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Das Eintreffen von Fremden löst seit Menschengedenken schon immer einen gewissen Argwohn aus. Wer sind diese Unbekannten? Warum sind sie hier? Gefährden sie etwas, das wir uns erarbeitet haben? Doch dies ist keine Erscheinung unserer Zeit. Neues und Veränderung gab es schon immer, und für ein glückliches Zusammenleben braucht es ein Wollen und Schätzen auf beiden Seiten. Wir müssen jeden Fremden zuerst einmal als das sehen, was er oder sie ist: Ein Mensch! "In ausnahmslos jedem Menschen lebt ein Licht Gottes, das wertgeschätzt werden will. Es ist ein Verbrechen gegen den Willen Gottes, dieses Licht einzugrenzen oder ihm vorschreiben zu wollen, wie und wo es zu leuchten hat. Das ist nichts anderes als menschlicher Kleingeist und menschliche Überheblichkeit!"
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Seitenzahl: 173
Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
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© 2025 novum publishing gmbh
Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt
ISBN Printausgabe: 978-3-99146-877-6
ISBN e-book: 978-3-99146-878-3
Lektorat: Mag. Dorothea Forster
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
Innenabbildungen: Soheyla Fahimi
www.novumverlag.com
Widmung
Ich widme dieses Buch meinen wirklichen Freundinnen und Freunden sowie allen, die immer zu mir gehalten haben. Ganz besonders widme ich es meinen Eltern. Ohne sie gäbe es mich nicht. Ohne sie wäre ich ins Bodenlose gestürzt. Auch wenn alle mit dem Finger auf mich gezeigt haben war Vorverurteilung oder Glaube an die angebliche weltliche Weisheit für sie nie ein Thema. Das hat mich wieder aufstehen lassen.
Danke
Inhalt
Um in einer multikulturellen Gesellschaft miteinander zu leben braucht es Verständigungen, die nicht nur aus der eigenen Binnensphäre heraus dem jeweils anderen Vorschriften zu machen suchen. Es muss einen inneren Kern gemeinsamen Wollens geben. Ohne diesen wird man sich immer gegenseitig beargwöhnen oder sogar bekämpfen. Der Leitfaden für einen solchen gemeinsamen inneren „Wollenskern“ muss sich aus Quellen speisen, die übergreifend allen Menschen zugänglich sind. Dafür bietet sich zum einen die Natur selber sein, da herkunfts-, kultur- und religionsübergreifend jeder Mensch ein Teil der Natur ist. So hält der Blick auf die Natur uns allen zugängliche Einsichten und Wegweisungen bereit. Ein zweiter Ansatzpunkt für einen solchen übergreifend-gemeinsamen Wollenskern ist der „Lockruf des Heiles“, den wir alle in unserer Seele tragen. Jeder Mensch sehnt sich nach Heil und im Kern dieses Sehnens sind wir Menschen gar nicht unterschiedlich. Beides bietet uns Ansätze, über die eigene ethnische, religiöse oder nationale Binnensphäre hinaus Wege zueinanderzufinden. In einem solchen notwendig korrekturoffenen Findungsprozess müssen alle, die in unserer Gesellschaft leben, auf Augenhöhe beteiligt und abgebildet sein. Wenn etwa Menschen aus anderen Ländern zu uns kommen, dann sind sie nicht nur einfach eine Bereicherung für unseren Arbeitsmarkt oder eine Last für unser Sozialsystem. Sie sind erst einmal Menschen wie du und ich. Sie sind mit ihren liebenswerten Eigenschaften und kulturellen Hintergründen für uns alle wie ein Spiegel. Damit sind sie auch für uns selber eine Chance, uns gemeinsam auf ein höheres Niveau weiterzuentwickeln. Davon handelt dieses Buch.
I. Was mich zu diesem Denkanstoß veranlasst
Ich bin seit über 30 Jahren überzeugter römisch-katholischer Christ und Seelsorger. In sehr unterschiedlichen Lebens- und Wirkungsorten habe ich ein sehr tiefes und ehrliches Suchen, Hoffen und Fragen wahrgenommen und wertgeschätzt innerhalb wie außerhalb meiner Kirche, bei Christen, Muslimen, Hindus, Buddhisten, Juden sowie auch bei vielen wertgeschätzten Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, die sich ohne festes Bekenntnis verstehen oder sich sogar „Atheisten“ nennen. Unzählige offene Begegnungen und tiefe Gespräche liegen dem hier niedergeschriebenen Denkanstoß zugrunde.
