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Ar-Men, der Leuchtturm, von dem hier erzählt wird, ist eine Legende: viele Kilometer vor der bretonischen Küste, so weit wie kein anderer, steht er einsam und stolz in den Fluten des Atlantiks, auf einem schmalen Felsen, der nur bei Ebbe aus dem Wasser ragt. Und auch dieses Buch und sein Autor sind legendär: 1959 heuert der Schriftsteller Jean-Pierre Abraham auf Ar-Men als Wärter an und bleibt mit wenigen Unterbrechungen bis 1962 auf seinem Posten in der »Hölle der Höllen«, wie der Leuchtturm unter Seeleuten genannt wird. Die Aufzeichnungen, die er dabei niederschreibt, erscheinen 1967 als Buch, das Buch macht ihn berühmt. In präzisen poetischen Bildern und kurzen, dichten Sätzen beschreibt es den Alltag unter Extrembedingungen, das Entzünden und Löschen des Feuers, das Warten der Maschinen, das Streichen der Wände, die kleinsten Verrichtungen, die nötig sind, um den Turm gegen das Wüten des Meeres zu verteidigen. Es erzählt aber auch von der Einsamkeit inmitten der großen Leere, den Abenteuern der Selbsterforschung, den inneren Abgründen wie der Schönheit des Augenblicks. Es zeigt den Menschen im Ringen mit sich und der Natur, im Tosen und Toben der Elemente und im Erschrecken über die Stille, wenn der Sturm sich legt.
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Seitenzahl: 177
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Die Originalausgabe erschien erstmals 1967 unter dem Titel »Armen« bei Éditions du Seuil
© 2024 Jung und Jung, Salzburg
Alle Rechte, einschließlich der Vervielfältigung, Veröffentlichung, Bearbeitung und Übersetzung, bleiben vorbehalten
Umschlagbild: Phare d’Ar-Men – Ile de Sein
© Ronan Follic – photographe de mer et de tempêtes
Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.com
ISBN 978-3-99027-308-1
JEAN-PIERRE ABRAHAM
aus dem Französischenund mit einem Nachwortvon Ingeborg Waldinger
Für meine Mutter
Der Leuchtturm
Nachwort
Ich habe die ganze Nacht vor mir. Nebel wird es keinen geben. Der Horizont ist klar, alle Leuchtfeuer sind zu sehen. Der Wind hat wieder auf Nord gedreht, aber die starke Dünung hält an, und für Augenblicke erbebt der Leuchtturm in dem Getöse.
Soeben ist meine Lampe zu Boden gefallen. Ich habe nicht bemerkt, wie sie mit jeder Erschütterung näher an den Rand des Werktisches rückte. Sie ist auf meine Knie gekippt, dann auf das Untergestell aus Eisen. Der Dienstraum hat jenes unwirkliche Aussehen angenommen, das ich nicht mag. Die vom Drehfeuer einfallenden Lichter und Schatten huschen über die Holzvertäfelungen. Manche scheinen von unten, über die Treppe des Maschinenraums zu kommen. Der Messingschrank, die Zahnräder des Uhrwerks, das gewundene Geländer blitzen auf. Sonst ist es dunkel.
Die Gläser für die Reservelampe lagern in Martins Zimmer. Heute Nacht werde ich nichts mehr anfangen. Es läuft nicht besonders gut. Das wollte ich eben festhalten.
Ein großer Vogel kreist um die Laterne. Er gerät mit den Schwingen gegen die Scheiben, geht auf Distanz, lässt sich von einem der Lichtbündel erfassen, dreht sich mit, stößt erneut gegen das Leuchtfeuer. Er gibt keinen Laut von sich. Um ihn besser zu sehen, bin ich auf die Galerie hinausgetreten. Es ist ein brauner Vogel, seinen Namen kenne ich nicht.
Das Leuchtfeuer von Sein ist allzu klar, das gibt erneut Schlechtwetter.
Später, wenn die Winde vom Land kommen, werden wir hier Tausende von Vögeln haben. Und dichten Nebel dazu.
