgen sollte. Doch bevor das Tier einen Schritt getan oder auch nur ein weiteres Knurren ausgestoßen hatte, ertönte etwas anderes: „Krah!“

Bejrans Blick schnellte nach oben. Nur für einen Wimpernschlag. In einem Baum saß eine Krähe und schaute mit ihren schwarzen Augen auf ihn herunter.

2

Als Bejran zu sich kam, dämmerte es. Seine Zähne klapperten und jeder Muskel tat ihm weh. Mühsam blickte er auf und konnte sich nicht erklären, wie um alles in der Welt er in den Wald gekommen war. Weit über ihm gaben die Zweige den Blick auf einen orangefarbenen Himmel und schwarze Wolkenfetzen frei. Wunderschön sah das aus. Es kam Bejran so unwirklich vor, hier unter dem freien Himmel zu sitzen. Beinahe wie in einem Traum. Immer wieder fielen ihm die Augen zu. Wie lange saß er schon hier? Ging die Sonne auf oder unter? Ihm war kalt, aber nicht so kalt, wie ihm sein sollte. In sich konnte er ein Echo von Wärme spüren, als hätte ihn eben noch eine Decke umfangen.

Unwillig schüttelte er den Kopf und zwang sich, die Augen offen zu halten. Da fiel sein Blick auf den toten Körper seiner Mutter. Die Erinnerung traf ihn wie eine Keule, wie ein kräftiger Stoß vor die Brust. Tränen schossen ihm in die Augen. Als er sie mit dem Handrücken fortwischen wollte, durchzuckte ein entsetzlicher Schmerz seinen Arm. Bejran schrie auf. Wimmernd untersuchte er die schmerzende Stelle, aber viel konnte er nicht erkennen. Der Stoff seines Mantels war zerfetzt. Das, was von dem Ärmel noch übrig war, war dunkel verfärbt und steinhart. Bejran biss die Zähne zusammen. Der Schmerz hatte ihn hellwach gemacht. Hier konnte er nicht bleiben. Es grenzte an ein Wunder, dass er noch nicht erfroren war. Er zog die Beine an und versuchte, sich mit dem gesunden Arm hochzustemmen, aber weder sein Arm noch seine Beine wollten ihm recht gehorchen. Nach dem dritten Versuch gab er erschöpft auf. Er ließ sich wieder gegen den Baumstamm fallen und sah sich um. Dieses Mal vermied er es, seine Mutter anzuschauen. Nebel kam auf und es wurde zusehends dunkler. Alles, was weiter als sechs Bäume entfernt war, lag im tiefsten Schatten verborgen. Bejran ließ den Blick weiter schweifen und dann blieb ihm beinahe das Herz stehen. Auf einem bemoosten Stein saß seelenruhig eine schwarze Krähe und sah ihn an. Bejran musste schlucken. Ein sonderbares Kribbeln durchlief seinen Körper. War dies der gleiche Vogel, der den Wolf verjagt hatte? Hatte er etwa die ganze Zeit bei ihm ausgeharrt? Für die Leiche schien die Krähe sich nicht zu interessieren. Sie sah nur ihn an. Das Schwarz ihrer Augen war tief und unergründlich. Bejran war, als würde sie bis auf den Grund seiner Seele blicken. Er vergaß die Welt um sich herum, die Kälte und die Schmerzen, beinahe sogar das Atmen.

Er hätte sich wohl ganz im Schwarz dieser Augen verloren, hätte ihn nicht ein Geräusch in die Wirklichkeit zurückgerissen: das Geräusch von Stimmen! Menschlichen Stimmen! Sie waren ganz in der Nähe. Die Krähe stieß einen lauten Schrei aus. Bejran hörte ein Flügelschlagen und fort war sie. Die Menschen aber kamen rasch näher. Mindestens fünf Stimmen hörte Bejran durcheinander rufen. Sie riefen seinen Namen und den seiner Mutter.

„Bejran! Navena! Wo seid ihr?“, hallte es durch den Wald, der inzwischen fast vollständig von der Nacht erobert worden war. Bejran wollte ihnen antworten, ihnen zurufen, aber er bekam nur ein heiseres Krächzen heraus. Wieder versuchte er, aufzustehen, doch seine Beine gehorchten ihm noch immer nicht. Da tauchten rote Lichter im Dunkeln des Waldes auf. Sie flackerten und tanzten auf und nieder.

Fackeln, dachte Bejran erleichtert. Die Lichter kamen direkt auf ihn zu.

„Hier“, krächzte Bejran, in der Hoffnung, seine Stimme würde doch noch zurückkommen. „Wir sind hier!“

Endlich hörte er die ersten nahen Schritte, knirschenden Schnee unter schweren Stiefeln. Die Rufe waren verstummt. Vermutlich hatte der Trupp Spuren entdeckt oder lauschte auf Antwort der Gesuchten.

„Hier“, murmelte Bejran ein weiteres Mal mit schwerer Zunge. Die Erleichterung über die nahende Rettung zog eine tiefe Erschöpfung nach sich. „Ich bin hier.“

Die Lichter wurden heller. Bejran kniff die Augen zu. Gleich würden sie bei ihm sein.