Die ehrlich Suchenden und Fragenden meiner eigenen Herkunftssphäre, des römisch-katholischen Raumes, sind natürlich die Basis und die Folie für mein eigenes Wahrnehmen, Suchen und Fragen. Ich bin in meiner Römisch-Katholischen Kirche unglaublich vielen Menschen jedes Alters begegnet, die nach schwierigen Erfahrungen mit sich selber, in ihrer Lebensbiografie oder in unserer gemeinsamen Kirche zu fantastischen kleinen und großen Aufbrüchen in der Lage waren, vor denen ich bewundernd und demütig den Kopf neige – eindrucksvoll und eine wirkliche Gegenwart Gottes! Trotz aller Unkenrufe, trotz aller Skandale und allem gehässigem Geschwätz habe ich an vielen Orten in meiner Kirche wirklich „heiligen“ Geist erlebt.
Doch stets war mir neben dem bescheidenen Beitrag, den ich dort einbringen durfte, immer auch der Kontakt zu denen wichtig, die nicht in der Binnensphäre meiner Kirche zuhause sind, die sich eher am Rand fühlen oder nicht beachtet werden, die sich entrüstet von meiner Kirche abgewandt haben, weil sie persönlich verletzt wurden oder weil sie es für sich als Befreiung empfunden haben, meiner Kirche nicht mehr anzugehören. Vor jeder dieser persönlichen Entscheidungen habe ich Achtung und Respekt. Es gab aber auch viele, die wieder zurück gekommen sind nachdem sie Frieden schließen konnten mit ihren Verletzungen und ihrer Abkehr von der Gestalt des Glaubens, wie er sich in meiner Kirche ausgeprägt hat.
Eine besondere Verbundenheit hatte ich immer auch zu Menschen anderer Religionen und Bekenntnisse. Auf einer religiös divergent gewachsenen Sicht- und Empfindungsweise haben sie viel dazu beigetragen, dass mir der innerste Wesenskern meiner Religiosität immer bewusster wurde. Ihr kritischer Blick in meine eigenen blinden Flecken hat mich immer wieder inspiriert und weiter gebracht. Dafür bin ich sehr dankbar.
Die Nähe zu denen „außerhalb“ habe ich immer wieder bewusst gesucht. Mit vielen bin ich im Laufe der Jahre eng auf Tuchfühlung gegangen und es haben sich daraus auch langfristige Freundschaften entwickelt. Dabei sind auch diejenigen jüdisch, muslimisch, hinduistisch und buddhistisch geprägten Menschen herauszustellen, denen ich begegnen durfte. Ihre Denk-, Sicht- und Fühlweisen, ihre schlichte Zuwendung und Öffnung als Menschen haben mich sehr berührt. Das gilt auch für viele von mir tief wertgeschätzte und hochintelligente Menschen, die sich als „nicht gläubig“ bezeichnen. Mit ihnen habe ich in meiner Arbeit als Seelsorger viele Stunden in gegenseitiger Achtung verbringen dürfen. Sie haben mich sehr inspiriert und menschlich berührt. Eines ist für mich ganz klar: Auch sie sind ehrlich Fragende und Suchende, auch sie fühlen in sich einen „Lockruf des Heiles“, auch sie sind Menschen wie du und ich, die im Kern nach nichts anderem streben und nichts anderes wollen als wir „Religiösen“ auch. Sie benutzen dafür vielleicht andere Worte und gedankliche Konstruktionen – der „Lockruf des Heiles“ im Kern ihrer Seele ist aber der gleiche.
Für alle diese Begegnungen, die heiligen Augenblicke in diesen Treffen, das gemeinsame Suchen und „die Seele nach oben strecken“ bin ich dankbar. Ich habe die klare Erkenntnis gewonnen, dass dieser Akt uns im tiefsten auf eine Weise miteinander verbindet, wie es äußere Organisationsformen oder politisch-juristisches Handeln nie vermögen. Diese Verbindung geht viel tiefer. Sie ist vielleicht sogar der eigentliche Urgrund, der uns Menschen wirklich zusammen bringt.
