Der letzte Pilger - Gard Sveen - E-Book
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Der letzte Pilger E-Book

Gard Sveen

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Beschreibung

Ausgezeichnet als bester Krimi Skandinaviens Es ist Frühling in Oslo, als ein grausames Verbrechen geschieht: Der ehemalige Widerstandskämpfer Carl Oscar Krogh wird brutal ermordet. Während des Krieges stand er stets auf der richtigen Seite. Wer bringt einen Mann um, den alle bewundern? Kurz zuvor findet man in der Nordmarka drei Leichen. Unter ihnen ein kleines Mädchen. Kommissar Tommy Bergmann, scharfsinnig, klug und ein Selbsthasser voller innerer Abgründe, sieht einen Zusammenhang: Die Toten stehen in Verbindung zu Agnes Gerner, einer Agentin des Widerstandes. Je mehr Tommy Bergmann über die schöne und hochintelligente Frau herausfindet, umso gefährlicher erscheint sie ihm. "Gard Sveen beherrscht die Kunst des Krimischreibens. Beeindruckendes Debüt eines Autors, der gekommen ist, um zu bleiben. Lesen Sie dieses Buch!" Anne Holt

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Das Buch

Kommissar Tommy Bergmann bedeutet niemandem etwas, vor allem sich selbst nicht. Er ist ein Wrack, seit seine letzte Beziehung auf tragische Weise geendet ist. Schuldgefühle und Einsamkeit plagen ihn. Seine einzige Ablenkung ist eine Mädchen-Handball-Mannschaft, die er trainiert. Eine Mutter der Mädchen, Hadja, geht Bergmann nicht aus dem Kopf. Aber er glaubt nicht, dass jemand wie er in einer normalen Beziehung leben kann oder dass er sie überhaupt verdient hat.

Da wird er mit dem spektakulärsten Fall der norwegischen Geschichte konfrontiert: Ausgerechnet der von allen geliebte und mittlerweile sehr betagte einstige Widerstandskämpfer Carl Oscar Krogh wurde umgebracht. Warum jetzt – Jahrzehnte nach dem Krieg? Wer hatte noch eine Rechnung offen mit ihm?

Der Autor

GARD SVEEN, geboren 1969, ist Staatswissenschaftler und arbeitet als Seniorberater im norwegischen Verteidigungsministerium.

DER LETZTE PILGER ist sein Debüt in der Serie um Tommy Bergmann und wurde mehrfach ausgezeichnet. Gard Sveen lebt in Ytre Enebakk, einem kleinen Ort in der Nähe von Oslo.

Gard Sveen

Der letzte Pilger

Kriminalroman

Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob

List

Die norwegische Originalausgabe erschien 2013unter dem Titel Den siste pilegrimenbei Vigmostad & Bjørke, Bergen

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ISBN: 978-3-8437-1256-9

© 2013 by Gard Sveen© der deutschsprachigen AusgabeUllstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, MünchenUmschlagabbildung: © Rainer Mirau/gettyimages

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Sonntag, 8. Juni 2003

Dr. Holms vei

Oslo

Erst als sie vor der mächtigen Holzvilla parkte, wurde der jungen Haushaltshilfe bewusst, dass das Tor oben an der Straße offen gestanden hatte. Sie blieb im Auto sitzen, um das Lied zu Ende zu hören, dann schaltete sie das Radio ab, stieg aus und ließ ihren Blick über die Einfahrt schweifen.

Das schmiedeeiserne Tor war weit geöffnet.

Das ist doch sonst nie auf, dachte sie.

Ein knappes Jahr arbeitete sie jetzt für Carl Oscar Krogh und wusste daher, dass der alte Mann in solchen Dingen niemals nachlässig war. Er wollte immer als Erstes wissen, ob sie auch das Tor hinter sich geschlossen hatte, und er wiederholte diese Ermahnung, wenn sie sich verabschiedete. »Vergessen Sie aber nicht, das Tor hinter sich zu schließen.«

Ihr fiel auf, dass der Hund nicht bellte. Wo war der English Setter, vor dem sie noch immer ein bisschen Angst hatte? Hinter dem Haus war alles still. Kein Bellen, kein Zerren an der Kette. Sonst wartete er doch nur darauf, dass sie aus dem Auto stieg.

Die junge Frau drehte sich zum Haus um und warf die Fahrertür zu. Der Knall hallte in ihren Ohren wider und ließ danach alles nur noch stiller wirken. Und wärmer, dachte sie. Die Hitze, die sich auf die Stadt gesenkt hatte, war längst nicht mehr angenehm.

Nach zweimaligem vergeblichen Klingeln zweifelte sie nicht mehr daran, dass etwas nicht stimmte.

Plötzlich beschlich sie das unheimliche Gefühl, dass erst vor kurzem jemand auf dieser Treppe gestanden haben könnte, der dort nichts verloren hatte.

»Hallo!«, rief sie laut. »Herr Krogh?«

Zu guter Letzt legte sie ihre Hand auf die schwere Klinke. Die Tür war verschlossen.

Sie drehte sich um, ihr Puls raste. Sie verfluchte das weitläufige Grundstück und die hohe Fichtenhecke, die alle Blicke abschirmte. Hier war man ganz allein. Niemand würde sie rufen hören, keine Menschenseele.

Sie ging langsam um das Haus herum. Vor dem Küchenfenster blieb sie stehen, legte die Hände an die Scheibe und sah hinein. Nichts. Dann folgte sie dem gepflasterten Weg, der zur Terrasse auf der Rückseite des Hauses führte. Sie setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, um so wenig Geräusche wie nur möglich zu machen. Einen Meter von der Hausecke entfernt blieb sie stehen und strich mit der Hand über die von der Sonne aufgeheizten Holzbalken. Normalerweise hätte sie die Insekten, die vor ihrem Gesicht herumschwirrten, weggewedelt, doch jetzt bemerkte sie sie nicht einmal. Sie hatte die Augen starr nach vorn gerichtet und konzentrierte sich nur auf ihren Weg. Irgendwie beruhigte sie das. Weit unter ihr lag die Stadt, doch sie registrierte kaum das Zickzackmuster der weißen Boote, die den Fjord in Stücke schnitten.

Sie bog um die Hausecke.

Die weißen Gardinen flatterten in der offenen Terrassentür.

Etwas schob sich von unten in ihr Blickfeld. Die Platten neben der Gartensitzgruppe. Das Rot unter dem toten Hundekörper. Die klaffende Wunde an der schwarz-weiß gefleckten Kehle. Das Blut sah noch nicht geronnen aus.

Einen Moment lang erwog sie, zurück zum Auto zu laufen, aber ihre Beine trugen sie wie auf Autopilot weiter über die Terrasse.

Sie näherte sich den flatternden Gardinen und flehte ihren Gott an, er möge sie beschützen.

Mit einem großen Schritt stieg sie über den toten Hund.

Als Nächstes realisierte sie, dass sie im Wohnzimmer stand.

Vor ihr auf dem Boden lagen die sterblichen Überreste von Carl Oscar Krogh. Seine Augen waren nicht mehr in ihren Höhlen, jemand hatte sie wie Quallen zerhackt.

Wie kann man einem Menschen so etwas antun, dachte sie. Wie ist das möglich?

Teil 1

Montag, 28. Mai 1945

Jørstadmoen

Stalag 303

Milorg-Offizier Kaj Holt blieb auf dem Appellplatz stehen und betrachtete einen Moment lang die Baracken. Dann warf er einen Blick zurück zu dem Tor, durch das er eingetreten war, als wollte er sich vergewissern, dass er jederzeit umkehren könnte.

Wie war das noch? Man sollte niemals eine Frage stellen, auf die man keine Antwort will. Vielleicht war es besser, bestimmte Dinge nicht zu wissen, sich einfach damit abzufinden und weiterzuleben, so wie die meisten Menschen es taten. Nur dass er kein Leben mehr hatte, das er weiterleben konnte. Der Krieg in ihm würde nie zu Ende gehen.

»Es wäre das Beste gewesen, sie hätten dich auch erwischt«, murmelte Kaj Holt. Die Worte seiner Frau.

Wenige Minuten nachdem sie das zu ihm gesagt hatte, war er einfach gegangen, hatte Frau und Kind, all das, was ihn die letzten fünf Jahre am Leben gehalten hatte, zurückgelassen. In der ersten Nacht hatte er draußen geschlafen, es war wie eine Befreiung gewesen.

Er schüttelte die Erinnerungen ab und zog den Vernehmungsbefehl aus der Seitentasche seiner Uniformjacke, faltete das Papier auseinander und las, was er selbst in das Formular eingetragen hatte.

Hauptsturmführer Peter Waldhorst. Sipo Abteilung IV. Außendienststelle Lillehammer. Ganz unten auf dem Zettel seine eigene Unterschrift. Eine Handvoll Menschen wusste, dass er in Lillehammer war, niemand aber, wo genau. Es waren auch nur einige wenige eingeweiht, dass eine Gruppe deutscher Offiziere in das Lager verlegt worden war, in dem sich noch immer eine große Zahl russischer Kriegsgefangener befand.

Abteilung IV, dachte er. Der offizielle Name der Gestapo wirkte so harmlos. Typisch deutsch, die Hölle hinter den Zahlen der Bürokratie zu verstecken.

Weiter oben im Tal war ein kräftiger Donner zu hören, ungewöhnlich für den norwegischen Frühling.

