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Das Gefühl lässt ihn nicht los, seine Eltern hätten lieber eine zweite Tochter gehabt als ihn, Jonas, den Wirbelwind. Ständig zieht er den Zorn der Eltern auf sich, zupft im Religionsunterricht lieber die Mädchen an den Haaren, anstatt zuzuhören und zieht Streiftouren durch die Nachbarschaft den Hausaufgaben vor. Zu allem Übel begeistert er sich auch noch für Rock'n'Roll. Er kommt sich vor wie das schlecht getrocknete Holz einer Gitarre – ein krummer Gitarrenhals. Eine Mutter, die ihn nie umarmt, die Lehrer, die keinerlei Interesse an ihren Schülern hegen und die unsichtbaren Trennlinien der Religion in seinem Freundeskreis. Das ganze System stinkt ihm zum Himmel, Jonas hat die Nase voll. Er sehnt sich so sehr nach einer echten Verbindung – aber wird er in den USA finden, wonach er sucht?
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Seitenzahl: 342
Veröffentlichungsjahr: 2024
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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© 2024 novum publishing
ISBN Printausgabe: 978-3-99146-676-5
ISBN e-book: 978-3-99146-677-2
Lektorat: Sandra Fantner
Umschlagfoto: Nikolai Grigorev | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Widmung
Das Buch ist Gail gewidmet.
Der krumme Gitarrenhals
I got to keep movin’, I got to keep movin’
Blues fallin’ down like hail, blues fallin’ down like hail
Hmm-mmm, blues fallin’ down like hail, blues fallin’ down like hail
And the days keeps on worryin’ me
There’s a hellhound on my trail, hellhound on my trail
It keep me with ramblin’ mind, rider
Every old place I go, every old place I go
I can tell the wind is risin’, the leaves tremblin’ on the tree
Tremblin’ on the tree
I can tell the wind is risin’, leaves tremblin’ on the tree
Hmm-hmm, hmm-mmm
All I need’s my little sweet woman
And to keep my company, hey, hey, hey
My company
Robert Johnson
Beben
Es gibt Erfahrungen, die so erschreckend sind, dass man sie vorerst nicht begreift. Das können Sekunden des Unvermögens sein, in denen sich die sichere Welt, in der man lebt, in eine Hölle verwandelt. Ich sitze lesend an meinem Pult vor dem offenen Fenster. Plötzlich ein Grollen, das rasch anschwillt.Ist da eine Gefahr von der Verandatür herkommend – ein Monster vielleicht – welches das ganze Haus zum Erzittern bringt?Todesangst flackert in mir auf. Nun wackelt das Pult wie ein Schiff auf hoher See. Mein Bürostuhl dreht sich. Es ist mir, als fiele ich hunderte von Metern ins Erdinnere. Ich haste durch das Wohnzimmer, vorbei an klirrendem Glas, dem zerborstenen Fernsehgerät, herabfallenden Büchern, renne unter den Türstock der Verandatür. Das Herz schlägt mir bis zum Hals.Ich muss weg hier!Raus!Mein Blick sucht nach etwas, an dem ich mich festhalten kann. Ich renne. Die Kalifornische Sequoia im Garten, an die ich mich kralle, schwankt hin und her. Vor meinen Augen öffnet sich die Erde, breit wie ein Bombenkrater. Mein Herz rast. Unter dem Orangenbaum, dort wo die Hecke das Grundstück begrenzt, ist der Boden mit Früchten übersäht.Ist das hier schon das Ende, finito?
Es muss eine Ewigkeit vergangen sein. Totenstille breitet sich aus. Ich atme tief ein. Ein lauer Spätsommerabend, und ich schlottere am ganzen Leib. Zitternd gehe ich ins Haus zurück. Außer mir ist da niemand. Charly und George sind gar nicht erst nach Hause gekommen. Die Lichter sind ausgegangen, das Surren des Kühlschranks verstummt. Ich bin verwirrt, geschockt.Teufel nochmal, was soll ich tun?Ich habe keinen Plan.Der Alltag muss doch wohl weitergehen?Da fällt mir ein:Heute ist mein Aikido Training. Fast hätte ich es vergessen. Ich habe mich den ganzen Tag aufs Aikido gefreut.Ich muss dahin. Jetzt.Ich steige auf mein Bike und jage davon. Durch die Park Avenue, an Geschäften vorbei. Der Safeway Store ist bis zum Fensterrand ein Meer von durcheinandergeworfenen Lebensmitteln und ihren Behältern. Eingangstüre und Schaufenster sind zerbrochen. Da, ein Nachbeben. Früchte kollern aus dem offenstehenden Eingang. Straßenampeln stehen schief, sie sind dunkel. Der Verkehr ist zum Stillstand gekommen. Einige Fahrzeuge stehen ineinander verkeilt in einem Garten. Eine gespenstische Stille; Menschen sind keine zu sehen.Was mache ich eigentlich hier?
Meine Mitbewohner George und Charly habe ich seit Beginn des Bebens nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht, wo sie sind, wann sie wieder kommen werden. Vermutlich sind sie bei den Eltern oder Freundinnen. Dann stehe ich wieder im Wohnzimmer. Es ist nicht zu fassen: Am Boden liegt eine Whiskyflasche, die den Sturz aus dem zersplitterten Schrank überstanden hat. Das benötige ich jetzt dringend.What the fuck is going on here?Ich genehmige mir einen Schluck Whisky, dann noch einen. Ich esse zwei Birnen, schalte das Radio ein. Stimmen reden durcheinander. Eine Frauenstimme betet, über einen anderen Sender ist ein Psalm singender Kirchenchor zu hören. Ein Sprecher berichtet mit sich überschlagender Stimme von der eingestürzten Bay Bridge, von verschütteten Autos und Menschen. Von Minute zu Minute werden die Nachrichten dramatischer. Teile der San Francisco-Oakland Bay Bridge seien zerstört, einige Autos seien in die Tiefe gestürzt. Mehrere Highways seien wie nach einem Bombenangriff beschädigt. Die Rettungskräfte seien völlig überlastet.
