Der letzte Zeitungsleser - Michael Angele - E-Book

Der letzte Zeitungsleser E-Book

Michael Angele

0,0
13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine herzbrechende Liebeserklärung an ein verschwindendes Medium. »Dahinter steckt immer ein kluger Kopf.« David Wagner zu Michael Angeles Der letzte Zeitungsleser Zugegeben, nicht jeder Zeitungsleser ist so fanatisch wie Thomas Bernhard: Als er dringend einen Artikel in der NZZ lesen wollte, diese aber im heimischen Ohlsdorf nicht zu haben war, machte er sich auf nach Salzburg; aber da gab es die Zeitung auch nicht. Also ging es nach Bad Reichenhall, dann nach Bad Hall, dann nach Steyr und am Ende waren 350 Kilometer zurückgelegt auf der Suche nach dem Suchtstoff. Manchen geht es nicht unähnlich, wenn keine Zeitung zur Hand ist. Doch egal wie stark die Sucht gar nicht so weniger auch sein mag – die Vielfalt der deutschsprachigen Zeitungslandschaft, ja die Tageszeitung an sich, wird wohl nicht zu retten sein. Da geht etwas verloren. Michael Angele (der u. a. Chefredakteur der ersten deutschen Internetzeitung war und alles andere als neuerungsfeindlich ist) lässt mit wehmutsvoll wachem Blick Revue passieren, was alles verschwindet: nicht nur eine Nachrichtendarreichungsform, nein – eine Kulturleistung, ja eine Lebensform. Das fängt bei der Umgebung an, in der man seine Zeitung zu lesen pflegt, dem Ritual, welchen Teil wann. Und geht weiter bei der durch das Blatt in Gang gesetzten (oder verhinderten) Kommunikation am Frühstückstisch – manche Ehe wäre ohne Zeitung ganz anders verlaufen. Und wie soll sich das Gefühl kosmopolitischer Weltläufigkeit einstellen, wenn man in einer New Yorker Hotellobby am Handy Spiegel Online statt die New York Times liest? Mit Herzblut geschrieben, mit Scharfsinn gefasst: Wenn einst das letzte Exemplar einer gedruckten Zeitung vergilbt und zerfallen sein wird, hat Michael Angele mit Der letzte Zeitungsleser der Lebensform Zeitung schon längst ein Monument gesetzt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 86

Veröffentlichungsjahr: 2016

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Michael Angele

Der letzte Zeitungsleser

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Michael Angele

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

MottoBuch lesen
zurück

»Ich sitze im Sacher, esse eine Wurst und lese die Zeitungen. Da schaue ich hoch und gerate regelrecht in Furcht (…), gegenüber sitzt der Thomas Bernhard und isst auch eine Wurst und liest die Zeitung.«

Udo Jürgens im Gespräch mit Alexander Gorkow

zurück

 

 

 

 

 

Bis heute ist Thomas Bernhard für mich der ideale Zeitungsleser. Damit meine ich nicht nur, dass sich einer in ein Café setzt, nur um eine Zeitung zu lesen, egal, ob dieses Café nun in Wien oder in Gmunden steht. Damit meine ich auch, dass er dieses Café gleich wieder verlässt, wenn er darin nicht die Zeitung finden kann, die er lesen will.

Das Zeitungslesen in Thomas Bernhards Leben und Werk ist leider schlecht erforscht, aber es genügt ja erst einmal, ihn selbst zu lesen. Man erfährt dann, dass er schon früh einen existenziellen Bezug zur Zeitung hatte.

Wenn man seiner Schilderung Glauben schenken darf, erfuhr Bernhard als junger Mann vom Tod seiner Mutter aus der Salzburger Zeitung. Allerdings hatte die Salzburger Zeitung den Namen der Mutter falsch geschrieben, statt Hertha Fabjan stand da Hertha Pavian.[1] Als Thomas Bernhard dieser Fehler ein paar Tage später beim Begräbnis durch den Kopf ging, wurde er von einem so heftigen Lachkrampf erfasst, dass er den Friedhof verlassen musste. Die Welt war für ihn tragisch und komisch, sie war beides zugleich, und das meiste, was er von dieser Welt wusste, hatte er, natürlich, aus der Zeitung.