Er faltete das Blatt umständlich wieder zusammen und steckte es zurück in die Tasche. Der dichte Regen drang bereits durch seine Uniform. Er hastete zu dem Gebäude vor sich, doch statt einzutreten, blieb er unter dem Dachvorsprung stehen, um noch ein wenig Zeit zu gewinnen. Er fischte eine schwedische Zigarette aus seiner Hemdtasche, bald würde er nur noch schwedische Sachen haben. Das Nikotin half ihm, sich zu sammeln. Sein Puls wurde langsam ruhiger.

Wie eine Sintflut, dachte er, als die dicken Tropfen auf die Erde klatschten und braun-schäumend wieder aufspritzten. Wollte der Schöpfer sie für ihre Sünden ersäufen? Schließlich war niemand, absolut niemand frei von Schuld. Auch er hatte Menschen auf dem Gewissen, die ihn Nacht für Nacht verfolgten, obwohl alles längst vorüber war: Junge, Alte, Väter, eine junge Mutter, gerade neunzehn Jahre alt. Ihr kleiner Sohn hatte zu schreien begonnen, als Kaj Holt die Treppe nach unten geschlichen war. Noch heute hörte er das Weinen hinter der dünnen Tür, sah den Jungen allein im Bett, während die Mutter, selbst noch ein Kind, in einer Blutlache auf dem Boden lag.

Niemand ist frei von Schuld.

Er dachte, dass er diesen Satz eigentlich auf einem Stück Papier festhalten und zu den anderen Zetteln legen sollte, die er in den letzten fünf Jahren geschrieben hatte. Diese Notizen waren so etwas wie seine Memoiren. Auf einmal wurde ihm bewusst, dass er die in einem Schuhkarton gesammelten Zettel zurückgelassen hatte. Er hatte einfach nicht daran gedacht, als er vor anderthalb Wochen Frau und Kind verlassen hatte und aus seinem bisherigen Leben verschwunden war, unmittelbar vor dem Nationalfeiertag am 17. Mai, dem ersten in Freiheit seit 1939. Wenn er den Karton, der in einem Schrankkoffer mit alten Kleidern auf dem Dachboden in der Thereses gate versteckt war, nicht holte, würde das alles nie einer zu Gesicht bekommen.

Kaj Holt zuckte zusammen, als ein Dodge WC52 mit hoher Geschwindigkeit um die Ecke bog und vor den Eingangsstufen, auf denen er stand, anhielt. Der Fahrer, ein junger Amerikaner, blieb Kaugummi kauend im Wagen sitzen.

Kaj Holts Zigarette war fast heruntergebrannt, als die Tür neben ihm aufging. Zwei Männer kamen heraus und blieben wie angewurzelt stehen. Sie schienen den Wetterumschwung nicht mitbekommen zu haben. Einer der beiden war Amerikaner, ein Offizier wie Holt, der andere Zivilist. Letzterer stieß Holt im Vorbeigehen leicht an und entschuldigte sich murmelnd auf Schwedisch. Der amerikanische Offizier nickte Holt zu, ehe er die Stufen hinunterging. »Get back in«, sagte er, als der Fahrer Anstalten machte, auszusteigen und die Beifahrertür zu öffnen.

Der Zivilist, ein Mann mit einem auffallend kindlichen Gesicht, musterte Holt eingehend, bevor er einstieg. Der Mund unter der nassen Hutkrempe verzog sich zu einem unbestimmten Lächeln.

Holt sah dem Auto nach, bis es zwischen den Bäumen verschwand. Er hatte das Gefühl, den Zivilisten schon einmal gesehen zu haben. Das kindliche Gesicht mit den weichen Zügen kam ihm irgendwie bekannt vor. Ach was, dachte er, das bilde ich mir nur ein. Wahrscheinlich hatte er darauf reagiert, dass ein schwedischer Zivilist gemeinsam mit einem amerikanischen Offizier aus der Baracke kam; dabei hatte die Befreiung des Landes zu derart chaotischen Zuständen geführt, dass ihn eigentlich kaum noch etwas wunderte.

Er schnippte die Zigarette auf den Boden und drehte sich um. In das Gitter vor dem Türglas war der deutsche Reichsadler samt Eichenkranz mit Hakenkreuz eingelassen. Der Anblick versetzte ihm einen Stich, und er blieb einen Moment mit der Hand auf der Klinke stehen.

Die dicken Haare des englischen Leutnants, der hinter der improvisierten Pforte saß, glänzten schwarz. Neben ihm stand ein bewaffneter englischer Militärpolizist, der Holt mit überheblicher Miene ansah. Die Engländer waren erst ein paar Wochen hier, verhielten sich aber bereits so, als gehörte ihnen und den Amerikanern das Land. Mit den Amerikanern kam er klar, aber die Engländer gingen ihm gegen den Strich. Sie redeten nicht dauernd davon, dass sie das Herrenvolk waren, sie setzten einfach voraus, dass alle es wussten. Noch vor wenigen Wochen hätte er jeden für verrückt erklärt, der ihm gesagt hätte, er würde sich einmal wünschen, dass die verfluchten Engländer endlich das Land verließen. So verrückt, wie man wurde, wenn man im Dienstbotenzimmer einer Wohnung in der Valkyriegata unter den Bodendielen lag, während über einem der Atem eines Gestapo-Mannes zu hören war.

Holt zog den Vernehmungsbefehl aus der Jackentasche. Das Papier war an einer Ecke nass geworden und leicht eingerissen. Der englische Militärpolizist nahm das Formular entgegen, wobei er Holt unablässig musterte, als hielte er ihn für einen Idioten. Dann seufzte er resigniert und glättete das Papier. Holt biss auf die Innenseite seiner Wange, verkniff sich eine Bemerkung über die Engländer und bekam das gegengezeichnete Formular zurück. Ein anderer Brite geleitete ihn mit schnellen Schritten in den düsteren Keller. Abgestandene Luft und Schimmelgeruch verschlugen ihm den Atem.

Ein junger Milorg-Soldat stand vor dem Raum Wache, in dem Peter Waldhorst gefangen gehalten wurde. Der Junge nahm Haltung an, aber Holt winkte ab. Er raunte dem Engländer ein paar Worte zu, worauf der wieder nach oben verschwand. Holt drehte sich einmal um die eigene Achse. Der Treppenaufgang am anderen Ende des Kellers war mit Brettern vernagelt. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und versuchte zu verdrängen, dass er unter der Erdoberfläche war, in einem dunklen, nassen Keller, aus dem es nur einen Fluchtweg gab. Das leichte Zittern seiner Finger verriet, dass ihm dies nur begrenzt gelang.

Er ging an dem jungen Milorg-Mann vorbei und öffnete langsam die Tür. Das Licht, das durch das schmale Kellerfenster fiel, blendete ihn für einen Moment, weshalb er erst nach ein paar Sekunden die Umrisse des Mannes erkannte, der zusammengekauert in der Ecke unter dem Fenster lag.

Holt blieb in der Türöffnung stehen und registrierte überrascht, wie überrumpelt er war, einen windelweich geprügelten Deutschen auf dem Betonboden eines dreckigen Kellerraums liegen zu sehen.

Er nickte dem jungen Milorg-Mann zu, der mit dem Lauf seiner Waffe herumfuchtelte. Erst jetzt bemerkte Holt die Angst im Blick des jungen Soldaten. Er war kreidebleich, als er die Tür hinter sich schloss.

Als der Deutsche durch das Prasseln des Regens, das von draußen hereindrang, die Schritte wahrnahm, hob er wie in Zeitlupe die Hände über den Kopf. Sein einer Arm schien ihm große Schmerzen zu bereiten. Die Ecke, in der er lag, war dunkel, trotzdem glaubte Holt zu erkennen, dass der Mann weinte. Egal, dachte er. Ich weiß, was für ein Dreckskerl du bist und dass du jeden Tritt verdient hast. Im nächsten Moment verfluchte er sich für diesen Gedanken.

»Hauptsturmführer Waldhorst?«, fragte er leise.

Der Deutsche antwortete nicht. Er hielt die Hände weiterhin schützend über seinen Kopf. Entscheidungen wie diese musste man treffen. Schützte man Brust oder Genitalien, trafen einen die Tritte am Kopf, was kaum einer überlebte.

»Peter Waldhorst?«

Ein Laut, der als Ja gedeutet werden konnte.

»Möchten Sie nach Hause?«, fragte Holt.

Ein leises Lachen. »Ich denke, das geht nicht.«

»Ich hätte die nötigen Kontakte, um Sie nach Hause zu bringen«, sagte Holt, ohne zu wissen, ob das wirklich stimmte. Aber Waldhorst brauchte ja nicht zu wissen, was passieren konnte, wenn es hart auf hart kam.

Noch einmal stellte er die Frage, die jemand in Waldhorsts Situation nicht ignorieren konnte. »Wollen Sie nach Hause?«

Eine lange Pause folgte. Das Prasseln des Regens gegen das Kellerfenster wurde etwas leiser.

»Ich habe eine kleine Tochter«, sagte der Deutsche schließlich.

»Haben wir nicht alle eine kleine Tochter?«, fragte Holt.

»Ich habe sie nur ein einziges Mal gesehen«, sagte Waldhorst. Der Regen trommelte plötzlich wieder härter gegen die Scheibe. »Wer sind Sie?«, fragte er.

