Der Kreidestrich - Peter Eckmann - E-Book

Der Kreidestrich E-Book

Peter Eckmann

4,8

Beschreibung

Der Roman beginnt 1963 in Neuhaus, es gibt einen Abstecher zur Reeperbahn und endet 1965 in Oberndorf, die Zementfabrik Portland Cement läuft mit voller Leistung. Eine junge Prostituierte flüchtet von St. Pauli zurück in ihre Heimat an der Oste. Schergen ihres Zuhälters sind hinter ihr her und trachten ihr nach dem Leben. Sie versteckt sich bei einer Verwandten und findet Arbeit bei der Portland Cement. Doch so leicht lassen sich ihre Verfolger nicht abschütteln: Ein Toter ruft die Polizei auf den Plan, und die junge Frau fürchtet, dass nun ihre Vergangenheit ans Licht kommen könnte ... Ein Krimi in der beschaulichen Umgebung des Niederelbe-Dreiecks, in dem flaches Land und Todesangst aufeinandertreffen. Der Roman spielt in den Jahren 1963-1965. Es beginnt in Neuhaus, einem beschaulichen Örtchen an der Oste. Hier arbeitet die junge Verkäuferin Gabriele Husemann in dem Krämerladen ihrer Mutter. Eines Tages ankert in dem kleinen Hafen ein Franzose, um seine Vorräte zu ergänzen. Er ist der Inhaber eines Erotik-Theaters an der Reeperbahn, und findet Gefallen an dem hübschen Mädchen. Er überredet sie, in seinem neu eröffneten Lokal als Kellnerin zu arbeiten. Wenig später fährt die junge Frau nach Hamburg und tritt ihre Stelle als Bedienung in dem zweifelhaften Lokal an. Es bleibt nicht bei der reinen Bedienung, sie tritt gelegentlich als Stripperin auf, wird zur Prostitution gezwungen und landet auf dem Straßenstrich am Spielbudenplatz. Sie wird Zeuge eines Mordes, flüchtet in ihre Heimat und findet eine trügerische Ruhe bei ihrer Tante in Oberndorf an der Oste. Diese arbeitet in der Zementfabrik in Hemmoor und verschafft ihr dort Arbeit in der Buchhaltung. Die junge Frau findet keine Ruhe in der beschaulichen Idylle. Man trachtet ihr nach dem Leben, um sie als unliebsame Zeugin auszuschalten.

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Zu diesem Buch:

Eine junge Prostituierte flüchtet von St. Pauli zurück in ihre Heimat an der Oste. Schergen ihres Zuhälters sind hinter ihr her und trachten nach ihrem Leben. Sie versteckt sich bei einer Verwandten und findet Arbeit bei der Portland Cement.

Doch so leicht lassen sich ihre Verfolger nicht abschütteln: Ein Toter ruft die Polizei auf den Plan, und die junge Frau fürchtet, dass ihre Vergangenheit ans Licht kommen könnte-

Ein Thriller in der beschaulichen Umgebung des Niederelbe-Dreiecks, wo flaches Land und Todesangst aufeinandertreffen.

Der Roman beginnt 1963 in Neuhaus, es gibt einen Abstecher zur Reeperbahn und endet 1965 in Oberndorf. Das Zementwerk »Portland Cement« ist in Betrieb und gut ausgelastet.

Ich bedanke mich bei meiner Frau, die mein größter Fan und gleichzeitig meine strengste Kritikerin ist, für ihre unermessliche Arbeit am Manuskript und die vielen hilfreichen Diskussionen.

PETER ECKMANN, geboren 1947, lebt im Niederelbe-Dreieck in der Nähe von Cuxhaven.

Ingenieur der Verfahrenstechnik, schreibt unter dem Pseudonym Allan Greyfox Wildwest- und Detektivromane.

Seit Ende 2015 gibt es den ersten Kriminalroman. Er spielt in Manhattan wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Der Held ist Michael Callaghan, der Enkel des Revolverhelden der Wildwest Serie.

Dieses Buch ist der erste Kriminalroman, der in der Heimat des Autors spielt. Man muss nicht bis nach Manhattan reisen, um Verbrechern zu begegnen. Die nahe Großstadt Hamburg wirft ihre dunklen Schatten in das beschauliche Land an der Oste.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die Personen

Sankt Pauli

Oberndorf an der Oste

Ein neuer Anfang

Die Schatten der Vergangenheit

Die Portland Cementfabrik

Der verschwundene Schlosser

Der Ausflug nach Sankt Pauli

Probleme auf dem Kiez

Finale an der Oste

Die Gerichtsverhandlung

Nachwort

Vorwort

Zur besseren Orientierung für den kundigen Leser wurden Ortsnamen korrekt angegeben. Die Namen der Protagonisten sind dagegen frei erfunden. Zufällige Überstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen können jedoch nicht ausgeschlossen werden.

Ich bedanke mich bei Herrn Günter Tiedemann, Herrn Ernst von See und Karin und Hans Stechmann für die geduldige und genaue Beschreibung der historischen Hintergründe.

Herr Günter Tiedemann aus Althemmoor hat mit seiner unendlichen Ausdauer, seinen netten Anekdoten und seiner unglaublichen Kenntnis der alten Zementfabrik in Hemmoor zur hoffentlich korrekten Darstellung des vor fünfunddreißig Jahren abgerissenen Werkes beigetragen.

Die Personen

Gabriele Husemann

Eine junge Frau aus Neuhaus, die in Sankt Pauli versackt.