Fünf Stunden. Diese Stunden sind mir leer erschienen. Derzeit brächte ich nur völlig Beliebiges zu Papier. Also bin ich mehrmals in die Laterne hinaufgegangen, habe mich langsam mit dem Leuchtfeuer gedreht und angestrengt versucht, in der Dunkelzone hinter den drei Blendspiegeln zu bleiben. Unsichtbarer kann man nicht sein.
Nun steigt die Kälte auf. Die Morgendämmerung naht. Der Vogel hockt auf der schmalen Mauer unterhalb der Scheiben und starrt auf das Feuer. Ich habe ihn von der Laterne aus beobachtet, aus nächster Nähe, als ich bis zur Hüfte in der Zugangsluke stand. Von Auge zu Auge, zwischen uns nur die Scheibe. Er rührte sich nicht. Er nervt mich.
Ein gewisser Moment des Abends wird im Schein der Lampen noch schwerer.
An diesem Abend fiel mein Blick flüchtig auf Martins Gesicht. Es hob sich klar von den weißen, mattgescheuerten Kacheln der Küchenwände ab. Seine Augen sah ich dabei nicht. Seit vierzehn Tagen liest er nun in der alten Zeitung, in die bei seiner Ankunft der Tabak eingerollt war. Auf der ersten Seite sieht man das noch rauchende Gerippe eines Gebäudes – es sieht aus wie die Gare de Lyon – und im Hintergrund schemenhaft einen Hügelzug.
Seine Nase ist auffallend schön, sie hat einen großartigen Schwung. In seinem Mundwinkel zuckt, ohne dass er es weiß, unablässig ein Schatten. Martin ist verschlossen. Wenn er lächelt, erzittert der Schatten, wird kläglich fragil. Mitunter weitet er sich aus, verschlingt die Wangen und die riesigen Augen. Martin hat ein silbrig-blaues Gesicht. Als Kind haben mich solche Gesichter in spanischen Museen verfolgt.
Zu einem gewissen Moment erhellen die Lampen nicht nur nichts, sondern trüben selbst das restliche Tageslicht. Die Konturen der Dinge werden unscharf. Die Gesichter sind verstört, die Gebärden unbeholfen. Der Einbruch der Nacht trifft einen stets ein wenig unvorbereitet. Man beeilt sich, sagt nichts, was den anderen beunruhigen könnte. Schließlich kommt der Flamme der Lampen nicht mehr Bedeutung zu als den Messingknöpfen auf den Kisten.
Wir blicken auf die Uhr. Es ist soweit. Martin steht auf und stößt einen langen Seufzer aus, der wohl komisch wirken sollte. Das ist nun einmal seine Art von Humor. Er nimmt seine Lampe und geht, nachdem er sich feierlich verabschiedet hat, mit starrer Miene ab ins Treppenhaus.
Das Klappern der mit Nägeln beschlagenen Pantinen auf den Granitstufen schnürt mir das Herz zu, versetzt mich unbegreiflicherweise in Aufruhr. Ich sollte das Licht im Treppenhaus erwähnen, ein Licht wie in Klöstern. Ich habe Angst, dass ein Holzschuh an den Stufen hängen bleibt, der Rhythmus abbricht. Dann, so scheint mir, würde die Nacht mit einem Schlag hereinbrechen. Martin muss das wissen. Deutlich lässt er jeden seiner Schritte hallen. Das Geräusch wird langsam schwächer, klingt anders, als er den Maschinenraum durchquert – drei eher harte Tritte auf dem gekachelten Boden –, wird auf der Eisentreppe, die zum Wachzimmer führt, dumpfer und erlischt. Man geht nicht in Pantinen in die Laterne!
Das Licht im Treppenhaus bleibt den ganzen Tag über mild. Es fällt durch schmale westseitige Luken ein, die in jedem Zwischengeschoss gleichmäßig angeordnet sind. Abends erstrahlt zuweilen der ganze Raum.
In der Küche ist es nie wirklich hell. Die Bronzeplatte, die das Fenster bei Schlechtwetter schützt, geht nur zur Hälfte hoch.
Im darunterliegenden Lager lässt das milchige Bullauge gerade einen Schimmer meergrünes Licht durch.
Ganz unten, im Zugangskorridor zwischen den Öl- und Wassertanks, ist es stockdunkel. Dort befindet sich die eiserne Falltür zum ehemaligen Kohlenbunker; derzeit steht er offenbar unter Wasser.