„Hier ist überall Blut“, hörte er jemanden sagen. Es folgten einige Flüche und auch ein hastig gestammeltes Gebet. Sie hatten seine Mutter entdeckt und endlich auch ihn.

„Bejran!“

Bejran zwang sich, wieder aufzusehen. Jemand hatte sich über ihn gebeugt. Er blickte in vertraute, graue Augen, die ihn aus einem faltigen Gesicht heraus ansahen. Es war Vargan, der Heiler.

„Bei allen guten Mächten, Bejran! Was ist hier geschehen?“

Das Entsetzen, das Bejran selbst empfand, schwang in der Stimme des Heilers mit. Er konnte nicht antworten. Er hatte einfach keine Kraft dazu. Zu viele Gefühle kämpften in ihm. Erleichterung, Freude und Dank über seine Rettung, aber auch furchtbarer Schmerz und tiefe Traurigkeit über den Verlust seiner Mutter. Er spürte Tränen über seine Wangen rinnen, heiß wie siedendes Wasser.

„Bejran“, wiederholte der Heiler seinen Namen, ging vor ihm in die Knie und befühlte seine Wangen. Hastig wandte er sich zu seinen Begleitern um. „Er ist eiskalt und hat viel Blut verloren. Silas!“ Er zeigte auf einen der Männer. „Lauf ins Dorf und sag den Frauen, sie sollen Wasser heiß machen. Und wir brauchen eine Trage für … die Mutter.“

Bejran ahnte, dass Vargan ein anderes Wort hatte benutzen wollen, aber selbst sein Denken schien eingefroren. Die Tatsache, dass seine Mutter tot war, sickerte nur ganz allmählich in seinen Verstand. Silas rannte los. Einer der Männer deutete auf Bejran.

„Was ist mit ihm?“

„Er hat keine Zeit, auf eine Trage zu warten. Dorek wird ihn tragen. Er ist der Stärkste hier.“

Vargan nickte Dorek zu. Der nahm Bejran hoch und warf ihn sich über die Schultern wie einen Sack Mehl. Bejran stöhnte auf. Nicht nur sein Arm protestierte gegen die unsanfte Behandlung. Sein ganzer Körper schien nur noch aus Schmerz zu bestehen.

„Vorsicht!“, mahnte Vargan. „Er ist verletzt. Vergiss das nicht.“

Dorek setzte sich in Bewegung und Bejran fielen die Augen zu. Auf dem kurzen Weg ins Dorf verlor er immer wieder das Bewusstsein. Nur am Rande bekam er mit, was um ihn herum geschah. Von Doreks Rücken aus hatte er eine merkwürdige Perspektive. Im Schein von Vargans Fackel sah er mal den Schnee am Boden und die Spuren, die sein Träger hinterließ. Mal erhaschte er einen Blick auf den Heiler, der neben ihm ging. Mal auf den dunklen Himmel und den Mond, der durch die Zweige schien. Vargan hatte angeordnet, dass der Rest der Männer bei der Leiche im Wald blieb und darüber wachte, dass kein Tier sich an dem Körper gütlich tat. Bejran war froh darüber, dass seine Mutter nicht auf die gleiche Weise ins Dorf getragen wurde wie er. Sie hätte es nicht gewollt, von den Männern berührt zu werden. Als sie das Dorf erreichten, kamen ihnen einige Frauen entgegen gerannt. Bejran hörte sie nach seiner Mutter fragen und reckte mühsam den Hals, um etwas zu sehen. Aus dem Augenwinkel erkannte er, wie Vargan traurig den Kopf schüttelte.

„Navena ist tot. Bringt den Jungen in mein Haus und bereitet ihm dort ein Bad.“

Dorek trug Bejran in die Hütte des Heilers. Sofort wurde es warm um ihn herum. Dorek legte ihn auf einem Bett ab. Jemand breitete eine Decke über ihm aus. Vargan schob eine Hand unter Bejrans Kopf, hob ihn leicht an und schob ihm einen Löffel mit einer scharfen Flüssigkeit in den Mund. Bejran wimmerte. Das Zeug brannte wie Feuer auf seiner Zunge.

„Gegen die Schmerzen“, erklärte Vargan. „Es wird dich schläfrig machen.“

Bejran schloss die Augen und spürte, wie sich das Feuer von seiner Kehle aus in seinem Körper ausbreitete. Er dämmerte weg und wurde erst wieder wach, als sich jemand an seiner Kleidung zu schaffen machte. Eine der Frauen war gerade dabei, ihm die Hosen auszuziehen. Er kannte sie. Es war ein zahnloses altes Weib, das die Männer in der Gaststube gern mit ihren derben Sprüchen zum Johlen brachte. Sie hatte schon oft versucht, sich an Bejran heranzumachen, und ihr jetzt so ausgeliefert zu sein, war ihm zuwider. Er sah ihren listigen Augen an, wie sehr sie es genoss, ihn so hilflos zu sehen.