Holt antwortete nicht. Stattdessen zog er sich einen Stuhl heran. Die klamme Kellerluft setzte ihm zu. Für ein paar Sekunden befand er sich wieder unter den Bodenplanken in der Valkyriegata. Seine Finger krallten sich um die Lehne.

»Wer sind Sie?«, sagte Waldhorst wieder, dieses Mal in perfektem Norwegisch. Holt lief ein Schauer über den Rücken. Er ertrug es nicht, wenn Deutsche Norwegisch sprachen, besonders dann nicht, wenn sie die Sprache so gut beherrschten wie dieser Mann. Als wollten sie damit sagen: Wir sind wie ihr, und ihr seid wie wir, lasst uns also die Waffen niederlegen und wie Brüder leben.

»Holt. Kaj Holt.«

Ein kaum hörbarer Laut kam über Waldhorsts Lippen. »Der Mann, den die Engel schützen«, sagte er leise. »So sehen Sie also aus.«

Holt hatte gehört, dass die Deutschen ihm den Spitznamen Engel gegeben hatten, aber das war unwichtig. Er glaubte nicht an Engel, er glaubte nicht einmal mehr an sich selbst. Eine Woche lang hatten die Deutschen versucht, ihn zu brechen, bevor sie ihn vollkommen überraschend einfach auf die Straße geworfen hatten. Vielleicht wachte tatsächlich jemand über ihn. Vielleicht sollte er doch an etwas Größeres als sich selbst glauben. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr.

»Haben Sie Durst, Hauptsturmführer?«

»Ich kann nicht …«, Waldhorst nahm die Hände von seinem Gesicht und spuckte Blut, »… trinken.«

Holt ging auf den Flur. »Hol Wasser!«

Der Milorg-Mann sah noch erschrockener aus als vor wenigen Minuten. Durch eine der geschlossenen Türen war ein dumpfes Geräusch zu hören.

»Sofort!«, rief Holt, um ihm Beine zu machen. »Und guck nach, ob du irgendwo Verbandszeug oder ein Handtuch findest.«

Zurück im Kellerraum, nahm er die Zigaretten aus seiner Tasche. Er suchte zwei heraus, die nicht vollständig durchnässt waren, zündete sie an und reichte eine dem Gefangenen.

Der Deutsche versuchte, sich aufzustützen, gab das Vorhaben aber sofort wieder auf. Das junge Gesicht war schmerzverzerrt, auch wenn kein Laut über seine Lippen kam.

Holt sah sich um. In einer Ecke standen zwei weitere Stühle. Einer war umgefallen, ein Bein abgebrochen. Holt dachte, dass er mit dem Büro des Roten Kreuzes hier im Lager reden sollte, verwarf den Gedanken dann aber. Wollte er sich für einen Deutschen einsetzen? Einen Gestapo-Offizier? Einen Jungspund? Jünger als er selbst?

Er holte den intakten Stuhl, zog Waldhorst hoch, setzte ihn darauf und steckte ihm die Zigarette zwischen die Lippen. Der Gefangene nahm einen tiefen Zug, ehe er sich die Zigarette mit der linken Hand aus dem Mund nahm und das Blut von seinen Lippen wischte. Der rechte Arm musste ausgekugelt oder gebrochen sein. Holt ermahnte sich, nicht so zu denken. Waldhorst hatte sicher bekommen, was er verdiente. Er hatte eine ordentliche Tracht Prügel eingesteckt, wer hatte das nicht? Die Deutschen warteten damit immer, bis es sich gar nicht mehr vermeiden ließ. Die ersten Stunden eines Verhörs waren nichts, der reinste Kaffeeklatsch. Ernst wurde es immer erst nach ein paar Stunden. Nicht einmal seine Mutter würde seine Leiche erkennen, hatten sie ihm um die Ohren gehauen, worauf er lapidar geantwortet hatte, seine Mutter sei tot. Daraufhin hatten sie sich wie eine Meute wütender Hunde auf ihn gestürzt. Und jetzt? Jetzt stand er hier vor dem jungen Gestapo-Offizier und dachte, dass alles vergebens war. All die Jahre, all der Schmerz, sein eigenes sinnloses Überleben. Holt war gefoltert worden, weil die Deutschen ihn mit einem anderen Widerstandskämpfer verwechselt hatten. Aber die Folter war nicht das Schlimmste gewesen. Das Schlimmste waren die Stunden unter den Bodendielen. Wie in einem Sarg. Lebendig begraben. Nichts anderes tun können als warten.

»Warum?«, fragte Waldhorst und ließ die halb gerauchte Zigarette zu Boden fallen. »Warum sind Sie so freundlich zu mir?«

Holt nahm die Zigarettenpackung noch einmal aus der Tasche, zündete sich an seiner ersten Zigarette eine weitere an und warf die Kippe auf den Betonboden.

»Sie waren seit 1942 in Oslo, richtig?«

»Warum fragen Sie, wenn Sie es wissen?«

»Ich kann Sie in den Dokumenten aus dieser Zeit nicht finden. Sie haben für die Abwehr gearbeitet?«

Waldhorst schnitt eine Grimasse, die Holt als Bestätigung deutete.

»Wer hat Ihnen das gesagt?«, fragte der Deutsche schließlich.

»Ein Mann, der nicht mehr lange leben wird«, antwortete Holt. »Machen Sie sich darum keine Sorgen.«

»Ich mache mir schon lange keine Sorgen mehr«, sagte Waldhorst.

»Nun, wenn Sie nicht enden wollen wie er, sollten Sie mit mir zusammenarbeiten.«

Die zwei Männer musterten sich eine Weile, bis Waldhorst die Augen zumachte und nickte.

»Es gibt etwas, das ich nicht verstehe.« Holt zog still an seiner Zigarette. »Und ich glaube, dass Sie der Einzige sind, der mir da weiterhelfen kann.«

»Es gibt immer etwas, das man nicht versteht«, erwiderte Waldhorst leise.

»Im Herbst 42 …«, sagte Holt, dann versagte für einen Moment seine Stimme. Er räusperte sich zweimal, aber es half wenig.

Die beiden Männer starrten einander eine gefühlte Ewigkeit an.

»Kein guter Herbst«, meinte Waldhorst schließlich.

Seinem Blick entnahm Holt, dass der Deutsche wusste, was er fragen wollte, und dass er die Antwort kannte. Allein der Gedanke daran trieb Holt Tränen in die Augen. Aber nicht hier, nicht jetzt. Was war das für ein Sieger, der im Beisein des Verlierers zu weinen anfing?

»Wir hatten eine … in diesem Herbst haben wir eine Schlange an unserem Busen genährt … einen Verräter«, sagte Holt. »Einen jungen Mann namens Gudbrand Svendstuen, Sie wissen das natürlich, aber … ich glaube …« Er öffnete den Mund, um die Frage zu stellen, ließ es dann jedoch bleiben.

»Sie glauben, dass Svendstuen der falsche Mann war?«, fragte Waldhorst, als könnte er Holts Gedanken lesen.

Holt nickte. »War er der Falsche?«, fragte er.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Dann kann ich Ihnen auch nicht helfen«, erwiderte Holt.

»Dann ist das eben so«, meinte Waldhorst. »Vielleicht komme ich ja auch allein zurecht.«

Es wurde wieder still.

Holt wog seine Möglichkeiten ab. Es war bereits ein Fehler gewesen, überhaupt an diesen Ort zu kommen, ohne dem Deutschen etwas Konkretes anbieten zu können. Der Frieden war ein Deal der anderen, nicht der Norweger, so dass er für einen Mann wie Waldhorst vielleicht gar nichts tun konnte.

»Es war dumm von Ihnen, zur Gestapo zu gehen«, sagte Holt. »Ich hoffe, Sie sehen Ihre Tochter noch einmal wieder.«

Der andere verzog keine Miene. Das getrocknete Blut lag wie eine Maske auf seinem Gesicht.

Holt hatte nichts, womit er dem Mann noch drohen konnte. Er wandte sich ab und ging die wenigen Schritte zur Tür.

»Waren Sie jemals in Spanien?«, fragte Waldhorst leise. »In Galizien?«

Holt drehte sich um. Waldhorst hatte den Kopf gesenkt. Der verletzte Arm hing schlaff an seinem Körper herunter, die andere Hand ruhte auf seinem Schoß. Das Licht fiel durch das Kellerfenster auf den deutschen Offizier und warf einen langen Schatten.

»In einer Stadt mit einer sehr bekannten Kathedrale?«

»Spanien, Galizien, Kathedrale … Was wollen Sie mir damit sagen?« Holt schüttelte den Kopf.

Waldhorst hob den unverletzten Arm und blickte auf. Ein trauriges Lächeln umspielte seinen Mund, als täte ihm sein Gegenüber leid.

»Ich bin mir sicher, dass Sie den Namen der Stadt kennen«, sagte Waldhorst. »Und, Herr Holt, sollte er Ihnen einfallen, überlegen Sie doch mal, wer in diese Stadt reist …«

Holt hatte den Namen bereits auf den Lippen.

Freitag, 16. Mai 2003 (drei Wochen vor Pfingsten)

Polizeipräsidium

Oslo

Tommy Bergmann fragte sich nicht zum ersten Mal, wie bescheuert er eigentlich war. Seine Entscheidung, am 16. Mai, also am Tag vor dem Nationalfeiertag, eine zusätzliche Schicht zu übernehmen, deutete nicht gerade auf überbordende Intelligenz hin. Traditionell war das einer der übelsten Tage. Nur Anfänger und wahre Idealisten schoben da Dienst. Leute, die den Glauben daran noch nicht verloren hatten, dass sie die Stadt vor dem Untergang bewahren konnten, und die bereit waren, ihr ohnehin schon karges Privatleben zu opfern, damit Kollegen mit geregeltem Familienleben für Frau und Kinder zur Verfügung standen.