Gerhard Oppermann

Der Zuhälter von Gabriele Husemann

Jules Bertoli

Betreiber eines Erotik Theaters

Emma Husemann

Die Mutter von Gabriele Husemann und Krämersfrau in Neuhaus

Thekla von Borstel

Die Schwester von Emma Husemann

Jakob „Jacko" Dräger

Der Mann für alle Fälle mit Herz für die Mädchen

Josef„ Joe" Kastrup

Ein finsterer Geselle vom Kiez

Werner Hansen, Jürgen Krüsmann

Zwei Kriminalbeamte

Karl „ Charly" Schlöbohm

Eine undurchsichtige Figur

Sankt Pauli

Der Freier kleidet sich an, die Prostituierte steht derweil vorm Waschbecken und wäscht sich den Schoß. Das Zimmer ist klein und ordentlich. Wenn sie schon diese erniedrigende Tätigkeit ausüben muss, dann soll wenigstens ihr kleines Reich aufgeräumt und gemütlich sein.

„Zwanzig Mark, so wie beim letzten Mal?", sie hört Geldscheine rascheln.

„Das ist okay, vielen Dank."

Ich lege noch einen Zehner drauf, für deine Mühe!", er grinst sie anzüglich an.

Sie hasst diese Bemerkungen, kann er nicht einfach ohne einen dummen Spruch verschwinden? Aber der Schein extra ist gut, den wird sie in ihr Versteck legen.

Die junge Frau heißt Gabriele Husemann, sie wird von ihren Freunden und Kolleginnen Gabi genannt. Sie ist schlank, viele kleine Sommersprossen sind um ein hübsches Näschen verteilt. Ihre rote Mähne ist kaum zu bändigen und reicht ihr bis auf die Schultern. Der Mann, er ist etwa vierzig, war schon ein paar Mal bei ihr, jetzt hat er ihr Zimmer verlassen, sie hört die Schritte auf der Treppe. Sie nimmt den Zehner, den er ihr spendiert hat, schiebt das Nachtschränkchen von der Wand und steckt ihn zu den anderen Scheinen in den Umschlag, den sie mit einer Heftzwecke an der Rückwand befestigt hat. Hoffentlich findet Gerd das Geld nicht, dann würde sie sich sicher Schläge einhandeln. Das Geld des Freiers steckt sie in ein Zigarrenkistchen, das im Nachtschränkchen steht. Am Abend wird Gerd, er heißt mit vollem Namen Gerhard Oppermann, kommen und das Geld kassieren.

Der Freier eben war heute bereits der dritte. Ihre »Arbeitszeit« beginnt am Nachmittag und dauert bis in die Nacht, denn dann ist am meisten los. Seit ein paar Tagen läuft das Geschäft wieder gut, der Regen hat aufgehört, dass macht sich sofort bemerkbar. Sie ist außerdem hübscher als ihre Kolleginnen und von allen die Jüngste, das kommt bei den Freiern gut an.

Sie hockt auf dem Bett und hakt die schwarzen Nylons wieder am Strumpfhaltergürtel fest. Wie ist sie nur hier reingeraten? Diese Frage stellt sie sich jeden Tag aufs Neue. Vor zwei Jahren hat sie noch im Krämer- und Kolonialwarenladen ihrer Mutter an der Deichstraße in Neuhaus, einem kleinen Ort an der Oste, gearbeitet. Es war dort ruhig, fast zu ruhig. Die wenigen Kunden genügen kaum, um den kleinen Laden wirtschaftlich zu betreiben. Der Krämerladen ist sehr klein — »Kolonialwaren« - steht protzig über dem kleinen Schaufenster, gerade einmal drei Personen finden vor der in die Jahre gekommenen Theke Platz. Dafür ist der Laden dicht am Hafen, ab und zu verirrt sich ein Schiffer zu ihnen.

Eines Tages kam so ein Skipper, er hatte ein kleines Motorschiff im Hafen festgemacht, um in dem Laden von Emma Husemann Proviant aufzufüllen. Er hieß Jules Bertoli, sah verdammt gut aus und sah dem jungen Mädchen direkt in ihre grünen Augen.

. . . . . . .

„Bonjour, schöne Frau!" Der Mann mit dem interessanten französischen Dialekt mustert die junge Verkäuferin ungeniert und lässt seine Blicke über die hübsche Figur gleiten.

„Soll ich vielleicht meine Mutter holen? Sie ist hinten im Lager."

„Danke, nicht nötig, du bist mir viel lieber." Er lächelt der jungen Frau zu und legt ihr eine Liste mit Lebensmitteln auf den Ladentisch. Sie nimmt den Zettel und beeilt sich, die gewünschten Waren zusammenzusuchen. Sie findet einen leeren Karton und stellt alles hinein. Zum Schluss schleppt sie den Kasten Bier heran. „So bitte, wenn Sie das überprüfen mögen, ich zähle es nur kurz zusammen. Was wir nicht haben, sind die Brötchen, die bekommen Sie aber beim Bäcker, er ist nur ein paar Häuser weiter."

Er sieht sie unverwandt an. „Vielen Dank, das hast du sehr gut gemacht."

„Siebzehn Mark und sechsundfünfzig Pfennig", blitzschnell hat sie die Beträge im Kopf addiert.

Er zückt eine Geldbörse und legte ihr zwanzig Mark hin. „Stimmt so, vielen Dank."