Martin lehnt in der Laterne an einer Scheibenverstrebung, blickt gedankenverloren auf die bewegte See im Westen. Das Feuer singt. Die unter dem Brenner in einem Spiegel sichtbare Flamme ist blau und ruhig. Die Optik unter ihrer weißen Schutzhülle steht noch still. Die Sonne ist untergegangen. In den Ventilatoren der Kuppel säuselt der Wind. Wir ziehen das Uhrwerk auf. Das am Grunde seines Schachtes ruhende Gewicht streift, als es bei der ersten Kurbeldrehung wieder hochkommt, auf Küchenhöhe dumpf die Seitenwand. Im Treppenhaus werden die Steine dunkel.
Ich muss vor Mitternacht ein wenig schlafen. Vergebliche Fragen. Warum erstarrt das Herz beim Anblick einer Lampe, die am helllichten Tage brennt? Weshalb zieht mich das Wechselspiel von Licht und Schatten fortwährend in seinen Bann?
Orangenschalen glimmen gerade im Aschenbecher, als die tiefe Nacht anbricht. Der Wind hat zugelegt. Südwind, der am Nachmittag bei Stillstand des Niedrigwassers aufgekommen ist. Werde ich noch länger so fortschreiben, ohne klares Ziel? Es ist, als hielte ich mit meiner Lampe Totenwache, und dies seit drei Nächten. Ich mache mir Knoten ins Haar, bis ich sie wutentbrannt abschneide. Ich betrachte mich im Spiegel.
Ohne mir dessen bewusst zu sein, bin ich in die stumpfen Seelen alter Seemänner vorgedrungen. Letzthin, als ich nach zwanzig Tagen Schicht wieder auf die Insel kam, bewunderte ich sie noch, wie sie allesamt am Nordkai standen, einer neben dem anderen, und auf einen Punkt am Horizont starrten. Ich wähnte sie voller Klugheit und Erinnerungen. Jetzt weiß ich, dass sie bar jedes Gedankens sind. Die See ist durch ihre Augen eingedrungen, hat ihre Köpfe langsam leergeschwemmt.
Gelegentlich gehen sie ins Café, genehmigen sich ein Glas. Doch selbst dort, inmitten der träge dahinplätschernden Gespräche, wird ihr Blick vom alles verschlingenden Meer erfasst, durch die Fenster hindurch. Sie sind rasch betrunken. Ich wüsste zu gerne, ob auch sie auf hoher See jenen Moment erlebt haben, da die Haut dünn, endgültig lichtdurchlässig wird. Irgendwann hatten die Kerle doch erschaudern müssen. War das zu spät passiert?
»Ich kann das Meer einfach nicht mehr sehen«, erklärt Marion, der Schönredner. Während meines letzten Landgangs war ich verwundert, ihn häufig stammeln, zaudern, sich mit der Hand übers Gesicht fahren zu sehen. Er verließ sein Atelier nicht mehr, hatte selbst auf den täglichen Inselrundgang verzichtet und ließ auf einem alten Grammophon, einem seltenen Stück, Musik erdröhnen. Er wurde feist.
Am Tag meiner Abreise begleitete er mich zur Mole, war mir beim Zusammenstellen der Lebensmittel behilflich. Als ich an Bord ging, meinte er knapp: »Auf uns kommt ein harter Winter zu«, und das mit einer Miene, die ich zuvor nie an ihm gesehen hatte.
Drüben an Land Röcke aus grobem Leinen, Gewänder aus schwerem Tuch; hier draußen hoher Seegang. Martin atmet durch den Mund, zwischen den Lippen klemmt eine grässliche Kippe. Mitunter ergibt das ein abscheuliches Gerassel. Heute Morgen keuchte er auffallend. Nun achte ich auch auf meinen Atem. Ich sitze in der Küche, wage mich nicht mehr von der Stelle. Dies sind die trostlosen Stunden am Nachmittag.
Die Dünung hat bei Tagesanbruch eingesetzt. Den ersten Anprall vernahm ich im Dunkel meiner Koje, ihm folgte eine lange Stille. Dünung aus Nordwest. Ich habe nicht mehr geschlafen. Wir sind Gefangene, vielleicht für lange Zeit. Nicht ein Windhauch.