Thomas Bernhard scheint mir deshalb ein idealer Zeitungsleser, weil er eine Zeitung nicht einfach gelesen hat, um sich zu »informieren«, das natürlich auch, sondern weil er sie auch las, um sich zu wundern, sich anzuregen, sich aufzuregen (das vor allem).

Wie sehr Bernhard dem Zeitungslesen verfallen war, erfährt, wer die Aufzeichnungen seines Nachbarn in Ohlsdorf liest. Ein Jahr lang hatte der Immobilienmakler und Ferkelhändler Karl Ignaz Hennetmair seine fast täglichen Begegnungen, Besuche, Autofahrten, Spaziergänge mit Bernhard protokolliert. Unter dem Titel Ein Jahr mit Thomas Bernhard sind sie als Buch erschienen. Zu den Hauptaufgaben des Nachbarn gehörte es, Bernhard mit Zeitungen zu versorgen, sieben las er täglich, und man könnte einen durchschnittlichen Bernhard-Tag im Jahr 1972 so beschreiben: vormittags Zeitungslesen, nachmittags spazieren, abends fernsehen.

Man fragt sich, wann Bernhard überhaupt einmal ein Buch las.

 

Die berühmteste Stelle über seine Zeitungssucht findet sich in Wittgensteins Neffe, diesem wunderbaren autobiographischen Text aus dem Jahr 1982. Als Bernhard während der Salzburger Festspiele dringend einen Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung lesen wollte, fuhr er von seinem Wohnort Ohlsdorf achtzig Kilometer nach Salzburg, von Salzburg weiter nach Bad Reichenhall, dann nach Bad Hall und von Bad Hall nach Steyr. Am Schluss war er auf der Suche nach einer Neuen Zürcher Zeitung durch ganz Oberösterreich gefahren. Und auch wenn sich bestimmt nur wenige seiner Leser an die einzelnen Stationen der Suche erinnern können, so ist doch bei vielen der Satz haften geblieben, dass ein »Geistesmensch nicht an einem Ort existieren kann, in dem er die Neue Zürcher Zeitung nicht bekommt«.

Heute kann man die NZZ praktisch überall bekommen, zur Not digital. Heißt das, dass ein Geistesmensch heute praktisch überall existieren kann? Oder heißt es gerade umgekehrt, dass es keine Geistesmenschen mehr gibt, weil sich Geist nur dort bilden kann, wo Mangel, Abwesenheit und Aufschub ist? Ich würde für Letzteres plädieren, stünde mir nicht meine Angst vor einem billigen Kulturpessimismus im Weg.

Immerhin, um jene NZZ zu lesen, nach der Thomas Bernhard damals so verzweifelt gesucht hatte, musste ich selbst eine kleine Reise unternehmen, wenn auch nur zum Berliner Westhafen ins Zeitungsarchiv. Da Bernhard in Wittgensteins Neffe den Artikel, nach dem er gesucht hatte, nannte – eine Kritik der Aufführung von Mozarts Zaide in Salzburg –, fand ich die Ausgabe: Es ist die vom 30. August 1968.

Beim Blättern am Folianten blieb ich zuerst an den Vermischten Nachrichten hängen. Aus einem Flugzeug wurden Diamanten geraubt, als es in Beirut zwischenlandete. Auf einem unbewachten Bahnübergang in Martigny fuhr ein Lastwagen in einen Zug, wie durch ein Wunder gab es nur einen Leichtverletzten, der Sachschaden war hingegen beträchtlich. Die anderen Unfälle, die in der Zeitung stehen, endeten tödlich. Wer 1968 eine Zeitung liest, lebt nicht nur im Bewusstsein von Vietnamkrieg und Studentenunruhen, er weiß auch um die große Gefahr des Straßenverkehrs.