Sie nimmt die zwei Scheine und wird rot.

Er bemerkt es und sieht ihr schmunzelnd ins Gesicht. „Wie niedlich!"

Sie hasst das, sie wird bei jeder Gelegenheit rot, das ist ihr sehr peinlich. Der Kunde sieht sie an. „Sag mal, meine Süße, ist es dir hier nicht zu einsam?"

Während die junge Frau über eine passende Antwort nachdenkt, sieht er sich im Laden um. Eine Wand ist mit Regalen bis an die Decke gefüllt, davor steht einsam eine Leiter. „Hm, so richtig nach dickem Geschäft sieht es hier nicht aus."

„Ja, äh...", sie wird unter seinem forschenden Blick immer unsicherer. Ihre Mutter schimpft fast täglich über den schlechten Umsatz. Sie hat es sie schon merken lassen, dass es ihr lieber wäre, wenn sie sich eine andere Arbeit suchen würde. Sie läge ihr immer auf der Tasche, deutet sie mitunter an. Irgendwo hat die Mutter recht, ihre Tochter ist zweiundzwanzig Jahre alt und hat eine Lehre als Verkäuferin hinter sich. Bei einem entfernten Freund ihrer Mutter in Geversdorf absolvierte sie die zweijährige Lehre. Der Bekannte hätte sie gerne behalten, sie wollte aber nicht länger bleiben, er wurde immer wieder zudringlich und sie konnte ihn sich an manchen Tagen kaum vom Leib halten. Ihrer Mutter hatte sie von den Übergriffen nichts gesagt, sie hätte ihr wahrscheinlich nicht geglaubt.

„Arbeite doch bei mir!", reißt sie der Kunde aus ihren Gedanken.

„Bei Ihnen?"

„Ja, warum nicht? Ich eröffne in den nächsten Tagen eine Gaststätte in Hamburg und kann noch eine hübsche Bedienung gebrauchen." Er reicht ihr seine Hand. „Übrigens, ich heiße Jules Bertoli."

Seine Hand ist gepflegt, sie bemerkt einen schweren, goldenen Ring. „Wie sieht es aus, hast du Interesse?"

„Schon...", sie zögert. „Wie viel würde ich denn bei Ihnen verdienen?"

„Das klingt doch schon sehr interessiert! Du erhältst einhundert Mark in der Woche, die Trinkgelder kannst du behalten, das ist unterschiedlich viel. Bei manchen Serviererinnen können noch zwanzig Mark am Abend dazu kommen."

Zwanzig Mark! Nur Trinkgeld! Das ist ja Wahnsinn, denkt sie. Hier bei ihrer Mutter bekommt sie kein richtiges Gehalt. Nur bei Gelegenheit etwas auf die Hand, damit sie sich mal ein paar Schuhe oder etwas Kleidung kaufen kann. „Bin ich denn überhaupt für ihre Arbeit geeignet?"

„Du kannst gut im Kopf rechnen und siehst gut aus, das ist mehr als genug."

„Gut, ich werde mich mit meiner Mutter beraten."

„Sehr schön. Melde dich bei mir, wenn du es versuchen möchtest. Du kannst auch jederzeit wieder hierher zurückkehren, das ist kein Problem. Ich gebe dir meine Karte, damit kannst du mich erreichen."

Er legt ihr eine Visitenkarte hin, schwarz mit silbernem Aufdruck. »Jules Bertoli, Geschäftsführer Salambo, Große Freiheit 11«, ist dort gedruckt.

Der galante Franzose lässt das junge Mädchen nachdenklich zurück. Spät am Abend spricht sie mit ihrer Mutter darüber. „Was hältst du davon, wenn ich in Hamburg arbeiten würde?"

„In Hamburg? Wie kommst du denn darauf?"

Gabriele Husemann berichtet ihr von dem charmanten Besuch. „Ich kann dort einhundert Mark in der Woche verdienen, plus Trinkgeld!"

Ihre Mutter staunt. „Das ist allerdings sehr viel Geld, das kann ich dir hier niemals bieten." Sie macht eine Pause. „Das ist so viel, dass du mir davon sogar etwas abgeben könntest. Ich bin froh, wenn du anderswo dein Auskommen finden würdest, mein kleiner Laden wirft nicht genug für uns beide ab."

Das junge Mädchen nickt, sie hat sich gedacht, dass ihre Mutter so reagieren würde. „Ja, davon kann ich sicher was abzweigen." Sie reicht ihrer Mutter die Visitenkarte von dem freundlichen Besucher.

Die wirft einen Blick darauf. „Große Freiheit? Das ist doch an der Reeperbahn!" Sie dreht die Karte hin und her. „Was genau sollst du denn dort machen?"

„Ich soll bedienen, hat mir der Mann erklärt. Er eröffnet demnächst ein neues Lokal, und er braucht Mädchen, die dort Getränke servieren."

Ihre Mutter sieht skeptisch auf die Karte und gibt sie ihrer Tochter zurück. „Na gut, du bist alt genug, du musst wissen, was du tust. Versprich mir bitte, dass du immer auf dich achtgeben wirst."

Vier Wochen später sitzt Gabriele Husemann im Zug nach Hamburg. Sie hat nur wenige Tage nach dem Gespräch mit ihrer Mutter mit dem Salambo telefoniert. Den netten Herrn Bertoli hatte sie nicht am Telefon, sondern jemanden, der sich als der zuständige Personalchef ausgab.