Die raue See ließe sich gut zeichnen, ist präzise wie Blattwerk. Sie bietet nun all ihren Pomp auf, rollt an, zerbirst am Unterbau und formt um den Leuchtturm ein weites Gischtgestade, dessen Gleißen kein Blick standhält. Gewaltige Schimmer gleiten über die Plattform, durchlöchern das Halbdunkel der Küche, lassen friedliche Objekte aufblitzen. In der endlosen Stille zwischen den Wogen höre ich meinen zu raschen Atem. Ich warte. An der Fensternische taucht ein kleiner Lichtfleck auf, wandert langsam weiter, wird plötzlich hohl, scheint Risse zu bekommen und verschwindet in dem Moment, als das Tosen wiederkehrt. Sonne und Welle explodieren zur gleichen Zeit. Abermals kriechen Schatten und Stille empor. Licht, Explosion, Stille und der weiße Fleck. Ich will nicht länger hinsehen, tue es dennoch von neuem. Der Inhalt der trüben Kaffeekanne auf dem Tisch gleicht einem schwarzen, matt schimmernden Rund, durch das jedes Mal kleine Wellen laufen. Nun erzittert es nicht mehr. Eigentlich möchte ich etwas anderes sagen. Tief Atem holen. Wünschen, verzichten; Welle für Welle. Kann man noch bedürftiger sein?
Unerschütterlich ruhig das Licht im Treppenhaus. Das Getöse lässt nach. Von hier aus kann man spielend den Lauf der Sonne verfolgen. Der durch die Luken erspähte Horizont ist scharf wie die Krone einer ganz nahen Mauer.
Ich begab mich nach oben. Martin hielt seine Siesta. Als ich, die Holzschuhe in der Hand, an seinem Zimmer vorbeischlich, stand die Tür halb offen; ich bekam ihn für eine Sekunde zu sehen. Er lag angekleidet in seiner Koje, die Augen weit geöffnet, zum Plafond gerichtet. Ohne Mütze hat er einen furchtbaren Kopf, einen hohen, bleichen Schädel mit strähnigem Haar. Den Kopf eines Ertrunkenen.
Ich zog in der Laterne die Vorhänge zur Seite, um noch einen Blick nach draußen zu werfen. Der Himmel gleißte. Der zwei Meilen östlich stehende kleine Turm von Namouic, ein Orientierungspunkt bei dichtem Nebel, war weiß wie die Gischt. Am Horizont waren klar die niedrigen Häuser der Insel zu sehen und dahinter, in zartem Ocker, die Pointe du Raz. Im Westen, auf Höhe der gerade erahnbaren Bouée Occidentale, brachen über unsichtbaren Sandbänken die langen glatten Barren der Dünung. Flüchtige Regenbogen verblassten in der Gischt. Keine Regung im Norden, weit im Süden ein Frachter. Seit geraumer Zeit schon ist die See grau, reden wir also nicht mehr davon.
Niemand kann sehen, was sich unserem Auge darbietet. Kein Schiff kann derzeit heranfahren.
Schichtwechsel mit zweitägiger Verspätung. Nach wie vor herrschte starker Seegang. Eine Welle hatte Martin auf dem Gleitkorb erfasst. Er war für einige Zeit untergetaucht, dann sah ich ihn lachend auf das Deck der Velleda fallen. Die Matrosen stürzten zu ihm, fassten ihn fest unter die Arme. Das Schnellboot schlingerte, dass zeitweilig sein Kiel zu sehen war. Am Steuer mein Freund Henri. Clet wurde heraufgeseilt. Die Wohltat frischen Brotes. Auf der Insel nichts Neues. Eine kurze Nachricht von Marion: »Wir denken an Abreise.« Man berichtet, die Mazarine sei als ganzes explodiert, das Musée Carnavalet für die Öffentlichkeit gesperrt. Zumindest glaubte ich, dies so verstanden zu haben. Clet verhunzt alle Namen, lacht blöde. Eines Tages wird er noch ausgleiten, in die Strömung stürzen, und niemand wird seinen Körper je wieder finden.