Wenn andere über Zeitnot sprachen, fühlte Tommy Bergmann sich immer wie im falschen Film. Seit Hege ihn verlassen hatte, hatte er mehr Zeit, als ihm lieb sein konnte. Der einzige Urlaub, den er bisher geplant hatte, war die Juliwoche, die er mit seinen zwölfjährigen Handballmädchen in Göteborg verbringen würde. Wenn man da überhaupt von Urlaub sprechen konnte.

Na ja, dachte er und öffnete die Tür zur Dachterrasse. Wenigstens habe ich nicht die Nachtschicht. Und das Geld kann ich ja auch gebrauchen. Ganz so bescheuert bin ich also vielleicht doch nicht.

Außerdem war er sich ziemlich sicher, die heutige Wette zu gewinnen. Sollte es bis zum nächsten Morgen ein Todesopfer geben, tippte er auf einen Selbstmord und nicht, wie Monsen, auf einen Mord im Ausländermilieu. Es ging immerhin um vierhundert Kronen.

Ein Ausländer mit Messer, hatte Monsen vor einer Stunde prophezeit und sich einen Tabakfaden von der Zungenspitze geklaubt. Vermutlich ein Asylbewerber vom Horn von Afrika.

Selbstmordwetter, hatte Tommy dagegengehalten und im Stillen gedacht, dass es vermutlich niemand bedauern würde, wenn Monsen eines schönen Tages mal am falschen Ende eines Messers stehen sollte. Irgendwie hatte man den Eindruck, er ging diese geheimen Wetten, die nie an die große Glocke gehängt wurden, nur ein, um mal wieder seine rassistische Gesinnung hinausposaunen zu können.

Tommy dachte nicht mehr an den infantilen Ausländerhass des Kollegen oder an seine eigene Bereitschaft, immer wieder an diesen Wetten teilzunehmen, als er sich auf einen der grünen Plastikstühle unter der Markise setzte. Hier oben auf der Terrasse wirkte das Leben viel freundlicher als unten im stickigen Pausenraum des Präsidiums. Beim Anblick des abgetretenen Linoleums und der zerschlissenen blauen Sofas konnte selbst der größte Optimist seine Illusionen verlieren. Die Aussicht auf die Stadt, die sich unter ihm erstreckte, beruhigte ihn irgendwie.

Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und ließ sich zum ersten Mal seit langem das Gesicht von der Sonne wärmen. Für ein paar Minuten gelang ihm das Unmögliche: Er dachte an nichts. Nur die Geräusche der Stadt drangen zu ihm durch, bis irgendwann ein winziger Gedanke sein scheinbar unbekümmertes Dasein zu stören begann: Hege mit ihren im Sommer fast weißen Haaren, den türkisen Augen und der braunen Haut. Das Salz, das er in dem toskanischen Dorf, dessen Namen er längst vergessen hatte, auf dem Bett eines kühlen Hotelzimmers von ihrer Haut geleckt hatte. Der Sommer, in dem alles wieder gut werden sollte. Der Sommer, in dem er sich geschworen hatte, es nie, nie mehr zu tun.

Als sie zurück waren, hatte er sie dann doch wieder geschlagen. Einfach so. Er wusste nicht einmal mehr den Grund. Vielleicht hatte sie irgendetwas gesagt, das ihn auf die Palme gebracht hatte, oder ihn mit wenigen Worten zur Schnecke gemacht, wie nur sie das konnte. Es war nur ein einziges Mal passiert, nachdem er den Schwur abgelegt hatte. Ein einziges Mal, dachte er. Aber eben einmal zu viel. Mehr als einmal zu viel. Er erinnerte sich nicht, wie oft er ihr das im Laufe der Zeit angetan hatte. Er wusste nur, dass er sich nie wieder in eine Frau verlieben durfte, die so viel besser aussah als er. In jemanden wie Hege.

»Hol dich der Teufel, Tommy Bergmann«, brummte er. Links von ihm fiel die rote Flügeltür ins Schloss. Er blieb mit geschlossenen Augen sitzen.

Eine bekannte Stimme, verraucht und alt. Dramstad vom Raubdezernat, der an den Wochenenden nichts Besseres zu tun hatte, als seine Zeit im Präsidium abzusitzen.

»Mordswetter, was, Bergmann?«, brummte er.

Tommy grummelte eine Antwort und verfluchte sich selbst, wieder an Hege gedacht zu haben.

»Ja, Mordswetter«, sagte Dramstad zu sich selbst.

Selbstmordwetter, dachte Tommy, öffnete die Augen und wurde von der grellen Sonne geblendet. Er sagte aber nichts. Sollte der alte Dramstad es doch für gutes Wetter halten.

*

Tommy Bergmann saß an seinem Schreibtisch und wollte an diesem seltsam ruhigen Abend des 16. Mai eigentlich ein paar alte Berichte fertigstellen, als das Display seines Handys aufleuchtete.

Monsens Stimme klang beinahe zögernd, als er seinen Namen nannte. Tommy wartete auf die Mitteilung, dass er die Wette schon gewonnen hatte.

»Ein paar Studenten haben alte Knochen gefunden.«

Es folgte eine Pause. Tommy merkte, dass er unbewusst die Stirn in Falten gelegt hatte.

»Oben in der Nordmarka«, sagte Monsen.

»Was für Knochen?« Tommy richtete sich auf und hielt sich mit der linken Hand das freie Ohr zu, um die Geräusche der Stadt auszusperren, die durch das geöffnete Fenster hereindrangen.

»Na ja, Menschenknochen.«

»Menschenknochen? Sicher, dass es nicht die Überreste von irgendeinem Hund sind?«

Tommy hörte Monsen durch die Nase ausatmen. Dann vernahm er das Klicken eines Feuerzeugs und das Knistern von aufglühendem Tabak. Monsen nahm sich viel Zeit. Tommy malte sich aus, wie der Alte jetzt mit dem Zeigefinger zwischen seinem speckigen Hemdkragen und dem dicken Hals entlangfuhr, während die Zigarette zwischen seinen Lippen auf und ab wippte.

»Das müsste dann schon ein Riesenköter gewesen sein«, sagte Monsen. »Nein, die sind sicher, dass es sich um Menschenknochen handelt.«

»Erzähl mir nicht, dass das Medizinstudenten sind!«

»Bingo. Gleich vier Stück. Du solltest da mal hochfahren.«

Tommy schloss die Augen. Er wollte nicht wieder in den Wald. Er hatte 1988 eine Tote im Wald gefunden und sich von dem Anblick nie wirklich erholt.

Na ja, ein paar alte Knochen werden schon gehen, dachte er und nahm die Autoschlüssel vom Schreibtisch.

Dienstag, 29. Mai 1945

»Hotel Cecil«, Restaurant

Stockholm

Kaj Holt sah durch das Fenster zwei junge Frauen, die über den Bürgersteig auf der anderen Straßenseite schlenderten und vor einem Hutgeschäft stehen blieben. Die eine zeigte auf etwas, die andere, eine bildhübsche Brünette, lachte und hielt sich die Hand vor den Mund. Holt bildete sich ein, dass sie nach billigem Parfüm roch, vielleicht Maiglöckchen. Ihre Hände wirkten zart, und für einen Augenblick spürte er, wie sich ihre Fingernägel in seinen nackten Rücken krallten. Sie hätte sein Leben retten und ihn in die wirkliche Welt zurückholen können. Aber was sollte eine Frau wie sie mit einem Mann wie ihm?

Er entließ sie aus seinem Blick und konzentrierte sich wieder auf Håkan Nordenstam, der ihm gegenüber am Tisch saß. Er forderte den Schweden mit einem Nicken auf, weiter von dem Engländer zu erzählen, den sie während des Krieges ausspioniert hatten. Eine ungefährliche Operation, Bagatellen, irgendein beiläufiges Thema, damit sie nicht über die wirklich gefährlichen Dinge sprechen mussten. Wie die Tatsache, dass es einigen Leuten vom Sicherheitsdienst des Reichsführers allem Anschein nach gelungen war, noch vor der Kapitulation der Deutschen über die Grenze nach Schweden zu fliehen. Irgendwie machte Nordenstam den Eindruck, als befürchte er, Holt könne ihm die auf der Hand liegenden Fragen stellen: Wo sind diese Leute jetzt? Ist ihnen geholfen worden, hat sie jemand in ein Schiff nach Portugal oder Spanien oder ein noch weiter entferntes Land gesetzt?