„So, Herr Bertoli hat Sie direkt angesprochen? Neuhaus? Wo ist das denn? Gut, das ist auch egal. Wenn der Chef Ihnen das zugesagt hat, dann wird es seine Richtigkeit haben."

Er hatte ihr noch beschrieben, wie sie zu der Großen Freiheit kommen kann. „Das ist einfach, sonst fragen Sie die Hamburger, die kennen es alle. Kommen Sie nicht zu früh, vor 14 Uhr ist niemand hier."

Hamburg-Harburg hat sie hinter sich, nun fährt sie in der Regionalbahn zum Hamburger Hauptbahnhof. Sie sitzt auf einer der Bänke und sieht hinaus. Vor einem Jahr ist sie einmal in Hamburg gewesen, ihre Tante Thekla hatte sie mitgenommen. „Die Kleine ist jetzt alt genug, sie muss mal eine richtige Stadt kennenlernen!" Einen ganzen Tag war sie ihrer Tante gefolgt, die Mönckebergstraße runter, am Jungfernstieg entlang und später die Spitalerstraße wieder zurück. Sie war schlicht erschlagen von den vielen Autos und dem Gewimmel der Menschen.

Ihre Tante hatte bis zum Tode ihres Mannes in Hamburg gewohnt und kennt sich dort gut aus. Im Jahr 1944 starb ihr Mann, Gabis Onkel Ferdinand, im Russlandfeldzug. Noch im letzten Kriegsjahr kehrte ihre Tante in ihre Heimat an der Oste zurück und fand bald Arbeit in der großen Zementfabrik in Hemmoor.

Hauptbahnhof! Hier muss sie wieder umsteigen. Sie hatte ihre Tante noch aufgesucht und mit ihr die Fahrt nach Hamburg besprochen. Ihre Tante hatte, wie ihre Mutter schon, sie um Vorsicht gebeten.

»S-Bahn nach Blankenese« ist der nächste Punkt auf ihrem Zettel. Laut hallen die Lautsprecherdurchsagen durch die riesige Halle. Auf Gleis 9 wartet der Dampfzug aus der DDR auf die Freigabe der Weiterfahrt nach Altona. Leise zischend strömt Dampf aus dem rechteckigen Schornstein der Schnellzuglokomotive und entweicht über die Lüftungsöffnungen des gewaltigen Daches nach draußen.

Sie sucht die beleuchteten Anzeigen ab. Da steht es, »Blankenese, Gleis 3«. Treppe rauf und wieder runter, dann steht sie mit Herzklopfen auf dem zugigen Bahnsteig. Nach wenigen Minuten fährt der dunkelblaue Zug der Deutschen Bahn ein, er schiebt einen kalten Strom Luft vor sich her. Sie nimmt die Tasche mit ihren Habseligkeiten und steigt ein. Nun fährt sie in einer quietschenden S-Bahn, die sich mit laut summenden Motoren und einer unbegreiflichen Geschwindigkeit ihren Weg durch das Labyrinth der Gleise bahnt. Sie sitzt auf einer der Holzbänke und sieht hinaus.

Am Bahnhof Altona ist erst einmal Schluss mit der Schnellbahn, das letzte Stück muss sie mit der Straßenbahn fahren. Die roten Bahnen mit der cremefarbenen Bauchbinde haben ihre Haltestelle vor dem Bahnhof, sie studiert eine Weile die Aushänge.

„Kann ich Ihnen helfen?", hört sie eine Stimme hinter sich.

Ein Mann steht hinter ihr, vielleicht fünfzig Jahre alt, mit einem hellbraunen Popeline-Mantel und einem schwarzen Hut. Er sieht die junge Frau freundlich an.

„Ich suche die Straßenbahn, die zur Großen Freiheit fährt."

Der Herr mustert sie einen Moment nachdenklich, dann zeigt er zur Haltestelle hinter ihr. „Dort, die Linie 6, die bringt Sie dorthin."

Die junge Frau schenkt ihm ein schüchternes Lächeln. „Vielen Dank", haucht sie kaum hörbar. Sie steigt ein, löst bei dem Schaffner eine Karte für fünfundzwanzig Pfennig, und setzt sich auf einen harten Sitz. Laut quietschend fährt die Bahn in den Kurven am Rathaus Altona. Sie hat ihre Tasche auf dem Schoß und hält sie fest. Heute und in den nächsten Tagen wird es sich erweisen, ob ihre Entscheidung richtig war. Ihr Herz klopft schneller als sonst, alles um sie herum ist so ungewohnt, es ist laut und hektisch. Sie hat sich erklären lassen, wo sie aussteigen muss. Auf der linken Straßenseite soll ein neues Kaufhaus zu sehen sein. C&A heißt es. Jetzt! Es ist gleich soweit, sie ergreift ihre Tasche und steigt aus. Vor ihr führt eine breite Straße mit Kopfsteinpflaster entlang, es ist die Reeperbahn, unübersehbar viele Autos fahren hier vorbei, die Reifen erzeugen einen Lärm wie die Brandung am Meer, übertönt von gelegentlichem Hupen. Sie muss hier die Fahrbahn kreuzen, auf der anderen Seite sieht sie schon eine große Reklametafel, die quer über dem Eingang der Straße befestigt ist. »Große Freiheit« steht in großen Buchstaben darauf. Dahinter hängen noch andere Schilder, die die schmale Gasse überspannen. »Tabu« und »Safari» kann sie erkennen. Die Straße ist mit Kopfsteinpflaster versehen, ein Lokal schmiegt sich an das andere. Es sind noch nicht viele Besucher unterwegs, es ist jetzt drei Uhr am Nachmittag. Etwas irritiert sieht sie in die Schaukästen, die an fast jedem Lokal neben der Tür hängen. Bilder von leicht bis gar nicht bekleideten Frauen sind dort ausgestellt. Einzelne Männer kommen ihr entgegen und sehen ihr neugierig hinterher, mitten am Tag sieht man hier selten junge Frauen.