Flaute. Clet kommt mitunter wankenden Schrittes oder auch seitlings daher, nie ist er so steif wie ich. Wir brachten den ganzen Vormittag auf der Anlegestelle zu, reinigten die Aufzugswinde. Die Sonne brannte unerbittlich herab, ich rang wiederholt nach Luft. Eine kurze Brise aus Nord ließ die steigende Flut aufblitzen. Das Meer glitt in einem Block dahin, geräuschlos, und der Himmel schien ihm zu folgen. Aus der Ferne muss dieser einsam dastehende Leuchtturm unheimlich wirken. Wir, die ihn bewohnen, wissen ja Bescheid. Manchmal glaube ich, an etwas Bedeutendem teilzuhaben, ohne zu begreifen, was es ist.
Wir kommen in die Periode der Springfluten, da man bei Ebbe ein Stück von dem roten Felsen sieht, auf dem der Leuchtturm erbaut ist. »Ar Men« bedeutet im Bretonischen »der Stein«. Was hatte dieser Fels nur an sich, dass man unter den Dutzend anderen, die aus der Basse-Froide ragen, ausgerechnet ihn so bezeichnete? Ich mag den Namen.
Als ich Ar-Men zum ersten Mal sah, herrschte dasselbe Wetter. Die See war bleigrau – wie immer, wenn man auf einem Kriegsschiff kreuzt. Damals dachte ich, über den Ort Bescheid zu wissen. Hatte das Verlangen, auf diesem Leuchtturm zu leben. Es war die beste Art, ihn nicht mehr zu sehen. Als ich meinen Fuß zum ersten Mal auf den Spielzeug-Landungssteg setzte, fühlte ich mich sogleich zu Hause. Doch schon erinnere ich mich nur mehr vage an diese Zeit.
Clet plauderte irgendetwas daher. Ich klopfte den Rost von der Winde, hörte durch den Lärm des kleinen Hammers nicht genau, was er sagte. Er begab sich an die Nordseite, um eine Angel auszulegen. Ich konnte kaum erwarten, in das Dunkel des Betriebsganges zurückzukehren. Erleichtert stieg ich die Treppe hinauf.
Den ganzen Nachmittag über habe ich das Gefühl von Hochsommer. Der Leuchtturm löst sich auf im Licht. Ich fühle den Druck der Weite jenseits der enormen Mauern. Das Tor ist verriegelt, die Doppelfenster der drei Zimmer sind verschlossen. Ich bleibe im Treppenhaus auf einer Stufe sitzen, lehne an der kalkgetünchten Wand. Kein Schatten bewegt sich. Früher glaubte ich, die Stürme wären schrecklich, kalkulierte bei allem Enthusiasmus ein, mit dem Leuchtturm davonzufliegen. Doch die wahre Angst kommt auf, wenn die See allzu ruhig ist. Man hat den Eindruck, abzudriften. Ich rollte mich dann am liebsten in einen Winkel, aber nicht in meiner Koje, sondern irgendwo am Steinboden.
Vor einer Stunde, bei Umkehr des Gezeitenstroms, hat der Wind aufgefrischt. Im Westen setzte die Sonne auf. Die Steine im Treppenhaus färbten sich golden. Die durch die Luken einfallenden Lichtstrahlen trafen Stock für Stock wieder aufeinander. Ich begab mich in die Laterne. Die großen Fensterscheiben haben Fingerstärke. Durch einen Spalt zwischen den weißen Vorhängen sah ich einen neugierigen Kormoran vorüberfliegen, mit Kurs auf die offene See. Das gleißende Wasser driftete als Ganzes südwärts, den Mäandern kleiner Strudel folgend. Noch im fensterlosen Wachraum nehmen Messing und Holzvertäfelungen den Abglanz all dessen auf.
Ich gehe das Treppenhaus hinunter. Mache bei jeder Luke halt. Ich entwickle seltsame Rituale. Begebe mich ganz nach unten. Ab dem zweiten Stockwerk sind die Wände klebrig, die Stufen schwarz vor Feuchtigkeit.