Die Befreiung lag nicht einmal einen Monat zurück. Viel zu wenig Zeit, um nicht jeden Morgen beim Aufwachen zu glauben, man müsse weiterkämpfen. Holt trug noch immer die winzige Blausäureampulle und den kleinen Colt Llama samt Schalldämpfer mit sich herum, für den Fall, dass er eines Morgens von Stiefelgetrampel geweckt werden sollte. Dieser Krieg wird nie aufhören, dachte er. Umständlich wischte er sich mit der Leinenserviette den Mund ab. Er hielt einen Moment inne und spürte wieder das schlechte Gewissen, das er immer gehabt hatte, wenn er während des Krieges ins »Cecil« gegangen war, hier, in dieser schönen Stadt. Immer wenn er die Grenze überquert hatte und nach Stockholm gefahren war, hatten ihn diese verfluchten Gefühle übermannt. Weil er ganz genau wusste, bei seiner Rückkehr würde er doch nur wieder erfahren, dass einige seiner besten Kameraden gefallen waren. Er fühlte sich schuldig, die längsten Jahre in der Geschichte seines Landes überlebt zu haben, dabei war es angeblich die größte Ehre, einen Krieg zu überleben. Holt empfand das als puren Hohn. Im Krieg gab es nur eine Ehre, und zwar die, für die Sache zu sterben. Es waren so viele Männer und Frauen gefallen, die besser waren als er, die ein Leben gehabt hatten, in das sie hätten zurückkehren können. Und hier saß er, der Überlebende, und wusste mit seiner Freiheit nichts Besseres anzufangen, als Frau und Kind zu verlassen.

Bin ich wirklich einfach gegangen, fragte er sich und starrte abwesend auf die breite Narbe zwischen den schwarzen Haaren auf seiner Hand. Er erinnerte sich nicht mehr, woher er sie hatte. Für ein paar Sekunden verließ er diesen Raum, diese Welt, und all das war nicht geschehen, kein Krieg, nicht das mit Agnes! So jung, so unglaublich jung. Wäre es ihm gelungen, sie zu retten, hätte dieser verfluchte Krieg wenigstens einen Sinn gehabt. Noch dazu war das alles sein Fehler gewesen. Wie hatte er nur so unendlich blind sein können, so grenzenlos naiv?

Nordenstams Stimme schnitt sich in seine Gedanken. Er spürte die Hand des Schweden auf seinem Arm.

»Was ist los?«, hörte er ihn fragen. »Kaj, sieh mich an.«

Aus den Augenwinkeln sah er, dass Nordenstam sich über den Tisch beugte.

»Waldhorst«, sagte er.

»Peter Waldhorst?«, fragte Nordenstam leise.

Holt nickte verhalten. Eigentlich hätte er darauf reagieren müssen, dass Nordenstam offenbar wusste, wer Waldhorst war, aber er ließ es bleiben. Es überraschte ihn schon lange nicht mehr, über welche Informationen dieser Schwede verfügte.

Holt sah aus dem Fenster, und sein Blick fing noch einmal die Brünette ein, die Arm in Arm mit ihrer Freundin die Straße überquerte. Nordenstam zog eine Zigarette aus dem Silberetui, das er immer in der Innentasche seiner Jacke trug, klopfte sie leicht auf die Tischplatte und zündete sie an. Holt musterte den braungebrannten Schweden, der ein wahrer Freund Norwegens war, viel mehr als seine eigenen Vorgesetzten, die er tags darauf treffen sollte. Einen Augenblick lang wünschte er, Schwede zu sein. Wie viel leichter wäre das Weiterleben, wenn man nur wenige Leichen im Keller hatte.

Nordenstam hielt ihm das geöffnete Zigarettenetui hin. »Was ist mit Waldhorst?«, fragte er, während er Holts Zigarette anzündete.

»Nichts Besonderes. Er sitzt in Jørstadmoen ein. Ich habe ihm einen Besuch abgestattet, und er … hat mir eine Frage gestellt.« Holt überlegte kurz, ob er zu weit gegangen war. Aber er konnte das nicht für sich behalten. Wenn irgendjemand es verstehen würde, dann Nordenstam. Außerdem, wie hätte ich das wissen sollen, dachte er. Wie hätte das überhaupt jemand wissen sollen oder auch nur ahnen?

Nordenstam blies einen Rauchring an die Decke. Die Klaviertöne vom anderen Ende des Raumes kämpften mit dem gleichmäßigen Stimmengewirr.

»Er hat dir eine Frage gestellt?«, hakte Nordenstam nach und beugte sich ein wenig vor.

Holt antwortete nicht, registrierte nur die glatten Züge des Schweden, die geraden Augenbrauen, den fast jugendlichen Optimismus. Nordenstam wirkte völlig unbeeindruckt von der Bösartigkeit des Menschen. Für den Bruchteil einer Sekunde verspürte Holt einen geradezu unbändigen Drang, das hübsche Gesicht mit einem Hammer zu zertrümmern, es kaputtgehen, Knochensplitter, Blut und Gehirn hervorquellen zu sehen und den misshandelten Körper vor dem Haus seiner Frau abzuladen, damit sie endlich verstand, was auf der anderen Seite der Grenze abgelaufen war.

Er schüttelte die schreckliche Phantasie ab und spürte Übelkeit aus seinem Magen aufsteigen. Eines Tages würde er wirklich noch den Halt verlieren.

»Kommt das Essen nicht bald?«, fragt er abwesend, als hätten sie dieses Gespräch nie begonnen.

»Ich dachte, du stellst die Fragen, Kaj.« Nordenstam sah ihn eindringlich an. Der Pianist beendete ein Stück, von einigen Tischen kam Applaus, und eine kleinere Gesellschaft rief etwas auf Schwedisch. Gelächter.

»Warst du mal in Spanien?«, fragte Holt. »In Galizien?«

Nordenstam schüttelte den Kopf, dann lächelte er wieder. »Was soll das, Kaj? Wovon redest du?«

»Ich bin nach Lillehammer gefahren, um eine Antwort auf eine ganz bestimmte Frage zu bekommen. Stattdessen wurde ich nach dem Namen einer Stadt in Galizien gefragt, einer Stadt mit einer weltbekannten Kathedrale.«

Nordenstam zog die Augenbrauen zusammen. Entweder war er das seltsame Gerede leid, oder er begann allmählich, sich ernsthaft Sorgen zu machen, wohin das Gespräch führte. »Ich verstehe nur Bahnhof«, sagte er.

Holt suchte in seiner Jackentasche nach einem Stift. Aus dem Klavier strömten die ersten Takte des Liedes, das die Nazis so gehasst hatten. »The Jazz Boy«. Ein Lächeln legte sich beinahe unmerklich auf seine Lippen, während er die Buchstaben auf eine Serviette schrieb.

Er faltete sie vorsichtig zusammen und schob sie langsam zu Nordenstam hinüber. »Also«, sagte er. »Ich wollte von Waldhorst eine Information wegen der Sache mit Gudbrand. Ich glaube, er war der falsche Mann.«

Nordenstams Blick wurde ernst, fast starr. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er sich wieder gefangen hatte und die Serviette auseinanderfaltete.

»Das ist auch eine Antwort, oder?« Holt musterte sein Gegenüber. »Wer reist in diese Stadt?« Er nickte in Richtung der Serviette, die Nordenstam in den Händen hielt.

Nordenstam faltete sie wieder zusammen und drückte seine Zigarette aus. Er versuchte vergeblich, Holts Blick einzufangen. In der Spiegelung des Fensters sah Holt, wie der Schwede die Serviette einsteckte.

»Was soll das, Kaj?«, fragte Nordenstam mit mitfühlender Miene. »Was ist nur aus dir geworden, mein Freund? Wo ist der Kaj, den ich kannte? Du kannst dich doch von einem Gestapo-Mann nicht derart verhöhnen lassen!«

Holt antwortete nicht. Er ließ den Blick durch das Lokal schweifen und blieb an einem Mann hängen, der ihm seltsam bekannt vorkam.

Nein, dachte er im Stillen. Das geht so nicht weiter. Er hörte noch immer Waldhorsts Stimme in seinem Kopf und sah die dunklen Augen unter den buschigen schwarzen Brauen vor sich. Vielleicht hatte der verhasste Deutsche das alles erfunden, vielleicht war es sein letzter teuflischer Schachzug gewesen. Holt wusste wirklich nicht mehr, was wahr oder falsch war. Als säße er auf einem Karussell und drehte sich fortwährend im Kreis, umgeben von Toten: Agnes, Raymond Gudbjørnsen, die junge Mutter, die er auf dem Gewissen hatte, und Gudbrand Svendstuen. Unablässig marterten ihn diese Gedanken, bis er fast den Verstand verlor.

»Lass mich dir für heute Nacht ein Mädchen besorgen, Kaj. Du musst mal entspannen.«

Holt schüttelte den Kopf. Am liebsten hätte er Nordenstam am Kragen gepackt und ihn angebrüllt, ob er denn nicht kapiere, wie Waldhorst das gemeint hatte.

»Wo übernachtest du?«, fragte Nordenstam.

»In der Wohnung in der Rindögatan.«

Nordenstam nickte und sah hinter einem jungen Mädchen her. »Entspann dich«, sagte er und lächelte mit weißen, perfekten Zähnen.

Ein Teller wurde vor Holt auf den Tisch gestellt. Endlich.

»Und nach dem Essen«, sagte Nordenstam, »machen wir es uns gemütlich, ja?« Er lachte.

Holt konnte nicht aus seiner Haut, er wusste nicht, was Nordenstam mit gemütlich meinte.

»Ich werde dir einen wahrhaft höllischen Ort zeigen, an dem du deine Fragespielchen hinter dir lassen kannst. Vergiss das alles jetzt erst mal.«

Holt hatte vergessen, jedenfalls glaubte er das. Er stach das Messer beinahe brutal in sein Essen, seit Tagen hatte er nichts Anständiges mehr bekommen und auch kaum geschlafen.