Das Haus mit der Nummer 11 ist auf jeden Fall schon mal richtig. Auf dem Schild über der Tür steht »Salambo, Erotik Theater«. Erotik!? Was ist das denn jetzt? Sie hat einen Vertrag in ihrer Tasche, dort ist nur von einer Tätigkeit als Kellnerin die Rede. Sie wird diesen Punkt gleich als erstes ansprechen.

Die Tür ist unverschlossen, vorsichtig drückt sie den Griff hinunter und tritt ein. Schaler Geruch nach abgestandenem Bier und kaltem Rauch schlägt ihr entgegen. Es ist fast dunkel, am Ende des Flures brennt ein kleines, rotes Licht über einer Tür. Sie klopft. Sie klopft noch einmal. Als sich nach dem dritten Klopfen niemand meldet, öffnet sie vorsichtig und tritt ein. Der Raum ist groß, größer als die schmale Frontseite an der Straße sie hatte vermuten lassen. An der Decke leuchtet ein helles, kaltes Licht und wirft einen gespenstischen Schein in den Raum. Harte Schatten lassen die Tische und Stühle wie auf einem Scherenschnitt aussehen. Etwa zwanzig Tische stehen vor einer ungefähr einen Meter hohen Bühne, der Vorhang ist zugezogen.

„Wen suchen Sie?" Hinter ihr steht jemand, erschrocken dreht sie sich um. Es ist ein Mann, etwa Ende vierzig, er hat blonde, kurze Haare, eine Zigarette klebt im Mundwinkel.

„Ich, äh, ich möchte zu Herrn Bertoli, mein Name ist Gabriele Husemann."

Der Mann mustert sie aufmerksam von oben bis unten. Warum wird sie hier von jedem, dem sie begegnet, angesehen, als wäre sie eine Ware?

„Der Chef ist im Büro, folge mir."

Im Büro von Jules Bertoli ist jeder Winkel mit Möbeln und Regalen vollgestopft. Auf einem niedrigen Schrank an der Wand stehen Aktenordner, in einer Ecke befindet sich ein schmales Sofa mit einem dreibeinigen Tischchen und einem Stuhl davor. Jules Bertoli telefoniert gerade, sein Schreibtisch ist aus dunkelbraunem, schwerem Holz, ebenfalls überladen mit Stapeln von Akten und zahllosen Zetteln. An der Wand hinter ihm ist das Gemälde eines Paares in einer fragwürdigen Position.

Jetzt legt der Herr über das Salambo den Hörer auf. „Oh, unsere Mademoiselle vom Lande! C'est magnifique! Schön, dass du da bist." Er wendet sich an den Mann, der sie hereingeführt hat. „In Ordnung, Jacko, ich brauche dich nicht mehr." Er wendet sich wieder an seinen Besuch. „Nimm doch auf dem Sofa Platz. Wie war die Fahrt?"

Gabriele Husemann setzt sich und sinkt tief in das weiche Leder. Ihr Rock rutscht hoch und sie versucht vergeblich, ihn über die Knie zu ziehen. „Danke, die Fahrt war kein Problem, nur etwas lang." Ihr kommt das »Erotik Theater« in den Sinn. „Was hat das mit dem Schild draußen auf sich, ich bin doch als Kellnerin hier, oder?"

Jules Bertoli erhebt sich hinter seinem Schreibtisch und setzt sich auf den Stuhl ihr gegenüber. Er lächelt sie freundlich an. „Sieh mal, Kindchen, das Salambo ist ein Theater, in dem erotische Vorführungen stattfinden. Ich nehme an, du bist durch den Saal gekommen? Ja? Dort finden Striptease und ähnliche Darbietungen statt. Die Gäste haben nun Gelegenheit, währenddessen zu trinken, und genau darum habe ich dich und noch ein paar Kolleginnen eingestellt. Du hast mit der Erotik überhaupt nichts zu tun, es sei denn, du blickst zufällig zur Bühne."

Er lächelt seine Bedienung freundlich an. „Das macht dir doch nichts, n'est ce pas?"

Sie will jetzt nicht wie eine Landpomeranze wirken, sie schüttelt den Kopf. „Nein, Herr Bertoli."

„Siehst du, wir zwei werden schon miteinander auskommen." Wieder mustert er eindringlich ihr Gesicht. „Wusstest du, dass du faszinierende grüne Augen hast?"

„Äh, ja." Ihre Freunde hatten ihr das auch immer gesagt, ihr war nicht bewusst, dass es so auffällig ist.

„Mal etwas anderes. Hast du schon eine Bleibe für die nächsten Tage?"

„Nein, bis jetzt noch nicht. Ich hatte angenommen, dass Sie vielleicht ...."