Um mich herum herrscht völlige Dunkelheit. Stunden später werfe ich mich aufs Bett, starre an die Decke. Trotz der Schwüle im Zimmer fröstle ich am ganzen Körper. Ein Gefühl der Verlorenheit kriecht meinen Rücken hinauf.Da!Ein erneutes Dröhnen, als hätte jemand eine Riesenwaschmaschine in Gang gesetzt. Ich gehe in die Küche, um mir einen Tee zu machen. Aber da ist kein Strom mehr. Hätte ich doch daran denken sollen, da ja auch die Lampen längst nicht mehr funktionieren. In Charlys Zimmer finde ich ein paar Kerzen, die er wohl benützt, wenn seine Freundin Kate bei ihm schläft. Ich schaue mich in der Küche um. Der Boden ist von Scherben übersäht. Ein Küchenschrank mit Schiebetür ist intakt geblieben. Darin finde ich das nötige Geschirr, um eine Mahlzeit einzunehmen. Von wegen Mahlzeit! Ich öffne die Kühlschranktür, ein unangenehmer Geruch schlägt mir entgegen. Klar, auch hier kein Strom. Erst gestern hatte Charly, auf den der Mietvertrag ausgestellt ist und der sich für die Ordnung verantwortlich fühlt, eine Menge Fleisch im Tiefkühlfach eingelagert. Wie lange wird es wohl dauern, bis wir wieder kochen können? Wovon soll ich denn leben? Selbst um einen Toast zuzubereiten, brauche ich Strom. Aber ich habe sowieso keinen Hunger. Obschon es im Haus sehr warm ist, beobachte ich eine Gänsehaut auf Armen und Beinen, zittere, bin unfähig, mich zu rühren. Ich schaue auf die Uhr, es ist drei Uhr morgens. Da klingelt das Telefon aus der Stube, am anderen Ende ist Tina aus der Schweiz. Es ist kaum zu glauben, meine Schwester. Die Mittagsnachrichten. „Ein Erdbeben“, ruft sie, „Gott sei Dank! Du lebst!“ Ein Rettungsanker, Tinas Stimme! Ich stammle: „Ja, ich bin noch am Leben.“ 8000 Kilometer Entfernung und meine Schwester hält den Telefonhörer in der Hand. Ihre Stimme klingt verwaschen. Sie sei besorgt um mich. Laut den Meldungen habe es viele Tote gegeben. Das Epizentrum des Bebens sei unweit von Palo Alto, beim Loma Prieta, dem höchsten Berg der Santa Cruz Mountains. Ich beantworte ihre Fragen, ja ich sei gesund. Meine Mitbewohner seien seit dem Beben verschwunden; vermutlich seien sie bei ihren Eltern oder Freundinnen. Tina sagt, dass sie vom Erdbeben mit Epizentrum in Loma Prieta südlich von Santa Cruz in den Frühnachrichten gehört habe. Eine Stärke von 7.1; also recht heftig. Man habe über große Schäden an Highways und Gebäuden in San Francisco berichtet. Als ich auflege, sacke ich zusammen. Ich spüre salzige Tränen in meinen Mund laufen. Doch ich fühle mich etwas weniger einsam. Wie ein Blitzschlag fährt es mir durch den Kopf:Verdammt, wie weiter? Mein Studium?Ich lege meine Hände übers Gesicht, mein Atem stockt.Jetzt raff dich auf, Jonas, das Beben ist vorbei. „Das große Erdbeben“, „The Big One“. War es das?
Franziska
Die jugendliche Frau wendet ihr Gesicht für einen Augenblick der blassen Sonne zu, als ob sie sich eine Pause gönnen wolle. Sie trägt zum ersten Mal in diesem Frühling eine ärmellose Bluse, dazu einen weiß geblümten Jupe. Sie ist vierundzwanzigjährig, könnte nach ihrem Aussehen eben zwanzig geworden sein. Schmales Gesicht, dunkelblaue Augen; ihre Lippen umspielt ein Lächeln. Es erscheint jedoch nur, wenn ihr Mann in der Nähe ist. Wenn er geht, aufbricht zur Arbeit, macht sich auf ihrem Gesicht der Ausdruck zerstreuter Abwesenheit breit. Sonn- und Alltag lassen sich bei ihr nicht anhand der Kleidung unterscheiden. Sie legt Wert auf einen angemessen eleganten Kleidungsstil. Um den Hals trägt sie einen hellblauen Schal.
Franziska trägt einen Korb zum Wäscheständer in den Garten. Sie greift hastig in den weißen Sack mit den Holzklammern, hängt gewaschene Hemden, dunkle Hosen, wollene, lange Unterwäsche an die Leine. Ihr Blick geht von der Wäsche im Korb zur Leine, wo sie die einzelnen Stücke mit Klammern befestigt, zum Kind, das sich eben zum Boden bückt, um eine Klammer aufzuheben und sie in den Mund zu stecken, dann ihren Schürzenzipfel ergreift. Eben hat die Kirchturmuhr halbzwölf geschlagen, sie erwartet Rolf zum Mittagessen. Heuer blüht der Flieder viel zu früh, denkt Franziska.
Eine Auffahrt führt zur Garage eines weiß gekalkten Hauses, an dessen Vorderseite ein schwarz umrandetes Schild informiert: „Dr. med. vet. Ammermann, Tierarztpraxis“. Darunter informiert ein Emailschild: „Unterstraße 9“.
Von der Auffahrt führen moosbewachsene Granitplatten über eine kurze Treppe in den Garten, vorbei am Wäscheständer zur Kinderschaukel, wo er endet. Unweit davon ein Kieshaufen. Der Garten besteht aus einer großen Rasenfläche, in der mehrere inselförmig eingelassene Rosenbeete Ordnung schaffen und die sich einen sanften Abhang hinunterzieht. Die Grenze zum Wiesland des benachbarten Bauernhofs bilden eine Steinmauer und einige Johannisbeerstauden und Brombeerbüsche. Am unteren Ende, eingerahmt von Steinplatten, ein untiefer Swimmingpool, in dessen Wasserfläche sich das große Giebeldach spiegelt. Eine blaue Abdeckplane liegt zusammengefaltet daneben. Der Garten ist von einer hohen Buchenböschung umgeben; auf der Südseite schützt ein Haselnussbaumbestand die Wohnräume und einen Sitzplatz vor fremden Blicken.
Die Haustüre führt in einen Flur, von dem aus man in die Küche oder in die Stube gehen kann. Eine Treppe, mit rotem Teppich bespannt, führt hinauf zu den vier Schlafzimmern, die Treppe hinunter führt in eine unterirdische Welt, die aus einem Keller, der Waschküche und dem Nähzimmer besteht. In einem Anbau ist die Praxis untergebracht, bestehend aus zwei Sprechzimmern mit Apothekerschränken, die bis zur Decke reichen.
Der schrille Ton des Telefons ertönt durchs offene Küchenfenster und Franziska eilt von draußen ins Haus zum Wandtelefon. Bauer Wehrle ruft an, sie müsse Rolf sofort informieren, ein Notfall.
