Der Kult - Michael Cordy - E-Book

Der Kult E-Book

Michael Cordy

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Beschreibung

Sie kennt die Farbe des Todes

Eine junge Frau befreit mehrere Personen aus einem brennenden Haus. Doch der namenlosen Heldin fehlt jede Erinnerung an ihr früheres Leben. Dafür besitzt sie die Gabe der Synästhesie und ist in der Lage, die Farbe der Aura zu erkennen, die jeden Menschen umgibt. Eine seltene Fähigkeit, für die sich nicht nur ein psychopathischer Killer, sondern auch der charismatische Anführer eines rätselhaften Kults brennend interessieren. Gemeinsam mit dem Psychiater Dr. Nathan Fox, zu dem sie eine tiefe Zuneigung entwickelt, macht sich die Unbekannte auf die Suche nach ihrer Vergangenheit.

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Michael Cordy

Der Kult

Thriller

Aus dem Englischen

von Katja Bendels

Wilhelm Heyne Verlag

München

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Die Originalausgabe THECOLOUROFDEATHerschien 2011 bei Transworld Publishers, a Random House Group Company, London

Vollständige deutsche Erstausgabe 05/2012

Copyright © 2011 by Michael Cordy

Copyright © 2012 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Babette Kraus

Umschlaggestaltung: Johannes Frick, Neusäß

unter Verwendung eines Motivs von © plainpicture/Arcangel

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-07367-1V002

www.heyne.de

Für meinen Vater und meine Mutter

Prolog

Portland, Oregon

Der kleine Junge ahnt nicht, wie nah er dem Tod ist. Er sitzt mit seiner älteren Schwester auf dem Rücksitz des Autos, das seine Eltern für den Urlaub gemietet haben, und freut sich auf seine Geburtstagsparty. In zwei Tagen wird er elf Jahre alt. Er liebt diese Familienurlaube bei seiner Tante und seinem Onkel in Oregon. Hier oben im Nordwesten der USA ist alles viel prachtvoller als in England. Die Sommer sind heißer, der Himmel ist blauer, die Autos sind größer und die Strände weißer. Die riesigen Mammutbäume, die sie heute besichtigt haben, lassen selbst die mächtigsten Eichen daheim in Cornwall winzig erscheinen. Nur die Schwester des Jungen unterbricht seine Tagträume, als sie anfängt, sich selbst in den Unterarm zu kneifen.

»Ali, hör auf«, fleht er. Sie lächelt gelangweilt, schiebt ihren Unterarm noch etwas näher an sein Gesicht heran und kneift noch etwas fester. Manchmal hasst er seine große Schwester und wünscht sich, sie würde einfach verschwinden.

Seine Mutter dreht sich auf dem Beifahrersitz um. »Was ist los?«

»Sie kneift sich in den Arm!«

»Na und? Ist ja schließlich mein Arm. Er braucht ja nicht hinzugucken.«

»Hör auf damit, Alice. Du weißt genau, dass dein Bruder bei so was empfindlich ist.« Seine Mutter lächelt ihn an. »Schau einfach gar nicht hin, Nathan.«

»Wir müssen tanken«, bemerkt sein Vater.

»Aber wir sind ja schon in Portland, Richard. Meinst du nicht, wir schaffen es noch bis zu Samantha und Howard?« Nathan liebt den amerikanischen Akzent seiner Mutter. Manchmal wünscht er, sein Vater wäre auch Amerikaner, dann könnten sie immer hier leben.

»Das will ich nicht riskieren, Jenny. Außerdem ist es schon spät.« Sein Vater zeigt auf eine Chevron-Tankstelle. »Wir tanken hier und rufen die beiden an, um ihnen zu sagen, wann wir zurück sind.« Er fährt auf den Hof der Tankstelle und dreht sich zu den beiden auf der Rückbank um. »Ihr beide bleibt im Wagen.«

»Ich will aber aussteigen. Es ist so langweilig im Auto«, stöhnt Alice, als wäre Langeweile das Furchtbarste auf der Welt.

»Lasst uns alle aussteigen«, sagt seine Mutter. »Dann können wir uns ein wenig die Beine vertreten und noch mal zur Toilette gehen.«

Die kleine Glocke an der Eingangstür läutet, als sie den Tankstellenshop betreten. Nathans Vater bleibt am Auto, während seine Mutter zum Telefon in der Ecke geht und Alice auf der Toilette im hinteren Teil verschwindet. Nathan arbeitet sich durch die Comics im Zeitschriftenregal, bis er auf einen Superman-Comic stößt, den er noch nicht kennt. Die Glocke an der Eingangstür läutet erneut, als sein Vater zum Bezahlen hereinkommt. Nathan ist so vertieft in den Comic, dass er gar nicht bemerkt, wie seine Schwester zurückkehrt und die Türglocke zum dritten Mal läutet. Erst als seine Mutter ihn am Arm packt und zu sich heranzieht, schaut er auf und sieht die Angst in ihren Augen. Das Gesicht seines Vaters ist wie versteinert. Alice ist ganz bleich, als Richard ihnen ein Zeichen gibt, näher zusammenzurücken. Irgendetwas stimmt nicht.

Dann sieht er die beiden Männer, und ein kaltes Gefühl der Übelkeit macht sich in seinem Magen breit. Sie tragen schwarze Mäntel mit Kapuzen, die ihre Gesichter verbergen. Nathan sieht, wie einer von ihnen eine Pistole unter seinem Mantel hervorholt, der andere eine abgesägte Schrotflinte. Doch die beiden Männer schenken dem Jungen und seiner Familie keine Beachtung und konzentrieren sich nur auf den asiatischen Verkäufer hinter der Ladentheke. Der Kerl mit der Pistole zeigt auf die Kasse. Auf seinem rechten Unterarm schlängelt sich eine tätowierte Kobra um den Schaft eines seltsam geformten Kruzifixes mit einer Schlaufe statt eines senkrechten Balkens am oberen Ende. »Hey, Jackie Chan! Mach die Kasse leer.« Der Angestellte nickt nervös und greift unter den Tresen.

Einen Moment lang herrscht gespenstische Stille.

Dann brüllt der Kerl mit der Schrotflinte: »Das Scheiß-Schlitzauge hat den Alarm ausgelöst!« Er macht einen Schritt nach vorn und schießt aus beiden Läufen. Nathan kneift gerade noch rechtzeitig die Augen zu. Als er sie wieder öffnet, ist der Kassierer hinter der Theke verschwunden. Da, wo er eben noch gestanden hat, tropft Blut von einem Stapel Kartons wie roter Sirup.

»Was machen wir jetzt?«, fragt Pistole aufgedreht.

Schrotflinte greift über die Ladentheke und nimmt das Geld aus der Kasse. »Abhauen, würd ich sagen.« Als Schrotflinte zur Tür geht, sieht Nathan, dass er das gleiche Tattoo hat wie sein Kumpan: eine Kobra, die sich um ein seltsam geformtes Kruzifix schlängelt.

»Was ist mit denen da?«, fragt Pistole plötzlich und dreht sich zu Nathan und seiner Familie um, die noch immer wie aufgereiht dastehen: erst Mama, dann Papa, Alice und er.

Schrotflinte öffnet achselzuckend die Tür. »Wir haben das eine Schwein kaltgemacht, dann können wir auch die anderen abmurksen. Ich mach den Wagen startklar.« Als Pistole die Waffe hebt und die Muskeln in seinem Unterarm spannt, starrt Nathan wie gebannt auf das Schlangentattoo, das jetzt zum Leben erwacht.

»Sie müssen das nicht tun«, fleht Nathans Vater mit eindringlicher Gelassenheit. »Ich bin Arzt. Vielleicht kann ich den Mann noch retten…«

Pistoles Hand zittert, und die Kobra fängt an zu tanzen. »Maul halten«, knurrt er. »Du kannst niemanden retten. Du bist nicht mal’n Furz in der Hölle wert. Ihr seid nicht auserwählt. Ihr gehört nicht zu uns. Ihr seid nichts als Schweine.« Und dann sieht Pistole den Jungen direkt an. Trotz der Kapuze fällt ein Lichtstrahl auf die geweiteten Pupillen in den blutunterlaufenen Augen des Mannes, und Nathan weiß: Er wird sie alle töten. Das Comicbuch gleitet aus seinen tauben Fingern zu Boden, und instinktiv dreht er sich zu seiner Mutter…

Da knallt der erste Schuss.

Der Junge spürt, wie die Kugel ihn trifft.

Spürt den brennenden, unerträglichen Schmerz.

Dann nichts mehr.

Als er wieder zu Bewusstsein kommt, kniet ein junger Polizist neben ihm. Auf dem Abzeichen seiner marineblauen Uniform steht »Portland Police«.

»Na komm, mein Junge. Du kannst sie jetzt loslassen. Wir kümmern uns um sie. Komm mit mir.«

Wie in einem grässlichen Albtraum schaut Nathan an sich hinab und sieht, dass er Alice in seinem Schoß hält. Ihre Augen starren zu ihm herauf, aber sie sind so leblos wie die einer Puppe. Sie hat eine Schusswunde in der Brust, einen tiefen schwarzen Brunnen aus Blut. Dann erinnert er sich an ihren Streit im Auto und ihm wird schlecht. »Das ist meine Schwester«, sagt er benommen.

