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Edgars Leben in Thailand scheint perfekt: Er genießt das türkisfarbene Meer, die warme Sonne und exzellente Cocktails. Geld verdienen musst er nicht – er hat genug. Das einzige Manko: Er erinnert sich an nichts vor der Zeit in Thailand. Sein Gedächtnis ist komplett gelöscht. Nur ein Video ist ihm aus seinem früheren Leben geblieben. Darin sieht Edgar sich selbst, wie er kurz vor dem „Reset“ seiner Identität eine Pille schluckt. Alles sei freiwillig geschehen, versichert ihm sein früheres Ich, und der Prozess sei unumkehrbar. Wer durch den Fluss Lethe steige, kehre niemals zurück. Edgar versucht es dennoch. Er riskiert damit nicht nur das eigene Leben. Ohne es zu wissen, bringt er auch die Menschen aus seinem früheren Leben in tödliche Gefahr.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Copyright © 2021 by Markus Ridder
Markus Ridder
Gammelsdorfer Straße 8
81671 München
Lektorat/Korrektorat: Britta Johannsen
Umschlag: Momir Borocki
Das Buch
Der Autor
Edgar
Paula
Edgar
Paula
Edgar
Paula
Edgar
Paula
Edgar
Tarek
Michael
Paula
Michael
Paula
Uri
Paula
Edgar
Paula
Tarek
Edgar
Paula
Michael
Paula
Paula
Edgar
Paula
Michael
Paula
Sebastian
Paula
Sebastian
Paula
Sebastian
Paula
Sebastian
Paula
Paula
Sebastian
Kontakt und Kritik
Alle guten Dinge sind 3 …
DU ZAHLST MIT MEHR ALS GELD UND DATEN.
DU ZAHLST MIT DEINEM GEDÄCHTNIS.
Du erwachst im Paradies: Die Sonne scheint, das Meer ist blau und die Cocktails exzellent gemixt. Geld verdienen musst du nicht – du hast genug. Das einzige Manko: Du erinnerst dich an nichts aus der Zeit davor. Man zeigt dir ein Video, in dem du selbst zu sehen bist. Das Ich aus deinem früheren Leben versichert dir: Du wolltest den Reset deiner Identität. Ein neuartiges Medikament hat deshalb deine Erinnerungen komplett gelöscht. Alles, was du jetzt tun sollst: Das neue Leben genießen! Aber bedenke: Keiner ist jemals in sein früheres Leben zurückgekehrt.
Und das wird auch so bleiben!
Markus Ridder ist Schriftsteller und Kommunikationsberater in München. Zuvor arbeitete er als Journalist und schrieb unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Horizont und abenteuer & reisen. Mit seinem Psychothriller Das Messias-Projekt stand er wochenlang auf Platz eins zahlreicher Bestsellerlisten.
www.markusridder.com
www.facebook.de/ridderkrimis
Vor zwei Wochen war es weniger diesig, du konntest die Skyline Bangkoks sehen. An den Wolken liegt es nicht, es muss der Smog sein, der über der Stadt hängt. Du setzt dich auf die gleiche Bank, wie beim letzten Mal, so wie er es will. Den Blick nach Norden auf den künstlichen See gerichtet. Ein großes Tretboot in der Form eines Plastikschwans treibt darauf. Am Ufer liegt ein riesiger Waran in der Sonne, ein paar Touristen nähern sich ihm vorsichtig mit gezückten Handys. Es ist noch früh, ein fast unbefleckter Tag. Vielleicht solltest du auch wieder Sport treiben, denkst du, ums Wasser joggen wie die anderen Expats, die hier leben. Fast musst du lächeln, so absurd erscheint der Gedanke.
Du siehst ihn schon von ferne, als er die kleine Brücke betritt, sich im Schatten der Bäume an ein paar dunklen Gestalten vorbeiquetscht. Erkennst ihn an der Sonnenbrille und am gelglänzenden Haar. Am lässigen Gang. Ein Mann in weißen Shorts und einem bunten, sommerlichen Hemd. Ein Urlauber könnte man meinen, jemand, der nichts weiter vorhat, als den Tag genussvoll zu vergeuden. Kurz glaubst du, ihn sogar lächeln zu sehen, als er sich nähert. Das alles bestärkt dich in dem Gedanken, das hier sei in Wirklichkeit eine Art Scharade. Wir meinen es nicht ernst, wir tun nur so, weil es von uns erwartet wird, wollen keine Spielverderber sein.
Er setzt sich neben dich auf die Bank, schlägt das linke Bein großzügig über das rechte, legt die Arme ausladend über die Lehne, atmet tief und entspannt ein. Dein Blick fällt auf seine Hand, die jetzt seitlich neben dir schwebt. Seine Fingernägel sind lang wie bei einem Gitarristen, und an jeder Hand trägt er drei Goldringe. Am Zeigefinger, am Ringfinger und am Daumen. Sein Hemd ist weit geöffnet, kein Haar auf seiner goldbraunen Brust zu sehen. Sein schwarzes Ledertäschchen hat er zwischen euch auf der Bank platziert.
„Sie sehen müde aus, Edgar“, sagt er.
„Ich hatte eine längere Anreise.“
„Stau?“
„Um diese Zeit unausweichlich.“
„Ich würde Sie später einbestellen, aber Sie wissen, das lässt der Zeitplan nicht zu.“
Du zuckst mit den Schultern, der Zeitplan ist aus deiner Sicht vollkommen belanglos, aber du weißt, dass deine Meinung nicht gefragt ist.
„Wie geht es Ihrer Frau … Noi, nicht wahr?“
Du stutzt, versuchst dir deine Überraschung aber nicht anmerken zu lassen. „So neugierig kenne ich Sie in letzter Zeit gar nicht, T.“
Er lässt seinen Kopf über die Schulter in deine Richtung kippen, zeigt dir grinsend den kleinen Brillanten, der einen schneeweißen Eckzahn schmückt. „Ich bin immer neugierig, das ist meine Natur. Ich halte mich sonst nur zurück.“
„Wenn das so ist, kann ich Sie beruhigen. Meiner Frau geht es gut.“
„Sie wissen, dass wir eine Abmachung haben, Edgar.“
Du sagst nichts, blickst stattdessen in Richtung See. Der Waran ist verschwunden, die Touristen stehen abseits auf dem vertrockneten Rasen, starren auf ihre Handys. Im Schatten auf der Brücke steht eine Person, die du nicht erkennen kannst. Ein Radfahrer kommt auf dem Uferweg angesaust und biegt mit vollem Tempo auf die Brücke ein.
„Im Übrigen, Edgar, sollte es anderweitige Probleme geben – scheuen Sie sich nicht, mich damit zu belasten. Ich bin da, wenn Sie mich brauchen.“
„Machen Sie sich keine Sorgen, T., ich komme zurecht.“
Er richtet den Blick himmelwärts, dahin, wo man sonst die Skyline sieht. Dann tippt er zweimal mit den Fingerkuppen auf das Täschchen und öffnet ohne hinzusehen den Reißverschluss. Er zieht einen Umschlag heraus, legt ihn neben die Tasche. Ohne ein weiteres Wort erhebt er sich und schlendert davon. Den Umschlag lässt er liegen.
Es ist dasselbe Hotel wie beim letzten Mal. Verborgen in einer engen Gasse, zwei Straßen parallel zur Soi Nana. Früher waren sie in den großen Hotels, im Grand Sathorn, im Hilton, im Grand Sukhumvit, gleich dreimal warst du im Shangri-La, in Zimmern mit Blick auf den Chao Phraya. Doch seit fünf, sechs Jahren hatte sich das geändert. Immer häufiger buchen sie seitdem kleine Bums-Hotels wie dieses, die Patienten werden immer jünger und kommen nur noch selten aus Europa.
Der aktuelle Patient stammt offenbar aus Israel. „Muttersprache: Hebräisch/Englisch“ stand in den Unterlagen. „Alter: 35-40“. In seinem neuen thailändischen Pass war der Name Tony Braun vermerkt, wie du verwundert festgestellt hast. Einen Allerweltsnamen hatten sie immer, aber dass sich ein Israeli für Braun entschied, erschien dir eigenartig. Zu deutsch, zu belastet. Du zumindest dachtest bei Braun als erstes an Eva Braun und die Uniformen der Nazis. Nicht alles wird vergessen, das assoziative Gedächtnis bleibt.
Der Gedanke gibt dir Auftrieb, so dass du die wenigen Stufen zum Hotel beschwingt hinaufsteigst. Als du oben bist, öffnest du die Glastür und trittst in die enge Lobby. Ein Inder mit grauem Haarkranz und einem runden Bauch steht hinter der Theke. Er blickt auf, aber als du nicht zurückschaust, widmet er sich wieder dem Monitor vor ihm. Du steuerst zielgerichtet den Aufzug an. Als die Türen sich hinter dir schließen, nimmst du den Geruch wahr, den du schon vom letzten Besuch kennst. Chicken Tikka Masala, ganz sicher. Auf nichts kannst du dich besser verlassen als auf deine Nase.