Als religiös geprägtem Menschen erklärt sich mir das daher, dass wir ja alle aus einem von mir „göttlich“ genannten Urgrund stammen. Doch das soll keine Abwertung oder Ausgrenzung sein zu Menschen, die für sich weltlich-profane Welt- und Lebenszugänge bevorzugen. Im Gegenteil: Ich habe oft das wertschätzende Gefühl gehabt, dass weltlich-profane Zugänge und religiöse Sichtweisen häufig nicht nur zwei Seiten derselben Medaille sind, sondern sich sogar gegenseitig brauchen, korrigieren und meist auch nur miteinander statt gegeneinander wachsen können. In unserem eigenen religiösen Glaubens- und Traditionsschatz haben wir unglaublich viele positive Ansätze und Beiträge hierzu. Wir müssen manches nur konkret und konsistent weiterdenken statt auf halbem Weg stehen zu bleiben. Auch dafür will dieses Buch ein Anstoß sein. Das heißt nicht, dass alles gleich sein muss. Gerade die Unterschiedlichkeit verschiedener Zugänge ist häufig erst die Voraussetzung dafür, dass wirkliche Entwicklung stattfinden kann.
In den letzten Jahren kam für mich ein weiteres hinzu. Ich bin sehr eng auf Tuchfühlung gegangen mit Menschen aus ganz anderen Kultur- und Religionsräumen. Ich habe dabei viele für mich überraschende Perspektivwechsel vorgenommen, die mir die eigene Überheblichkeit sichtbar gemacht haben oder die mir alte und in meiner Kultur gelernte Fühlmuster verdeutlicht haben wie zum Beispiel eine alte Kolonialüberheblichkeit gegenüber den „armen Negerlein“, denen wir doch nur helfen wollen. Nie hätte ich es für möglich gehalten, solche alten Muster in mir anzutreffen! Doch ich bin dankbar dafür, denn das hat sich in konkreten Begegnungen ereignet und mich dazu veranlasst, diesen Denkanstoß niederzuschreiben.
Ursprünglich war nur das Kapitel über die Wahrnehmung der Natur als moralische und ethische Instanz in Form eines theologischen Fachartikels geplant. Dann aber ist ein Buch daraus geworden. So ist es übersichtlicher und nicht so verschachtelt. Ich kann hier ohne Platzdruck darlegen, worum es mir geht. Mein Denkanstoß richtet sich auch nicht „nur“ an ein theologisches Fachpublikum sondern darüber hinaus ebenso an die Breite der Gesellschaft und will dort Brücken bauen und Verständnis wecken. Daher sind auch einige Zusammenhänge ausführlicher erklärt als es für ein rein theologisches Fachpublikum notwendig wäre. Der Einfachheit halber ist der Text in der männlichen Form verfasst. Immer sind aber Männer, Frauen,… gleichmaßen gemeint!
Ein besonderer Dank gilt allen, die mich fachlich und inhaltlich wohlwollend begleitet haben. Ihre Impulse und Korrekturen habe ich gerne mit aufgenommen. Ich danke meiner Schwägerin Vera Kaufmann, der fachlichen Begleitung durch Dr. Mahesh Rawat, Andreas Kamphausen und Guido Helbig, der freundschaftlichen anregenden Impulse durch Sebastian und Kristina Horstmann, Ralf Sieben, Gisela Schippel und Gabriela Grotke. Ebenso danke ich den Begegnungen und offenen Herzen von Mohammad Hashimi, Mohammad Tebori, Alisina Sharifi, Sahand Naseri … Ohne sie hätte dieses Buch nicht in seine jetzige Form kommen können.
Ich bedanke mich auch bei der Künstlerin SOHEYLA B. FAHIMI. Immer wieder bringt sie in ihren Werken zum Ausdruck, dass nur die Liebe in einem umfassenden Sinn die Welt heilen kann. Und es muss so viel geheilt werden! Mit ihren Werken hat sie dieses Buch bereichert. Das Copyright bleibt bei ihr und ihre Werke können unter der hinten angegebenen Anschrift erworben werden.
Beim Lesen mag vielleicht der eine oder andere hier oder da empört sein. Ich bitte darum, diese Empörung als Impuls zum Nachdenken zu verstehen. Ich habe nicht die Wahrheit gepachtet sondern ich verstehe mich als Suchender und Fragender, der offen ist für die Impulse anderer Welt- und Religionszugänge. Ganz in meinem Sinn ist es, dass auch sehr kontrovers über das hier Verfasste diskutiert werden kann. Das Geschriebene will zwar durchaus provozieren aber eben nicht polemisieren oder spalten. Es geht mir weder darum, andere zu verletzen, noch darum, das Eigene und uns Wertvolle über Bord zu werfen. Vielmehr möchte ich einen Beitrag dazu leisten, dass wir uns korrekturoffen zur Disposition stellen und Wege finden, aufeinander zuzugehen.