Jetzt lacht Jules Bertoli das Mädchen aus. „Hast du gedacht, ich lasse dich hängen? Bis wir eine endgültige Unterkunft gefunden haben, kannst du natürlich bei einer Bekannten von mir wohnen. Und noch was. Lass bitte das dumme Sie, ich sage auch nicht »Fräulein Husemann« zu dir. Für dich bin ich Jules, ist das okay?"

„Ja", haucht sie und himmelt ihren künftigen Chef an. Er gefällt ihr, sieht gut aus und scheint sehr weltgewandt. Sein französischer Akzent wirkt geheimnisvoll und erfahren. Jules Bertoli hat schwarze Haare und trägt einen Schnurrbart. Er schmunzelt und fragt sie: „Was hast du eigentlich für Kleidung bei dir?"

„Es ist das, was ich jetzt anhabe, in meiner Tasche habe ich noch verschiedene Unterwäsche, einen Pullover und ein zweites Paar Schuhe."

Jules Bertoli lächelt gönnerhaft. „Kindchen, wir sind hier nicht bei der Heilsarmee. Wende dich an Jacko, er kann dir etwas besorgen, was deine hübsche Figur betont. Was meinst du, wie sich das auf die Trinkgelder auswirkt!" Er lacht über ihr erschrockenes Gesicht. „Kopf hoch, Kleines, ich will doch nur dein Bestes! Für die neue Kleidung bekommst du jetzt schon mal einen Vorschuss." Jules Bertoli steht auf und geht an seinen Schreibtisch. Er fischt aus einer der großen Schubladen eine Kassette hervor und entnimmt ihr einhundert Mark. „Hier bitte, das kannst du Jacko geben. Wenn du dir noch mehr kaufen möchtest, sag Bescheid, Geld ist kein Problem. Jacko bringt dich jetzt zu Susanne, bei ihr kannst du vorläufig schlafen. Ab morgen um achtzehn Uhr geht es los, deine Arbeit geht bis um zwei Uhr am Morgen. Alles klar?" Er lächelt sie aufmunternd an. „Das ist jetzt ein bisschen viel, nicht wahr? Nach einer Woche meinst du, du hättest nie etwas anderes gemacht." Er tritt an die Tür, öffnet sie und ruft: „Jacko!"

Wie eine Katze huscht Jacko herein. Er sieht erst zu seinem Chef, dann zu dem jungen Mädchen.

„Jacko, darf ich dir unsere neue Bedienung vorstellen? Sie heißt Gabi. Bring sie bitte in die Wohnung von Susi, morgen kannst du mit ihr einkaufen gehen. Du weißt ja, was unsere Mädchen brauchen." Er setzt sich hinter den großen Schreibtisch. „Jetzt lasst mich arbeiten, ich muss mich noch um ein paar Darsteller für meine nächste Show kümmern."

Jacko ist ein schmächtiger Mann, etwa Ende vierzig, er geht gebeugt, sein Gesicht ist grau und eingefallen, wie bei jemandem, der schon sein Leben lang Magenschmerzen hat. Er reicht Gabi eine feingliedrige Hand. „Es freut mich, dich kennenzulernen, Gabi. Nenn mich Jacko, wie alle hier." Er mustert sie wieder abschätzend. „Also, das hat der Chef drauf, seine Mädchen sind alle erste Sahne! Und nun komm mit."

Auf der Straße gehen sie ein kurzes Stück, dann führt Jacko das junge Mädchen in ein Haus. Der Flur ist kühl und dunkel. Die hölzernen Stufen sind abgewetzt und knarren bei jedem Schritt. Es riecht nach Bohnerwachs und Rauch aus Kohleöfen. Zwei Treppen höher zieht er einen Schlüssel aus der Tasche und öffnet die Tür. „Susi? Bist du da?", ruft er. Keine Reaktion. „Na gut, ich zeige dir schon mal dein Zimmer."

»Zimmer« ist übertrieben, es ist ein kleiner Raum, vielleicht zwei mal drei Meter, mit einem Fenster zum Hof. Ein Bett und eine kleine Kommode ist das einzige Inventar, für mehr wäre auch kein Platz.

„So, das wär's, das ist dein Zuhause, bis wir etwas anderes gefunden haben."

Sie stellt ihre Tasche auf das Bett und sieht sich prüfend um. Der Raum ist noch ein wenig kleiner, als ihr altes Zimmer auf dem Dachboden in der Deichstraße in Neuhaus, für eine kurze Zeit mag es gehen.

Die Tür klappt, es kommt jemand in die Wohnung, Stimmen sind zu hören, Gelächter. Jacko geht für einen Moment hinaus und spricht mit jemandem. Von nebenan dringt seine Stimme in das kleine Zimmer. „Hallo Susi, komm mal kurz her, ich will dir jemand vorstellen."

„Muss das sein?", ertönt die Stimme eines Mannes. „Ich habe Susi schon bezahlt."

„Nur einen Moment, sie kommt gleich zurück." Jackos Stimme ist freundlich, aber bestimmt.

Eine Frau in mittleren Jahren kommt in Gabis Zimmer. Sie ist vollschlank, trägt einen kurzen, schwarzen Rock und ein Oberteil mit einem abenteuerlich tiefen Ausschnitt. „Hallo, ich bin Susi", ihre Stimme klingt nach zu viel Schnaps und zu vielen Zigaretten. „Wer bist du denn?"

„Das ist eine von Jules neuen Serviererinnen, sie heißt Gabi", antwortet Jacko für sie. „Sei nett zu ihr, sie ist ganz neu in Hamburg und kommt vom Land." Für einen Moment kommt es Gabi so vor, als hätte Jacko einen verständnisvollen Blick mit der Frau gewechselt.