Die Türen öffnen sich im vierten Stock. Über einen abgewetzten Teppich gehst du durch einen engen Gang mit gelblichen Wänden. Die Türen der Zimmer sind entweder geöffnet oder es hängt ein Schild daran: „do not disturb“. Von irgendwoher hörst du lautes Stöhnen, aus einem anderen Zimmer tönt Thai-Pop. Im Vorbeigehen blickst du in einen der geöffneten Räume hinein: Eine junge Frau im blauen Kittel wischt den Boden. Vor Zimmer 48 bleibst du stehen. Das ist es.
Mit dem Schlüssel, der im Umschlag lag, öffnest du vorsichtig die Tür. Wie immer empfängt dich ein Geruch aus säuerlichem Schweiß und billigem Putzmittel. Er ist nicht so stark wie gewöhnlich, die Aircondition scheint ausnahmsweise einmal zu funktionieren. Du trittst ein, schließt die Tür lautlos hinter dir. Der Raum ist abgedunkelt, schemenhaft siehst du das Bett, über dem die Natriumlösung an einem Metallständer hängt, vor dem Fenster ein Tisch, ein Stuhl. Eine rote Diode zeigt den Lichtschalter des Badezimmers an. Du gehst durch den Raum bis zum Fenster auf die andere Seite und stellst die Plastiklamellen der Jalousie in eine waagerechte Position. Gelbe Lichtstreifen legen sich über das Bett und über das Gesicht des jungen Mannes darin.
Du trittst näher heran, musterst ihn. Er atmet ruhig und regelmäßig, seine muskulösen Arme liegen seitlich an seinem Körper auf der Decke. Die geschlossenen Lider schimmern bläulich, das Haar ist kurz geschnitten, über sein markantes Kinn hat sich ein Dreitagebart gelegt.
Du ziehst den Stuhl heran, nimmst den Rucksack von den Schultern und setzt dich neben das Bett. Er wirkt zu ordentlich für diesen Ort, denkst du. Warum muss es Nana sein? Warum ist es nicht eine der Inseln? Aber was weißt du schon über das Schicksal dieses Mannes? Was weißt du darüber, was ihn hierhergebracht hat, wer auf der anderen Seite der Erdkugel auf ihn wartet, ihn vermisst, vielleicht wahnsinnig wird, weil er weg ist? Du bist sein Schicksal, denkst du, der Erste, der auf das weiße, leere Blatt, das hier vor dir liegt, schreiben wird. Wenn Tony die Augen aufschlagen wird, bist du seine Welt.
Der Gedanke kommt dir regelmäßig, und immer bedrückt er dich. Du willst diese Rolle nicht spielen. Du wünschst den Patienten etwas Besseres für den Start in ihr neues Leben als den Anblick deines in die Jahre gekommenen, zerfurchten Gesichts.
Du atmest tief ein, gibst dir einen Ruck. Deine Hand gleitet zum Handgelenk des Mannes. Der Puls ist in Ordnung. Früher, in den guten Hotels, hatten sie noch EKGs, in den vergangenen Jahren verzichteten sie komplett darauf. Nur die Natriumlösung blieb und eine kleine Ampulle, die du verabreichen musst, um den Patienten ins Leben zurückzuholen. Dann konnte alles passieren. Vom Wutanfall bis zum Heulkrampf – du hast die gesamte Bandbreite erlebt. Die meisten hatten allerdings in erster Linie Angst, viele zitterten.
Du stehst auf, gehst zur Minibar, nimmst zwei Plastikflaschen mit Wasser heraus und platzierst sie auf dem Beistelltischchen am Bett. Du nimmst die Einmalhandschuhe aus dem Rucksack, schlüpfst hinein. Dann ziehst du den Inhalt der Ampulle auf die Spritze, die du selbst mitgebracht hast, und injizierst die Lösung direkt in den venösen Zugang auf dem Handrücken des Mannes. Du legst einen Wattepad auf den Katheter, entfernst ihn sorgfältig und klebst ein Pflaster darüber. Zum Schluss legst du die Hand des Mannes wieder neben seinen Körper. Wie immer wird dir in diesem Augenblick klar, dass du all das schon hundertmal gemacht hast, auch früher schon, ganz früher.
Nachdem du dich von den Handschuhen befreit hast, nimmst du den Laptop heraus, startest ihn und steckst den USB-Stick ein. Es ist gut, auf alles vorbereitet zu sein, weißt du. Du schaltest die Aircondition aus und gehst zum Fenster. Dort ziehst du die Jalousien jetzt komplett nach oben, so dass es im Raum taghell wird. Dann setzt du dich wieder neben das Bett.
Es wird schnell gehen, denkst du, er kommt zu sich.
Das Klackern der Absätze auf den Dielen ist ihre Rache von gestern – das ist das Erste, was mir an diesem Morgen durch den Kopf geht. Mit geschlossenen Augen taste ich nach dem Handy. Ich bekomme erst die Muschel zwischen die Finger, dann das Smartphone. Kurz vor sieben, das macht maximal fünf Stunden Schlaf, errechne ich in meinem müden Hirn. Und schimpfe gleichzeitig mit mir, dass ich überhaupt drauf geschaut habe.
Zur Strafe rattern die immer gleichen Tipps der Ärzte durch meinen Kopf: Es setzt Sie nur unter Druck, wenn Sie nach dem Aufwachen die Uhrzeit kontrollieren, versuchen Sie einfach weiterzuschlafen! Sogar die Nachttischuhr habe ich abgeschafft, Schlafhygiene nennen die Experten das. Aber es bringt nichts. Wenn ich wach bin, bin ich wach. Das war schon immer so. Ich wache auf, die Gedanken beginnen zu kreisen, egal wie müde ich bin. Egal ob ich auf die Uhr schaue oder nicht.
Ich drehe mich zu Tarek um, vorsichtig, denn das Bett ist eng, und ich will ihn nicht wecken. Er schläft den Schlaf des Gerechten. Kurz denke ich über diese Redensart nach. Der Schlaf des Gerechten. Warum hat der Gerechte einen so guten Schlaf? Weil er keine Sorgen hat, weil er frei von Schuld ist, weil da nichts auf ihm lastet. Und so ist er ja auch, ein Guter. Flüsternd sage ich: Du bist ein Guter, Tarek!
Bin ich also ungerecht, weil Schlaf nicht meine Stärke ist? Wahrscheinlich ist es das, sage ich mir. Ungerechtigkeit, eine meiner zentralen Eigenschaften, neben ein paar anderen wie Ungeduld, Reizbarkeit, Hinterlistigkeit, Egomanie, Stimmungsschwankungen, Sexsucht, Verträumtheit, Drogen- und Alkoholaffinität – um nur einige wenige zu nennen. Dann beschließe ich, dass es zu früh ist für philosophische Erwägungen. Ich wälze mich wieder herum, lege das Handy zur Seite. Kurz muss ich der Versuchung widerstehen, die kleine Schublade aufzuziehen und mir eine Tablette herauszufischen. Doch ich lasse es, wenigstens die Tage mit Tarek will ich darauf verzichten. Amphetamine sind schlecht für die Libido.
Tarek schläft immer nackt, außer wenn sein Junge bei ihm ist, sagt er. Ich schlafe immer im Nachthemd, außer wenn Tarek bei mir ist. Ich betrachte seinen Körper, der halb unter der Bettdecke liegt, halb daraus hervorlugt. Besonders muskulös ist er nicht, eher hager, drahtig. Er ist fast überall behaart, nur seine Pobacken sind erstaunlich glatt. Er ist der erste Mann, den ich hatte, der nicht rasiert ist, nicht unter den Achseln, nicht am Schwanz. Bis dahin dachte ich immer, das geht gar nicht, aber irgendwie passt es zu ihm. Tarek wäre nicht Tarek, wenn ihm sein Ding nackt zwischen den Beinen baumeln würde. Die Vorstellung bringt mich fast zum Lachen, trotz der Müdigkeit.
Ich kann mich nicht erinnern, dass mir ein anderer Mann jemals so vertraut war, dabei kenne ich ihn noch gar nicht lange. Es war im Herbst vergangenen Jahres. Ich war das erste Mal im Literaturhaus bei einer Lesung. Drei Autoren stellten ihre Bücher vor. Es ging um das Fühlen und Denken der Tiere, und einer der Autoren hatte mich im Vorfeld dazu interviewt und schließlich zur Lesung eingeladen. Es war ein blonder Mittvierziger mit speckigem Gesicht, und als er mich damals im Tierpark besucht hatte, überreichte er mir als erstes eine Karte, auf der unter seinem Namen in großen Lettern das Wort „Schriftsteller“ prangte. Dabei war das Buch, an dem er gerade arbeitete, sein erstes, wie ich später herausfand. Ich selbst bin Tierpflegerin und kümmere mich im Zoo hauptsächlich um die Primaten, deshalb war er bei mir. Er war vor allem am Verhalten von Schimpansen und Bonobos interessiert, und ich erklärte ihm, dass bei den Bonobos die Frauen das Sagen haben und bei den Schimpansen die Männer. Während die Schimpansenmännchen ständig in Rangkämpfe verstrickt sind, lösen die Bonoboweibchen ihre Konflikte anders: mit Sex.
„Das ist ja fast so wie bei den Menschen“, sagte er und blickte mich verschwörerisch an. Da ich an keiner Verschwörung interessiert war, sagte ich nichts und erzählte ihm stattdessen noch etwas über meine Lieblinge.
