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Der Liebende ist eine Erzählung von Rainer Maria Rilke. Auszug: Hermann Holzer geht in seiner langen, schmalen Stube auf und ab und spricht seit einer halben Stunde. Ernst Bang liegt ebensolange auf dem alten Studentensofa und betrachtet ihn. Manchmal hebt er ein wenig den Kopf, wie um über die Worte des anderen hinzusehen; denn diese interessieren ihn nicht sonderlich. Der breite, blonde junge Mensch, der immer auf demselben Fleck auf und nieder läuft, mit Schritten, als ob er eine Anhöhe bestiege, scheint ihm viel wichtiger offenbar. Er möchte ihm am liebsten zurufen: Bleib einmal stehen, bitte; damit ich dein Kinn genauer sehe und deinen Mund ...
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Seitenzahl: 13
Veröffentlichungsjahr: 2022
Hermann Holzer geht in seiner langen, schmalen Stube auf und ab und spricht seit einer halben Stunde. Ernst Bang liegt ebensolange auf dem alten Studentensofa und betrachtet ihn. Manchmal hebt er ein wenig den Kopf, wie um über die Worte des anderen hinzusehen; denn diese interessieren ihn nicht sonderlich. Der breite, blonde junge Mensch, der immer auf demselben Fleck auf und nieder läuft, mit Schritten, als ob er eine Anhöhe bestiege, scheint ihm viel wichtiger offenbar. Er möchte ihm am liebsten zurufen: Bleib einmal stehen, bitte; damit ich dein Kinn genauer sehe und deinen Mund . . .
Natürlich ruft er es nicht, aber trotzdem bleibt Hermann Holzer stehen, versammelt sich vor dem engen Fenster und deckt mit seinem schwarzen Rücken den Himmel zu und die Schornsteine und den ganzen Sonntagnachmittag. Die Stube dunkelt hinter ihm. Und er sagt: »Hol der Teufel das ganze Examen. Ich bin schon wahrhaft nervös, glaub ich. Ich fange an, euch Konkurrenz zu machen, lieber Bang. Nehmt euch in acht, wenn ich mal nervös werde, dann tu ich's gründlich, – wie alles. Dann seid ihr Zwerge gegen mich.« Und er dreht sich so schnell um, daß er ein ganzes Stück Licht mit seinem Lachen hereinreißt in die rauchige Dachstube.
Bang setzt sich wie erschrocken auf. Er ist sehr schlank und modisch gekleidet. Jetzt besieht er langsam seine linke Hand und dann seine rechte. Mit einem gewissen Eifer, als ob das ein Wiedersehen nach Jahren wäre.