„Nett, dich kennenzulernen", krächzt die Nutte heiser. „Wir können uns nachher noch unterhalten, jetzt habe ich zu tun." Sie dreht sich um und lässt eine Wolke billigen Parfüms zurück.

Jacko sieht seinem Schützling in die grünen Augen. „Ich lasse dich jetzt allein. Morgen zwischen neun und zehn hole ich dich ab." Er verlässt das Zimmer und Gabi hört die Wohnungstür zufallen.

Das junge Mädchen sitzt auf dem Bett und lässt ihre Gedanken schweifen. Sie ist sich nicht sicher, ob sie den richtigen Weg eingeschlagen hat oder ob die rasche Entscheidung ein Fehler war. Die neue Umgebung ist nicht nur fremd, sie ist abstoßend, andererseits fühlt sie sich davon angezogen. So wie ein Voyeur sich scheut, jemanden zu beobachten, letztlich aber nicht die Augen abwenden kann.

Aus dem Zimmer nebenan dringen Geräusche, ein Mann und eine Frau beim Liebesakt, Bettfedern quietschen, ein Bett poltert rhythmisch gegen die Wand, dann ist wieder Ruhe. Zehn Minuten später klappt die Wohnungstür.

Die junge Frau seufzt bekümmert. Ich bin hier mitten im Puff, denkt sie. Sie steht auf und sieht in die Kommode. Sie ist leer, die Böden der Schubladen sind mit Zeitungen ausgelegt. Sie öffnet ihre Tasche und legt ihre Habseligkeiten in das oberste Schubfach. Es sind mehrere Garnituren Unterwäsche zum Wechseln, eine zweite Bluse und ein weiterer Rock. Ein Pullover, ein paar Schuhe, ihr Beutel mit den Waschutensilien, das war's. Jemand klopft an die Tür.

„Herein!", ruft sie etwas unsicher, noch hat sie das Zimmer nicht als das ihre akzeptiert.

Ihre Zimmerwirtin kommt herein. Sie hat offenbar geduscht, nun hat sie einen rosa Bademantel um ihre Rubensfigur geschlungen. Sie setzt sich auf das Bett und fischt eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche ihres Flauschmantels. „Möchtest du auch eine?", bietet sie ihrer jungen Untermieterin eine an.

„Danke nein." Gabriele Husemann schüttelt den Kopf. „Ich habe bisher nicht geraucht und möchte nicht damit anfangen."

„Gut, wie du möchtest. Wenn du erst Stunden auf der Straße stehst und auf die Freier wartest, wirst du dich nach einer Kippe sehnen." Sie mustert das junge Mädchen nachdenklich. „Ich habe gehört, du sollst bei Jules im neu eröffneten Salambo bedienen?"

„Ja, so steht es in meinem Vertrag."

Susi streift die Asche in einem schmutzigen, gläsernen Aschenbecher ab, der auf der Kommode steht. „Was im Vertrag steht, hat hier keine Bedeutung. Bei mir steht »Verkäuferin«. Dass ich nicht lache! Was verkaufe ich denn schon! Ich erhalte mehr eine Art Leihgebühr, die sich mein Zuhälter bei mir abholt."

„Und du? Bekommst du nichts?", möchte Gabi wissen.

„Ein bisschen, aber das meiste behält er."

„Kannst du denn gar nichts dagegen machen?"

Susi verdreht ihre Augen. „Hast du eine Ahnung! Wenn du erst einmal drin steckst, gibt es kein Zurück mehr. Es ist wie bei den Galeerensträflingen, nur werden wir mitunter von der Kette gelassen." Sie erhebt sich und drückt ihre Zigarette aus. „Hast du schon gegessen? Ich wollte runter zu Roxa."

Gabriele Husemann schüttelt den Kopf. Mit einem Mal merkt sie, wie hungrig sie ist, sie hat heute Morgen zuletzt etwas gegessen. Sie zieht sich ihre Jacke über, Susi kleidet sich im Nebenzimmer an. Dann kommt sie wieder hervor, ihre üppige Figur ist in eine lange Hose und eine dunkelrote Jacke gezwängt. Sie bemerkt Gabis staunenden Blick. „Ich kann auch anders, das ist meine Kleidung, wenn ich nicht arbeite." Sie lacht verächtlich. „Lass dich bloß nie auf so was ein, meine Kleine."

»Roxa« ist ein Imbiss direkt an der Reeperbahn, laut dringt der Verkehrslärm zu ihnen herein. Man isst im Stehen Bratwurst oder Hamburger, mit Brot oder Pommes Frites. „Gut ist anders", Susi sieht von ihrem Essen auf. „Dafür geht es schnell und kostet nicht viel. Ich muss gleich wieder auf die Straße, wenn mich Günther hier essen sieht, gibt es ohnehin wieder Ärger. Ich höre ihn schon: »Dick genug bist du schon, arbeite lieber, das bekommt deiner Figur auch besser«." Sie bemerkt den erschrockenen Blick von Gabi. „Es gibt auch Nette hier, mach dir keine Sorgen!"

Gabi nimmt sich nicht zum ersten Mal vor, sich nicht in diesen Sumpf hineinziehen zu lassen. Sie wird sich schon durchbeißen. Sie nimmt sich fest vor, ihrer Mutter Geld zu schicken, sie muss nicht merken, in welcher Umgebung sie sich ihren Lohn verdient.