Ich hatte das Gespräch bald vergessen und war überrascht, als die Einladung zur Lesung kam. Ich war ehrlich gespannt auf den Abend, wusste gar nicht, was ich anziehen soll. Literaturhaus hörte sich nach Kostümchen und Perlenketten an, aber sowas hängt bei mir nicht im Kleiderschrank. Da es dann ein überraschend warmer Abend war, entschied ich mich spontan für ein Sommerkleid und Plateau-Espadrilles. Ich hatte das Gefühl, damit ganz gut zu liegen, der Schriftsteller jedenfalls schien ziemlich begeistert zu sein und bot noch vor der Lesung an, mit ihm danach etwas trinken zu gehen. Ich willigte ein, aber es kam anders.
Tarek wurde als zweiter Autor auf die Bühne gerufen, ich sah ihn an diesem Abend das erste und einzige Mal im Hemd. Es war nicht so, dass er mir auf den ersten Blick gefiel. Er sah nett aus, das ja, aber er war doch etwas zu klein für meinen Geschmack, kaum größer als ich. Und seine fransigen, langen Haare und sein Bart wirkten etwas, naja, extravagant zwischen den gut frisierten Herren und Damen auf dem Podium. Im Grunde war es nur eine Dame, die Moderatorin nämlich, die ihn recht überschwänglich ankündigte. Wir lachen noch heute über ihre Vorstellung Tareks und dass sie ihn als „Multifunktionskünstler“ bezeichnet hatte. Dabei passt der Begriff ganz gut, denn Tarek schreibt nicht nur, er ist in erster Linie Musiker, es gibt kaum ein Instrument, das er nicht beherrscht. Das machte ihn interessant, wie ich damals fand. Er war aber vor allem derjenige unter den Autoren, der meiner Meinung nach am meisten zu sagen hatte. Der eine wirkliche Botschaft hatte. Denn während die anderen eher auf lustige Anekdoten aus dem Tierreich setzten – und damit auch die meisten Lacher im Publikum ernteten – handelte es sich bei Tareks Buch um ein feuriges Plädoyer für den Tierschutz und vor allem die Abschaffung von Tierversuchen.
Er konnte nicht wissen, dass damals eine Person im Publikum saß, die aus erster Hand wusste, was Tierversuche gerade an Affen bedeuten: Ich.
Nach der Lesung ließ sich der Schriftsteller ordentlich feiern. Während er von einer Gruppe zur anderen ging, hier zuprostete, da Hände schüttelte, wartete ich auf ihn an einem Stehtisch im Eingangsbereich. Er blickte immer wieder zu mir herüber und gestikulierte, dass er gleich bei mir sein würde. Gab mir zu verstehen, dass er nur noch schnell seinen Verpflichtungen als neuer Stern am Literatenhimmel nachkommen musste – dann könne es losgehen. Er wirkte irgendwie abgekämpft und dennoch zugleich erregt, wie ein Fußballspieler nach einem aufreibenden, aber schließlich erfolgreichen Match.
Ehrlich gesagt hatte ich mich nur schlecht auf die Lesung konzentrieren können, das ist häufig so bei mir. Nur wenn mich etwas wirklich fesselt, bleibe ich dran und denke nicht plötzlich über die Arbeit nach oder was meine Mutter oder sonst wer wieder mit irgendeinem Spruch gemeint haben könnte. Im Grunde habe ich dabei nie das Gefühl, wirklich etwas zu verpassen. Entweder eine Sache ist relevant, dann höre ich zu, oder sie ist belanglos, dann schweife ich ab. In der Schule hatte man das natürlich anders gesehen.
Auf Tareks Beitrag hatte ich mich konzentrieren können. Er hatte etwas zu sagen, das merkte man bei jedem Satz. Es war seine Ernsthaftigkeit, die ihn von den anderen unterschied. Dem „Schriftsteller“ ging es im Grunde um Unterhaltung. Vielleicht verstand ich an diesem Abend erstmals den Unterschied, der in diesen Begriffen liegt.
Als ich alleine an meinem Stehtisch auf den Schriftsteller wartete, überkam mich ein beklemmendes Gefühl. Irgendwie hatte ich den Eindruck, die anderen beäugten mich, wie ich hier so allein an diesem mit einer weinroten Decke überworfenen Stehtisch wie auf dem Präsentierteller stand.
Als der Schriftsteller in eine Gruppe von schulterklopfenden Männern eintauchte, die alle erdige Sakkos und dramatisch um den Hals geworfene Schals trugen, hatte ich genug. Ich exte kurzerhand den Sekt und machte einen Abgang. Einen polnischen, wie es so schön heißt.
Draußen war es zwar dunkel, aber immer noch angenehm warm, zu warm für die Jahreszeit, und dennoch genau richtig für mich. Aus den großen Fenstern des Restaurants im Erdgeschoss strahlte das Licht, so dass sich lange gelbe Leuchtteppiche auf das Trottoir legten, was eine zauberweltartige Stimmung erzeugte. Allerdings stand mein Fahrrad in einer Ecke, die eben, als ich es dort abgestellt hatte, noch hell war und jetzt ziemlich duster. Das allein wäre noch kein Problem gewesen, aber zu allem Übel hörte ich dort auch noch einen Mann vor sich hin schimpfen. Zuerst dachte ich, es sei ein Verwirrter, vielleicht ein Obdachloser, dann schälte sich eine Gestalt aus der Nacht, die ein Handy ans Ohr presste. Sie ging auf und ab, blieb abrupt stehen, sah mich aber offenbar nicht.
„Ich denke gar nicht dran! Das war nicht … nein, war es nicht! Ich habe ihn von Donnerstag bis Samstag und jeden zweiten Sonntag, es kann keine … nein, eben nicht, keine Ausnahme. Das müssen wir vorher … du kannst doch nicht … Hallo?“ Er hielt das Handy vom Ohr weg, blickte darauf, als sei es defekt. „Hallo …? Ich fass es nicht!“
„Aufgelegt?“, sagte ich, weil ich direkt neben ihm stand.
Er erschrak. „Was? Ja … ja, aufgelegt. Haben Sie mich belauscht?“
„Belauscht? Also hören Sie mal, Sie haben hier ganz schön rumgeschrien.“
„Ah ja, das habe ich wohl. Habe ich echt?“
„Echt!“
Er trat einen Schritt vor, so dass das Licht der Straßenlaterne in sein Gesicht fiel. Es war Tarek, der Multifunktionskünstler, seine Haare waren noch verzauselter als sie es ohnehin schon waren, seine Wangen rot. Er zeigte mit dem Handy auf mich. „Wollten Sie auch telefonieren?“
„Nein, das hatte ich nicht vor. Geht das nur hier in dieser Ecke?“
„Das nicht“, sagte er, und der Anflug eines Lächelns huschte über sein Gesicht. „Man ist hier nur etwas abgeschieden, so dass man ungestört telefonieren kann … also dachte ich zumindest.“
„Hier kann man aber auch ungestört sein Fahrrad abstellen und wieder abholen – dachte ich zumindest.“
„Ach so, ja klar.“ Er machte einen kleinen Hopser nach vorne, als stünde er am Strand auf dem falschen Handtuch. Dann drehte er sich einmal um, erblickte mein Fahrrad. „Dann ist das wohl Ihrs?“
„Sie können eins und eins zusammenzählen. Aber das habe ich eben schon bemerkt.“
Ich ging auf das Fahrrad zu, während er zur Seite trat, so dass wir im Grunde die Positionen tauschten. Der Schein der Straßenlaterne erfasste jetzt mich.
„Ach, Sie waren dabei, eben bei der Lesung?“
Ich steckte den Schlüssel ins Schloss. „Jep.“
„Und Sie gehen schon? Normalerweise unterhalten sich die Autoren danach immer noch mit den Gästen.“
„Sie sind ja auch schon weg.“
„Ich musste kurz ...“ Er hielt das Handy hoch. „Außerdem sind da ja auch noch zwei andere.“
„Die interessieren mich aber nicht.“
„Oh, tut mir leid, dass Ihnen die Veranstaltung nicht gefallen hat.“
Ich drehte mein Fahrrad um, stieg auf und stellte einen Fuß auf die Pedale. „Doch, sie hat mir sehr gut gefallen. Ich werde mir Ihr Buch kaufen.“
„Ach wirklich?“ Er wirkte ehrlich überrascht. „Ich kann Ihnen auch eins schenken, ich habe noch einige Exemplare vom Verlag. Wir müssten nur kurz nach oben zur Garderobe.“
Ich überlegte kurz, wollte aber keinesfalls riskieren, dem Schriftsteller über den Weg zu laufen, um ihm dann auch noch zu erklären, warum ich abgehauen war. Das Ganze war auch so schon peinlich genug. „Ach was, ich kaufe es, ich unterstütze gerne einen Multifunktionskünstler.“
Er lachte, und als ich auf den Sattel gestiegen war und losfuhr, rief er: „Aber vielleicht wollen Sie noch ein Glas Wein trinken?“
Warum wollten zurzeit immer alle ein Glas Wein mit mir trinken, fragte ich mich? Vor allem Männer, die gute zwanzig Jahre älter waren als ich? Ich rief: „Gerne beim nächsten Mal!“ Dann winkte ich mit zwei Fingern und fuhr davon. Doch als ich um die Ecke bog, kurz davor, über die Lichtteppiche vor dem Restaurant zu fahren, erblickte ich die nächste aufgewühlte Gestalt: Den Schriftsteller. Er stand mit über den Arm geworfenem Sakko mitten auf der Straße, blickte energisch von links nach rechts. Er war ohne Zweifel auf der Suche nach mir, seinem geflüchteten Date.