Der Vietnamkrieg ist in dieser Ausgabe allerdings nur eine Marginalie: Die Delegierten des 19. Pariser Vietnamgesprächs sind der Hotels überdrüssig und suchen nach Wohnungen. In Norditalien sind die Studenten aus den Sommerferien zurück und haben nichts Besseres zu tun, als ihre Demonstrationen fortzusetzen. Der Korrespondent der NZZ regt sich auf, und ich frage mich, ob Thomas Bernhard diesen Artikel auch gelesen hat und sich über den Korrespondenten aufgeregt hat, der sich hier aufregt. Zeitungslesen als Erregungskunst.

Präsent ist die Invasion der Sowjets in der Tschechoslowakei, die ein paar Tage alt ist. Vielleicht ein Dutzend Beiträge versuchen, die Lage zu beschreiben. Im Sport findet der junge Eddy Merckx Erwähnung, und Leeds United ist Tabellenführer in der Premier League. Die Wetterprognosen sind schlecht, und was macht man an einem verregneten Wochenende? Man geht ins Kino und schaut. Die Frage ist: was?

Im Sommer 1968 könnte das ein Italowestern sein, im Roxy läuft einer. Oder hier Die Liebe einer Blondine, klingt wie ein Sexfilm, ist aber der neue Miloš Forman.

Aber jetzt zum Feuilleton. Das Feuilleton befand sich damals noch weit vorne in der NZZ. Ein Gedicht springt ins Auge. Es ist aus dem Tschechischen übertragen. Man will es vor der sowjetischen Invasion allegorisch lesen: »Ein kleines Volk im Meer des Feindes« usf.

Zu platt, fand bestimmt auch Thomas Bernhard, der damals gerade aufgehört hatte, Lyrik zu schreiben. Vielleicht vertiefte er sich in einen Artikel über die Briefe und Tagebücher des Journalisten Harold Nicolson. Nicolson muss ein großer Snob gewesen sein, warum sonst sollte der halbe Artikel daraus bestehen, ihn vom angeblich unbegründeten Vorwurf des Snobismus freizusprechen?

Aber natürlich hat Thomas Bernhard zuerst den Bericht von den Salzburger Festspielen gelesen, deshalb wollte er ja unbedingt die NZZ haben. Zaide ist ein Opern-Fragment, das nur selten gespielt wurde. Der Artikel ist detailkundig, jede einzelne der seltenen Aufführungen wird notiert. »Nach der Uraufführung der André’schen Ausgabe in Frankfurt (1866) nur in Wien, Mannheim, Karlsruhe, Schwetzingen und nochmals in Wien.« Interessant. Und doch: Dafür sollte nun Bernhard 350 Kilometer weit gefahren sein? Zeitungsleser haben Marotten.

1968 war ich vier Jahre alt. Thomas Bernhard habe ich natürlich erst viel später entdeckt, und auch das Zeitungslesen in den Cafés, wie er es vorgelebt hat. Aber ich lese bis heute gerne die Zeitung in einem Café, auch wenn wir Zeitungsleser in den meisten dieser Cafés nun eine Minderheit bilden, wenn es nicht gerade ein Café ist, das in Charlottenburg liegt und von sogenannten Altachtundsechzigern frequentiert wird. Jetzt zum Beispiel sitze ich im Kant-Café in der Kantstraße, es ist nicht wirklich alt, kein Wiener Kaffeehaus, aber es hat in den gelbbraunen Wänden, Stühlen und Tischen doch den Zigarettenrauch von vielen Jahren konserviert, sogar das große Fenster zur Straße, obwohl frisch geputzt, scheint sich an seine Raucher zu erinnern, die es nun nicht mehr gibt.