Am Abend liegt sie noch eine Weile in ihrem Bett, bevor sie einschläft. Das dreiste Verhalten der Männer ihr gegenüber beschäftigt sie eine Weile. Am normalsten ist noch Susi, sie kommt ihr beinahe vor, wie eine mütterliche Freundin. Jetzt hat sie wieder Besuch, das Bett im Nebenzimmer stöhnt unter der Belastung.

Ihr fallen ihre bisherigen Beziehungen zu Männern ein. Es gab schon ein paar, sie hatte nach anfänglichen Hemmungen Gefallen daran gefunden. Aber für Geld? Auf Bestellung? Dann ist der ganze Spaß wohl zum Teufel.

Als Gabriele am nächsten Morgen um halb neun aufsteht, schläft Susi noch. Die Geräusche aus ihrem Zimmer dauerten bis tief in die Nacht, Gabi ist darüber eingeschlafen. Sie hat sich gerade angezogen, da hört sie einen Schlüssel im Schloss. Es ist Jacko, seine traurigen Augen blicken genauso teilnahmslos, wie gestern schon. „Alles klar, Süße?"

Sie nickt, nimmt ihre Geldbörse mit dem Vorschuss und folgt Jacko auf die Straße.

„Wir haben hier einen Laden, wo wir Kleidung für unsere Mädchen kaufen. Das ist nicht billig, dafür ist die Qualität gut und er führt das, was wir brauchen."

Am Spielbudenplatz betritt er ein Ausstattungsgeschäft. Der Besitzer kennt ihn offenbar. „Hallo Jacko. Bringst du mir wieder eine neue Maus?"

Die »Maus« zieht ihre Augenbrauen zusammen und sieht ihn missbilligend an.

„Ist ja gut!", der Verkäufer hebt abwehrend seine Hände. „Ich wollte nur witzig sein."

Jacko erklärt, warum er hier ist. „Meine junge Begleiterin soll ab heute als Kellnerin im Salambo arbeiten. Sie braucht ein ähnliches Zeug, wie ihre Kolleginnen."

„Das haben wir gleich." Der Verkäufer mustert seine Kundin mit sachkundigem Blick. „Kleidergröße 38, ist das richtig?"

„Ja."

„Gut, ich bin gleich wieder zurück."

Gabi sieht sich die Auslagen an, derweil steht Jacko mit verschränkten Armen in der Mitte des Ladens. Die Kleidung, die hier ausgestellt ist, ist fast normal, die Röcke sind kürzer als in anderen Geschäften, sie sieht auch Strumpfhosen in Netz-Ausführung.

Der Verkäufer ist wieder zurück, er hat zwei schwarze Faltenröcke und ein rotes, langes Kleid dabei. „Probieren Sie das gerne schon mal an, ich hole noch ein paar Blusen."

Sie geht in die Umkleidekabine, zieht den Vorhang zu und probiert die Sachen an. Die Röcke passen, sie sind jedoch kürzer, als alles, was sie besitzt. Sie enden eine Handbreit über dem Knie, trotz Ziehens werden sie nicht länger. Das rote Kleid passt sehr gut, es könnte ihr gefallen, wenn es nicht an einer Seite einen Schlitz bis herauf zur Hüfte hätte. Jacko meldet sich. „Alles in Ordnung, Kleine?"

Wieso benennt er sie immer mit vertraulichen Kosenamen? Anscheinend ist das auf der Reeperbahn normal. Sie antwortet ihm: „Die Größe ist richtig, die Röcke finde ich zu kurz und den Schlitz im Kleid zu lang." Der Vorhang bewegt sich etwas zur Seite, sie spürt seine Blicke auf sich gerichtet. Für einen Moment ist sie versucht, ihn zurechtzuweisen.

„Das sieht sehr gut aus! Glaub mir, ich habe schon viele Mädchen gesehen, du kannst deine Beine gut vorzeigen." Der Vorhang schließt sich wieder. „Du wirst es noch merken, je mehr Bein du zeigst, desto reichlicher werden die Trinkgelder fließen."

Hm, sie weiß nicht, ob sie das gut finden soll. Ob sie sich daran gewöhnen wird? Die Blusen, die es dazu gibt, sind normal. Einfach geschnitten, mit halbem Arm.

Für die Kleidung geht ihr gesamter Vorschuss drauf, Jacko legt sogar noch ein paar Mark drauf. „Mach dir keine Sorgen, das Geld hast du schnell wieder drin."

Im Salambo gibt es einen Umkleideraum, dort bekommt sie einen Schrank zugewiesen. Schnell ist die Kleidung eingeräumt, dann ist sie fertig für ihren ersten Arbeitstag.

„Du arbeitest heute mit Herbert hinter der Bar. Er wird dir zeigen, wie man Bier zapft und wo die übrigen Getränke stehen. Dabei kannst du deinen Kolleginnen zusehen, wie sie die Kunden bedienen." Er fügt noch etwas hinzu: „Lass dich nicht von den Dingen auf der Bühne ablenken, wir betreiben schließlich ein erotisches Theater." Jacko ringt seinem traurigen Gesicht ein Lächeln ab, dann verschwindet er.

Gabi geht zwischen den Tischen hindurch auf die Theke zu. Einige Plätze sind besetzt, auf der Bühne ist nichts zu sehen, der Vorhang ist noch geschlossen. Er bewegt sich leicht, irgendetwas passiert dahinter.