„Ich weiß“, gurrte sie zärtlich, als sie seinen ohnehin zerfetzten und blutverkrusteten Mantel und das darunter liegende Hemd mit einem Messer zerschnitt und von seiner eisigen Haut pflückte, „dass du es nicht magst, von einer Frau berührt zu werden, aber diesmal wirst du nicht drum herum kommen.“

Sie lachte heiser. Bejran schloss die Augen. Er fühlte sich mehr tot als lebendig und das einzige Gefühl von Leben war der Schmerz in seinen Gliedern. Sein Fleisch fühlte sich an, wie von tausend Nadeln gestochen!

„Lass ihn in Ruhe“, ging Vargan dazwischen. „Er hat genug durchgemacht. Sieh nach, wie weit das Wasser ist.“

Die Alte entfernte sich und Vargan beugte sich über Bejran, um ihn zu untersuchen.

„Der Arm sieht nicht gut aus“, sagte er, „aber sonst hast du Glück gehabt.“

Ohne Vorwarnung goss der Heiler den Inhalt einer Flasche über die Wunde. Bejran schrie auf. Scharfer Alkoholgeruch stieg ihm in die Nase. Vargan drückte Bejran zurück auf die Matratze.

„Ist ja gut“, sagte er beruhigend. „Hast es gleich geschafft.“

Der Heiler drückte eine Kompresse auf die Verletzung. Dann wickelte er rasch einen Verband um den Arm. Der Schmerz pulsierte immer noch in der Wunde, wurde aber allmählich schwächer. Auch die schwarzen Punkte, die vor Bejrans Augen tanzten, verschwanden einer nach dem anderen und gaben den Blick auf das Gesicht des Heilers wieder frei.

„Geht es?“, fragte Vargan fürsorglich und Bejran nickte schwach. „Komm, ich helfe dir auf. Ich habe dir ein Bad bereiten lassen. Danach kannst du schlafen und morgen, wenn es dir besser geht, werden wir reden.“

Der Alte half Bejran, vom Bett aufzustehen und führte ihn langsam in das angrenzende Badezimmer. Bejran zitterten die Knie. Er war immer noch nicht in der Lage auch nur einen klaren Gedanken zu fassen und ließ einfach alles über sich ergehen. Dampf stieg von einem flachen Holzzuber auf und ein kräftiger, aber angenehmer Kräutergeruch erfüllte den Raum. Vargan half Bejran, in den Zuber zu steigen und wies ihn an, den verletzten Arm über den Rand hängen zu lassen. Der erste Augenblick im warmen Wasser war die Hölle. Bejrans Haut brannte wie Feuer und wäre er nicht so geschwächt gewesen, hätte er sich gegen das Baden gewehrt. So kniff er nur wimmernd die Augen zu und hoffte, dass es bald vorüber war. Nach und nach kippte Vargan heißen Kräutersud in das Badewasser und Bejran spürte, wie die Wärme prickelnd in seinen Körper zurückkehrte und der Schmerz allmählich nachließ. Seine Augenlider flackerten und er musste sich zwingen, wach zu bleiben. Er hatte keine Ahnung, wie lange man ihn im warmen Wasser liegen ließ. Es war nicht wichtig. Halb wach und halb schlafend lag er da. Seine Gedanken glichen den Dampfschwaden, die von dem Wasser aufstiegen. Flüchtig und nicht zu greifen. Als Vargan und zwei Frauen ihm aus dem Zuber hinaus halfen, war er zwar immer noch müde, doch er fühlte sich wenigstens wieder wie ein Mensch. Ohne ein Wort zu sagen, ließ er sich nach dem Bad von Vargan abtrocknen und wie ein Kind zu Bett bringen, wo er auf der Stelle einschlief.

3

Bejran verbrachte die ganze Nacht in Vargans Haus. Der Heiler hatte ihm sein Bett überlassen. Doch Bejran schlief unruhig. Wirre Träume und Schmerzen weckten ihn ein ums andere Mal. Als Vargan ihm am Morgen Tee und Hafergrütze brachte, war er sich nicht einmal sicher, ob er wirklich wach war oder immer noch träumte. Er starrte in seinen Tee und versuchte verzweifelt, die Traumbilder abzuschütteln, aber es wollte ihm nicht gelingen. Wald und Schnee, Krähe und Wolf – und jede Menge Blut. Die Bilder gingen ihm einfach nicht aus dem Kopf. Immer wieder zogen sie ihn zurück in seine düstere Traumwelt. Die Stimme des Heilers ließ ihn zusammenfahren: „Was ist da gestern geschehen, Bejran?“

Bejran schaute unsicher zu dem Heiler auf und leckte sich nervös die Lippen. Dann schüttelte er langsam den Kopf. Die Antwort war eigentlich ganz einfach, doch zur gleichen Zeit war sie es nicht. Daher beschloss Bejran, mit dem anzufangen, was er tatsächlich wusste: „Ein Wolf hat uns angegriffen. Er lauerte uns auf und stürzte sich auf meine Mutter, als sie fliehen wollte.“

Es war unangenehm, die Worte auszusprechen. Als würde es dadurch erst zur Wirklichkeit.

„Dich hat er auch angegriffen, mein Junge“, erinnerte Vargan ihn sanft. Der Heiler lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte nachdenklich eine Hand ans Kinn.