Er will nach seinen Eltern sehen, aber der Polizist zieht ihn auf die Füße. »Schau nicht hin, mein Junge. Glaub mir, es ist besser so.« Er untersucht den blutverschmierten Jungen, aber das Blut ist nicht von ihm. »Du bist nicht verletzt. Wieso bist du nicht verletzt?« Nathan spürt den beinahe anklagenden Unterton in der Ungläubigkeit des Polizisten. Er selbst ist kein bisschen erleichtert, weil er nicht verwundet wurde, nur verwirrt.

Wieso ist er noch am Leben?

»Komm mit«, sagt der Polizist und öffnet die Tür. »Für deine Familie kannst du nichts mehr tun, aber wenigstens bist du jetzt in Sicherheit.« Das Läuten der Türglocke lässt den Jungen zusammenfahren. Draußen hat sich eine kleine Menschenmenge um die Polizeiwagen mit ihren hellen Blaulichtern versammelt. Benommen und vom grellen Licht geblendet, bleibt Nathan stehen und blinzelt. Er hört seinen Namen und schaut in die Richtung, aus der die vertraute Stimme kam. Als er jemanden auf ihn zulaufen sieht, glaubt er für einen kurzen, wunderbaren Moment, seine Mutter habe überlebt. Dann erkennt er, dass es ihre Schwester ist, Tante Samantha, und das süße Trugbild verlöscht für immer. Sie nimmt ihn in die Arme und drückt ihn ganz fest an sich.

»Du bist in Sicherheit«, flüstert sie. »Wir werden jetzt für dich sorgen.« Hinter ihr sieht Nathan Onkel Howard. Sein Gesicht ist schneeweiß vor Schreck, und er sieht wütend aus.

Der Polizist beugt sich ganz nah an Nathan heran. »Was genau ist da drin passiert, Junge?«

Nathan vergräbt sein Gesicht im Mantel seiner Tante. Ihr Parfüm erinnert ihn an seine Mutter. »Ich weiß nicht«, antwortet er. »Zwei Männer sind reingekommen. Sie hatten Waffen. Und sie haben den Mann an der Kasse getötet. Aber ich weiß nicht, was dann passiert ist. Ich kann mich nicht erinnern.« Mit großen schmerzerfüllten Schluchzern beginnt er zu weinen. »Ich kann mich an nichts mehr erinnern.«

»Das ist okay, Nathan«, beruhigt ihn seine Tante. »Das ist jetzt nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass du in Sicherheit bist.«

Aber sie irrt sich. Es ist wichtig. Zu wissen, wie seine Eltern und seine Schwester starben, und zu verstehen, wieso er nicht mit ihnen starb, bedeutet ihm mehr als alles andere auf der Welt.

Erster Teil

Das Echo der Sterbenden

1

Portland, Oregon. Neunzehn Jahre später

Es war Juni, die junge Frau spürte die kühle Nachtluft auf ihrer Haut, während sie durch die leeren Straßen lief. Irgendwo heulte die Sirene eines Krankenwagens, und vor ihren Augen entfaltete sich der klagende Ton zu einem Band aus roten und blauen Farben, das über den dunklen Himmel flackerte. Die neuen Geräusche, Bilder und Gerüche der fremden Stadt drohten ihre Sinne zu überwältigen. Wolken verdeckten den Mond und die Sterne, aber die Straßenlampen verdrängten die samtene Dunkelheit und ließen gespenstische Schatten in ihren Augenwinkeln tanzen. Um sie auf Distanz zu halten, lief sie in der Mitte des Bürgersteigs, den Blick starr geradeaus gerichtet. Mit einer Hand umklammerte sie nervös das herzförmige Medaillon an ihrem Hals, während sie sich mit der anderen durch die kurzen Haarstoppel fuhr und dabei unbewusst nach den blonden Locken suchte, die sie geopfert hatte, um nicht erkannt zu werden. Trotz allem, was geschehen war, sehnte sie sich danach, die letzten Tage einfach zu vergessen und sich wieder dem Zustand seliger Unwissenheit zu überlassen, verspürte Heimweh nach der einst so idyllischen Welt, aus der sie geflohen war.

Auf dem Weg zum Busbahnhof kam sie jetzt durch Straßen mit Bäumen und Gärten und entspannte sich ein wenig. Die Häuser standen hier weiter auseinander, und es war ruhiger, so als würden alle um sie herum schlafen. Sogar die Geister. Sie sah zum Himmel hinauf. In ein paar Stunden würde es dämmern. Ein erleichtertes Lächeln huschte über ihr Gesicht– Sommersprossen, hervorstechende Wangenknochen und helle, gequälte Augen– und sie entspannte sich ein wenig. Vielleicht würde es ihr ja gelingen, hier draußen bei den Menschenkindern zu überleben. Sie würde mit dem Bus die Küste hinunter nach Kalifornien fahren, an den Ort, an dem sie geboren wurde, und noch einmal von vorn beginnen. Ihre Mutter hatte gesagt, es wäre schön dort und dass man sich dort unten buchstäblich neu erfinden und der Mensch werden könnte, der man immer sein wollte.

Ein Streifenwagen näherte sich, das Brummen seines Motors eine Symphonie aus Grüntönen. Ängstlich umklammerte sie das Medaillon noch etwas fester und glitt in den unbeleuchteten Gartenweg des nächsten Hauses. Als der Wagen im Dunkel der Nacht verschwand, atmete sie erleichtert auf und lehnte sich gegen die Mauer. Doch plötzlich, als hätte sie sich an den roten Klinkern verbrannt, bog sie den Rücken durch und machte einen Satz nach vorn. Das stille, unbeleuchtete Haus unterschied sich äußerlich nicht von den anderen– zwei Etagen, geschlossene Fensterläden und ein rotes Ziegeldach–, doch sie hatte gelernt, wie sehr der Schein trügen konnte. Vorsichtig, wie ein Arzt, der sein Stethoskop an die Brust seines Patienten hält, legte sie die Handfläche gegen die Mauer. Sie war jetzt ganz weiß im Gesicht, so bleich wie der Mond, der unvermittelt zwischen den dunklen Wolken auftauchte, die über den Nachthimmel jagten. Ihr Instinkt befahl ihr fortzulaufen, diesen Ort sofort zu verlassen. Doch eine leise innere Stimme bestärkte sie darin, ihre Furcht zu besiegen und zu vertreiben. Die Hand wie eine Wünschelrute ausgestreckt, ließ sie sich von ihr an der Hauswand entlangführen. Je weiter sie ging, desto größer wurde ihre Angst, doch sie wusste, dass es kein Zurück mehr gab. Die Nacht war still, aber sie konnte Dinge hören, schreckliche Dinge, und sie konnte sehen, wie…

Sie kniff die Augen zusammen, doch ihr inneres Auge konnte sie nicht verschließen. Den Blick nach unten auf den Steinweg gerichtet, stieg sie über etwas, das nur sie allein sehen konnte, und stand plötzlich vor einer massiven Holztür. Die Tür war verschlossen. Sie fühlte sich erbärmlich, aber sie wusste, dass dies der Moment der Entscheidung war. Kämpfen oder fliehen. Verschwinde von hier oder brech diese Tür auf. Hektisch schaute sie sich um und sah einen Lastwagen unter einem großen Carport. Daneben lag ein Stapel Holz. Und eine Axt.

Wie in Trance griff sie danach und testete die Schärfe der Schneide. Ihr Vater hätte mit ihr geschimpft, wenn sie die Axt so stumpf hätte werden lassen, aber es würde ausreichen. Der Gedanke an ihn verwandelte ihre Angst in Wut und bestärkte sie in ihrem Entschluss. Sie nahm all ihre Kraft zusammen, atmete tief durch und schwang die Axt. Mit geübten, kraftvollen Schlägen, die man bei ihrer zarten Figur nicht erwartet hätte, schlug sie die Schneide in die Tür und versuchte dabei mit jedem Schlag, die Schreie in ihrem Kopf durch das Geräusch des berstenden Holzes zu übertönen. Als sie durch die zersplitterte Tür trat, stand sie auf dem Absatz einer modrigen Steintreppe, die hinab in den dunklen Bauch des Hauses führte. Trotz der Kraftanstrengung und der warmen Nachtluft zitterte sie.