Wenig später eilt sie die Treppe hinauf ins obere Stockwerk, stellt sich ans Fenster des Kinderzimmers, schiebt die Jalousien beiseite: „Jonas, lass das!“ Jonas führt sich gerade eine Kröte neugierig zum Mund. Das gelingt nicht, da sie sich zu regen beginnt und ihm das bräunlich-weiß gesprenkelte schleimige Tier entgleitet. Sein Gesicht verdüstert sich. Das Tier kriecht verängstigt auf die Böschung zu und verschwindet unter Zweigen. Das Kind rennt hinterher, stolpert; es kugelt das kurze Wiesenband hinab, bleibt im Geäst der Böschung hängen, während Franziska ihrem Sohn von oben zuruft:
Pfui, wie kannst du? Kröten soll man nicht anfassen!Der Gedanke streift sie, dass sie Jonas heute vor drei Jahren um diese Zeit zur Welt gebracht hat. Das Baby hatte sich so harmonisch in ihre Körperrundungen eingenistet. Tina, die Erste, hatte sie zwei Jahre zuvor gleich angelacht. Dann hatte sie geschrien, die Fäustchen geballt und dabei einen puterroten Kopf bekommen. Als Rolf seine neugeborene Tochter Tina auf den Arm genommen hatte, huschte ein stolzes Lächeln über sein Gesicht. „Myni Maite!“, hatte er gerufen und ihre Babyfüße geküsst. Er war so stolz auf das Mädchen gewesen.
Als ihr die Schwester bei Jonas’ Geburt das noch feuchte Baby in den Arm gelegt hatte, fragte sie sich, welche Reaktionen von ihr erwartet würden. Denn als sie bei ihrem zweiten Kind das Schnäbi des Neugeborenen gesehen hatte, war sie erschrocken. Nachdem sie mit Jonas vom Krankenhaus heimgekommen waren, hatte Rolf eine besorgte Miene aufgesetzt, ihr zwar zugelächelt, sich aber dann entschuldigt, er müsse den Abend mit Buchhaltung verbringen. Es sei dringend.
Wäre ihm eine Tochter lieber gewesen? Anstelle eines zappeligen Knirpses? Tränen treten in ihre Augen. Sie schließt das holzgerahmte Fenster, eilt die Treppe hinunter, packt den Telefonhörer, und ruft Rolf an:
Mach bitte noch einen Umweg über den „Erlenhof“. Dort lahmt ein Pferd.Sie kennt die Bauernhöfe und die Stimmen der Bauern, sie kennt die Straßen, die Wege, die Weiler. Früh um sechs kam der erste Anruf, ein Notfall, eine Kuh, die in der Nacht ein Kalb geworfen hatte. Der Tierarzt musste die Nachgeburt entfernen, da Keime und Bakterien leicht in den Uterus eindringen konnten, wenn sie zu lange im Mutterleib blieb. Oft sind es Kalbsgeburten, die Kuh ist eng im Muttermund oder das Kalb liegt quer im Bauch und will steiß- und mit den Hinterbeinen voran heraus. Immer ist der Viehdoktor zur Stelle. Seit sieben ist er unterwegs. Auf Franziskas Stirn bilden sich tiefe Furchen, sie fährt sich rasch mit beiden Händen durch die Haare. Es würde ein verspätetes Mittagessen geben. Also den Käseauflauf erneut aufwärmen, Esther, der Hausangestellten klar machen, dass aus der Ruhestunde frühnachmittags heute nichts werden würde. Dann steht der VW Käfer in der Einfahrt. Rolf stellt den Koffer in den Praxisraum, mit ihm weht ein Schwall herber Stallluft herein, er zieht die Stiefel voller Kuhdreck aus, platziert sie auf einer Matte und wäscht sich die Hände. Dann nimmt er seinen Platz am Tischende ein.
Im weißgetünchten Kinderhochsitz Jonas, der mit dem Löffel vor sich auf die Tischkante schlägt und den Plastikbecher umstößt, das Wasser tropft ihm über die Beine und bildet eine Pfütze auf dem Boden. Auf der Holzbank neben Mutter der blonde Krauskopf seiner Schwester Tina, den Blick zu Jonas gewandt. Im Korbwagen am Ende der Sitzbank liegt Beni, der jüngere Bruder, eineinhalbjährig, den Schnuller im Mund. Wenn seine dunklen Augen nicht geschlossen sind, richten sie sich auf die Mutter. Esther trägt das Essgeschirr und Platten mit Gemüse und Fleisch an den Tisch. Als Hauswirtschaftslehrtochter lebt sie unter dem gleichen Dach. Sie steht um sechs auf, macht Frühstück. Sie hat um zehn Feierabend, wenn alle Kinder im Bett sind. Die Erwachsenen falten die Hände: „Lieber Gott wir danken dir …“ Um Jonas’ Tellerrand ein Kranz von Wiesenblumen. Das Klirren des Bestecks, Kaugeräusche, Schweigen vorerst; dann beginnt Franziska:
Übermorgen Sonntag, wer hat Notfalldienst, Heiri oder du?Rolf wirft ihr einen verärgerten Blick zu.
Wir,wirwünschen uns, dass du wieder mal einen Tag frei hast.Rolf dreht am Knopf des Radios: „Der Sowjetrussische Regierungschef und Generalissimus Stalin ist schwer erkrankt. Nach Berichten der russischen Nachrichtenagentur TASS hat Stalin in der Nacht auf den Montag eine Gehirnblutung erlitten, von der lebenswichtige Teile des Gehirns betroffen wurden. Die rechte Körperseite ist gelähmt, der Kranke ist unfähig zu sprechen, später verlor er das Bewusstsein. Zur Behandlung des Generalissimus sind die besten Vertreter der medizinischen Wissenschaft aufgeboten worden.“ Der Sprecher geht zu den Wetterprognosen über: „Alpennordseite meist sonniges und tagsüber mildes Wetter, Nachtfrost in den Niederungen.“ Nun ist es der Vater, der spricht:
Der Generalissimus wird den morgigen Tag nicht überleben! Es ist absehbar, dass es zu einem Machtkampf kommen wird, vielleicht werden dabei einige erschossen. Und Chruschtschow wird wohl die Oberhand gewinnen.Franziska schaut mit einem Lächeln vom Teller auf, nickt, bietet die Schüssel mit den Fleischstücken herum. Sie wendet sich dann schnell Esther zu:
Die Geburtstagstorte!Mutter und Vater und auch Esther singen „Happy Birthday!“ und lachen den Jubilar an. Tina klatscht in ihre Hände. Jonas’ Mund rundet sich, er darf eine weiße Kerze ausblasen; es bleibt beim Versuch. Dann hebt die Mutter die Tafel mit einer gebieterischen Geste auf:
Esther, ich helfe dir beim Abtragen des Geschirrs, den Rest machst du bitte selbstständig.Den freien Sonntag mit Rolf hat sie längst abgeschrieben.Ärgerlich. Ich bräuchte Rolf, gerade die beiden Buben, ihre Angetriebenheit lässt sich ohne Rolf kaum meistern.