Andere halten uns immer einen Spiegel vor, der das Eigene wie auch die persönlichen blinden Flecken deutlicher macht. Das sollten wir ohne Angst und ohne andere abwertende Machtstrukturen nutzen. Von einem sich gegenseitig wertschätzenden und inspirierenden Suchen und Finden können immer alle Seiten profitieren!
II. Worum es geht
Wir alle leben hier und jetzt in einer Gesellschaft zusammen. Jeder von uns trägt in sich eine Hoffnung und ein Streben nach Heil. Wie das für einen aussieht, das malt sich jeder unterschiedlich aus und wählt seine eigenen Wege, wie er das umsetzen kann. Jedoch lebt keiner von uns auf einer Insel. Vom Beginn unseres Lebens bis zum Ende unseres irdischen Lebensweges sind wir immer eingebunden in Beziehung sowie in Freiheit von und Abhängigkeit zu anderen Menschen. Da sind unsere leibliche Familie ebenso gemeint wie die konkrete Gesellschaft, der konkrete Staat und die konkrete Welt, in der wir leben.
Nun hat sich hier bei uns in Deutschland unsere Gesellschaft stark verändert im Vergleich zu der Zeit als sie vor über 70 Jahren gesetzlich verfasst worden ist. Diese Veränderung geschieht nicht nur von innen heraus. Sie erfolgte zum Beispiel ebenso dadurch, dass sich mit der Wiedervereinigung der zeitweise getrennten deutschen Staaten das Verhältnis von Menschen mit profanen (=weltlichen) bzw. religiösen Welterklärungszugängen deutlich verschoben hat. Ein weiterer Faktor ist, dass seit vielen Jahren Menschen zu uns kommen, die wir gerufen haben, weil wir sie für unseren Arbeitsmarkt brauchen. Ganz aktuell macht uns ja der Fachkräftemangel grosse Sorgen. Eine seit Jahren immer stärker anwachsende Zahl von Menschen kommt aber auch zu uns, die in ihrer Herkunfts-Heimat nicht mehr leben können oder wollen. Sie erblicken dort keine freiheitliche oder wirtschaftliche Lebensperspektive. Sie sind aus politischen, religiösen oder Identitäts-Gründen dort an Leib und Leben bedroht. Wir alle leben hier und jetzt in dieser Gesellschaft zusammen. Aufgabe von Politik und Rechtsprechung ist es, das zu organisieren und auszubalancieren.
Das aber können sie nur, wenn ihrem Handeln ein übergreifend gemeinsames Wollen zugrunde liegt. In einer sich frei und multikulturell verstehenden Gesellschaft kann das Suchen und Umsetzen eines solchen gemeinsamen Wollens immer nur ein gemeinsamer und sich gegenseitig wahrnehmender und wert-schätzender Prozess sein. Auch damit beschäftigt sich der in diesem Buch dargelegte Diskussionsbeitrag. Der Prozess der Entstehung und Umsetzung eines solchen gemeinsamen Wollens betrifft ja nicht nur den äußerlich „gesetzten“ Rahmen und er fängt auch nicht erst dort an. Innerhalb dieses in „Gesetzen“ ausformulierten Rahmens gibt es unzählige alltägliche kleine Lebensbereiche, die unmöglich alle in Gesetzen festgelegt werden können. Das würde zudem unseren eigenen freiheitlichen Anspruch untergraben. Alles nur in Gesetzen festzulegen und von oben zu befehlen würde irgendwann dazu führen, dass keiner mehr fragt, was gut, vernünftig oder richtig ist. Die alles beherrschende Frage wäre dann nur noch, was erlaubt ist und was nicht. Tendenzen dazu gibt es in der Breite unserer obrigkeitshörigen Gesellschaft sehr wohl.
Das eigene Denken und damit ebenso die eigene Freiheit, die eigene Verantwortung und die Bereitschaft zum Engagement für diese Gesellschaft gehen dann verloren. Das gilt für viele Bereiche des öffentlichen Lebens. Sie muss sich zur Aufrechterhaltung eines freien und Verantwortung übernehmenden Wollens selbstkritisch fragen, ab welchem Punkt zum Beispiel eine Verbotskultur, welche ja angeblich immer nur zu „unserem Besten“ und um uns zu „schützen“ beschworen wird, zu einer Entmündigungskultur verkommt. Nur wenn wir selber beteiligt und abgebildet sind in unserer Gesellschaft werden wir uns auch in ihr engagieren. Nur dann werden wir uns nicht einfach in unsere eigenen vier Wände zurückziehen oder schlimmstenfalls Hass auf diese Gesellschaft entwickeln und sie bekämpfen.