Weitere Schreie, manche ängstlich, manche wütend, schallten aus der Dunkelheit herauf, doch es war schwierig zu unterscheiden, ob sie real waren oder nur in ihrem Kopf. Am Fuß der Treppe stieß sie auf einen feuchten Gang, der von einem dämonischen roten Leuchten erhellt wurde. Wie eine verlorene Seele am Eingangstor zur Hölle schritt sie der Quelle des Lichts entgegen, vorbei an einem Generator mit zwei Kanistern voll Kerosin und einer roten Wandleuchte. Mit jedem Schritt wurden die Schreie lauter. Dann öffnete sich der Gang zu einem Raum, dessen Wände aussahen, als wären sie mit Brettern verkleidet. Es dauerte einen Moment, bis sie erkannte, dass sie von Holzkäfigen voll junger Frauen umgeben war, die sie mit hohläugigen Blicken halb panisch und halb hoffnungsvoll anstarrten. Die Frauen waren jünger als sie selbst, kaum mehr als Teenager. Sie schwang die Axt und zertrümmerte die Türen der mit Vorhängeschlössern gesicherten Verschläge zu Kleinholz. »Lauft«, rief sie, während sie die Mädchen aus ihren Käfigen zog und zum Ausgang schob. »Seht zu, dass ihr hier rauskommt!«

Als sie die letzten der noch ganz benommenen Mädchen hinausbrachte, hörte sie wütende Männerstimmen durch die Schreie dringen. Sie drehte sich um und sah zwei Männer auf sich zulaufen. Der erste, ein untersetzter Kerl mit Glatze, kam keuchend näher, sein Gesicht zu einer zornigen Fratze verzerrt. Am Ende des dunklen Gangs sah sie zwei weitere Männer die Kellertreppe runterstürmen. Sie alle waren bewaffnet und redeten in einer Sprache, die sie nicht verstand. Die unbekannten Laute hinterließen einen seltsamen Geschmack auf ihrer Zunge. Sie ließ die schwere Axt fallen und rannte zum Ausgang. Der Knall des ersten Schusses ließ einen roten Blitz vor ihren Augen auflodern wie eine geplatzte Ader. Der zweite Schuss traf sie an der Schläfe und ließ sie gegen die Betonwand taumeln. Benommen kam sie wieder auf die Beine. Sie biss die Zähne zusammen und stolperte weiter. Gerade, als sie am Generator vorbeirannte, knallte der dritte Schuss. Doch diesmal klang und schmeckte es anders– nach Metall.

Die Kerosinkanister.

Einen Moment lang blieb die Zeit stehen. Dann ließ die Explosion ein Kaleidoskop an Farben vor ihren Augen aufblitzen. Die heiße Druckwelle warf sie zu Boden. Die Farben verschwanden. Es gab nur noch schwarz.

2

In einem anderen Teil der Stadt fuhr Dr. Nathan Fox aus dem Schlaf und sah sich in dem nur schwach erleuchteten Raum um. Er saß zusammengesackt auf einem Sessel, sein Rücken schmerzte, und einen Moment lang wusste er nicht, wo er sich befand. Das hier war ganz eindeutig nicht seine Wohnung. Dann sah er das Bett, und die Erinnerung kehrte zurück. Er befand sich in einem der privaten Krankenzimmer des Oregon University Research Hospitals. Es war wohl das erste Mal seit seinem Medizinstudium, dass er die Nacht im Krankenhaus verbracht hatte. Aber heute war er nicht im Dienst. Diesmal hatte er persönliche Gründe.

Er stand auf und betrachtete den Patienten im Krankenbett. Wie er da so ruhig lag, die Augen geschlossen, wirkte das ausgemergelte Gesicht des Mannes entspannt und friedlich. Im weichen Licht der Nachttischlampe hätte man fast meinen können, er wäre gesund. Nur sein gequältes Atmen verriet Fox, dass die Lungenentzündung das letzte Stadium erreicht hatte. Seit sie die Antibiotika abgesetzt hatten, war die Krankheit rasch vorangeschritten. Die Lungenentzündung war jedoch nicht der eigentliche Killer, nur der gnädige coup de grâce. Als Fox sanft über die verschwitzte Stirn des Patienten strich, öffneten sich die Augen des Mannes für einen kurzen Moment, starrten mit leerem Blick in den Raum und schlossen sich wieder. Wenigstens bot das Morphium ihm ein wenig Erleichterung.

Ein leises Seufzen ließ Fox zu der Frau hinübersehen, die auf dem Sofa neben dem Bett lag. Auch sie hatte die ganze Nacht am Krankenbett verbracht, und als er nun ihre Decke glatt strich, war er froh, dass sie ein wenig Schlaf gefunden hatte. Es würde bald hell werden. Gähnend streckte er seine Beine und schaute auf die Uhr. In wenigen Stunden kam sein erster Patient, und er war dankbar für die Ablenkung, die seine Arbeit ihm bieten würde. Vorher aber wollte er im Park des Krankenhauses noch eine Runde joggen gehen, um wach zu werden. Auf dem Gang traf er die Oberschwester.

»Alles in Ordnung, Dr. Fox?« Unwillkürlich streckte sie eine trostspendende Hand nach ihm aus, doch ebenso unwillkürlich verlagerte er sein Gewicht und wich ihrer Berührung mit einer kaum merklichen Bewegung aus. »Kann ich Ihnen irgendetwas bringen?«

Er lächelte. »Danke, Kate. Könnten Sie sich bitte um Samantha kümmern, wenn sie wach wird? Ich komme später noch mal rein, um nach den beiden zu sehen, aber geben Sie mir Bescheid, sobald sein Zustand sich ändert.«

Gut zwei Stunden später– nach einer Joggingrunde durch den Park, einer heißen Dusche und einem Milchkaffee mit zwei Stückchen Zucker in der Krankenhauskantine– saß Fox mit seinem ersten Patienten an diesem Morgen in seinem kleinen Büro in der Abteilung für Psychiatrie und Neurologie. Ihm gefiel die Abwechslung, die seine Arbeit ihm bot. Obwohl er seine ambulanten Patienten hier im Hauptgebäude betreute, verbrachte er den größten Teil seiner Zeit in »Tranquil Waters«, der speziellen stationären psychiatrischen Klinik des Krankenhauses. Daneben fand er sogar noch Zeit für seine Arbeit als Gerichtsmediziner. Sein Patient an diesem Vormittag hatte an Fox’ neuster Studie teilgenommen, und schon seine ersten Worte hoben die Stimmung des Arztes.

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr die Therapie mir geholfen hat, Doktor. Sie haben mir mein Leben zurückgegeben.«

»Das freut mich, John. Das freut mich wirklich sehr.« In Gedanken verglich Fox den freudestrahlenden jungen Mann, der ihm an seinem Schreibtisch gegenübersaß, mit dem verzweifelten, gehetzt wirkenden Patienten, dem er vor sechs Monaten zum ersten Mal begegnet war. Damals war John Fontana von einer Zwangsstörung tyrannisiert worden, ausgelöst durch die jahrelange Mitgliedschaft in einer religiösen Sekte. Fox war stolz auf seine professionelle Objektivität, aber er hasste Sekten und Kulte und all die Schäden, die sie anrichteten. Johns Zwangsstörung manifestierte sich weniger in handfesten Handlungen, sondern vielmehr in destruktiven Gedanken (er war davon überzeugt, vom Teufel besessen zu sein), was sich nur schwerlich durch eine Verhaltenstherapie in den Griff bekommen ließ. Sein Zustand hatte John in den letzten fünf Jahren weder arbeiten noch schlafen lassen, auch hatte er keinerlei Sozialleben– oder überhaupt irgendeine nennenswerte Art von Leben– führen können. Schließlich, nachdem alle anderen therapeutischen Ansätze versagt hatten, war John in Fox’ experimentelle Studie aufgenommen worden. Der Arzt überflog Johns Krankenakte und stellte ihm ein paar gezielte Fragen: »Wie würden Sie Ihren aktuellen Angstlevel einstufen, John?«

»Im Großen und Ganzen würde ich sagen, er hat sich halbiert, von zehn auf fünf. Manchmal gibt es tatsächlich Momente, in denen ich meine Zwangsstörung ganz vergesse. Ich arbeite sogar wieder in meinem alten Job.«

»Sie arbeiten wieder. Das ist großartig. Wie ist es mit dem Schlafen? Nehmen Sie noch Valium oder Chlorpromazin?«

»Nein, ich schlafe gut. Ich nehm nur noch die Prozac und das Risperidon, das Sie mir verschrieben haben.«

»Irgendwelche Nebenwirkungen?«

»Immer noch das trockene Gefühl im Mund, von dem ich Ihnen letztes Mal schon erzählt habe. Und ich hab ein bisschen zugelegt, aber damit kann ich leben: dick und glücklich.«

Fox lächelte und notierte sich die Fortschritte seines Patienten. »Gehen Sie noch zu den ACT-Sitzungen?«

»Hab noch keine einzige verpasst. Die helfen wirklich, mich von dem, was in meinem Kopf abgeht, zu distanzieren.«

»Ausgezeichnet.« Fox warf noch einen letzten prüfenden Blick in die Krankenakte und klappte sie dann zu. Von den dreißig Patienten, die an seiner Studie teilnahmen, hatten achtundzwanzig deutliche Fortschritte gemacht. »Wenn das so ist, John, freue ich mich darauf, Sie in einem Jahr wiederzusehen, um zu schauen, wie es Ihnen geht. Nehmen Sie bitte weiterhin die Tabletten und gehen Sie zu den Sitzungen.« Er erhob sich. »Alles Gute, John.«