Das Leuchtfeuer wird nun jeden Tag etwas früher gezündet. Die Zeit der langen Nächte bricht an. Mit dem sorgenlosen Dahinleben ist es vorbei. Ein im Süden angekündigtes Tief, das direkt auf uns zusteuert, markiert zweifellos den Beginn einer langen Serie. Nun heißt es, alles dichtmachen, das Tor verriegeln und abwarten. In mir ist jemand, der hier vermutlich nicht lebend davonkommen wird.
22 Uhr. Clet hat Angst. Er redet viel zuviel. Ich kann nichts erwidern, sehe ihn immer fahriger werden. Er rasiert sich nicht mehr. Seine Haare sind zu lang. Er fürchtet, die Motoren des Nebelhorns nicht starten zu können. Hat Angst vor Pannen, vor einer Funkstörung. Allabendlich spricht er mit seiner Frau, um immer dasselbe zu sagen: »Ich hoffe, auf der Insel läuft alles gut. Hier ist alles in Ordnung. Umarme die Kleinen von mir. Bis morgen.« Die Insel ist nicht mehr zu sehen. Bereits zwei Schiffe sollen verschollen sein.
Meerestosen wie Kanonendonner. Geräusche exakt wie letzten Winter; unten dieselben Laute; ein nicht zuordenbares Geknarre. Hinter der Schutzplatte der Küche jagen große Schatten vorüber. Clet fährt jedes Mal hoch. Ich kann ihn nicht beruhigen. Zum Zeitvertreib schleift er sein Messer. Minutenlang lässt er die Klinge über den Ölstein gleiten, zuerst in die eine, dann in die andere Richtung. Er befühlt die Schneide mit dem Daumen, streift seinen Ärmel hoch und benetzt die Haare des Unterarms mit Speichel. Die wie ein Rasiermesser vom Ellbogen zum Handgelenk gezogene Klinge hinterlässt eine kahle Spur. Er legt sein Messer auf den Tisch, blickt mich zufrieden an.
Martin benützt für den Anschliff immer die erste Stufe der Treppe. Sie ist abgetreten. Alle drei besitzen wir dasselbe Messer mit schieferfarbener Einzelklinge, Horngriff und Nieten aus Messing, damit das Ganze nicht rostet. Auf der Klinge steht ein Wahlspruch der Kooperative der Inselfischer.
Die nächtlichen Stunden verlieren, so ich sie mit Schreiben zubringe, jede Festigkeit. Ich schreibe am Stehpult, lehne mit dem Rücken an einem der rotgestrichenen Eisenträger, welche die Quecksilberwanne und Optik stützen. Ich halte mehrfach inne, ich trete auf die Galerie hinaus, um die Leuchtfeuer zu beobachten. Ich begebe mich wieder hinein, setze mich in den alten Wagensitz, der uns als Wachebank dient. Ich horche. Alles beginnt von vorne.
Dabei hoffte ich bei meiner Ankunft, wenigstens hier diesen lächerlichen Hang zum Warten ein für allemal abzulegen. Diese Art, das Ohr zu spitzen und den Atem anzuhalten: das, was seit so vielen Jahren nun mein Leben ausmacht. Auf der Insel drüben, wo ich niemanden und nichts erwarte, lausche ich oft tagelang nach Schritten im Garten meines Hauses, dem Grand Monarque. Ich dachte, auf dem Leuchtturm würde das Warten eine andere Form annehmen. Wenn da etwas zum Vorschein kommen soll, kann es nur aus meinem Innersten kommen. Und schon liege ich wieder auf der Lauer, als würde demnächst jemand an die Tür klopfen. Im Grunde regt sich nichts. Und es wird sich auch nichts ereignen.