Scheiße!
Ich drehte um, das Fahrrad beschrieb einen perfekten Kreis, und ich kam direkt vor Tarek zum Stehen.
„Also, wohin gehen wir?“
„Macht die immer so einen Lärm?“
„Sag bloß, das hat dich geweckt? Ich dachte, dich reißt nichts aus dem Schlaf.“
Er legt den Daumen und den Zeigefinger auf die geschlossenen Augenlider und gibt einen langgezogenen Brummlaut von sich, der typisch für ihn ist. „Wenn einer den Estrich im Nebenraum aufschlägt, dann schon.“
Ich lache. „Das sind ihre Absätze.“
„Und mit denen bearbeitet sie den Boden?“
„Damit erinnert sie uns daran, dass wir sie gestern gestört haben.“
„Ah“, sagt er und öffnet langsam die Augen. „Aber wir waren dann doch ganz brav.“
„Ja, so bezeichnest du das?“ Ich schmiege mich an ihn, lasse meine Hand unter die Decke gleiten und streiche damit über seinen Schwanz.
Er lacht und gibt mir einen weichen Kuss auf den Mund. „Ich meinte die Musik.“
„Ja, ich weiß, was du meinst“, sage ich und schiebe mich auf ihn. Mir tritt das Bild vor Augen, wie Svenja gestern plötzlich in der Tür stand. Ihr verkniffenes Gesicht, das weiße Nachthemd, die ebenso weiße und von Muttermalen übersäte Haut. „Geht das auch ein bisschen leiser? Es ist fast zwölf Uhr und ich muss morgen arbeiten!“
„Oh sorry“, sagte Tarek sofort. Er legte eine Hand auf die Saiten der Gitarre und brachte sie damit augenblicklich zum Verstummen. „Wir dachten, es wäre leise genug.“
„Leise genug? Hallo? Ich höre jeden Ton!“ Sie zeigte auf ihr Ohr, als wolle sie Missverständnissen vorbeugen, dass die Schallwellen bei ihr nicht etwa durch Mund oder Nase zu ihrem Spatzengehirn weitergeleitet werden. Ich hätte ihr an den Hals springen können. Ständig brachte sie ihre Versicherungs- und Bankertypen mit nach Hause. Oft saßen sie bis spätabends in der Küche, soffen teuren Rotwein, lachten lauthals, bis Svenja sie schließlich in ihr Schlafzimmer lotste. Der Sex, den sie hatte, war ein komplettes Männerselbstbestätigungsding. Sie stöhnte laut und rief Sachen wie: „You are so great, you are so great!“ Warum sie beim Sex ins Englische verfiel, war mir schleierhaft. Die Typen, die sie mit nach Hause brachte, sprachen meistens mit bayerischem Akzent. Allerdings war es in den vergangenen Wochen ruhiger in Svenjas Schlafzimmer geworden, der letzte Mann war vor einer ganzen Weile aufgetaucht, wenn ich mich recht erinnere. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie die meisten Kollegen in den guten Positionen jetzt erstmal durchhatte. Doch je länger sich die männerlose Phase hinzog, umso unerträglicher wurde sie. Wies mich mit zugehaltener Nase auf Tareks Haare im Duschabfluss hin, nervte, wenn wir angeblich zu laut waren, und forderte uns auf, nicht ewig die Küche zu blockieren, was wir gar nicht taten. Meistens kochten wir uns dort nur etwas und verzogen uns dann auf mein Zimmer. Gerne stellte sie in letzter Zeit immer mal wieder fest: „Du erinnerst dich, das ist hier keine WG, du wohnst hier nur zur Untermiete.“ Offenbar war sie ganz einfach underfucked.
Es dauert eine Zeit, bis Tarek hart ist, aber dann füllt er mich komplett aus, und ich fühle ihn unglaublich intensiv. Er liegt noch im Halbschlaf und mit geschlossenen Augen da, nur seine Lippen zittern leicht unter meinen Bewegungen. Ich weiß, dass er diese Nummern zwischen Wachen und Schlafen liebt. Mit einem Orgasmus in den Tag hineinschweben, welcher Mann träumt nicht davon? Am liebsten mag er es, wenn ich morgens ganz langsam mache und so zärtlich wie möglich. Irgendwann legt er die Hand auf meinen Po, dann weiß ich, dass er bald soweit ist. Er kommt morgens unglaublich lange und viel intensiver als sonst. Aber heute morgen habe ich keine Lust auf zärtlich und langsam, ich will eine richtige Nummer. Also beschleunige ich den Rhythmus und springe irgendwann auf ihm herum, bis das Bett quietscht und ich meinen Po auf sein Becken klatschen höre. Er öffnet die Augen und lässt seinen Blick über mich und meine wippenden Brüste über ihm gleiten. Als ich merke, wie seine Erregung dadurch noch zunimmt, macht es auch mich noch mehr an. Ich lege seine Hände an die Metallstangen am Kopfende, er soll mich einfach machen lassen. Vor der Tür stöckelt Svenja weiter auf und ab, wie Messer auf einem Schafott gehen ihre Heels auf die Dielen nieder. Als ich höre, wie sich die Schlüssel von innen in der Haustür drehen, rufe ich: „Oh yeah, you are so great, you are so … BIG!“
Tarek kommt mit einem lauten Stöhnen, die Tür fällt ins Schloss.
„Hast du mal darüber nachgedacht?“, fragt Tarek, als er zurück ins Zimmer kommt, nur mit einem Handtuch um die Hüfte bekleidet. Wie nebenbei und als sei es die natürlichste Sache der Welt, legt er zwei Finger auf den Knauf der Nachttisch-Schublade und zieht sie einen Spaltbreit auf. Er fährt hinein, ich höre das Knistern der Tablettenpackung.
„Kannst du mir sagen, was das soll? Willst du mich kontrollieren?“
Ich trete einen Schritt an ihn heran und kicke die Schublade mit dem Knie zu. Er kann gerade noch seine Finger zurückziehen. Der Fotorahmen, der ein Bild von meinem Vater und mir im Alter von vier Jahren zeigt, fällt klatschend nach vorne auf den Nachttisch.
„Sorry“, sagt Tarek. „Ich weiß auch nicht, was das sollte. Ich dachte, es ist okay, wenn ich ...“
„Es ist nicht okay. Das geht nur mich etwas an. Es sind Medikamente, und ich nehme sie mit Unterbrechungen seit meiner Kindheit.“
„Du hast gesagt, du wolltest weg davon.“
„Es hat einen Grund, dass ich sie nehme. Es ist nicht so einfach.“
„Ich dachte, ADHS schleicht sich im Erwachsenenleben irgendwann aus.“
„Nein, die Leute arrangieren sich nur damit. Passen ihr Leben entsprechend an.“
„Und du tust das nicht?“
Ich will antworten, dass ich das sehr wohl tue und dass ich auch auf einem guten Weg bin, aber ich spüre plötzlich, wie die Wut in mir hochkocht. Wer bin ich, dass er denkt, er könne mir hinterherschnüffeln? So lange sind wir jedenfalls noch nicht zusammen. Sind wir überhaupt zusammen? Und wenn: Auch dann entscheide ich selbst, welche Medikamente ich nehme und rechtfertige mich für nichts.
„Pass auf, Tarek, wir können gerne über das Thema reden, gar kein Problem. Aber eins ist klar und unverhandelbar: Du kontrollierst mich nicht. Entweder du vertraust mir oder du kannst direkt deine Sachen packen.“
Er schiebt sich an mir vorbei, beginnt seine Anziehsachen von gestern vom Boden aufzuheben. Er muss in die gleichen Klamotten schlüpfen, bei mir hat er keine frischen deponiert. Das ist ihm zu beziehungsmäßig, das weiß ich, auch wenn er es nicht gesagt hat. Er dreht sich zu mir um, schaut mich mit seinen großen, runden Kulleraugen an.
„Ich dachte, ich hätte mich entschuldigt. Aber ich sage es gerne nochmal: sorry, kommt nicht wieder vor, Paula.“
Tarek ist ganz groß im Entschuldigen. Da macht ihm keiner was vor. Er wirkt auch immer auf Ausgleich bedacht, gibt den Verständnisvollen. Du musst dich auch mal in die Lage des anderen versetzen und so weiter. Dabei die Kulleraugen, die alles immer wieder glattbügeln sollen.