»Sie haben mir das Leben gerettet, Dr. Fox.« John machte Anstalten ihn zu umarmen, doch Fox ergriff die Hand seines Patienten und schüttelte sie. »Ich kann Ihnen gar nicht genug danken.«

»Glauben Sie mir, wenn ich sehe, wie gut es Ihnen geht, ist das mehr als genug.« Fox lächelte. »Vielmehr danke ich Ihnen dafür, dass Sie an der Studie teilgenommen haben. Ihr Mut, sich freiwillig zu melden, wird es uns ermöglichen, auch anderen zu helfen.« Als er John zur Tür gebracht hatte, kehrten Fox’ Gedanken wieder zu dem Mann zurück, an dessen Bett er in der vergangenen Nacht gesessen hatte, und das Lächeln um seinen Mund erstarb. Er wünschte, er hätte ihm ebenso helfen können. Die Tür war gerade hinter John ins Schloss gefallen, als es leise klopfte und sie sich erneut öffnete. Aus dem Gesichtsausdruck der Schwester und dem Umstand, dass sie selbst gekommen war, um ihn zu benachrichtigen, las er alles, was er wissen musste. »Es ist so weit.«

»Ja, Dr. Fox.«

Seit dem Tag, an dem seine Eltern und seine Schwester gestorben waren, hatte Fox gelernt, sich von Gefühlen wie Schmerz und Verlust zu distanzieren, doch sobald er das Zimmer betrat, in dem er in der letzten Nacht Wache gehalten hatte, wurde ihm klar, dass es nicht immer möglich war. Immer wieder wurde er gefragt, wie ein Mensch mit so viel Empathie in der Lage sein konnte, sich in die Gedankenwelt seiner Patienten hineinzuversetzen, ohne in irgendeiner Weise davon beeinflusst zu werden, und jedes Mal antwortete er: Man muss die Distanz wahren. Wenn man sich nicht abgrenzte, wurde man verwundbar und verlor den Durchblick. Privat hatte diese Einstellung ihn schon einige Freundinnen gekostet, die in ihm zunächst den perfekten Ehemann gesehen hatten, aber im Allgemeinen war er ganz gut damit gefahren– und vor allem sicher. Im Allgemeinen.

Er nahm den Fahrstuhl in die dritte Etage und konnte sich nur mit Mühe davon abhalten, über den langen Gang zu rennen, um möglichst schnell in das Krankenzimmer zu kommen. Als er sich dem Bett näherte und der Frau, die sich über den Patienten gebeugt hatte, spürte Fox, wie alle Schutzschilde von ihm abfielen. Onkel Howard und Tante Samantha, die ihn trotz ihrer Entscheidung, niemals Kinder zu bekommen, aufgezogen hatten wie ihren eigenen Sohn, waren die einzigen Menschen auf der Welt, bei denen Fox’ Strategie, sich niemals zu binden und immer emotionale Distanz zu wahren, nicht funktionierte. Howard hatte niemals versucht, seinen Vater zu ersetzen, und doch hatte er es in so vielen Dingen getan. In den schwärzesten Stunden seines Lebens, als Fox in unerträglicher Trauer zu versinken drohte, war sein Onkel wie ein Leuchtturm in die Dunkelheit getreten und hatte ihm unerschütterliche und bedingungslose Liebe geschenkt. Samantha sah Fox ins Zimmer treten und streckte ihre Hand nach ihm aus. »Sie sagen, dass es nicht mehr lange dauern wird, Nathan.«

Fox legte ihr den Arm um die Schulter und küsste sie auf die Wange. »Bald wird er nicht mehr leiden müssen.« Er prüfte den Puls seines Onkels, horchte auf sein gequältes Atmen und öffnete den Morphium-Hahn noch ein wenig. Seine Eltern und seine Schwester waren in einem einzigen Moment von ihm gerissen worden, als er noch zu jung war, um zu verstehen, was da passierte. Seinen Onkel dagegen hatte die Alzheimer-Krankheit über viele Jahre, Tag für Tag, Hirnzelle für Hirnzelle fortgenommen, während Fox als Arzt genau gewusst hatte, was geschah.

Plötzlich keuchte Howard rasselnd auf und öffnete die Augen. Er streckte den Arm aus und ergriff Fox’ Hand. Samantha beugte sich zu ihm hinab. »Howard, Howard, ich bin es, Samantha.« Sie streichelte sein Gesicht. »Nathan und ich sind hier.« Howard sah erst sie an, dann Fox, und der Blick in seinen fiebrigen Augen wurde klarer. Zum ersten Mal seit langer Zeit war Fox davon überzeugt, dass sein Onkel wusste, wer sie waren. Dann löste sich Howards Griff, und seine Hand fiel zurück auf das Bett. Mit rotgeränderten Augen sah Samantha ihren Neffen an und lächelte.

Fox nickte. »Er weiß, dass wir hier sind und dass er nicht allein ist.«

Wenig später tat Howard einen letzten flachen Atemzug, gab einen rasselnden Seufzer von sich und war dann ganz still. Samantha, die um Fox’ willen immer so stark gewesen war, fiel in seine Arme und weinte. »Er hat uns erkannt«, schluchzte sie. Überraschung und Erstaunen dämpften ihren Schmerz. »Ich glaube, er wollte sich von uns verabschieden.«

Fox sagte nichts, schlang einfach nur seine Arme um ihre zierliche Gestalt und hielt sie ganz fest, damit sie nicht fiel.

3

Die Flammen loderten in den Himmel und gaben dem Viertel mit seinen unscheinbaren rot geklinkerten Häusern, die sich schemenhaft in der Dämmerung abzeichneten, den Anschein von Dramatik und Bedrohung. Die roten Wagen der Feuerwehr von Portland waren bereits da, während uniformierte Polizisten die kleine Menschenmenge, die sich trotz der frühen Stunde vor dem Haus versammelt hatte, zurückdrängten. Ein Stück weiter halfen andere Polizisten und Sanitäter einer Gruppe Mädchen, die in dicke Decken gehüllt waren, in einen Bus.

Chief Detective Karl Jordache stieg aus dem Wagen und nahm einen Schluck von dem schwarzen Arabica, den seine Frau für ihn gekocht und in die Thermoskanne gefüllt hatte. Der Detective war nicht besonders groß, aber kräftig gebaut– zu kräftig nach Meinung seines Arztes, der ihm eine cholesterinreduzierte, fettreduzierte und geschmacksfreie Diät verordnet hatte. Trotzdem saß sein dunkelgrauer Anzug perfekt und er war ein guter Läufer.

»Und, Danny, was haben wir?«, rief er dem nächststehenden Polizisten zu.

Der schaute in seinen Bericht und zeigte auf die Mädchen, die gerade in den Bus stiegen. »Waren mindestens elf Mädchen da unten, Chief. Sie sagen, man hätte sie entführt und unten im Keller eingesperrt. Die Jungs von der Feuerwehr meinen, wegen der Holzkäfige hätte das Haus gebrannt wie Zunder. Und wegen des Kerosins natürlich. Der ganze Keller stinkt danach.«

»Was sind das für Mädchen?«

»Ein paar Amerikanerinnen, die von zu Hause abgehauen sind, aber hauptsächlich Illegale aus Osteuropa. Haben die Russenmafia dafür bezahlt, sie in die USA zu schmuggeln und ihnen einen Job zu beschaffen. Sehen Sie die Kiefern da hinten am anderen Ende des Gartens? Ein paar von den Mädchen, die versucht haben zu fliehen, sind dort verscharrt worden.«

»Wer hat eigentlich behauptet, die Sklaverei wäre abgeschafft?«, murmelte Jordache müde. »Diese Scheißkerle versprechen den Mädchen Geld und ein besseres Leben, dann sperren sie sie ein, nehmen ihnen die Pässe ab und machen sie drogenabhängig, bevor sie sie in die Prostitution zwingen.« Er seufzte. »Die Mädchen sind ja kaum älter als meine beiden Töchter. Sind alle heil rausgekommen?«

»Jepp.«

»Und was ist mit den Russen?«

»Die haben sie mit ins Präsidium genommen. Zwei von ihnen haben ziemlich ernste Verbrennungen, aber sie werden’s überleben.«

»Wie schade.« Jordache sah zu, wie die Sanitäter eine schwarze bewusstlose Gestalt zum Krankenwagen trugen. »Ist sie das? Die geheimnisvolle Retterin?«

Ein Nicken. »Die Mädchen nennen sie ihren Schutzengel.«

»Wohl eher ein Racheengel. Hab gehört, sie ist mit ’ner Axt in der Hand aus dem Nichts gekommen und hat auf die Käfige eingeschlagen.«

»Ja, so haben es die Mädchen erzählt. Und die Russen sagen dasselbe. Angeblich war sie allein. Die Russen dachten, sie wär von der Polizei.«

»Von der Polizei? Zu uns gehört sie jedenfalls nicht.«

»Soweit wir wissen, gehört sie zu niemandem. Sie ist nirgendwo gemeldet. Niemand weiß, wer sie ist, woher sie kommt, was sie hier gemacht hat oder woher sie überhaupt von den Mädchen da unten im Keller wusste. Sie hat keinen Ausweis, nichts, nur ein silbernes Medaillon, das sie um den Hals trägt.«

»Ein wahres Mysterium, was?« Jordache beobachtete, wie die Sanitäter die junge Frau in den Krankenwagen luden und die Türen schlossen. Als sie losfuhren und die Sirenen aufheulten, stieg auch er wieder ins Auto. »Mach du das hier fertig, Danny. Ich werd mal sehen, was ich über unsere Freundin in Erfahrung bringen kann.«

Zwanzig Minuten später stand Jordache in der Notaufnahme des Portland General Hospitals vor einer Assistenzärztin mit ausgeprägtem Beschützerinstinkt, die sich standhaft weigerte, ihn zu der geheimnisvollen jungen Frau hinter den grünen Gardinen durchzulassen.