Und dann wie angeworfen: eine Migräne. Die Mutter geht nach oben. Sie schlägt die Schlafzimmertüre hinter sich zu. Sie legt sich ins Bett und legt einen angefeuchteten Waschlappen auf die Stirn.
Der zornige Hagios
Dahlien, Vergissmeinnicht, entlang der Granitmauer die Kapuzinerkresse blühen im Garten. Vater schneidet Rosen. Er legt die Rosenschere neben sich:
Lass die Finger von dieser Schere. Damit kannst du die Finger blutig schneiden!Pah, lass mich doch.Mutters Blick wendet sich einem Gestell zu, auf dem Kinderbücher stehen. Sie greift nach einem dicken Buch, legt es auf die Bettdecke, blättert und bleibt dann bei einem Bild stehen.
„Die Bibel in Bildern“, sagt sie, zu mir gewandt,von Julius Schnorr von Carolsfeld. Sie muss die Decke breitschlagen, damit sie das Buch öffnen kann:Der Sündenfall im Paradies. Es ist ein dicker Apfelbaumstamm zu erkennen, darunter eine Frau und ein Mann, beide nackt und umgeben von Pflanzen und friedlichen Tieren. Der Leib einer mächtigen Schlange windet sich am Stamm hinauf. Die Zunge des Tieres zielt direkt aufs Gesicht der Frau. „Eva“ nennt sie Mutter.Die Frau reicht dem Mann, Adam, einen Apfel.Diese Schlange hat einen hinterlistigen Blick, denke ich. „Ist die Schlange schuld an der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies?“ Die Mutter sagt, dass die beiden Menschen schuld seien. Sie hätten nicht vom verbotenen Apfel essen sollen. Das verstehe ich nicht, da ja die Schlange sie verführt hat. Die Mutter sitzt noch lange an meinem Bett, die Hände im Schoß gefaltet. Sie singt das Beresinalied: „Unser Leben gleicht der Reise eines Wanderers in der Nacht … Jeder hat in seinem Gleise etwas, das ihm Kummer macht …“
Ich erwache in der Dämmerung. Ich krieche unter meiner Bettdecke hervor, die sich klebrig-heiß anfühlt. Auf dem Nachttisch die vertrauten Bilderbücher und ein Plastikbecher, von dem mir eine Ente entgegenschnattert. Der Wind bläht die Gardinen. Die Silhouette eines Riesenkäfers sitzt auf dem Fenstergriff, er scheint seine Greifer zu bewegen. Das Nachthemd ist schweißnass, ich schlottere wie ein Schlosshund. Die Eltern dürfen um diese Zeit nicht gestört werden, nicht einmal durch Anklopfen, obwohl ich das hin und wieder getan habe: zuerst ganz leise, dann lauter. Ich starre auf den Türgriff. Das Tier, ein Käfer, beinahe so lang wie der Türgriff selbst, sitzt immer noch darauf. Der Wind singt an den Ecken des Hauses, ein vertrautes Geräusch und ich darf nicht schreien. Dann höre ich die Schlafzimmertüre der Eltern – tripp trapp tripp trapp – der Vater auf der Treppe. Ich höre, wie das Schloss der Toilettentüre im Parterre einrastet. Stille. Dann das Rauschen der Spülung. Ich schleiche mich am Schlafzimmer der Geschwister vorbei und rutsche am Geländer nach unten, stehe dann vor der Türe. Ich schaue durchs Schlüsselloch direkt ins Auge des Vaters, höre seinen heftigen Atem, ein unterdrücktes Röcheln. Ich warte, mein Körper wird steif. Die Toilettenspülung ertönt erneut. Die Türe öffnet sich, der Vater, im blaugestreiften Schlafanzug, knöpft sich die Hosen zu, ein paar dunkle Haare dazwischen. Ich zeige auf den Türgriff. Vater beruhigt mich: „Du hattest einen schlechten Traum.“ Er mustert mich, ergreift mich bei der Hand und begleitet mich ins Kinderzimmer, wo er mich zudeckt. Dann höre ich ihn die Türe des elterlichen Schlafzimmers schließen. Die Mutter hat sich am Abend früh ins Bett gelegt, mit einem nassen Waschlappen über den Augen. Ich liege wach, dann setze ich mich im Bett auf, Schweiß klebt auf meiner Stirne. Ich starre die fast kahle Wand an. Nur zwei Bilder hängen dort: Ich blicke auf das eingerahmte Bildchen des barfüßigen Jungen, der neben seinem Strohhut im Heu schläft und das andere, das Mutter so liebt: eine Auenlandschaft an einer Flussmündung. Ich wende den Blick zum offenen Fenster hin. Vater hat es geöffnet, nichts bewegt sich mehr. Das Tier am Fenstergriff schläft, ich kann es nicht sehen. Es ist hinter dem Vorhang verborgen. Aus der Ferne höre ich ein Schleifgeräusch, einen hohen singenden Ton, eine raue Männerstimme, die lauter wird. Diese Stimme schleudert zornige Worte gegen die geschlossenen Fensterläden. Pferde schnauben. Neugierig geworden klettere ich aus meinem Bett, gehe hinaus. Aus dem Schlafzimmer höre ich den regelmäßigen Atem der Eltern. Ich rutsche die Treppe hinunter, drücke die Nase ans Glas der Haustüre. Sie ist nur angelehnt. Ich schlüpfe hinaus. Meine Füße ertasten die kalten Granitfliesen, die Hand behalte ich auf der Türfalle. Das Fluchen wird langsam, aber sicher bedrohlich, während sich der Karren, gezogen von breitschultrigen Pferden, nähert.