Einen Zeitungsständer gibt es im Kant-Café dagegen noch, eine taz liegt darin und eine Morgenpost, und eben in diesem Augenblick, es ist wahr, tritt eine Frau an meinen Tisch und fragt, ob sie die Süddeutsche haben kann, die neben meinem Laptop liegt.

Die Frau ist vielleicht sechzig Jahre alt, ihre Haare sind hennarot gefärbt, die Stimme rauchig, das Gesicht verlebt, wilde Träume. Ich gebe ihr die Süddeutsche gerne.

Später sitzen ein älterer Mann und eine ältere Frau in einer Ecke. Sie unterhalten sich über ein Theaterstück. Beim Aufstehen sagt die Frau zum Mann, schau mal, dort sitzt der Christian. Sie meinen mich. Ich blicke auf, lächle ihnen zu und schüttle den Kopf. »Natürlich bist du nicht Christian, der saß immer hier vor zwanzig Jahren«, antwortet sie mir.

 

Thomas Bernhard war besessen vom Tod, den wir ein Leben lang von uns fernhalten, was einigen besser, anderen schlechter gelingt, und natürlich hielt Bernhard zu denen, denen es schlechter gelingt. Aber wer leben will, muss den Tod nun einmal warten lassen und dem Leben einen Raum geben, und etwas von dieser großen Bewegung des Wegschiebens wiederholt sich noch in den kleinen Schritten zum Glück; ein Zigarettensüchtiger schiebt den Moment auf, in dem er zur nächsten Zigarette greift, und in der Vorfreude liegt schon ein Glück, das durch den Genuss seiner endlich angezündeten Zigarette noch gesteigert wird, ein Zeitungsleser hebt sich einen Artikel, der ihn besonders interessiert, für später auf.

Aber wir wollen ja keine Süchtigen mehr sein und sind gerade dabei, ein Glück zu verspielen. Nicht, dass wir tatsächlich nicht mehr süchtig wären, wir sind Informationssüchtige, Kommunikationssüchtige. Aber aus dieser Sucht eine kleine Philosophie des Aufschubs zu entwickeln, scheint unmöglich, denn auf unseren Endgeräten ist ja alles gleich da. Und so werden Ratgeber und Sachbücher des Verzichts geschrieben, man liest von Selbstversuchen, in denen einer für Wochen oder Monate freiwillig auf das Handy verzichtet hat. Das kann es doch nicht sein.

Was also ist Zeitungssucht? Erst einmal ganz einfach dieses: Eine Zeitung ist nicht einfach da. Man muss sie sich besorgen, und sei es nur im Briefkasten, oder man muss ins Café gehen, wie hier ins Kant-Café, und wenn die Zeitung schon da ist, wenn wir sie lesen wollen, dann nur, weil jemand sie liegen ließ oder weil ein Hennetmair sie uns bringt. Und wenn wir sie dann endlich lesen, lesen wir eben selten alles und sparen uns einen Teil der Lektüre für ein Später auf, im Café kann dieses Später Minuten, manchmal auch Stunden bedeuten. Woanders meint es: Tage, Jahre, vielleicht nie. So entsteht eine Sammlung, dazu gleich mehr.

Privatarchiv Michael Angele

Zeitungskiosk beim »Kant-Café«

Die Zeitungssüchtigen sterben langsam aus, aber noch gibt es sie. Am Sonntag kann man sie beobachten, wie sie ihre Zeitung beim Bäcker kaufen. Auch ich freue mich jeden Sonntagmorgen auf die FAS und kaufe sie, wenn ich mit dem Joggen fertig bin. Ich bin verschwitzt, und im Winter beschlägt die Brille, wenn ich den Café-Backshop Mühlenbeck betrete, sodass ich nichts mehr sehen kann, aber ich weiß ja, wo der Zeitungsständer ist.

Zu Hause stelle ich die FAS