»Ich muss ihr dringend ein paar Fragen stellen, Doc.«

»Niemand wird ihr irgendwelche Fragen stellen«, entgegnete die Ärztin, »nicht bevor wir sie untersucht haben.«

»Hilfe!« Der Schrei, der hinter der Gardine hervordrang, klang so rau, dass er kaum menschlichen Ursprungs sein konnte. Die Assistenzärztin drehte sich um und zog die Gardine zurück. Die junge Frau hatte sich im Bett aufgesetzt und einen schwarzen Arm gegen die Wand gestützt. Mit dem anderen zeigte sie auf eine leere Krankenliege, die rechts neben ihr stand. »Helfen Sie ihm«, bat sie mit vom Rauch kratziger Stimme. Das Weiße ihrer vor Schreck weit aufgerissenen Augen wirkte ungewöhnlich hell in ihrem schwarzen Gesicht.

»Was ist los?«, fragte die Ärztin und eilte zu ihr. »Wem sollen wir helfen?«

Die junge Frau ließ sich wieder zurück aufs Bett fallen. »Dem Mann mit dem Messer in der Brust. Sehen Sie denn nicht das Blut? Bitte, tun Sie doch was! Er stirbt.«

Jordache blickte auf das leere Bett. »Da ist niemand«, sagte die Ärztin.

Verstört schüttelte die junge Frau den Kopf. Selbst voller Schmutz und Ruß besaß sie eine ätherische Schönheit, die nicht von dieser Welt zu sein schien. »Was geschieht mit mir?«, flüsterte sie.

Die Ärztin leuchtete in ihre Augen und untersuchte ihren Kopf. »Sie halluzinieren. Sie haben ein Trauma über der linken Schläfe erlitten. Die Kugel hat Sie nur gestreift, aber Sie waren eine Zeit lang bewusstlos und stehen noch immer unter Schock. Sie müssen schreckliche Dinge erlebt haben.«

Jordache trat näher. Die Augen der jungen Frau leuchteten wie von einer Lampe erhellt. Ihre Kleidung war einfach, wahrscheinlich selbst genäht: ein Oberteil aus Baumwolle, eine weite Jacke und dunkelblaue Jeans. Das einzig Auffällige war das silberne Medaillon um ihren Hals. An seiner Seite befand sich ein kleiner Verschluss, und der Detective fragte sich, was sich wohl in dem Schmuckstück befand. Wer war dieses Mädchen? Woher hatte sie von den anderen dort unten im Keller des Hauses gewusst? Und woher hatte sie bloß den Mut genommen, allein und nur mit einer Axt bewaffnet dort hineinzugehen? Als sie sah, dass er ihr Medaillon betrachtete, umklammerte sie es hastig und drückte es an die Brust, als hinge ihr Leben davon ab. Er lächelte. »Ich bin Detective Karl Jordache. Ich bin hier, weil ich Ihnen helfen möchte. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«

»Nicht jetzt…«, begann die Ärztin.

Die junge Frau legte ihr eine schwarze Hand auf den weißen Ärmel. »Bitte«, bat sie mit ihrer rauen, kratzigen Stimme, »darf ich etwas fragen?«

»Sicher«, antwortete Jordache und lehnte sich vor, bevor die Ärztin etwas einwenden konnte. »Schießen Sie los.«

Die junge Frau legte nachdenklich die Stirn in Falten, überlegte einen kurzen Moment und stellte dann exakt die Frage, die Jordache ihr hatte stellen wollen: »Wie lautet mein Name, Detective? Wer bin ich?« In ihrem Blick flackerte nackte Angst. Jordache kannte diesen Blick. In ihm leuchtete die Erkenntnis, dass sie sich selbst verloren hatte und den Weg zurück zu der Person, die sie einst war, nicht kannte. »Helfen Sie mir«, flehte sie. »Bitte, helfen Sie mir.«

4

Zehn Tage später

Seit der Beerdigung seines Onkels Howard war fast eine Woche vergangen, und Fox hatte seine Tante an diesem Morgen bereits zwei Mal versucht anzurufen, einmal aus seiner Wohnung im Nordwesten von Portland und einmal aus dem Auto auf dem Weg zu ihrem Haus. Samantha lag niemals noch nach sechs im Bett, und es war fast halb neun. Als er seinen alten verbeulten Porsche vor der Einfahrt abstellte, sah er ihren kleinen Ford. Also ist sie zu Hause, dachte er, während er an der Eingangstür der imposanten viktorianischen Villa gleichzeitig klingelte und den Messingklopfer betätigte. Die Beerdigung und das anschließende Kaffeetrinken waren überraschend fröhlich verlaufen, und seine Tante hatte es sichtlich genossen, in den Geschichten aus dem Leben ihres geliebten Mannes zu schwelgen. Dennoch hatte Fox es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Tag nach ihr zu sehen oder wenigstens anzurufen, in der Sorge, dass der emotionale Tiefpunkt und die Depression einsetzen würden, sobald die Trauergäste gegangen waren und Samantha wieder sich selbst überlassen hatten. Gewöhnlich rief er immer dann an, wenn er erwartete, dass sie sich ohne Howard am einsamsten fühlen würde, kurz nach dem Aufstehen und vor dem Schlafengehen. Obwohl sie immer guter Dinge war und ihm sagte, er solle sich keine Sorgen machen, war er entschlossen, für sie da zu sein, so wie sie und Howard immer für ihn da gewesen waren.

Er nahm seinen Schlüssel und öffnete die Tür zu dem Haus, in dem er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte, seit er elf Jahre alt gewesen war. Von irgendwoher drangen Stimmen. »Samantha?«

Auf dem Fernseher im Wohnzimmer lief ein Nachrichtensender. Ein Banner rollte über das untere Ende des Bildschirms: Wer ist der rätselhafte Racheengel? Die Frau, die Fox aus dem Fernseher heraus anstarrte, wirkte verloren und irgendwie mystisch. Ihre blasse Haut, ihr kurzes blondes Haar und die wunderschönen Augen zogen für einen Moment seine Aufmerksamkeit auf sich. Der Sprecher erklärte: »Bisher gibt es noch keine Hinweise auf die Identität der geheimnisvollen Retterin, die elf Mädchen aus ihrem Gefängnis im Haus eines Menschenhändlerrings in Portland befreit hat. Obwohl ihre Brandwunden und Verletzungen gut verheilen, soll sie zur weiteren Behandlung in eine psychiatrische Klinik überwiesen werden. Alle Versuche, die Identität der Frau mithilfe von Fingerabdrücken, Odontogrammen oder DNA-Abgleichen hier oder im Ausland zu ermitteln, sind bislang gescheitert. Falls Sie diese Frau kennen, melden Sie sich bitte unter der folgenden Telefonnummer…«

Fox schaltete den Fernseher aus und rief noch einmal, diesmal lauter. »Samantha? Samantha!« Nichts.

Er ging durch die einzelnen Zimmer des Hauses, vorbei an Fotos von seinen Eltern und seiner Schwester und an vollgestopften Bücherregalen. Das Haus war immer schon voller Bücher gewesen. Der Wasserkessel auf dem Herd in der Küche war noch warm und die Terrassentüren, die hinaus in den Garten führten, waren verschlossen. Doch kein Zeichen von Samantha.

Er stieg die Treppe hinauf in den ersten Stock. Oben angekommen blickte er zu den beiden Schlafzimmern am Ende des Korridors. Das Zimmer auf der rechten Seite gehörte seiner Tante, das auf der linken war einst sein Zimmer gewesen. Auf dem Weg dorthin kam er an zwei weiteren Türen vorbei, die in die beiden Arbeitszimmer führten. Er warf einen Blick in den vorderen Raum und lächelte erleichtert. Seine Tante saß an ihrem Schreibtisch, klein und zierlich wie ein Vögelchen, auf den Ohren zwei riesige Kopfhörer, deren Kabel zu einem schwarzen iPod führten, und schaute durch die dicken Gläser ihrer Lesebrille auf ein locker gebundenes Manuskript. Während sie Kaffee aus einem riesigen Becher schlürfte, bewegte sich ihr blassbrauner, mit silbernen Strähnchen durchzogener Bob im Takt zu dem Musikstück, das sie gerade hörte und das, so wie er Samantha Quail kannte, von Tschaikowski bis U2 alles sein konnte. Auch nach all den Jahren erinnerte sie ihn noch immer an seine zierliche Mutter. Fox hatte seine Körpergröße von seinem Vater geerbt, ebenso wie die beiden anderen Vermächtnisse, die er sich seit seiner Kindheit hartnäckig bewahrt hatte: seinen Nachnamen und den britischen Akzent. Mit ihrer Vorliebe für Kaftane und leuchtende Farben offenbarte Professor Samantha Quail ihre Wurzeln als vollwertiges Mitglied der Hippie- und Flower-Power-Generation. Für die Kaschmirjacken und Tweedröcke, die man normalerweise auf den Universitätsfluren sah, hatte sie sich noch nie erwärmen können.