Die Sonne geht auf, ihr Licht schimmert im taufeuchten Gras. Der Bauer steigt fluchend ab, reißt die Sense vom Wagen und geht die Böschung hinunter, klettert über den Zaun und beginnt, wütend die Wiese zu schneiden.Ssssh, Ssssh, geht die Sense durch das hohe Gras. Ssssh, Ssssh. Immer wieder, nur unterbrochen von den Flüchen des Bauern, der Selbstgespräche führt, während er sich Mahd um Mahd vornimmt und dann mit der Gabel zu Haufen aufschichtet. Das Quietschen der rostigen Bremsen, die an den von Eisen beschlagenen Holzrädern schleifen, unterbricht das „Ssssh“ der Sense, während der Bauer sein erregtes Selbstgespräch fortführt:
Ihr verdammten Hurenböcke!Hagios schwingt sich auf den Bock, die Mähnen der Pferde wehen im Morgenwind. Jonas drückt seinen Rücken an die Haustür, stützt sich mit beiden Fäusten auf den Stein. „Ssssh, Ssssh!“ saust die Peitsche auf sie nieder. Der Bauer brüllt die Tiere an, Peitschenhieb folgt auf Peitschenhieb, die Haut platzt ihnen an mehreren Stellen auf; er zerrt an den Zügeln, die Rosse halten jäh an. Sie stellen sich auf die Hinterbeine, dann ziehen sie wild an der Achse des Wagens, der ruckartig vorwärts springt. Bretter knarren, Holzspäne splittern. Hagios flucht laut, während das Heulen der Bremskurbel in meinen Ohren schmerzt. Unter dem „Ho!“ des Bauern und dem wütenden Gezerre an den Zügeln kommen die Pferde zum Stehen. Er steigt nun wieder vom Bock und wuchtet mit der Gabel das frisch geschnittene Gras auf den Wagen. Die Tiere schlagen mit ihren Schwänzen um sich, um die Fliegen loszuwerden. Sie fressen büschelweise Gras. Er steigt wieder auf den Bock. Sein Blick richtet sich auf den nächsten Grashaufen. Das schüttere Haar fällt ihm ins Gesicht, aus dessen Mitte ein rauchender Stumpen hervorsteht. Als er erneut mit der Peitsche ausholt, landet der Zigarrenstummel im Gras. Der beißende Geruch weht bis zu mir hinüber. Ein Aufschrei, ein Schwall derber Worte. Verärgert dreht Hagios den Kopf in Richtung seines Hofes. Er holt mit der Peitsche aus, lässt sie auf die Rücken seiner Pferde zischen. Sie zittern wie Espenlaub. Ich erschrecke, will zurück ins Haus, aber die Tür ist zu. Der Wagen mit Bauer Hagios hoch auf dem Bock entfernt sich langsam. Ich friere, ich will nur noch hinein. Mit beiden Handflächen drücke ich gegen die Tür, sie bleibt geschlossen. Es ist kalt. Ich hämmere gegen die Tür, bis mir Vater im Schlafanzug und mit zerrauftem Haar die Tür öffnet:
Hagios war da.Was machst du bei dieser Kälte da draußen? Ich habe doch gesagt, du sollst im Bett bleiben.Vater nimmt mich bei der Hand, dann trägt er mich zurück ins Haus.
Eines Tages ist die Mutter weg. Sie ist im Spital. „Gallensteine“, sagt der Vater zu mir. „Wo sind die Steine“, frage ich argwöhnisch. Mein Vater schweigt, doch ich will die Wahrheit wissen. Spitäler sind etwas Schlimmes; da geht man nur hin, wenn man sehr krank ist.
Sie hat Steine im Bauch, die sind etwa so groß wie Kieselsteine.Der Vater führt Daumen und Zeigefinger der linken Hand zusammen, sodass nur ein kleiner Abstand bleibt.
Das kann’s nach einer Schwangerschaft geben.Jeden Abend beim Zubettgehen frage ich Esther nach der Mutter. Esther weiß nichts und ich kann in diesen Nächten lange nicht schlafen. Einmal rufe ich nach dem Vater. Er kommt ins Schlafzimmer.
Morgen werden wir sie zusammen besuchen.Vater und ich gehen durch einen Park. Der Weg ist voller umgestürzter Bäume, die auf dem Waldboden und am Wegrand verstreut liegen, teilweise zersägt. Nachdem wir eine Weile gegangen sind, stehen wir vor einem schlossähnlichen, efeuberankten Gebäude. Ein Springbrunnen mit einem nackten, smaragdgrünen Knaben, der Flöte spielt, steht vor dem Eingang. Die Mutter liegt in einem Bett aus Metallstangen. Ihr Kopf ist tief im Kissen vergraben. Die Luft im Zimmer ist schlecht. Die Sirenen eines Notfallwagens ertönen. Mir wird übel. Ich gebe ihr die Hand, sie lächelt müde. Während die Eltern reden, stehe ich am Fenster und beobachte Spatzen, die sich auf einem Gartentisch um Brotkrümel streiten. Mir ist todlangweilig
Wann gehen wir endlich?Der Vater wirft mir einen missbilligenden Blick zu:
Bedenke, du wirst deine Mutter eine Weile nicht mehr sehen.Wenn ich im Bett liege, vermisse ich die schöne Stimme meiner Mutter. Die Lieder, die sie mir vor dem Einschlafen singt:
Alle Vögel sind schon da,
alle Vögel, alle.
Welch ein Singen, Musizieren,
Pfeifen, Zwitschern, Tirilieren.