Er schlüpft in die Boxershorts. „Meinst du, du kannst eine Entschuldigung annehmen?“
Er schafft es, dass ich mich schlecht fühle, es ist unglaublich. Er durchwühlt meine Sachen, mischt sich in Dinge ein, die ihn nichts angehen, und ich bin es, die sich schuldig fühlt. Ich atme tief ein. „Ja, kann ich annehmen“, sage ich schließlich. „Ist vergessen.“
„Cool“, sagt er, tritt auf mich zu und nimmt mich in den Arm. Er küsst mich. „Cool.“
Ich lege meine Nase an seinen Hals. Er riecht nach Erde, wie immer, und meinem Duschgel. Ich liebe seinen Geruch, ich kann nicht sagen wieso, aber er gibt mir Sicherheit, ein Gefühl von zuhause sein.
Als wir in der Küche sitzen, er mit einem Tee, ich mit einem Kaffee, fragt er erneut: „Und? Wie ist deine Antwort?“
Ich stutze. „Wieder das Medikamententhema?“
„Das Kartenthema.“
„Das Kartenthema“, wiederhole ich mechanisch. Meine Gedanken wandern zu Michael. Ich sehe ihn im weißen Kittel mit dem Logo von Neuropsycho-Biotech auf der Brust, sehe seinen ernsten Blick. Immer wenn ich an ihn denke, habe ich das Bild eines strengen Mannes vor Augen. Eines Mannes, der sich unter Kontrolle hat und die Dinge um sich herum. Es ist eine Lüge, aber das Bild ist immer dasselbe, ich kann es nicht abschütteln.
„Du wolltest dich bis heute entscheiden.“
„Hatte ich gesagt, bis heute?“ Ich stelle die Tasse zwischen uns auf den Tisch, ein winziger Schutzwall, als könne ich mich dahinter verstecken. „Ich meine, was hab ich genau gesagt? Morgen ist ja auch wieder heute.“
Tarek schaut ernst und gewichtig. Das kann er auch. Er hat ein Gesicht für Entschuldigungen, und er hat ein Gesicht für ernste Angelegenheiten. Er presst dann seine vollen Lippen zusammen und spitzt sie leicht. Sein Gesicht wirkt auf diese Weise länglicher, ist nicht so rund und arglos wie sonst. Manchmal legt er auch noch einen Zeigefinger auf die Lippen, was ebenfalls die Vertikale hervorhebt. Ernste Gesichter sind länglich, Entschuldigungsgesichter sind rund.
„Können wir das nicht ein andermal machen?“
„Wann wäre das?“
„Anfang nächsten Jahres oder so?
„Warum so lang warten, Paula? Was gewinnen wir dadurch?“
„Ich würde es nur einfach gerne machen, wenn ich aus Asien zurück bin. Ich meine, vielleicht geht was schief, ich will nicht auf die Reise verzichten. Du weißt, wie lange ich die Tour geplant habe, die Gibbons sind wirklich wichtig für mich.“
„Was soll schiefgehen? Wir gehen nachts unbemerkt rein, machen die Fotos und hauen wieder ab. Wenn wir erwischt werden, fällt es nicht auf dich zurück, wir verraten dich nicht, du kannst mir vertrauen.“ Er beugt sich über den Tisch, nimmt meine Hand. „Du vertraust mir doch?“
„Ja, ja klar. Das ist es nicht, es ist nur ...“
„Was, Paula?“
„Ich war ewig nicht mehr im Labor. Ich kenne es nur aus Kindertagen. Ich habe das alles abgelehnt damals, das weißt du. Und ich bin mir auch nicht mehr sicher wegen des Schimpansen, also ob ich damals wirklich einen gesehen habe. Ich meine, ja, wahrscheinlich war es einer, aber ganz-ganz sicher ist es halt nicht.“
Ich hatte Tarek bei unserem zweiten Treffen vom Labor meines Vaters erzählt und dem Trauma, als ich als Kind diesen Affen gesehen hatte. Es war ein Zufall. Ich war mit Michael im Büro, er wollte irgendetwas holen, und die Tür zum Labor hatte offen gestanden. Sie war sonst immer geschlossen und extra gesichert, nur nicht an diesem Tag. Sie stand einen Spaltbreit auf, ich sah es, weil es im Labor heller war als auf dem Flur. Ein dünner, gelber Lichtstreifen hatte sich auf den Boden gelegt, der aussah wie ein langgezogenes Stück Käsekuchen. Ich trat ein und freute mich zuerst über die vielen Tiere, die da offenbar froh und glücklich in ihren Käfigen lebten, doch dann erschrak ich. Da war ein Affe, dem man die Schädelplatte abgenommen und Elektroden ans Hirn geklemmt hatte. Schreiend lief ich hinaus, Michael konnte mich kaum beruhigen.
„Die Tests an Affen müssen sein, denn ihre Gehirne sind dem menschlichen am ähnlichsten“, erklärte mir Michael später, als ich mich wieder einigermaßen im Griff hatte. „Schau, sie helfen uns, Krankheiten wie die von Onkel Kurt zu verstehen – und ihm zu helfen.“ Onkel Kurt war mit 65 Jahren an Parkinson erkrankt, aber auch der Tod hunderter Affen hat nicht dazu beigetragen, seine Situation zu verbessern.
Immer, wenn ich später an diesen Tag zurückdachte, hatte ich einen Schimpansen im Kopf, ob es tatsächlich einer war oder irgendeine andere Art, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Im Nachhinein halte ich es sogar eher für unwahrscheinlich, auch wenn ich das Tarek gegenüber jetzt nicht sagte. Für mich stand seitdem jedenfalls fest, dass ich Tierpflegerin werden wollte, dass ich Schimpansen helfen wollte – und so habe ich es dann auch gemacht.
„Du arbeitest im Zoo mit Schimpansen zusammen, wie kannst du dir nicht sicher sein?“
Ich entzog Tarek die Hand und verschränkte die Arme vor der Brust. „Mensch, Tarek, das ist fünfzehn Jahre her, damals konnte ich eine Meerkatze nicht von einem Pavian unterscheiden, und damit ist Forschung erlaubt, das weißt du. Nur mit Primaten ist sie verboten. Und dann die Zeit – selbst wenn sie vor fünfzehn Jahren mit Schimpansen gearbeitet haben, heißt das doch nicht, dass sie es heute noch tun. Die werden doch auch kontrolliert.“
„Wir wollen nur Fotos machen, sonst nichts. Wir machen Fotos und dann hauen wir wieder ab.“
„Du hast gesagt, ihr wollt die Affen mitnehmen.“
„Ja, aber das Wichtigste sind die Fotos. Wir müssen das dokumentieren. Wir zeigen das, was ist, nichts weiter. Es geht nicht um die paar Affen, die aktuell im Labor sind, wir wollen eine allgemeine Diskussion über das Thema, verstehst du?“
„Und wenn das doch Schimpansen sind?“
„Wenn doch welche da sind? Was meinst du, was wir dann tun sollen?“ Er lässt sich mit dem Rücken zurück an die Stuhllehne fallen, legt seine Unschuldsmiene auf.
„Dann müsst ihr sie mitnehmen. Und ihr müsst das zur Anzeige bringen!“
Tarek nickte zufrieden. „Das machen wir, das machen wir sicher. Also, kopierst du die Karte? Du hast gesagt, du willst deine Eltern nächstes Wochenende besuchen, du kannst mein Auto nehmen. Und ich sage Victor, er soll dir die Kopiermaschine bis dahin vorbeibringen.“
Ich lege einen Zeigefinger an die Unterlippe, ziehe sie nach vorn und lasse sie gegen das Zahnfleisch flitschen. Ich fühle mich wie eine Heuchlerin, bin aber irgendwie auch stolz, dass dieses Gespräch genauso gelaufen ist, wie ich mir das vorgestellt hatte.
„Sag Victor, er soll am Donnerstagnachmittag im Tierpark vorbeikommen.“
„Wo … wo bin ich?“
Das ist nicht die Frage, denkst du, jedes Mal denkst du das. Und du fragst dich, was sie meinen, wenn sie ich sagen. Es kommt ihnen so selbstverständlich über die Lippen, als wüssten sie, wovon sie reden. Dabei müsste die Frage doch lauten: „Wer bin ich?“
Du legst deine Hand auf seinen Unterarm, der sich jetzt leicht feucht anfühlt, das Cortisol, die übliche Stressreaktion. „Alles ist gut“, raunst du ihm zu, „Sie sind in Sicherheit.“
Er glaubt es nicht, entzieht dir den Arm, stemmt ihn in die Matratze und schiebt sich hoch in eine halb liegende, halb sitzende Position. Er strampelt die Decke weg, als sei sie der Feind, eine fremde Spezies, die ihn zu verschlingen droht. Seine Augen weiten sich, er beginnt nach Luft zu schnappen.
Verdammt, bitte keine Panikattacke jetzt!
Du stehst auf, beugst dich über ihn. „Beruhigen Sie sich, ich kann Ihnen alles erklären, ich erkläre Ihnen alles, aber bitte versuchen Sie ruhig zu atmen: Ein, aus, ein … Ja, genau so. Sie werden sehen, alles ist in Ordnung.“
Seine Augen richten sich auf dich, dann auf verschiedene Dinge im Raum: Den Tisch, den Stuhl, das Fenster, die Tür, den Nachttisch mit den Wasserflaschen. Sie suchen nach etwas Vertrautem, einem Ankerpunkt. Er schiebt sich noch ein Stück nach oben, so dass er jetzt fast komplett aufrecht sitzt. Er sieht dich wieder an, zieht seinen Kopf dabei zurück, als halte man ihm ein Messer an die Kehle.