Fox beschloss, sie nicht zu stören, und ging weiter ins angrenzende Zimmer. Obwohl niemand mehr dort gearbeitet hatte, seit ihr Mann an Alzheimer erkrankt war, hatte Samantha alles so belassen, wie es war. Fox konnte noch immer den Virginia-Pfeifentabak seines Onkels riechen und seine Anwesenheit im Raum spüren. Howard Quail war Professor für Ältere Geschichte und Archäologie gewesen, wie die Artefakte in den Vitrinen und die Unmengen von Büchern und Zeitschriften– viele davon von ihm selbst geschrieben– in den vollgestopften Regalen unschwer erraten ließen. Howards provokante und kontroverse Theorieansätze hatten nicht nur seine eigene akademische Karriere beeinflusst, sondern auch die seiner brillanten Ehefrau. Wäre Howard nur ein bisschen weniger rebellisch gewesen, dann würde Samantha heute wohl Quantenphysik an einer der Eliteuniversitäten des Landes unterrichten statt an der Portland State. Doch Fox vermutete, dass Samantha, selbst wenn Harvard oder das MIT ihr tatsächlich ein Angebot gemacht hätten, wohl geblieben wäre, wo sie war– als großer Fisch in einem kleinen Teich. Während Fox an den Regalen entlangschritt und Howards Bücher über die Vergangenheit betrachtete, musste er daran denken, wie ironisch es doch war, dass der Autor dieser Titel in den letzten Monaten vor seinem Tod jeglichen Bezug zur Gegenwart verloren hatte, ja nicht einmal mehr seinen eigenen Namen kannte.

Fox nahm einen flachen steinernen Briefbeschwerer vom Tisch. Er war etwa so groß wie ein Buch, glatt poliert und in einem kräftigen Rotbraun gefärbt. Sein Onkel hatte ihm einmal erklärt, dass es ein Teil eines Maya-Opfersteins war. Man hatte das Opfer darauf festgehalten und ihm das Herz herausgeschnitten, um den Göttern zu huldigen. Fox legte den Stein wieder an seinen Platz und griff nach dem silbernen Fotorahmen, der daneben stand. Der kleine Junge auf dem Bild trug einen weißen Karateanzug und hielt einen riesigen Pokal in den Händen, der beinahe so groß war wie er selbst. Neben ihm standen Howard und Samantha Quail, sie waren damals noch jung, und lächelten wie stolze Eltern. Der Junge starrte mit wütendem Blick direkt in die Kamera, und als Fox zurückstarrte, sah er sein heutiges, erwachsenes Gesicht in der Spiegelung der Glasscheibe. Das Feuer in seinen Augen loderte nicht mehr so wild, doch die Glut war nicht erloschen. Er erinnerte sich noch gut an den Tag– etwa sechs Monate nachdem der junge verwaiste Fox nach Amerika gekommen war, um von nun an bei Howard und Samantha zu leben–, an dem sein Onkel dem Direktor an seiner neuen Schule versprochen hatte, etwas gegen die Aggressivität seines Neffen zu tun.

Fox, der mit einer Bestrafung oder zumindest einer kräftigen Standpauke gerechnet hatte, war überrascht gewesen, als sein Onkel mit ihm zum nächsten Kaufhaus fuhr und ihn anwies, im Wagen zu bleiben. Wenig später war er mit einer Schachtel zurückgekommen und mit ihm zu einem seltsamen Gebäude am Stadtrand gefahren. Howard hatte seinen Neffen am Eingang abgesetzt und war kurz darauf mit einem ernstblickenden Japaner zurückgekehrt. »Du bist wütend, Nathan, und das ist okay«, hatte sein Onkel gesagt. »Nach dem, was mit deinen Eltern und mit deiner Schwester passiert ist, kann ich mir nur vorstellen, was du durchmachst, aber du musst lernen, deine Wut zu kontrollieren.« Er zeigte auf den Japaner neben sich. »Sensei Daichi hat sich bereit erklärt, dir dabei zu helfen.«

Daichi hatte den Kopf zur Begrüßung gesenkt. »Willkommen in meinem Dojo, Nathan-kun.« Dann hatte er sanft Fox’ blaues Auge berührt. »Wenn du kämpfen willst, Nathan-kun, dann schlage ich vor, dass du lernst, wie man es richtig macht. Karate ist Selbstverteidigung, nicht Selbstzerstörung. Es geht darum, sich zu schützen und Körper und Geist zu formen statt zu schädigen. Seit fünf Jahren bin ich der Sensei deines Onkels, und wenn du es wünschst, werde ich auch deiner sein.« Daraufhin hatte sein Onkel die Schachtel geöffnet, einen weißen Karateanzug herausgenommen und ihn aufgefordert, sich umzuziehen.

Fox stellte das Foto wieder auf seinen Platz. Wenn er die Augen schloss, konnte er den stetigen Refrain seines Sensei hören: »Lass sie niemals zu nah herankommen und verlier niemals die Kontrolle.« Er griff in eine der Vitrinen und nahm eine antike minoische Vase heraus, die sein Onkel in Knossos ausgegraben hatte. Diese dreitausend Jahre alte Vase in seinen Händen gab ihm das Gefühl, das Gewicht der Geschichte zu spüren, als wäre es greifbar. Als er sie zurückstellte, fiel sein Blick auf ein abgegriffenes Manuskript auf dem obersten Regalboden über dem Schreibtisch. Fasziniert las er den Titel, blies den Staub fort und blätterte durch die Seiten. Sein Handy klingelte. Er holte das iPhone, das er sich für seine privaten Gespräche zugelegt hatte, aus der Tasche, aber natürlich war es sein Diensthandy, das klingelte. Auf dem Bildschirm des BlackBerry leuchtete der Name: Chief Detective Karl Jordache.

»Hallo, Karl.«

»Nathan, hast du ’ne Minute?«

»Sicher, was kann ich für dich tun?«

»Du hast doch sicher von der Frau gehört, die die Mädchen vor den Russen gerettet hat, oder? Wir haben genug Beweise, um die Kerle festzunehmen, aber die haben das Haus nur gemietet, und jetzt wollen wir uns mal den Eigentümer vornehmen. Hinten im Garten haben wir zwei Leichen von Mädchen gefunden, die versucht haben zu fliehen, aber es fehlen noch welche. Die Russen behaupten, sie hätten die Mädchen dem Eigentümer überlassen, damit er den Mund hält, aber der bestreitet das. Er sagt, ihm gehört weit mehr als das eine Haus hier in Portland und er hätte nicht den blassesten Schimmer davon gehabt, was die da getrieben haben. Sein Papierkram ist in Ordnung, aber irgendwas stimmt da nicht.«

»Was soll ich machen?«

»Das, was du am besten kannst: Unterhalt dich mit dem Kerl, finde raus, wie er tickt, und sag uns, was du denkst. Wir haben ihn hier in seinem Jagdhaus, etwa zwei Stunden von Portland entfernt. Wenn ich dir die Koordinaten rüberschicke, kannst du herkommen?«

Fox sah auf die Uhr. Er musste am Nachmittag wieder in der Stadt sein, aber die Vormittagstermine konnte er verlegen. »Ich komme, so schnell ich kann.« Er wartete auf die SMS mit den Koordinaten und steckte das Handy wieder zurück in die Tasche.

»Nathan, was machst du denn hier?« Im Türrahmen stand seine Tante, die Kopfhörer noch um den Hals.

Er zuckte mit den Achseln und war plötzlich ein wenig verlegen. »Ich habe mir Sorgen gemacht, also bin ich hergekommen, um nach dir zu sehen. Ich hab zwei Mal angerufen, aber du bist nicht ans Telefon gegangen.«

Sie klopfte gegen ihre Kopfhörer. »Ich habe gearbeitet.« Sie seufzte. »Du musst aufhören, dir immer solche Sorgen um mich zu machen, Nathan. Ich habe Howard nicht letzte Woche verloren, sondern schon vor vielen Jahren. Meine Zeit der Trauer fängt nicht gerade erst an, sie ist hoffentlich bald zu Ende.«

»Ich weiß, aber…«

»Bitte, kein psychiatrisches Fachchinesisch. Mir geht es gut, wirklich.«

Er lächelte. »Ich wollte nur helfen.«

Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich weiß. Und dafür liebe ich dich.«

Fox zeigte ihr das Manuskript, das er vom Regal über dem Schreibtisch seines Onkels genommen hatte. »Was ist das?«

Sie warf einen kurzen Blick darauf und seufzte. »Das ist das letzte Paper, das Howard geschrieben hat, bevor er krank wurde. Ich musste ihm versprechen, dass ich versuchen würde, es in der Archaeology unterzubringen aber…« Sie verzog das Gesicht.