Mutter
Esther und ich hängen gemeinsam Wäsche auf. Jonas kriecht auf allen Vieren zwischen unseren Beinen herum, während wir uns über das bevorstehende Mittagessen, Erbsen, Kartoffelstock mit Fleischvögeln unterhalten. Sie ist im ersten Jahr. Ich muss ihr viel erklären:
Stell mir bitte zwei Pfannen Wasser auf. Fürs Gemüse. Für die Kartoffeln den Dampfkochtopf. Ich komme gleich nach.Jonas? Lass uns reingehen.In der Küche drückt Jonas ein Loch in ein Stück Brot, das ich ihm gegeben habe. Er schaut durch das Loch und lacht, nagt am eingespeichelten Brotrauft, pustet laut und würgt einen Teil wieder hervor. Auf allen Vieren geht er auf Entdeckungsreise in der Wohnung. Er sabbert, ich wische ihm den Mund ab, worauf er schreit. Das hat er nicht gern. Das Telefon klingelt, ich wische mir die Hände an der Schürze ab, gehe in den Flur und greife nach dem Telefonhörer. Bauer von Allmen meldet: „Kuh mit Uterus … das Tier hat starke Schmerzen.“Ich renne in die Küche zurück, aus der es dampft. Jonas wimmert, er ist hingefallen, schreit wie am Spieß und verteilt überall Brotkrümel. Das Telefon klingelt schon wieder. Im Laufgitter wimmert Beni schon seit einer halben Stunde, nachdem er den Schnuller, die Holzeisenbahn und die Legosteine zwischen die Stäbe hindurchgeworfen hat. Ich kann nicht mehr. Ich brauche einen Moment Ruhe. Dringend! „Esther, kannst du Jonas übernehmen? Ich bin oben.“ Ich nehme das Gespräch im Schlafzimmer entgegen. Rüdisühli. Schon wieder. Der hat diese Woche schon dreimal angerufen. „Eine der Muttersauen hat Rotfieber“, sagt er. Wahrscheinlich wie immer falscher Alarm. Das letzte Mal war es die Schweinepest. Rüdisühli japst. Ich beruhige ihn und verspreche ihm, dass Rolf vorbeischaut. Dann versuche ich, Rolf zu erreichen. Jonas schreit. Ich rufe nach Esther. Irgendetwas riecht angebrannt. Wo ist Esther? Unten wird es still, wahrscheinlich hat sie mit Jonas hochgehoben. Rolf kann ich nicht erreichen. Ich hinterlasse eine Nachricht auf seiner Sprachbox und renne aus dem Schlafzimmer. Auf der Treppe muss ich mich am Geländer festhalten, weil die Beine beinahe ihren Dienst versagen. Aus der Küche schlägt mir Wasserdampf entgegen. Esther hat die Erbsen vergessen und die Kartoffeln haben zu wenig Wasser. Im letzten Moment ziehe ich den Dampfkochtopf vom Herd. Tina schleppt ein Salatsieb hinter sich her, das vom Tisch gefallen ist. Dann krallt sie sich in meine Schürze. Ich beobachte, wie Jonas sich durch die Stubentüre zwängt. Warum beschäftigt sich Esther nicht mit ihm? Er kriecht über den Gang zur Treppe, setzt den rechten Fuß auf die erste Stufe, zieht den linken nach oben, hält sich an der zweiten fest, schaut kurz zurück, um meine Erlaubnis zu holen, weiterzuklettern. Da ist niemand, der seinen Blick auffangen könnte. Er weiß, dass Abenteuer auf der steilen Treppe bei mir nicht gut ankommen. Erneut schaut er zwischen den Stangen des Geländers zur Küche, wo ich am Anrichten des Mittagessens bin. Ich sollte nicht immer „Nein“ sagen, wenn er etwas ausprobieren will. Doch hat er sich bei Treppenstürzen schon zweimal den Kopf aufgeschlagen und sich tiefe Wunden in die Zunge gebissen. Ich halte es nicht mehr aus. Ich nehme ihn mir auf den Arm, setze ihn auf meine Hüfte und dann in den Kindersitz, was nicht ohne Zeter und Mordio abläuft. Nach dem Mittagessen ziehe ich mich ins Schlafzimmer zurück, während Rolf die Zeitung aufschlägt. Ich liege unter der schweren Daunendecke, lege mir einen kalten Waschlappen auf die Stirn und versuche, ruhig zu atmen. Die Vorhänge sind zugezogen. Plötzlich steht Jonas an meinem Bett. Er tritt von einem Fuß auf den anderen und schaut immer wieder, ob ich wach bin. Als ich die Augen aufschlage, kneift er erst die Lippen zusammen und lächelt mich dann an. Später begleite ich ihn nach oben und helfe ihm aus den Kleidern. Ich greife nach dem Schnorr-Buch in der obersten Reihe des Büchergestells. Das schwere Buch fällt mir auf die nackten Füße. Mein Blick muss schmerzverzerrt sein, denn Jonas schaut mich erschrocken an. Dann schlage ich eine Seite auf und erkläre ihm:
Das Bild zeigt den Bruch zwischen Gott und Adam und Eva, unmittelbar nachdem sie aus dem Paradies vertrieben wurden.Jonas betrachtet sich das Bild, den Herrgott eingehüllt in einen bodenlangen Mantel. Langes Haar fällt ihm bis auf die Schulter und ein furchterregender Strahlenkranz umgibt ihn. Der gestrenge, das Kind ängstigende Blick richtet sich auf das Paar, das sich in den Wurzelstock des Paradiesbaums kniet. Sogar die Schlange duckt sich vor dem Gebieter weg. Ihr unheilverheißender Blick richtet sich nicht wie im Bild des Apfeldiebstahls auf die beiden. Ich erkläre ihm:
Eva und Adam verbergen sich vor Gottes Gesicht. Sie haben trotz des Verbots vom Apfelbaum gegessen. So ist das Böse in die Welt gekommen.Was ist eigentlich das Böse?Ich schweige einen Moment.
Wenn wir Eltern mit dir schimpfen müssen, nachdem du Dummheiten gemacht hast. Dann bist du böse.Ich erahne, was er im Moment denkt: immer sind wir Eltern uns einig, gegen ihn. Doch ich fahre fort:
Den Menschen ist der Weg zurück ins Paradies versperrt. Sie haben eine Sünde begangen.Was ist eine Sünde?Wenn die Menschen eine Bosheit gegen den Willen Gottes tun, kehrt er ihnen den Rücken zu. Genauso können Kinder böse Monster sein. Albert Schweitzer hat einmal mit einer Steinschleuder auf Vögel gezielt. Das ist sündhaft. Er ging danach reuevoll in die Kirche, um Vergebung zu erbitten.
Ich will ihm etwas über Albert Schweitzer, den Urwaldarzt aus dem Elsass erzählen, aus dessen Büchern mir bereits meine Mutter vorgelesen hat. Doch seine Augen sind zugefallen.
„Der Mond ist aufgegangen, die goldenen Sternlein prangen am Himmel hell und klar“, singe ich an der Bettkante und gebe ihm einen Gutenachtkuss. „Schlaf gut.“
Dann lösche ich das Licht. Jonas schreit auf. Der Vater kommt und trägt das Kind in sein Bett. Er habe eine Schlange gesehen, die unter seinem Bett liege, sagt Jonas. Er schläft sofort ein. Gegen Morgen trägt mein Mann ihn wieder in sein Bettchen.
Jahre vergehen
Ende November fallen Tag und Nacht schwere Flocken vom Himmel. Nur vereinzelte Grasbüschel sind am schneebedeckten Berghang noch zu sehen. Sträucher und das Gewirr der Äste von greisen Apfelbäumen heben sich wie Gespenster vom Himmel ab. Begrenzt wird der Horizont durch einen Saum riesenhafter Tannen, die bei hereinbrechender Dunkelheit bald zu einer schwarzen Fläche zusammenwachsen.