„Okay. Okay … erklären Sie es mir, erklären Sie es!“
Du musterst ihn, er hat Angst, das ist normal. Aber es sieht nicht mehr danach aus, als drohe er zu hyperventilieren. Also nickst du ihm zu und setzt dich wieder.
„Ihr Name ist Tony. Tony Braun. Sie sind 38 Jahre alt und befinden sich in einem Hotel in Bangkok. Sie haben freiwillig an einem Programm teilgenommen, das sie hierhergebracht hat. Dass Sie sich an nichts erinnern können, ist vollkommen normal. Ja, es ist sogar Sinn und Zweck des Programms. Sie sehen also, dass alles seinen geplanten Gang geht.“
Du legst eine kurze Pause ein, forschst in seinem Gesicht nach Anzeichen, ob das Gesagte bei ihm angekommen ist, ob er es geschluckt hat.
„Tony … Braun … Ich, ich kann mich nicht erinnern.“
Er hat es begriffen, und er beruhigt sich, du kannst aufs Ganze gehen.
„So ist es. Sie können sich nicht erinnern, das ist Teil des Programms. Und, um es gleich vorweg zu sagen, Sie werden sich auch nie mehr an irgendetwas aus Ihrem früheren Leben erinnern können. Warum das so ist, darauf gibt es keine Antwort. Je früher Sie das begreifen, je früher Sie das akzeptieren, umso besser für Sie. Dann haben Sie die Chance, neu zu starten und ein besseres Leben zu leben, als Sie es jemals hatten. Das ist die ganze Geschichte.“
Du weißt, dass eine Botschaft wie diese sich erst einmal setzen muss. Sie muss sich ablagern wie Schwebeteilchen, die in aufgewühltem Wasser herabsinken. Erst dann sieht man wieder klar. Es ist gut, die Dinge beim Namen zu nennen, das hast du gelernt. Man muss die Leere in den Köpfen füllen, sie ist unerträglich. Der Blick ins Innere ist sonst ein Blick in den Abgrund, das hält kein Mensch aus. Das Nichts ist schlimmer als jede Vorstellung, selbst die brutalste.
Er schiebt sich von dir weg, auf die andere Seite des Betts. Er traut dir nicht, aber das ist nur zu verständlich.
„Wie bin ich hierhergekommen?“
„Das weiß ich nicht.“
„Wieso glauben Sie … was meinen Sie damit, dass ich mich an nichts erinnern kann? Das ist doch … Ich spreche, ich erinnere mich an Sprache, an Bewegung, ich kenne die Bezeichnungen der Gegenstände – ich erinnere mich an all das, was soll also der Quatsch?“
Er ist jetzt auf der anderen Seite des Betts, hebt langsam ein Bein von der Matratze, stellt einen Fuß auf den Boden.
„Ja, Sie haben natürlich recht, ich war nicht präzise genug. Sie erinnern sich tatsächlich an eine ganze Menge. Was Sie nicht mehr abrufen können, ist Ihr episodisches Gedächtnis … bitte tun Sie das nicht!“
„Was?“
„Verdammt!“
Du springst auf, eilst ums Bett herum, aber er ist schneller als du. Er steht bereits, hält sich aber nur einen Atemzug lang, dann knicken ihm die Beine weg. Als er zusammensackt, erwischst du ihn gerade noch so, dass sein Kopf nicht gegen die Bettkante schlägt. Der Kreislauf. Er hat zu lang gelegen, das bekommt niemandem gut.
Du zerrst ihn zurück aufs Bett, was alles andere als leicht ist, denn der Typ wiegt sicherlich seine achtzig Kilo. Er ist nicht dick, im Gegenteil, er ist durchtrainiert wie ein Athlet. Aber er ist groß, auf jeden Fall über eins achtzig. Im Bad nimmst du ein Handtuch aus dem Stapel neben dem Waschbecken, befeuchtest es und legst es auf seine Stirn. „Geht's?“, sagst du, als du merkst, dass er zu sich kommt.
Er nickt unmerklich.
„Sie haben zu lange gelegen, das Blut sackt dann in die Beine, und das Gehirn bekommt zu wenig Sauerstoff. Das macht der Gleichgewichtssinn nicht lange mit.“
„Wie lange habe ich gelegen?“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen.“
„Sie können nicht oder Sie wollen nicht?“
„Ich kann nicht.“
Er schweigt. Schließt die Augen. Sagt dann wie zu sich selbst: „Es stimmt, ich kann mich an nichts erinnern, nicht an gestern, nicht an die letzte Woche, das letzte Jahr. Nicht an meine Freunde oder an meine Familie. Ich kann gar nicht sagen: Habe ich Familie?“
„Ich weiß.“
Er öffnet die Augen, seine Pupillen fixieren dich, ohne dass er seinen Kopf bewegt. „Wer sind Sie?“
„Mein Name ist Edgar.“
„Sind Sie Arzt?“
„Ich bin hier, um Sie in diesen ersten Stunden in Ihrem neuen Leben zu begleiten.“
Er wendet den Blick von dir ab, schaut hinauf an die Decke. Der gelbe Lampenschirm mit den braunen Quasten, der dort hängt, hat etwas Deprimierendes, wie du findest.
„Sie machen das öfter? Diese Begleitung von Menschen ohne Gedächtnis?“
„Ja.“
„Seit wann?“
„Mit Unterbrechungen seit fast dreizehn Jahren.“
„Wow, dreizehn Jahre. Wie viele waren vor mir?“
„Wie viele? Schwer zu sagen, ich führe nicht Buch darüber.“
„Eher zehn? Eher hundert? Oder Tausend vielleicht?“
„Eher hundert.“
Er nickt der Lampe zu, zieht dabei die Mundwinkel hinab, als sei diese Zahl eine wertvolle, gewichtige Information für ihn. Dass die Erwachten sich nach anderen Patienten erkundigen, kommt eher selten vor. War es überhaupt vorgekommen? Die meisten waren eher auf sich selbst konzentriert, was du durchaus nachvollziehen kannst.
„Ich weiß nicht, ob ich der Einzige bin.“
„Nicht der Einzige? Was meinen Sie, Edgar?“
„Dass es sein kann, dass es andere Begleiter wie mich gibt. An anderen Orten. Und damit auch weitere Patienten.“
Er blickt dich unter müden Lidern an. Wirkt jetzt deutlich gefasster, auch wenn er dir noch nicht restlos zu trauen scheint.
„Wo finde ich Sie, wenn ich nach diesen ersten Stunden noch Fragen habe?“
„Ich fürchte, Sie werden mich nirgends finden, Tony. Sie müssen alleine klarkommen.“
Seine Augen weiten sich. „Sie geben mir keine Nummer?“
„Nein, tut mir leid. Mein Auftrag endet, wenn ich dieses Zimmer verlasse.“
Er dreht sich um, stützt sich mit einem Ellenbogen auf die Matratze. Er will etwas sagen, doch ein plötzlicher Hustenanfall hindert ihn daran. Als er ihn einigermaßen in den Griff bekommen hat, lässt er sich wieder auf das Kissen sinken.
„Das Husten kommt auch vom Liegen. Sie werden sich ein, zwei Tage schonen müssen.“
Er nickt, aber du spürst, dass er gedanklich bereits ganz woanders ist. Nach einer kurzen, stillen Pause sagt er: „Edgar, Sie sagen, ich hätte das freiwillig gemacht. Warum sollte ich das tun?“
Eine weitere Frage, auf die es keine abschließende Antwort gibt. „Das kann viele Gründe haben. Wahrscheinlich gab es irgendetwas in Ihrem Leben, an das Sie sich nicht erinnern wollen oder sollen.“
„Sollen“, schießt es aus Tony heraus. „Ganz sicher: sollen! Das habe ich niemals freiwillig gemacht. Irgendjemand will verhindern, dass ich mich erinnere. Irgendjemand profitiert davon, dass ich irgendetwas nicht weiß.“
„Gut möglich“, sagst du.
„Gut möglich? Hundertprozentig!“ Er dreht sich erneut auf die Seite, diesmal bremst ihn kein Hustenanfall. Er stützt sich mit dem linken Ellenbogen auf der Matratze ab, die rechte Hand legt er an deine Schulter. „Eddy, ich frage Sie: Wer hat mir das angetan? Bitte: Wer sind diese Leute?“
„Sie kennen meine Antwort!“
Er wird lauter: „Aber ich will die Wahrheit wissen! Sagen Sie mir die Wahrheit!“ Seine Hand sackt von deiner Schulter, aber schon im nächsten Moment versucht er, dich am Hemdkragen zu packen. Doch du bist schneller, er greift ins Leere. Mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung blickt er dich an. Als er die ganze Aussichtslosigkeit spürt, hier mit Gewalt etwas erzwingen zu können, legt er seine Stirn auf die Matratze und seinen Arm über den Kopf.
„Ich will, dass Sie sich etwas ansehen“, sagst du und gehst hinüber zum Tisch. Du nimmst den Laptop und stellst ihn auf die Matratze. Nachdem das Gerät hochgefahren ist, klickst du die Datei auf dem Stick an.