Ein Jahr noch dauert dieses Abenteuer! Erst war jeder Augenblick ein erster Augenblick. Alle Himmelsfronten bezogen um mich Stellung. Ich konnte nicht mehr altern. Ich liebte den wunderbaren Moment der Morgendämmerung, die große Stille, wenn das Feuer erlischt. Die einfachen, schönen Gesten, das Anbringen der weißen Vorhänge rund um die Laterne. Eine Zeremonie. Ich hatte das Gefühl, in das Geheimnis des beginnenden Tages eingeweiht zu sein. Nun laufe ich bei Morgengrauen kein neues Ufer mehr an. Öffnete ich das Eingangstor, flogen Möwen auf. Zum Fischen begab ich mich an die dunkle, kühle Nordseite, wo die Steine von einer grünlichen Flechte überzogen und die Stützgeländer völlig durchgerostet sind. Mitunter zog ich einen schönen, stumm bebenden Seehecht an Land, dessen Farben sich alle Sekunden veränderten. Ich weidete ihn stets sogleich aus. Einmal fuhr dabei dicht am Leuchtturm ein kleiner Langleinenkutter vorüber, an Bord stand ein Mädchen in rotem Kleid. Wir tauschten lange Grüße aus; meine Hände waren noch voller Blut. Wenn meine Nachtschicht zu Ende war, machte ich, ehe ich zu Bett ging, mein Fenster weit auf, um den Anprall der Wogen zu hören. Jetzt kann ich ihn nicht mehr ertragen.
Nach all den Jahren habe ich zu guter Letzt drei Bücher behalten. Den Bildband Vermeer. Das Mädchen mit dem Perlenohrring. Ich hatte diese Reproduktion schon an manch Zimmerwand geheftet. Nicht hier. Ich wage nicht einmal hinzusehen, das Mädchen blickt mich zu unverhohlen an. Sollte jemand von mir ein Zeichen erwarten, ich wüsste nicht welches. Weshalb gerade dieses Buch? Bei jedem Urlaub hoffe ich, es an Land zu lassen. Und wieder nehme ich es mit. Es ist zu groß, nimmt zuviel Platz ein. Auf seinem weißen Umschlag prangt ein Ölfleck. Einmal ließ ich es zu mitternächtlicher Stunde, nach Ende meiner Schicht, oben liegen. Es fiel mir erst auf, als Martin bereits die Treppe hochkam. Ich rannte wie ein Verrückter, ohne Holzschuhe, in das Wachzimmer, hatte gerade noch Zeit, wieder in den Maschinenraum zu gelangen, und hockte mich dort samt Buch hinter einen Motor, um Martin vorbeizulassen.
Da ist noch ein weiterer Bildband, nicht ganz so groß. Ansichten eines Zisterzienserklosters, das ich zweifellos nie besuchen werde. Nächtelang habe ich mich in das Buch vertieft, es so lange durchschritten, bis ich meinen Gang auf den Steinplatten hallen hörte. Ich wandelte im Kloster von Licht zu Licht, in den Schlafsaal mit den tiefliegenden Fenstern, dann, zur Stunde der Vigilen, in die Kirche. Das größte Abenteuer der Welt. Das dritte Buch: Gedichte von Pierre Reverdy.
Ich kenne diese Bücher auswendig, brauche sie nicht, kann mich aber auch nicht von ihnen trennen. Als müsste ich durch sie hindurch, um jene wahrhafte Einsamkeit zu erreichen, über die es nichts mehr zu sagen gibt.
Tagsüber verwahre ich sie in meinem Holzkoffer.
Ich muss geträumt haben, jemand klopfe an meine Tür. Es war knapp vor Mitternacht. Gewöhnlich weckt mich das Geklapper der Holzschuhe, wenn Clet das Wachzimmer verlässt. Ich habe dann noch Zeit, meine Lampe anzuzünden. Rufe ein lautes »Ja!«, sowie er vor meiner Tür anlangt, anklopfen will. Doch nun stand ich aufrecht im Dunkeln, ohne recht zu begreifen, wie mir geschah. Der Wind drückte mit voller Wucht gegen das Fenster. Ich sah die drei Lichtbündel in regelmäßigen Abständen vorbeischwenken. Keinerlei verdächtiges Geräusch. Ich setzte mich auf die Bettkante.
Jetzt kehrt die Erinnerung an diesen Augenblick wieder: Ich verharrte regungslos im Dunkeln, die Hände auf den Knien, und war ganz ruhig. Ich verspürte keine Lust, meine Lampe anzuzünden. Der Leuchtturm umhüllte mich. Alles schien mir freundschaftlich gesonnen. Eben hatten einige Gischtflocken die Fensterscheiben getroffen. Neben dem Brausen des Windes, einem eher tiefen Ton, vernahm ich ein friedliches Rauschen. Das Meer stieg, und das bei beachtlichem Seegang. Wogen schlugen auf das