Jonas ist viereinhalbjährig. Er trägt eine handgewebte, karierte Jacke mit einem Kragen aus Fuchspelz, mit rotem Wollzipfel und wollene Handschuhe, die bald durchnässt sind. Sein Lieblingsspielzeug ist die Schaufel, glänzend grün, die ihm die Mutter heute Vormittag in der Eisenwarenhandlung gekauft hat. Er stochert damit im knöcheltiefen Schnee herum. Als es einnachtet, entfernt er sich unbemerkt mit dem Schlitten vom Haus. Die Dämmerung kriecht aus dem nahen Waldrand. Er zieht den Schlitten bergan. Noch geht es weiter hangaufwärts. Dann stoßen Hampe und Reto aus der Nachbarschaft zu ihm. Gemeinsam ziehen sie ihre Schlitten hügelan durch den Tiefschnee. Jonas’ Atem dampft. Nun sind sie bei den ersten Tannen angelangt, die Schlittenbahn ist erreicht. Dann entgleitet die Schnur der klammen Hand, der Schlitten entgleitet ihm, bevor er sich daraufsetzen kann, gewinnt an Fahrt und saust selbstständig in die Nacht. Jonas fällt vornüber, der Kopf taucht ins klebrige Nass. Er zittert vor Kälte. Reto und Hampe haben sich längst auf ihren Schlitten davongemacht. Jonas’ Mütze liegt irgendwo im Schnee; seine Augen tränen. Aus der Nase tropft es rot. Er versucht, aufzustehen, er rutscht aus, hartes Eis drückt gegen die zarten Wangen, die Füße sind längst taub vor Kälte. Er bleibt liegen. Erst als die Mutter erscheint, weint Jonas.
Du bist nicht bei Trost, allein hier schlittenzufahren! Wieso hast du dich davongestohlen?Sie hebt ihn hoch, wischt Schnee fort. Die Mutter hält ihn, das nasse, zitternde Bündel in den Armen, sie hüllt ihn in dunkle Wolle.
Siehst du, sagt sie, was geschehen kann, wenn du einfach verschwindest!Später am Abend klingelt das Telefon: „Ja?“, sagt die Mutter. Dann ruft sie Vater zu: „Eine Fehlgeburt!“ Ein Blick durchs Stubenfenster genügt: Es schneit heftig. Um diese Zeit wird nicht mehr gepfadet. Jonas schaut zu, wie Papa fluchend Schneeketten montiert.
Als die Mutter an sein Bett tritt, ruft Jonas: „Muh muh – macht die Kuh.“ Er imitiert das Brüllen, wenn die Kühe vor dem Stall warten, um gemolken zu werden. Dann sinkt sein Kopf zufrieden aufs Kissen.
Tag um Tag ist Jonas sich selbst überlassen,während die Mutter täglich die verschmutzte Kleidung ihres Mannes, des Tierarztes – Schlupfhosen, Schlupfkasacks und Schürzen – und die Kleider der Kinder wäscht; wenn sie mit Esther am Tisch sitzt, ihr Anweisungen gibt und sie über Hausarbeiten unterrichtet oder in der Küche hantiert. Esther ist erst seit einigen Monaten hier. Die Mutter nimmt zuweilen Beni aus dem Laufgitter und lobt Jonas, wenn er mit den Plastikklötzen Türme baut, die Beni wieder zerstören kann. Nach einer Weile langweilt er sich; dann unternimmt Jonas Entdeckungsreisen in Haus und Garten. Er klettert gern, wird täglich kräftiger. Er erklimmt die Sitzbank in der Stube, um mit den Sitzkissen zu spielen. Einmal fällt er von der Sitzbank aufs Kinn. Die Zunge bleibt zwischen den Schneidezähnen hängen. Es blutet stark. Er schreit so laut, dass die Nachbarn, ein rühriges Ehepaar, zu zweit an der Türe klingeln. Herr Etter zupft an seinem Spitzbart, an dem noch Eigelb vom Frühstück kleben und macht ein säuerliches Gesicht. Frau Etter, eine rundliche Dame mit weit ausladendem Busen, stößt den Vater in die Seite: „So mach doch und hol endlich das Auto aus der Garage, der Junge muss zum Arzt!“ Doch die Mutter hat schon Doktor Mächler angerufen. Sein Mercedes fährt eben in die Garageneinfahrt. Der korpulente Arzt mit einem schwarzen Koffer in der Hand lächelt freundlich. Jonas darf sich an den Küchentisch setzen. „Kannst du mir mal die Zunge herausstrecken?“, weist ihn der Arzt an. Dann sieht er genauer hin, stellt fest, dass die Zunge einen Riss in der Mitte hat, die Zungenspitze hängt nur an einem Stück Haut. Der Blick des Arztes wird ernst:
Da müssen wir wohl nähen!Er öffnet seinen Lederkoffer. Scheren und Messer verschiedener Größe werden sichtbar, zugleich verbreitet sich ein scharfer Desinfektionsgeruch, den Jonas aus Vaters Praxisraum kennt. Der Arzt beruhigt Jonas:
Komm her, wir machen ein paar Stiche, du brauchst doch für den Rest deines langen Lebens eine ganze Zunge!Das Kind drückt sich unter den Stubentisch.
Wenn die Zunge genäht ist, wirst du wieder Himbeereis schlecken können; noch heute.Jonas weigert sich, hervorzukommen. Er wirft der Mutter einen verzweifelten Blick zu. Auch Vater wird herbeigerufen. Mit beiden Händen in den Taschen steht er da:
Jonas, komm sofort heraus, du hast doch kürzlich beobachtet, wie ich die Zunge eines Schäferhundes nähte.Der Hund hat geschlafen, entfährt es Jonas.Er kriecht zum anderen Ende des Tisches, und bevor der Vater ihn mit seinen kräftigen Armen unter dem Tisch gepackt hat, schnellt Jonas empor, rennt die Treppe hinauf, und weg ist er, verkriecht sich in einer Schlafzimmerecke. Dr. Mächlers Geduld ist nun am Ende, es ist kurz vor Mittag. Er lässt einen Eis-Pack und eine Salbe zurück. Die Mutter drückt den Pack an die Wange, um die Wunde zu kühlen. Mächler packt seinen Koffer und wünscht „Einen guten Appetit“, schlägt die Haustüre hinter sich zu. Jonas darf zum Mittagessen nur einen bitteren Tee trinken. Die Aufregung hat ihn ermüdet. Die ersten Stunden des Nachmittags verbringt er auf seinem Bett, die Beine angezogen, ins Kissen schluchzend. Der Vater hat ihm einen zottigen Teddybären zur Seite gelegt, bevor er sich auf seine Praxisrunde macht. Abends zeigt sich, dass die Zunge gerötet und stark angeschwollen ist. Jonas erhält Brei aus süßlich schmeckendem Gemüse. Zum Nachtisch Himbeereis. Erstmals seit der Verletzung heitert sich sein Gesicht auf.