Das Video öffnet sich.
Luzie springt auf meinen Schoß, steckt ihren Kopf unter meinen Arm und weint fürchterlich. Ich streiche ihr über das Fell, will mir ihren Arm ansehen, aber sie lässt es nicht zu, hält ihn schützend an ihren Körper gepresst. Almira, ihre Widersacherin, sitzt auf der obersten Astgabel des Kletterbaums und blickt auf uns herab. Sie ist stolz wegen ihres Coups und lässt sich von Salma groomen – so nennen wir es, wenn Primaten „sich lausen“. Dabei geht es aber gar nicht in erster Linie um Läuse, es geht um Fellpflege im Allgemeinen und vor allem um soziales Miteinander. Groomende Primaten sichern sich das Wohlwollen der anderen, stärken ihre Gruppenzugehörigkeit, manche schmieden hierdurch Allianzen.
Vielleicht dachte Luzie eben auch, dass Almira nur groomen wollte, als sie Luzie zu sich gewunken hat. Aber Almira hatte Luzie übel reingelegt. Sie saß auf mittlerer Höhe des künstlichen Felsen an der Hinterwand des Geheges und streckte die geöffnete Hand in Luzies Richtung. Eine klare Geste des Vertrauens und eine Aufforderung, zu ihr zu kommen. Luzie war misstrauisch, doch sie wollte das Friedensangebot der alten Dame auch nicht ausschlagen, wer weiß, wann sich noch einmal eine solche Chance böte? Also seilte sie sich auf einen tiefer gelegenen Ast ab und sprang auf den Felsen. Sie näherte sich Almira langsam, drehte sich dabei immer wieder um, ihr nervöses Grinsen zeigte an, dass sie dem Braten nicht traute. Doch Almira stieß ein weiches Grunzen aus, gefolgt von einem Kuss in die Luft, Gesten, die anzeigten, dass Luzie nichts Schlimmes zu erwarten hatte. Offenbar war es Zeit, Frieden zu schließen. Doch kaum war Luzie in der Reichweite Almiras, packte das schwere Weibchen das kleinere, schlug auf Luzie ein und biss ihr in den Arm.
Wir Pfleger sollen uns natürlich nicht in die Kämpfe der Tiere einmischen, Konflikte wie dieser gehören zum natürlichen Verhalten von Schimpansen, und das wollen und müssen wir zulassen. Dennoch erstarrte ich förmlich, als ich sah, wie Almira Luzie zurichtete. Ich kenne Luzie seit ihrer Geburt und habe mich von Anfang an um sie gekümmert. Esra, ihre Mama, hatte damals zu wenig Milch, und so war ich es, die die kleine Luzie mit der Flasche aufpäppelte. Luzie ist seitdem immer ganz außer sich, wenn ich morgens das Gehege betrete. Und ich müsste lügen, wenn ich nicht zugeben würde, dass auch ich sie ins Herz geschlossen habe. Es ist fast so etwas wie eine Mutter-Tochter-Beziehung, so empfinde ich es jedenfalls.
Kein anderes Tier ist dem Menschen ähnlicher als es Schimpansen sind. Wenn man eine Zeit mit ihnen verbringt, fühlt man sich ihnen ganz nahe, fast kann man vergessen, was uns von ihnen unterscheidet. Und wahrscheinlich sind es auch nur ein paar Millionen Zellen im frontalen Stirnlappen mehr, die wir ihnen voraushaben, nicht der Rede wert also. Die Nähe zu diesen Tieren gilt dabei im Guten wie im Schlechten. Sie entwickeln Freundschaften, haben ein ausgeprägtes Sozialverhalten, aber sie fechten auch brutale Rangstreitigkeiten aus. In freier Natur führen sie sogar Kriege mit anderen Schimpansen-Gruppen und zeigen keine Gnade mit ihren Gegnern: Die Männchen werden getötet, die Weibchen verschleppt. Ganz wie in den düstersten Zeiten der Menschheit also.
Luzie war jedenfalls noch einmal davongekommen, bevor ich überhaupt reagieren konnte. Nach einigen Hieben hatte sie sich aus Almiras Klammergriff befreit und unter lautem Kreischen das Weite gesucht. Eingeholt hätte Almira sie nicht, dafür wäre sie nicht schnell genug gewesen, aber sie hatte wohl erreicht, was sie wollte.
Ich bin heilfroh, dass es für mein kleines Baby nicht schlimmer ausgegangen ist, und streichele Luzie über den Kopf, während sie leise wimmert. Als sie sich beruhigt, blickt sie durch meine Armbeuge zu Almira, die grinsend und zufrieden die Körperpflege genießt.
„Na, kleine Luzie, das ist wohl die Rache für euren Putsch“, sage ich und drehe mich nach Elton um. Er sitzt wie immer in den letzten Tagen alleine unten am Boden, eine Hand müde an ein Seil gelegt. Die anderen Männchen meiden ihn, seitdem Lothar, das Alphamännchen, ihm seine Grenzen aufgezeigt hat. Zu befürchten hat er aber nichts mehr. Wenn die Männchen ihren Konflikt ausgetragen haben, ist erstmal Ruhe, die Weibchen sind nachtragender. Elton ist stark, möglicherweise stärker als Lothar, doch das ist nicht alles bei Schimpansen. Wichtig ist, wer zu deiner Gruppe gehört und dich unterstützt. Und Lothar konnte sich mithilfe Almiras die Loyalität der meisten anderen Schimpansen sichern. Sie hält ihm als Grand Old Lady also quasi den Rücken frei. Elton und die ihn anschmachtende Luzie hatten den Kürzeren gezogen.
„Vielleicht sollte ich mir das einmal ansehen? Was meinst du, Luzie?“ Sie schaut mich an, als könne sie mich verstehen, und ehrlich gesagt glaube ich das manchmal auch. Tatsächlich blickt sie jetzt auf ihren Arm und hält ihn mir dann auffordernd hin. Sie zuckt kurz, als ich ihn berühre, bleibt dann aber ganz ruhig, als ich das Fell leicht zurückstreiche, um die Wunde zu begutachten. Ich sehe einige Kratzer, aber auch eine deutliche Bissspur, die Almiras spitze Reißzähne hinterlassen haben.
„Ah, das hat wehgetan, meine Süße, hm? Der Biss ist nicht besonders tief, aber ich desinfiziere das kurz, ist das okay?“
Sie klammert sich wieder an mich, sie weiß, dass ich sie in den Pflegeraum mitnehmen werde, Luzie versteht alles.
Ich will gerade aufstehen, als jemand von außen gegen die Scheibe klopft.
Nicht das schon wieder!
Entweder sind es Kinder oder alte Männer. Dabei hängen draußen überall Schilder: Nicht gegen die Scheibe klopfen!
Erst vor zwei Wochen ist Almira förmlich ausgerastet. Ich kam erst dazu, als sie bereits Gegenstände gegen die Scheibe warf, als wolle sie den Mann treffen, der sie davor förmlich anglotzte. Er kam mir bekannt vor, wahrscheinlich ist er regelmäßig im Zoo unterwegs, ein Hagerer mit nach hinten gekämmten dunklem, leicht angegrautem Haar und einer randlosen Brille. Er betrachtete den Wutanfall meiner alten Almira regungslos, holte dann ein Blöckchen hervor, machte sich Notizen. Ich lief raus, wollte ihn zur Rede stellen, doch da war er schon weg.
Als ich jetzt wieder daran denke, kommt mir in den Sinn, dass ich Almira vielleicht auch unrecht tue. Man legt oft seine menschlichen Vorstellungen in die Tiere hinein, projiziert Eigenschaften. In der Sache mit Luzie unterstellte ich ihr eine gewisse Rachsucht, das muss ich zugeben. Dabei stimmt etwas nicht mit Almira. Schon den ganzen letzten Monat hat sie sich eigenartig verhalten, wirkte mal abwesend, dann war sie plötzlich hyper-aggressiv. Sie ist über 30 Jahre alt, also eine ältere Dame. Zwar gibt es bei Schimpansen keine Menopause, aber das heißt nicht, dass sich Hormone bei ihnen im Alter nicht irgendwie umstellen können.
Das erneute Klopfen reißt mich aus den Gedanken.
Ich spähe durch die Scheibe. Ein Mann. Genau kann ich ihn nicht erkennen, da das Glas spiegelt, aber es ist offenbar nicht der gleiche, der Almira neulich so verstört hat. Dieser hier trägt einen hellen Anzug und einen Panamahut und keine Brille. Ich stelle die Hüfte raus, halte Luzie mit einer Hand an den Körper gepresst. Dann zeige ich auf das Schild und forme mit den Lippen deutlich die Worte: „Nicht. An. Die. Scheibe. Klopfen.“ Hören kann er mich nicht, dazu ist die Scheibe zu dick.
Obwohl er kapiert haben sollte, was ich ihm vermitteln wollte, klopft er erneut, gestikuliert, fuchtelt mit den Händen. Ich werde wütend, können diese Typen nicht einmal akzeptieren, dass es Grenzen gibt? Dass Tiere ein Recht haben, nicht auf Schritt und Tritt von Menschen belästigt zu werden? Schlimm genug, dass sie den ganzen Tag angeglotzt werden!