»Aber was?«

»Es ist sogar noch brisanter als alles, was er sonst geschrieben hat, und ich hatte Angst, dass man es als ein Produkt seiner Krankheit abtun würde.«

Er las noch einmal die Überschrift. »Worum geht es da?«

»Kennst du das Gefühl, dass man manchmal, wenn man einen Raum oder ein Gebäude betritt, eine bestimmte Atmosphäre spürt?«

Er ließ den Blick durch das Arbeitszimmer seines Onkels gleiten. »Ja.«

»Howard war davon überzeugt, dass all die antiken Stätten, die er im Laufe der Jahre besucht hatte, jeweils ihr eigenes Fluidum besaßen, ein Echo ihrer individuellen Geschichte. Das Kolosseum in Rom, zum Beispiel, oder– aus neuerer Zeit– Auschwitz pulsieren förmlich vor Leid und Elend. An heiligen Orten oder Orten des Lernens dagegen herrscht eine ruhigere, friedlichere Atmosphäre. Die Vertreter der Transkommunikationstheorie wollen dieses Phänomen wissenschaftlich erforschen und erklären.«

»Tatsächlich?« Fox hatte sich mittlerweile an die ganz eigene Form von Fachchinesisch seines Onkels gewöhnt. »Transkommunikation?«

»Wie heißt es so schön? Wände haben Ohren. Die Vertreter der Transkommunikationstheorie gehen davon aus, dass sie außerdem auch eine Erinnerung haben, und zwar indem sich die Stimmen der Vergangenheit unsichtbar, aber unauslöschlich in ihre subatomare Struktur geprägt haben– wie eine Tonbandaufnahme.« Sie nahm ihm das abgegriffene Manuskript aus der Hand und legte es wieder ins Regal. Dann bedeutete sie ihm, ihr in ihr eigenes Arbeitszimmer zu folgen. »Als Alzheimer mir Howard wegnahm, erschien dieses Paper mir wie eine letzte Verbindung zu seinem gesunden Verstand. Je öfter ich es las, desto mehr wünschte ich mir, meine wissenschaftlichen Kenntnisse einzusetzen, um seine bizarre These zu stützen. Ich wollte beweisen, dass dieser Artikel vom letzten Blitz seines brillanten Geistes zeugt und nicht von den ersten Anzeichen seines Wahnsinns.«

In ihrem Arbeitszimmer übergab sie ihm ein sauber getipptes Manuskript mit derselben Überschrift. »Also habe ich sein Paper überarbeitet und versucht, seine Theorien mit handfesten wissenschaftlichen Fakten zu untermauern. Die Idee von Transkommunikation gibt es schon seit einigen Jahrzehnten, aber mit unserem zunehmenden Wissen über Quantenphysik und der neusten akustischen Technologie können wir diese Echos vielleicht schon bald erklären und befreien.« Sie lächelte, als sie die Skepsis in seinem Gesicht sah. »Ich weiß, dass es verrückt klingt, Nathan, aber lies es. Danach kannst du mir sagen, dass es Unsinn ist. Nur keine Hemmungen.«

Fox brauchte kein Psychiatriestudium, um zu sehen, dass seine Tante Howards Artikel weniger aus wissenschaftlichem Interesse als aus Liebe überarbeitet hatte. »Es ist nicht wirklich mein Thema.«

»Das macht nichts, Nathan. Du bist verdammt clever, und ich würde gerne deine Meinung hören.« Sie gab ihm noch einen Kuss, dann scheuchte sie ihn davon. »Und jetzt sieh zu, dass du zur Arbeit kommst. Ich weiß, dass du viel zu tun hast.«

5

Zwei Stunden später saß Nathan Fox irgendwo in der Wildnis von Oregon, Auge in Auge mit einem mutmaßlichen Mörder. »Ihr verdammten Seelenklempner«, schnaubte George Linnet, »ihr glaubt wohl, bloß weil ihr mir’n paar Fragen stellt und gesehen habt, wo ich wohne, würdet ihr mich kennen. Aber ich sag dir was: Du kennst mich nicht. Überhaupt nicht.«

»Ich bin nicht daran interessiert, meine Patienten zu kennen, George.«

»Ich bin keiner von deinen perversen Psychos, du scheiß Inselaffe.«

»Nein, Sie sind der Hauptverdächtige in einer Reihe von Mordfällen«, entgegnete Fox ruhig. »Sie sind für mich wie ein Rätsel. Mehr nicht. Ich muss Sie nicht kennen, George, nur lösen, um herauszufinden, was Sie mit den Mädchen gemacht haben.«

»Ich hab doch schon gesagt, dass ich nichts von irgendwelchen Mädchen weiß, die diese Perverslinge angeblich auf meinem Grundstück abgeschlachtet haben. Sie haben ihre Miete pünktlich bezahlt, und der Rest hat mich nicht interessiert.«

»Die Russen sagen, man hätte Ihnen Mädchen gegeben, damit Sie nicht plaudern.«

Linnet starrte ihn an. »Nennst du mich etwa einen Lügner?«

Fox erlaubte sich ein Lächeln. »Ich denke, ich nenne Sie etwas sehr viel Schlimmeres.« In seinem karierten Hemd und der Cordhose sah Linnet eher aus wie einer von Fox’ Kollegen in der Klinik als ein Mörder, aber nach diesem kurzen Gespräch und einem Rundgang durch das Haus konnte der Psychiater sein Gegenüber allmählich ganz gut einschätzen. Er hatte genug Psychopathen kennengelernt, um zu wissen, dass hinter Linnet mehr steckte, als er nach außen hin zeigte. Nachdem die Polizei seine unpersönliche Wohnung, seine Büros und die Mietshäuser in Portland erfolglos durchsucht hatte, waren sie mit Linnet zu dem einzigen Ort gefahren, den sie noch nicht gesehen hatten: seine abgeschiedene Jagdhütte in der Wildnis von Oregon. Fox sah sich in der Küche um und betrachtete die blitzblanke Granitarbeitsplatte, die Porzellanfliesen und den Smeg-Herd. Obwohl alles peinlich sauber war und viel zu professionell für eine einfache Jagdhütte wirkte, passte es genau zu dem Profil, das er von ihrem Besitzer erstellt hatte. Zwar hatte er behauptet, Linnet nicht zu kennen, doch kannte er ihn schon jetzt besser als seine eigenen Nachbarn in Portland– was ebenso viel über ihn selbst aussagte wie über Linnet. Während er seinen Blick durch das Haus gleiten ließ, versuchte er zu verstehen, wie ein Mensch allein zum Spaß jagen und töten konnte. Als überzeugter Stadtmensch glaubte Fox fest an die Illusion, dass der Mensch Ordnung und Zivilisation in die Welt gebracht hatte.

Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Leute von der Spurensicherung. CSI stand in großen gelben Buchstaben auf den Rücken ihrer blauen Overalls. Fox sah zu, wie sie die Fensterläden in der Küche schlossen und ihre Sprühflaschen mit Luminol einsatzbereit machten. Nur wenige Sekunden, nachdem sie die Chemikalie im abgedunkelten Raum verteilt hatten, erschienen wie durch Zauberhand bislang unsichtbare Spuren von Blut in einem gespenstisch leuchtenden Blau auf Wänden, Arbeitsfläche und Fußboden. Und es gab reichlich Spuren. Indem es die unauslöschlichen Blutflecke wieder hervorbrachte, wurde das Luminol sozusagen zum Gewissen der Jagdhütte und zeigte, dass diese blitzsaubere Küche als Schlachthaus gedient hatte. Mit den Blicken folgte Fox der leuchtenden Blutspur und sah vor seinem inneren Auge, wie Linnet eines seiner Opfer in den Garten hinausschleifte. Eine weitere Leuchtspur führte zur Treppe in der Ecke.

»Haben Sie sie alle umgebracht, George?«

Linnet wollte sich auf ihn stürzen, doch einer der Polizisten riss ihm die Arme auf den Rücken und ließ die Handschellen einschnappen. Linnet zuckte vor Schmerzen, und Fox zuckte mit ihm, spürte, wie die Handschellen in sein Fleisch schnitten, die Sehnen sich in seinen Schultern dehnten. Rasch wandte er den Blick ab, ein Schutzmechanismus, den er mittlerweile perfekt beherrschte.

Er war sieben Jahre alt gewesen, als ihm klar wurde, dass er der Einzige in seiner Schule war, der es physisch spürte, wenn er sah, wie andere berührt oder verletzt wurden. Jahre später würde seine Hyperempathie einen Namen bekommen, aber damals hatten die anderen Kinder ihn einfach als sonderbar abgestempelt und sich köstlich über sein Unbehagen beim Anblick jeder Art von Gewalt amüsiert, selbst wenn es bloß ein Comic im Fernsehen war. Als kleiner Junge in England hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht als einfach dazuzugehören. Doch nach dem Tod seiner Familie, als er alles Vertraute in England zurückgelassen hatte, um in Amerika zu leben, hatte er nicht länger versucht dazuzugehören und sich damit abgefunden, dass er immer ein Außenseiter bleiben würde.