»Heute Abend leben wir«, sagte Nordenstam und legte Holt erneut die Hand auf den Arm. »Und zwar richtig!«

Holt nickte, dachte, ja, heute Abend will ich leben, und wenn ich es nur tue, um zu beweisen, dass meine Frau unrecht hat.

Es wäre das Beste gewesen, sie hätten dich auch erwischt.

»Ja«, hatte er leise geantwortet, ohne aus der Haut zu fahren.

Ebenso leise, wie ihr Weinen gewesen war, als sie zum ersten Mal meinte, sie habe ihn verloren.

Sie hatte dagestanden, das Kind auf dem Arm, das Mädchen, für das er nichts empfinden konnte. Er freute sich nicht einmal, dass er den Krieg überlebt hatte und nun Vater sein durfte.

Das Einzige, was dich glücklich machen kann, ist, den Toten bis ans Ende des Weges zu folgen, hatte sie gesagt und die Kleine dabei noch fester an sich gedrückt.

Er war ohne ein Wort gegangen. Sie hatten sich wirklich verloren.

Holt legte das Besteck auf die weiße Damastdecke und sah sich um, als merkte er erst jetzt, wo er war. Die vielen Menschen, die lächelnden Gesichter, der Zigarettenrauch unter der Decke, der weiße Smoking des Sängers, der Hintern einer jungen Frau auf dem Weg zur Toilette. Sein Blick folgte ihr und den Falten des purpurroten Stoffes über ihren Rundungen.

»Håkan … ich will nicht mehr leben«, sagte er schließlich.

Wie durch einen Schleier sah er sich selbst in Jørstadmoen. Als er nach dem Verhör draußen auf der Treppe gestanden und die frische Luft eingesogen hatte, war er sich nicht mehr sicher gewesen, ob das alles wirklich geschehen war. Hatte er tatsächlich Waldhorsts Kopf zwischen seinen Händen gehalten und ihn angeschrien, dass das nicht wahr sein könne, dass das eine verdammte Lüge sein müsse?

»Sag so etwas nicht«, erwiderte Nordenstam.

Am Rand von Holts Blickfeld tauchte ein bekanntes Gesicht auf. Er drehte sich um. Ja, dachte er. Ja, das ist er. An einem Tisch am anderen Ende des Lokals, unweit des Orchesters, saß der Zivilist, den er in Jørstadmoen gesehen hatte. Er war allein und schien den ganzen Abend nur darauf gewartet zu haben, dass Holt in seine Richtung blickte.

Wer war das?

Was machte er hier?

Ihre Blicke begegneten sich. Ein Paar ging zwischen ihnen hindurch, und der Augenkontakt wurde für eine Sekunde unterbrochen. Als die Sicht wieder frei war, warf der Zivilist ihm ein freundliches Lächeln zu. Ein kurzes Nicken, dann hob er sein Glas.

»Kaj, was ist los?«, fragte Håkan Nordenstam.

Wieder spürte Holt die Hand auf seinem Arm. »Nichts«, flüsterte er.

»Doch«, sagte Nordenstam.

»Weißt du, wer das da drüben ist?«, fragte Holt. Eine Gästegruppe durchquerte den Raum und versperrte die Sicht. Die Leute blieben stehen und redeten mit dem Kellner, ehe sie weitergingen.

Nordenstam drehte sich in die Richtung, in die Holt deutete.

»Ich hab ihn schon mal gesehen«, sagte Holt. »In Jørstadmoen, gestern. Aber das war nicht das erste Mal …«

Nordenstam drehte sich wieder zurück und runzelte die Stirn. »Welcher Mann, Kaj?«

Sie hatten jetzt freie Sicht bis ans andere Ecke des Lokals.

Holt blinzelte. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Der Tisch war leer.

»Aber …« Er sprang von seinem Stuhl auf, sein Glas kippte um, rollte zur Tischkante und ging zu Bruch, als es auf dem Boden landete.

Mit einem Mal war es totenstill. Das Orchester machte eine Pause zwischen zwei Melodien, und die Musiker starrten in Holts Richtung. Auch die Kellner unterbrachen ihre routinierten Bewegungen.

Der Raum drehte sich um Holt, alles war in Bewegung, nur der Tisch in der Nähe des Orchesters stand still. Tischdecken, Gläser, Lachen, Klirren, »The Jazz Boy«, Frauen, Streichhölzer, die angerissen wurden, die glitzernden Kristalle der Kronleuchter, alles schwirrte um ihn herum. Und plötzlich saß auch der Mann wieder dort. Holt war sicher, dass ihre Blicke sich begegneten, dass der mit dem Jungengesicht ihn direkt ansah, in ihn hineinblickte.

Sekunden später war er wieder verschwunden.

»Da drüben, da sitzt er doch!«, rief Holt und bemerkte gar nicht die Stille, die sich im Saal ausgebreitet hatte. »Da sitzt er doch!«

»Ist schon okay«, hörte er aus weiter Ferne. »Ist schon okay.«

Das Nächste, was er wahrnahm, waren die Hände auf seinen Schultern. Er ruderte mit den Armen und verlor den Boden unter den Füßen.

Nordenstams Gesicht, das sich über ihn beugte, wurde zu dem kindlichen Gesicht des Mannes aus Lillehammer. Seine Lippen bewegten sich. Aber Holt hörte nichts, über ihm war es stockfinster, er spürte nur den feinen Luftzug von links, schloss die Augen und atmete flach wie ein Säugling. Bei jedem Atemzug berührte sein Brustkorb die Bodendielen über ihm. Er lief so leise er konnte durch das Treppenhaus nach unten, hinter ihm schrie der kleine Junge.

Er flüsterte es Nordenstam zu, als sie draußen auf der Straße standen.

Wie kann man in einer Welt wie dieser leben?

Freitag, 16. Mai 2003

Nordmarka

Oslo

Tommy Bergmann blieb stehen und legte den Kopf in den Nacken. Über ihm war alles grün und blau. Für ein paar Sekunden schloss er die Augen und spürte das Herz in seiner Brust hämmern. So absurd es auch sein mochte, es tat ihm gut, aus der Stadt herauszukommen, wenn auch nur für einen Abend. Wenn auch nur wegen ein paar alter Knochen.

Er lachte über sich selbst und fischte eine Zigarette aus seiner Brusttasche. Dann drehte er sich langsam um sich selbst und studierte das Spiel der Äste mit dem Abendlicht. Oder war es umgekehrt? Durch das Rauschen der Baumkronen waren irgendwo Stimmen zu hören. Gut dreißig Meter vor sich sah er weiß-rotes Absperrband flattern.

Er ging weiter und stellte fest, dass der Marsch ihm erstaunlich stark zugesetzt hatte. Bald würde er beim Training nicht einmal mehr mit den Schlappesten seiner Handballmädchen mithalten können. In diesem Frühjahr hatte er deutlich gemerkt, wie er abbaute, er hatte keine Chance mehr, beim Aufwärmen der Besten mitzuhalten, und das Intervalltraining machte er schon lange nicht mehr mit.

Um einen Baumstamm auf der linken Seite des breiten Weges war Absperrband gewickelt worden. Tommy bog dort auf einen schmalen, beinahe zugewachsenen Pfad ab. Im Abstand von je zehn Metern war der Weg mit Band markiert.

Georg Abrahamsen und ein Kollege waren bereits vor Ort und versuchten, eines ihrer weißen Zelte an einer Stelle aufzubauen, an der Tommy auf den ersten Blick nur Grünzeug und Moos sah. Auf dem Boden lag eine kräftige Taschenlampe, die den Kriminaltechnikern Licht spendete. Ein paar Meter entfernt standen zwei uniformierte Beamte und redeten leise mit einem der Studenten. Der junge Mann fuhr sich immer wieder mit der Hand durch die Haare. Hinter ihm lag ein Zelt, neben dem zwei junge Frauen und ein Mann saßen und abwesend vor sich hin starrten.

»Verdammt!«, sagte Abrahamsen zu Tommy. »Wie oft ist man hier vorbeigelaufen, gleich da unten.« Er nickte in Richtung des breiten Weges, über den Tommy gekommen war.

»Für mich gilt das nicht«, sagte der und steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Eigentlich sollte er mit dem Rauchen aufhören, damit die Mädchen ihn nicht vollends abhängten. Andererseits war dieser Abend sicher nicht der passende Moment, um ein besseres Leben zu beginnen.

»Verdammt, steck uns hier nicht noch den Wald an.« Leif Monsen, der fettleibige Chef der Kriminalwache, kam keuchend durch die Preiselbeerheide auf die Lichtung gestapft. Er hatte nicht ganz denselben Weg genommen wie Tommy. Das Rot seines Gesichts harmonierte mit dem einsetzenden Sonnenuntergang.

»Verfluchter Mist«, schimpfte Monsen, wobei »Mist« für ihn schon ein recht starkes Wort war. Auch wenn er rauchte wie ein Schlot, war der notorische Rassist ein gottesfürchtiger Mann, der nur selten Flüche ausstieß. Tommy dachte manchmal, dass Monsen wahrscheinlich nur deshalb so viel rauchte, weil er früher zu seinem Herrgott wollte.

»Also hat keiner von uns beiden gewonnen«, sagte er zu Tommy und nickte Abrahamsen zu.