Er tritt einen Schritt zurück, nimmt schließlich den Hut ab, deutet eine Verbeugung an. Dann erkenne ich ihn: Es ist der Schriftsteller.
Das hat mir gerade noch gefehlt!
Er hatte mir nach der Lesung einige verärgerte E-Mails geschrieben, die ich gar nicht richtig gelesen hatte. Nach der dritten Mail habe ich ihn gesperrt, dann war Ruhe. Bis jetzt offenbar.
Er versucht mir zu signalisieren, dass ich rauskommen soll. Zeigt auf mich, zeigt auf sich, macht eine Geste, die wohl „sprechen“ bedeutet.
„Moment“, forme ich mit den Lippen und er nickt.
Mit Wut im Bauch und Luzie auf dem Arm gehe ich in den Pflegeraum, setze sie dort auf den Tisch und hole das Desinfektionsmittel aus dem Medizinschrank. „Keine Angst, es brennt nicht“, sage ich zu ihr und sprühe die Wunde ein. Sie zuckt kurz zusammen und blickt mich vorwurfsvoll an: Hast du nicht gesagt, es brennt nicht? „Das ist nur die Kälte, du hast dich erschreckt, kleines Dummerchen!“ Ich stelle das Spray zurück in den Medikamentenschrank. „Na komm!“, sage ich zu Luzie, und sie springt auf meinen Arm. Ich bringe sie zurück ins Gehege, schicke Almira zur Sicherheit einen drohenden Blick, dann gehe ich zu den Affen auf der anderen Seite des Fensters.
„Ah Paula, schön Sie zu sehen!“, sagt der Schriftsteller, und ich erdulde widerstrebend die Küsschen, die er mir auf die Wangen gibt. „Es ist toll, wie Sie mit den Tieren umgehen. Wissen Sie, an wen Sie mich erinnern?“
„An Jane Goodall?“
Er stutzt, wirkt ehrlich überrascht. „In der Tat, wie sind Sie darauf gekommen?“
„Naja, sie war auch eine Frau mit Affen, oder?“
„Äh ja, das stimmt, vielleicht ein etwas naheliegender Einfall.“
„Grämen Sie sich nicht, Sie sind nicht der Erste. Leider muss ich den Vergleich auch ablehnen. Jane Goodall ist eine Göttin, sie hat Pionierarbeit mit Schimpansen in freier Wildbahn geleistet und unglaublich viel zum Verständnis der Tiere beigetragen. Ich bin nur eine einfache Tierpflegerin.“
„Aber nein, das sollten Sie nicht … Bescheidenheit in allen Ehren, aber Sie sind doch auch ...“ Der große Schriftsteller sucht nach den richtigen Worten.
„Eine Frau mit Affen, ja, wie gesagt. Was führt Sie zu mir?“
Er setzt den Schriftstellerhut wieder auf, lächelt rotwangig. Auf seiner Nase hat sich ein Delta kleiner Adern gebildet, ich kann mich nicht daran erinnern, dass es mir zu einem früheren Zeitpunkt aufgefallen wäre. Möglicherweise ist es ein Ergebnis des üppig genossenen Schriftstellerrotweins. Ich beiße mir leicht auf die Unterlippe, ich sollte diese bösen Gedanken nicht denken, schelte ich mich, aber ich kann nicht anders. Noch so eine schlechte Eigenschaft von mir: Zynismus.
„Ich war in der Gegend und dachte, ich besuche eine alte Freundin.“
Eine alte Freundin, damit kann er doch unmöglich mich meinen?!
„Ich arbeite an meinem zweiten Buch, müssen Sie wissen. Derzeit läuft es etwas träge, ich will nicht von einem Writers-Block sprechen, aber … na, es ist nicht einfach derzeit. Am besten, man geht dann ein bisschen, vertritt sich die Beine – und warum nicht im Zoo?“
Ich nicke. Bin einerseits froh, dass er keine Szene macht, weil ich mich nicht gemeldet habe, andererseits interessieren mich die Leiden aus seinem harten Autorenalltag nicht besonders. Ich bin stattdessen immer noch angespannt wegen Luzie und linse an ihm vorbei in das Gehege, ehrlich gesagt fest dazu entschlossen, einzugreifen, wenn Almira noch einmal auf mein Baby losgeht.
„Wollen wir vielleicht ein Stückchen gehen?“
„Ich fürchte, das ist nicht möglich, ich muss mich um die Tiere kümmern, ich habe eigentlich gar keine Zeit.“
„Natürlich, wie dumm von mir, Sie während der Arbeit zu stören. Ihre Lieblinge warten auf Sie. Wie wäre es ein andermal?“
„Ja, äh … ein andermal vielleicht. Ich kann allerdings schlecht planen gerade, ich bereite mich auf eine Forschungsreise nach Asien vor. Melden Sie sich doch einfach per ...“ Fast hätte ich gesagt, per E-Mail, was mehr als peinlich geworden wäre, da ich ihn doch gesperrt hatte. Aber ich habe Glück: Gerade in diesem Moment unterbricht uns jemand, der hinter mir steht.
„Paula?“
„Ja?“ Ich drehe mich um. „Oh, Victor, stimmt, das hatte ich ganz vergessen.“
„Macht nichts, hier ist die Kartenlesemaschine, soll ich sie dir kurz erklären?“
Mein Gott, geht es noch ein bisschen auffälliger? Sag doch gleich, dass wir vorhaben, in ein Labor einzubrechen!
Er hält mir einen ausgebeulten Jutesack unter die Nase, auf dem Werbung für irgendeine Gamer-Convention abgebildet ist, Motto: Play hard, die free!
„Ja, das wäre vielleicht ganz gut“, sage ich so belanglos wie möglich. Ich wende mich wieder dem Schriftsteller zu. „Sie sehen, das Leben einer Tierpflegerin beschränkt sich nicht auf die Arbeit mit den Tieren, wir müssen uns auch um jede Menge technische Angelegenheiten kümmern. Einlasskarten und sowas.“
Er schüttelt den Kopf und zeigt ein verkniffenes Gesicht. „Dass sowas jetzt auch noch an Ihnen hängen bleibt, diese Rationalisierungen sind eine Schande!“
Ich parke Tareks Golf vor der geschlossenen Garage. Dann friemele ich die kleine weiß-blaue Tablette aus der Hosentasche und würge sie ohne einen Schluck Wasser herunter. Ich weiß, dass ich vorsichtig damit sein muss, aber vor dem Besuch bei meinen Eltern brauche ich ein bisschen chemischen Beistand. Schon als Kind habe ich Methylphenidat bekommen, die Diagnose war ADHS. Der Wirkstoff steigert das Dopamin im Hirn, ich verfiel damit in der Schule seltener in Träumereien. Doch wenn man das Zeug absetzt, kann man sich noch schlechter konzentrieren als zuvor, also im Normalzustand. Das Gehirn stellt sich darauf ein, dass sein Dopaminspiegel von außen geregelt wird, und fährt die eigenen Bemühungen dazu herunter.
Ich war nicht gerade ein Ass in der Schule, mit oder ohne Tabletten, deshalb hatte ich auch keinen Bock aufs Studium. Die Probleme begannen zu der Zeit, in der meine Eltern sich verstärkt gestritten haben. Ich denke, ich dürfte in der vierten Klasse gewesen sein. Ich hörte sie oft bis ins Kinderzimmer hinauf schreien und konnte dann nicht mehr schlafen. Kein Wunder, dass ich mich tags drauf nicht konzentrieren konnte. Noch heute schlafe ich schlecht, nicht auszuschließen, dass das ein Andenken von damals ist.
Wenn ich daran zurückdenke, stellen sich mir noch jetzt die Nackenhaare auf. Manchmal schlich ich mit pochendem Herzen aus dem Kinderzimmer in den Flur. Um sie zu belauschen, könnte man sagen. Einerseits. Andererseits wollte ich einfach begreifen, was da los war zwischen den beiden. Diese Streits wirkten auf mich wie eine Bedrohung. Immer hatte ich das Gefühl, ich sei irgendwie schuld daran.
Ich verstand nicht immer alles, aber meistens ging es um die ominösen Nambuawan. Ich weiß nicht wieso, aber ich musste dabei immer an einen afrikanischen Stamm denken: Die Nambuawan, das letzte Nomadenvolk der Serengeti oder so. Michael forderte meine Mum regelmäßig auf, die Nambuawan zu vergessen, vorbei sei vorbei. Aber sie bestand darauf, dass es nie vorbei sei, „solange ich lebe nicht!“ Er hingegen wollte endlich Normalität: „Es war auch deine Entscheidung, verdammt nochmal.“ Und sie: „Aber deine Idee!“ Einig waren sie sich, dass diese Sache mit den Nambuawan niemals rauskommen durfte. Und wenn sie sich gestritten hatten, versöhnten sie sich meist, indem sie sich das einander versprachen: Kein Wort über die Nambuawan. Auf gar keinen Fall natürlich mir gegenüber.
Seitdem weiß ich, dass ich ihnen nicht vertrauen kann. Das mit den Nambuawan hatte ich irgendwann mehr oder weniger vergessen, was blieb, war die tiefe Überzeugung, dass sie mir etwas Wichtiges vorenthielten.