Fox ging zur Treppe in der Ecke des Zimmers und stieg hinab in den Keller. Von der Spurensicherung war noch niemand hier unten; sie waren alle in der Küche oder draußen im Garten, wo sie angefangen hatten, unter der neu erbauten Holzterrasse zu graben. Als Fox sich in dem frisch renovierten Kellerraum umschaute, wusste er, dass er Linnets geheimes Versteck gefunden hatte. An einer der Wände stand ein Bücherregal, vollgestopft mit billigen zerfledderten Liebesschnulzen mit reißerischen Titeln, in denen echte Männer wilde Frauen mit Namen wie Storm oder Tempest zu zähmen wussten. Nicht unbedingt die Lektüre, die man bei einem Massenmörder erwarten würde, aber es passte in das Profil eines Mannes, der Frauen allein in seiner Fantasie umwerben– und erobern– konnte.

Oder mit einer Waffe.

Fox’ Blick wanderte zum Waffenschrank neben dem Bücherregal. Darin hingen– der Größe nach geordnet– fünf Gewehre und Faustfeuerwaffen in diversen Ausführungen und drei Jagdmesser mit gewellten Klingen. Am anderen Ende des Kellers stand eine Ledercouch und ihr gegenüber ein Plasmafernseher. Neben dem Fernseher sah er einen Stapel Pornofilme und eine Glasvitrine mit ausgestopften Tieren: Streifenhörnchen, Waschbären und Eichhörnchen, zweifellos von Linnet persönlich gefangen, getötet und ausgestopft. Während Fox die toten Tiere und die Waffen betrachtete, verglich er das alles mit ähnlichen Fällen, die er erlebt hatte, und war sich ziemlich sicher zu wissen, was Linnet mit den Mädchen gemacht hatte: Er hatte sie hierhergebracht, laufen lassen und dann in der Wildnis die Jagd auf sie eröffnet. Aber wo waren die Trophäen? Er sah sich noch einmal im Zimmer um– und bemerkte etwas Seltsames: Obwohl der Keller sich genau unter der Küche befand…

»Wir haben etwas gefunden! Hier ist etwas!« Die müde Stimme, die von draußen hereindrang, klang wütend, aber triumphierend. Fox eilte nach oben. Durch das offene Fenster sah er weitere Polizisten in Overalls und mit weißem Mundschutz auf der Holzterrasse im Garten stehen. Man hatte die mittleren Planken aufgebogen wie den Brustkorb eines Wals und darunter einen Graben entdeckt. Fox legte nachdenklich die Stirn in Falten und ging an Linnet vorbei nach draußen. In der warmen Luft konnte er die verwesenden Früchte ihrer Arbeit bereits riechen.

Detective Karl Jordache stand bei seinem Team und schaute in den Graben hinab. Er klopfte einem seiner Kollegen auf die rechte Schulter, und Fox spürte es auf seiner linken, so deutlich, als hätte Jordache ihm selbst auf die Schulter geklopft. Der Detective winkte Fox zu sich heran und nahm den Mundschutz ab. Er hatte eine auffällige Römernase, dichtes dunkles, graugesträhntes Haar und flinke braune Augen, denen nichts entging. »Hey Nathan, sieh mal, was wir hier haben.« Er zeigte auf die drei Leichen, die dort im Schmutz lagen, und Fox spürte ein plötzliches Stechen in der Magengegend, nicht wegen des Verwesungsgeruchs, sondern weil sie so verloren und verlassen aussahen. Er empfand es als seltsam tröstlich, dass sie zu dritt und nicht allein dort lagen, und erinnerte sich an zwei Verse, die seine Mutter gerne zitiert hatte:

Das Grab ist heimlich und verschwiegen,

Doch niemand wird dort bei dir liegen.

Jordache sah zu Linnet hinüber. »Jetzt haben wir dich, du Bastard. Wenigstens können wir die Opfer jetzt identifizieren und ihre Familien informieren.«

Als Fox zur Hütte sah, war ihm, als läge das Gespenst eines Lächelns über Linnets Lippen. »Ihr habt nur drei gefunden, oder?«

»Nur?« Der Detective sah ihn stirnrunzelnd an. »Du glaubst, es gibt noch mehr?« Während er Linnet fest in die Augen sah, schritt Fox in Gedanken noch einmal durch das Haus: die blitzsaubere Küche, die Bücher, die Filme, die Waffen und die ausgestopften Tiere. Als die Erkenntnis ihn traf, stöhnte er auf.

»Was?«, fragte Jordache.

Fox wandte den Blick nicht von Linnet. »Sie müssen Ihr Umfeld immer unter Kontrolle haben, nicht wahr, George? Alles muss ›genau so‹ sein. Sie umgeben sich gern mit den Dingen, die Ihnen etwas bedeuten. Es gibt nur einen Grund, warum Sie Ihre Jagdtrophäen hier draußen vergraben würden.« Linnet wurde blass, sagte jedoch nichts.

»Welchen Grund könnte er dafür haben?«, fragte Jordache.

»Im Haus ist kein Platz mehr.«

»Was soll das heißen?«

»Schaut euch den Keller an, Karl. Er ist im Innenraum kleiner als die Küche darüber. Ich möchte wetten, dass er doppelte Wände hat.« Es gab ihm einige Genugtuung zu beobachten, wie das Lächeln auf Linnets Lippen erstarb. »Ihr werdet die übrigen Leichen hinter der Wandverkleidung finden.«

Jordaches Team machte sich sofort auf den Weg in den Keller. Der Detective sah Fox an. »Meine Güte, Nathan, dein Kopf ist echt ein interessantes Örtchen, aber ich will verdammt noch mal nicht darin leben müssen.« Die beiden Männer kannten sich seit vielen Jahren, seit dem Tag, an dem Jordache, damals noch ein blutiger Anfänger, einen zehnjährigen Jungen aus einem blutverschmierten Tankstellenshop geführt hatte. Der Polizist war über die Jahre in Kontakt geblieben. Als Fox sein Studium im Fachbereich für Psychiatrie und Verhaltensforschung in Stanford als Jahrgangsbester abschloss, lud ein frisch ernannter Detective Jordache ihn zur Feier des Tages auf ein Bier ein und fragte seinen jüngeren Begleiter nach einem Tipp, um einen besonders unkooperativen Verdächtigen zu verhören. Seitdem war Jordache zum Chief Detective und Fox zum jüngsten Mitarbeiter der Fakultät für Psychiatrie und Neurologie am Oregon University Research Hospital ernannt worden. In vielen Dingen war Jordache das exakte Gegenteil von Fox, einem Bindungsphobiker, der nur für seine Arbeit lebte und sich aus dem Staub machte, sobald Beziehungen zu ernst zu werden drohten. Jordache war ein überzeugter Familienmensch, der seine Frau und seine beiden Töchter über alles stellte– einschließlich seines Jobs. »Wie viele werden sie finden, Nathan?«, fragte der Detective jetzt und wandte sich wieder dem Haus zu.

»In Anbetracht der Größe des Kellers tippe ich auf etwa ein halbes Dutzend.«

Der Lärm von Bohrern, Sägen und splitterndem Holz erfüllte die Ruhe, gefolgt von Stille und einem gedämpften »MEINEFRESSE.« Dann: »Hey Chief! Der Doc hatte recht, das sollten Sie sich mal ansehen. Wir haben hier noch fünf Leichen, vielleicht sogar sechs.«

»Ich komme!«, rief Jordache.

Fox sah auf die Uhr. »Da ich hier in Linnets Gruselkabinett ja nun nicht mehr gebraucht werde, würd ich mich wieder auf den Weg machen, wenn das okay ist.«

Jordache blieb vor der Haustür stehen und gab ihm die Hand. »Klar, Nathan. Von hier an übernehmen wir. Danke noch mal für deine Hilfe. Nächstes Mal bei O’Malley’s geb ich einen aus. Er warf einen Blick in die Hütte. »Aber bevor du gehst, wollte ich dich noch was fragen.«

»Was?«

Der Detective trat durch die Tür, fischte die Oregonian aus dem Zeitungsstapel auf einem kleinen Tisch unter dem Fenster und zeigte auf das beunruhigend schöne Gesicht der Frau, die sie von der Titelseite anstarrte. »Es geht um die Frau, die diese Mädchen gerettet hat. Es ist wirklich seltsam. Wir brauchen ihre Aussage nicht, um die Russen einzubuchten, die Mädchen haben uns mehr als genug Beweise geliefert. Trotzdem haben meine Leute versucht, ihr zu helfen und rauszufinden, wer sie ist und woher sie wissen konnte, dass die Mädchen da unten waren. Und weißt du, was sie gefunden haben? Nichts. Nada.«

Als Fox das Foto sah, kam ihm eine Idee. Er nahm Jordache die Zeitung aus der Hand und ging hinüber zu Linnet, der gerade in einen der Streifenwagen gesetzt wurde. »