Tommy antwortete nicht, sondern beobachtete, wie Abrahamsen und sein Kollege endlich den Versuch aufgaben, das Zelt aufzustellen, und sich stattdessen hinhockten und vorsichtig die oberste Moosschicht vom Boden abtrugen. Tommy meinte, zwischen Abrahamsens Einmalhandschuhen die Umrisse eines braun verfärbten Schädels zu erkennen. Er trat zwei Schritte vor, gefolgt von seinem Chef.

»Wirklich alte Knochen?«, fragte Monsen und holte ein Päckchen Tabak aus seiner Tasche.

»Sieht so aus«, meinte Tommy.

»Also«, sagte Monsen und streckte die Hand nach dem Feuerzeug aus, das Tommy ihm hinhielt, »wir untersuchen im Schnitt eins Komma drei Todesfälle pro Tag.« Er musterte Abrahamsen, der inzwischen einen knappen Meter von der ersten Stelle entfernt mit bloßen Händen in der Erde grub. »Und jetzt sollen wir uns auch noch um irgendwelche alten Knochen kümmern?«

»Da hinten sitzen deine Studenten«, sagte Tommy und deutete in die Richtung. Eine der Frauen gestikulierte wild, während sie mit einem Uniformierten redete. Die vier werden so bald nicht wieder zelten gehen, dachte er.

»Nein, nein, diesen Blödsinn hier geben wir ganz schnell an die werten Kollegen in der Brynsallé ab.« Monsen zog die Nase hoch und spuckte in die Heide.

Der Neid auf die Leute vom staatlichen Kriminalamt Kripos schien noch immer in ihm zu brodeln. Tommy fand allerdings, dass der fette Sørländer nicht ganz unrecht hatte. Die Menschen neigten tatsächlich dazu, sich außerhalb der Bürozeiten ermorden zu lassen oder in die Haare zu geraten, was zwangsläufig dazu führte, dass es die Beamten der Kriminalwache waren, die im Blut wateten oder sich um krankenhausreif geschlagene Frauen und misshandelte Kinder kümmern mussten. Manchmal dauerte es wirklich lange, bis die Kollegen vom Kriminalamt in ihre Kleider geschlüpft waren und sich zu den Tatorten bequemten, um unbezahlte Überstunden zu machen. Sofern sie nicht erst am nächsten Tag kamen, wenn ihre offizielle Schicht begann.

»Also«, sagte Abrahamsen. »Auch wenn du nicht viel von den Kollegen in der Brynsallé hältst, ich grabe hier nicht weiter, bevor ich keine Unterstützung von denen habe.«

»Und warum?« Monsen wirkte überrascht.

»Nun, ich will nicht riskieren, dass der Schädel da unter meinen Fingern zerbröselt.« Abrahamsen holte sein Handy aus der Jackentasche.

»Nun«, äffte Monsen ihn nach, »wenn der Schädel und die Knochen seit mehr als fünfundzwanzig Jahren da liegen, wird der Fall eh gleich zu den Akten gelegt, aber das sollen die dann machen.« Fünf Minuten später war er verschwunden.

Anderthalb Stunden später waren auch die Studenten gegangen, und ein paar uniformierte Beamte waren hinzugekommen. Die Aussagen der Studenten aufzunehmen hatte nicht lange gedauert. Sie hatten gerade den letzten Hering einschlagen wollen, als sie in der Erde auf etwas gestoßen waren und einen Knochen zutage gefördert hatten. Einen Menschenknochen, vermutlich ein Wadenbein. Da sie sicher mehr über die menschliche Anatomie wussten als alle anderen am Tatort, gab es keinen Grund, ihre Aussage anzuzweifeln.

Tommy Bergmann zog sich Handschuhe über und folgte den Anweisungen von Georg Abrahamsen. Er fuhr mit der Hand über den Unterarmknochen, der direkt unter der Moosschicht lag. Ein Schauer rieselte durch seinen Körper. Sie schienen es wirklich mit einem kompletten Skelett zu tun zu haben. Die Rippen waren eingedrückt, aber ansonsten war alles intakt, mal abgesehen von dem Loch in der Stirn.

»Die Knochen sind vom Frost hochgedrückt worden«, erklärte Abrahamsen. »Die liegen hier schon seit Jahrzehnten.« Er schüttelte den Kopf und fuhr sich mit dem Handrücken über die verschwitzte Stirn. »Aus dem Grund beerdigen wir unsere Toten sechs Fuß tief in der Erde. Stell dir mal die Schweinerei vor, wenn wir unsere Schwiegermutter erst erfolgreich überleben und sie dann im nächsten Jahr wieder auftaucht!«

Tommy hörte nur mit halbem Ohr zu. Er kam aus der Hocke hoch und fühlte sich mit einem Mal schwindelig. Reglos stand er da und starrte auf die beiden Unterarmknochen, die quer über den Rippen lagen. Der Geruch der Erde verursachte ihm Übelkeit. Er zog die Latexhandschuhe aus und nahm eine Zigarette aus der Packung. Wie lange waren sie jetzt schon hier draußen? Eine Stunde? Er neigte den Kopf etwas zur Seite, wie immer, wenn er sich eine Zigarette anzündete, hielt aber inne, bevor die Flamme den Tabak erreichte.

Das Sonnenlicht fiel schräg durch das Laubdach auf das Ende des Unterarmknochens oder die Hand. Tommy glaubte für einen Moment, in der Erde etwas blinken zu sehen.

Er nahm die unangezündete Zigarette aus dem Mund und hielt sie fast apathisch zwischen den Fingern.

»Georg«, sagte er leise, ließ die Zigarette auf den Boden fallen und kniete sich hin. Er grub vorsichtig im Bereich der linken Hand und entfernte die letzten Reste Erde um die braunen, porösen Fingerknochen.

Auf dem Ringfinger steckte ein matter Ring.

Ein Goldring.

Wahrscheinlich ein Ehering.

Tommy lief ein Schauer über den Rücken, als er die Handknochen anhob.

»Tu das nicht«, sagte Abrahamsen hinter ihm.

Tommy ignorierte ihn. Für die Ermahnung war es ohnehin zu spät. Und die Knochen hielten. Er schob den Ring über das vorderste Fingerglied und hielt ihn ins Licht. Beim dritten Versuch gelang es ihm, die eingravierten Buchstaben zu lesen.

Ewig Dein. Gustav.

Nacht auf Mittwoch, 30. Mai 1945

»Berns Salonger«, Großer Saal

Stockholm

Kaj Holt erinnerte sich an nichts, als er aus dem Schlaf gerissen wurde, er wusste nicht einmal, wo er war. Eine Hand berührte ihn leicht an der Schulter. Der große Raum war hell erleuchtet, vom Podium kam keine Musik mehr, und nur die bohrenden Kopfschmerzen zeigten ihm, dass er noch am Leben war. Einen Augenblick lang glaubte er, der Kronleuchter stürze von der Decke auf ihn herab. Es waren keine Geräusche zu hören, kein einziger Laut. Und auch sonst drang nichts durch seine Kopfschmerzen zu ihm durch, nicht einmal die Panik, noch eine weitere Nacht unter den Bodendielen in der Valkyriegata verbringen zu müssen oder sich nicht ausweisen zu können, weil ihm seine Papiere abhandengekommen waren.

»Der Herr muss jetzt gehen«, sagte eine Stimme. Mechanisch erhob er sich und warf dabei den Stuhl um, während eine Hand seine Schulter hielt. Er hatte plötzlich das Bedürfnis, um sich zu schlagen, aber die Vernunft gewann Oberhand, vielleicht unterstützt durch das leise Klirren und das gedämpfte, freundliche Lachen ganz in der Nähe.

In kleinen Erinnerungsfetzen zogen die Geschehnisse des Abends an seinem inneren Auge vorbei. Die Gesichter, das Lachen, die Frau auf seinem Schoß, ihr Duft und ihr Geschmack. Nordenstams braungebranntes Gesicht, die weißen Zähne und das Geklopfe auf seinen Rücken. Die Worte: »Es ist vorbei, Holt, es ist jetzt alles vorbei.«

Aber wo, fragte er sich und sah von einem Ende des Raums zum anderen, wo sind jetzt alle?

»Tut mir leid«, hörte er sich selbst sagen, ehe er im nächsten Moment mit seiner Anzugjacke über dem Arm und dem Hut in den Händen auf der Straße stand. Vorsichtig, als wollte er verhindern, dass sein Kopf von den Schultern rutschte, sah er zum Himmel, um sich zu vergewissern, dass es tatsächlich beinahe unsichtbarer Regen war, der aus dem Dunkel auf ihn herabfiel. Er sah wieder und wieder auf seine Armbanduhr, verstand aber nicht, was die Zeiger ihm sagen wollten.

Nachdem er lange genug herumgestanden hatte, um nass zu werden, erklärte jemand hinter ihm, dass das Taxi gleich komme. Mehr als ein Brummen brachte er nicht heraus. Dann näherten sich zwei Scheinwerfer.

»Gärdet«, sagte er leise vor sich hin. Langsam wurde es wieder etwas lichter in seinem Kopf, aber die letzten Stunden lagen trotzdem noch immer im Nebel, als wäre sein Kurzzeitgedächtnis komplett gelöscht worden.

»Wohin?«

»Rindögatan.«

Er nahm die Schlaftabletten aus der Tasche und zählte sie. Einmal, dann ein zweites Mal.

Waren das genug?

»Ruhig«, flüsterte er, seine Hände zitterten, als er die Pillen ein letztes Mal zählte. Sieben. Das reichte nicht. »Ruhig«, sagte er noch einmal und erschrak, wie laut seine Stimme war.