Am nächsten Morgen erscheint Dr. Mächler um zehn Uhr. Er schaut dem Kind in den Mund. Die Zunge ist abgeschwollen, blutet aber leicht. Obschon er nur Brei essen darf, hat er sich erneut auf die Zunge gebissen. Es blutet. Dann steht der Arzt am Küchentisch, stützt seinen Kopf mit den Ellbogen und sagt:
Wir werden die Zunge nicht nähen, sie wird mit der Zeit zusammenwachsen. Ein Spalt im vorderen Zungenteil wird immer bleiben. Ich lasse ein Desinfektionsmittel für Jonas da.Er verabschiedet sich, indem er Jonas den Kopf tätschelt. Jonas ist auch nach dieser Geschichte nicht vorsichtiger bei seinen Spielen.
Nachmittags erforscht er, wie es jenseits der Gartenmauer aussieht. Er klettert über die Steinmauer und fällt in die hohe Wiese, die Bauer Hagios gehört. Die Hosen sind an den Knien aufgeschlitzt. Plötzlich steht er vor einem großen Scheiterhaufen, ein altes Schindelhaus dahinter. In diesem Haus hat er kürzlich mit Mutter Vaters Wanderschuhe abgeholt. Schuhmacher Knorr hat einen langen Bart wie der Herrgott aus dem Bilderbuch der Bibel. Und er lächelt dauernd vor sich hin. Jonas’ Hand reicht mühelos bis zum Türgriff hinauf. Beim Öffnen erklingt ein Glöckchen. Der Bub betritt eine von vielen Fußtritten abgeschliffene Steintreppe. Der Schuhmacher, kahler Schädel, nur beidseits der Ohren ein Haarbündel, ein grob gemustertes Hemd, darüber eine Schürze aus Leder. Sein Rücken beugt sich über einen in einem Schraubstock eingeklemmten Schuh. Von Wand zu Wand des Kellergewölbes ein Holztisch, Dosen mit Schuhwichsen, allerlei Werkzeuge über den Tisch verstreut. Jonas tritt ein, Herr Knorr lächelt ihm entgegen. Er brummt, dass seine Katze (Jonas kann sich an das feuerrote Tier erinnern) seit einer Woche nicht mehr gesichtet wurde. Er lebe allein, seine Frau sei schon vor vielen Jahren nach einem Sturz auf der Kirchgasse gestorben, fährt er von sich aus fort. Jonas schaut ihm bei der Arbeit zu. Er liebt den Duft nach Leder und Leim. Um die Mittagszeit sagt der Schuhmacher, er gehe nun nach oben in seine Wohnung, um etwas zu essen. Er schließt das Geschäft hinter Jonas ab, der den Heimweg nur mithilfe von Frau Etter findet, die, einen großen Einkaufswagen hinter sich herziehend, ihn an der Haustüre abliefert. Die Mutter hält beide Hände beschwörend in die Höhe:
Niemals mehr darfst du einfach davonlaufen!Frau Etter steht schweigend daneben. Jonas errötet und wendet die Augen befangen ab.
Nach dem Nachtessen ist Vater in fröhlicher Stimmung. Er kniet sich vor die hölzerne Schallplattenkommode. Aus der geöffneten Schublade zieht er eine schwarze Scheibe und legt sie auf den Plattenteller. Eine dunkle, heisere Stimme erklingt; Louis Prima, Buona Sera Signorina … Ein Lächeln huscht über das Gesicht des Vaters. Jonas legt sich auf den weichen roten Teppich und lauscht der erregenden Musik.
Im Frühling 1940 – die deutsche Armee hat begonnen, England aus der Luft anzugreifen – erhält Gertrud Besuch von ihrer Freundin Franziska. Franziska drückt die Klingel. Gleich rechts neben dem Eingang ist der Lichtschalter für den Flur. Eine Tür steht offen, die in den Keller führt. Ein modriger Geruch steigt von dort herauf. Die zweiundzwanzigjährige Frau steigt die Treppe des düsteren Treppenhauses hinauf und wird von ihrer Freundin abgeholt. Die erste Tür auf der linken Seite führt in Gertruds Schlafzimmer, leer bis auf ein schmales Bett, ein winziges Pult und ein riesiges Grammophonmöbel aus Ahorn und eine Tür in die Küche. Geradeaus liegt die Stube. Sie fragt nach dem Klo, Gertrud verweist sie auf eine weißgescheuerte Tür im Treppenhaus, von der die Farbe in Streifen abblättert. Im Klo hängt ein scharfer Geruch und es ist kalt. Als Gertrud sie in die Küche winkt, erkennt sie vom Flur aus einen Mann. Er sitzt auf einem Schemel, reinigt sich die Brille und blättert in einer Zeitung. Dazu trinkt er kleine Schlucke aus einer Kaffeetasse. Über drei Sekunden haben die beiden Augenkontakt. Darauf offeriert er ihr einen Kaffee, berichtet, dass er eine Assistenz im Tierspital Zürich mache. Franziska ist aus Ritterwald im Berner Oberland hergereist, um Gertrud zu besuchen. Sie macht eine Ausbildung zur Bankangestellten in Bern. So hat es mir die Mutter später erzählt.
Nie hätte Franziska daran gedacht, dass ein Studierter sich für sie interessieren könnte. Die Bauernsöhne aus der Umgebung, das waren alles bodenständige Kerle. Sie lasen keine Zeitung. Ihre Hände waren schwer und voller Schwielen an den Händen. Ihre Stimmen waren rau, wenn sie über die Landwirtschaftspolitik fluchten und die Fäuste im „Bären“ auf den Tisch knallten. Sie zauderten nicht lange, wenn an Sonnabenden eine weitere Bierrunde offeriert wurde. Schließlich waren sie aus einem Grund hier. Sie hatten auf Wunsch des evangelischen Pfarrers miteinander auszumachen, wer sich sonntags in der Frühe in der reformierten Kirche zum Handläuten der Glocken einzufinden habe. Keiner wollte sich aufraffen und so blieb die Aufgabe bei demjenigen hängen, der am meisten Bier getrunken und den „Bären“ lang nach Mitternacht verlassen hatte. Von den drei Glocken hing je ein Seil in den Gemeinderaum. Diese mussten punkt viertel vor neun geläutet werden.