Das Nächste, was er mitbekam, war, dass er auf den Knien vor dem Springbrunnen am Karlaplan hockte und Wasser aus der hohlen Hand trank. Er würgte eine, zwei, drei Schlaftabletten hinunter. Dann richtete er sich schwankend auf, als hoffte er, einzuschlafen, vornüber ins Wasser zu kippen, zu ertrinken und für immer zu verschwinden.

Aber nichts dergleichen geschah. Erfolglos suchte er in der Tasche nach seinem Flachmann. Er fluchte, weil der Regen, der aus dem schwarzen Himmel fiel, ihn bis auf die Knochen durchnässt hatte.

Der Springbrunnen im Tessinpark war ausgeschaltet. Eine Stimme durchschnitt die Nacht, ansonsten war nur das leise Rauschen der Autos unten aus der Stadt zu hören. Kaj Holt wusste nicht, wie es ihm gelungen war, vom Karlaplan aus die Rindögatan zu finden, aber das spielte keine Rolle. Er ging an seinem eigenen Aufgang vorbei, Nummer 42, überquerte die Straße und wirbelte herum, als ein Taxi wie aus dem Nichts auf ihn zukam. Einen Häuserblock weiter wohnte eine Frau, mit der er vor etwa einem Jahr ein paar Nächte verbracht hatte. Tief in seinem Inneren wünschte er, dieser Sommer wäre nie zu Ende gegangen. Dass er für immer hier in dieser Stadt geblieben wäre und jede Nacht mit ihr geschlafen hätte. Dass der Krieg nie aufgehört hätte, er darin aber keine Rolle mehr spielen würde, nie mehr.

Er fand den Klingelknopf, ohne hinzuschauen, der vierte Knopf von unten fühlte sich richtig an.

Der Hörer wurde abgenommen.

»Ich will dich«, sagte er, ohne zu wissen, ob er das wirklich meinte. Und gleich noch einmal: »Ich will dich.« Seine Worte waren kaum zu verstehen.

»Kaj? Komm wieder, wenn du nüchtern bist, okay, du weckst ja die ganze Nachbarschaft auf.«

»Verdammt«, stammelte Holt. Er erinnerte sich nicht einmal mehr an ihren Namen. Er musste über sich selbst lachen. Dann schossen ihm Tränen in die Augen. Es war vorbei. Er lehnte sich an die Wand und spürte seine Pistole.

Mein kleiner Freund, dachte er. Mein lieber kleiner Freund.

»Kaj? Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Geh nach Hause und schlaf dich aus, sonst rufe ich die Polizei.«

Er legte den Kopf an die Glastür, und noch bevor er verstand, was mit ihm passierte, waren seine Schuhe voller Erbrochenem.

»Das kann doch alles nicht wahr sein«, sagte er leise vor sich hin und setzte sich auf die Granittreppe. Das Wasser durchnässte seinen Hosenboden. »Sag, dass das alles nicht wahr ist … lieber Gott.«

Zurück vor seiner eigenen Haustür, sah er mit tränennassen Augen auf seine vollgekotzten Schuhe. »Ich weiß nicht mal, warum ich weine«, murmelte er vor sich hin. Es fühlte sich aber verdammt gut an. Besser als jemals zuvor.

Mit schlafwandlerischer Sicherheit ging er die Treppe hoch, ohne das Licht einzuschalten.

Die feinen Papierstreifen, die er zwischen Tür und Rahmen geklemmt hatte, waren auf den Boden gefallen.

Er stolperte über seine eigenen Füße, schlich zum Bett und blieb auf dem Überwurf liegen.

Nichts war mehr real. Nicht einmal der Mann, der sich über ihn beugte, die unbeschreibliche Ruhe in seinem Gesicht, das Mundstück seiner Zigarette.

Endlich, dachte Holt. Endlich bist du da. Er schaffte es aber nicht, ihm diese wenigen Worte zu sagen. Was willst du hier? Vielleicht sollte er schreien, um ihn in die Flucht zu schlagen. Was willst du hier! Er fühlte den unteren Teil seiner Beine nicht mehr, aber irgendwo da unten war seine kleine Pistole. Nur dass er sich nicht bewegen konnte. Der Mann mit dem jugendlichen Gesicht und den weichen Zügen zog die Pistole unter Holts Strumpfband hervor und lächelte ihn an.

»Tja, Kaj«, sagte er mit kaum hörbarem Akzent und strich mit dem Finger über die Mündung. Es war der Mann aus Jørstadmoen. Er ging zu Holts Mantel und holte den Schalldämpfer aus der Tasche. Ganz so, als würde ich selbst Regie führen, dachte Holt. Tja, dann werde ich wohl doch nicht überleben. Was hatte er zu Waldhorst gesagt? Haben wir nicht alle eine kleine Tochter? Er versuchte einen kurzen Moment lang, sich an den Geruch seiner Tochter zu erinnern. Es gelang ihm nicht, und erneut stiegen Tränen in seine Augen, obwohl er es nicht wollte. Er wollte diesem Mann nicht das Gefühl geben, dass er weinte, weil er Angst vor einer Kugel im Kopf hatte.

Wäre er nicht so alkoholisiert, so schlaftrunken, so voller Selbstmitleid, so … dann hätte er den Mann mit dem Jungengesicht mit bloßen Händen erledigt.

Der Kerl beugte sich lächelnd über ihn. Vielleicht war es dieses Lächeln, das Holt bewog, ruckartig hochzuschnellen, als hätte er nie in seinem Leben einen Schluck Alkohol getrunken.

»Wenn ich schon sterben soll, dann durch meine eigene Hand«, flüsterte er.

Das Jungengesicht sah völlig überrascht aus, als Holts linke Faust seine Niere traf. Der Mann krümmte sich stumm zusammen und taumelte nach hinten, so dass sein Hut zu Boden fiel. Holt wartete einen Moment zu lange, und der Boden unter ihm begann wieder Schlagseite zu bekommen. Die Wand neigte sich ihm entgegen, die Zimmerdecke kam auf ihn zu. Der Scheißkerl wird den Rest des Sommers Blut pissen, dachte er und lachte innerlich laut auf.

Der Kopfstoß des Jungengesichts punktierte seine Lunge, das Brustbein gab nach und schien sich nach innen zu drücken. Trotzdem kam kein Laut über Holts Lippen. Als er wieder auf dem Bett lag, fühlte es sich an, als hätte er sich niemals aufgerichtet.

Er schloss die Augen und dachte, dass es sein würde, wie nach Hause zu kommen.

Nacht auf Samstag, 17. Mai 2003

Nordmarka

Oslo

Dichter Nebel hatte sich im Laufe der letzten halben Stunde über den Wald gesenkt und sich wie riesige Wattebäusche zwischen den schwarzen Nadelbäumen festgesetzt. Eine Eule schrie irgendwo über Tommy Bergmann, während er die Dampfwolke anstarrte, die von seinem Urin aufstieg. Er knöpfte sich den Hosenschlitz zu und lauschte der Stille. Für einen Moment war tatsächlich nichts zu hören, keiner der Kripos-Neuankömmlinge sagte etwas, Georg Abrahamsen schwieg, und auch die beiden Beamten von der Majorstua-Wache hielten den Mund.

Dann durchbrach das Knacken eines der Funkgeräte, die die Streifenpolizisten mitgebracht hatten, die Stille. Tommy dachte, dass er das Streifefahren fast ein bisschen vermisste. Die Gemeinschaft und den Zusammenhalt. Als Ermittler sollte man eigentlich auch im Team arbeiten, aber im Grunde wusste jeder, dass er allein unterwegs war. Allein mit seinen Gedanken.

In den letzten Stunden waren sie nicht wesentlich weitergekommen, auch die offensichtlichste aller Fragen war noch unbeantwortet: Wer war Gustav? Sicher war nur, dass das erste Skelett, das sie freigelegt hatten, von einer Frau stammte, die mit einem Gustav verheiratet oder verlobt gewesen war. Einer der Kripos-Leute glaubte, mit bloßem Auge erkennen zu können, dass in dem Grab nicht nur die eine Frau lag. Tommy konnte es nicht leiden, wenn jemand so von sich überzeugt war, andererseits beantwortete das vielleicht die Frage, wo Gustav war.

Er ging über den Pfad zurück zu den anderen und betrachtete von weitem die Szenerie. Zehn Meter vor ihm stand das schließlich doch noch aufgebaute weiße Zelt, hell erleuchtet von einer Batterielampe an der Außenwand und drei Lampen innen. Außerdem trugen die Kriminaltechniker Stirnlampen, die wie Suchscheinwerfer zwischen den Baumwipfeln hin und her huschten. Tommy blieb geblendet stehen. Als er wieder etwas sah, wurde er auf ein Paar Tieraugen zwischen den Bäumen in der Nähe des Zeltes aufmerksam. Das Tier stand wie versteinert im Licht der Batterielampen da.

»Tommy!« Georg Abrahamsens Stimme gellte durch die Nacht. Die Tieraugen verschwanden, gefolgt von leisem, hastigem Knacken.

Ein Fächer aus Licht breitete sich vor Tommy auf dem Weg aus. Er ging langsam auf das weiße Zelt zu. Abrahamsen stand in der Öffnung und spähte ins Dunkel, außerstande, etwas anderes zu sehen als Schwarz.

»Du musst dir das angucken«, sagte er.