Wenn es kein gemeinsames Wollen und Suchen sowie keinen kollektiven inneren Konsens gibt, der alle in unserer Gesellschaft lebenden Menschen nicht als Objekte sondern als Subjekte einbezieht, kann es auf Dauer auch keinen gesellschaftlich-sozialen Frieden geben. Sobald eine Gruppe allen anderen Gruppen nur noch vorschreiben will, welche privaten Einzelentscheidungen sie zu treffen haben oder welchen Regeln sie sich beugen müssen, dann erzeugt das auf Dauer einen gesellschaftlichen Unfrieden, den niemand ernsthaft wollen kann. Das Gefühl von „fremdbestimmt werden“, von „an mich betreffenden Entscheidungen nicht beteiligt sein“, von „benachteiligt werden“ bei Arbeits- oder Wohnungssuche oder von generell „beargwöhnt und ausgestoßen werden“ erzeugt soziale Spannungen, die sich in Abschottung, Ärger, Frust, Wut oder Aggression ihren Raum nehmen ob wir das nun wollen oder nicht. Machmal entlädt sich das bei irgendwelchen Anlässen und alle reiben sich dann verwundert die Augen, wie denn das nur geschehen konnte. Was für eine Heuchelei!
Hier und Jetzt leben Menschen unterschiedlicher Herkunft, Religion und Kultur zusammen. Oft bringen sie dogmatisierte „Rückständigkeiten“ mit (zumindest bezeichnen wir diese so), vor denen wir nur den Kopf schütteln können – zum Beispiel: „ein wahrer Muslim duscht mit Unterhose“ (was für ein Bullshit: wo bitteschön soll denn das im Koran stehen?). Tatsache ist aber zum einen, dass wir die zunehmenden Migrationsströme gar nicht aufhalten können, es sei denn, wir würden nicht mehr an unantastbaren Menschenrechten festhalten, die ausnahmslos für alle gelten. Tatsache ist ebenso, dass man es redlicherweise als Illusion bezeichnen muss, wir könnten global auch nur mittelfristig die Situation in manchen der Herkunftsländer dergestalt ändern, dass Menschen von dort gar nicht mehr weg wollen. Dazu später mehr. Solange jedenfalls Menschen in ihren Herkunftsländern nicht mehr leben können oder wollen werden sie sich auch auf den Weg machen. Das war immer schon so und wir würden es genauso tun! Wir haben in unserer eigenen deutschen Geschichte doch auch selber erlebt, was es für bereits ansässige und für hinzugekommene Menschen heißt, wegzugehen und eine neue Heimat finden zu wollen oder zu müssen. Allen, die etwa aus Schlesien, Siebenbürgen oder Kasachstan gekommen sind, müsste das doch noch sehr lebendig in Erinnerung sein!
Die heutigen Migrationsströme bringen jedoch auch deshalb neue Herausforderungen mit sich, weil in großer Zahl Menschen aus von uns sehr verschiedenen Kulturen und Religionen zu uns kommen. Das hängt zusammen mit der globalen Klimaveränderung, die wir mit noch so vielen Ressourcen bestenfalls bremsen aber nicht mehr verhindern können. Das hängt ebenso zusammen mit wirtschaftlichen oder politisch-korrupt-kriminellen Strukturen mancher Herkunftsländer, die wir gar nicht oder nur sehr begrenzt beeinflussen können. Natürlich sind Bemühungen in diese Richtung immer notwendig und richtig – wir aber werden dort die Probleme nicht lösen. Solange jedenfalls jetzt Menschen für sich in ihrer Heimat keine Hoffnung erblicken werden sie sich auch jetzt auf den Weg machen. Sei es eine „Abstimmung mit den Füßen“ in Form von Flucht oder Emigration, sei es wirtschaftliche Perspektivlosigkeit oder sei es Gefahr an Leib und Leben – sie machen sich jetzt auf den Weg, wir können das jetzt nicht verhindern und wir müssen jetzt hier Wege zueinander und miteinander finden.
Natürlich müssen wir Migrationsströme lenken und schauen, was etwa im Sinne einer erfolgreichen Integration überhaupt leistbar ist. Natürlich sind Menschen, die zu uns kommen wollen um zu arbeiten keine „Flüchtlinge“ im Sinne unseres Asylgesetzes. Wir dürfen schon von ihnen verlangen, dass sie – sofern realistisch möglich – die mit Visum und Arbeitserlaubnis vorgesehenen Wege nutzen statt als Asylanten anerkannt werden zu wollen, weil sie dabei mehr Geld einkassieren können. Wir brauchen natürlich Regelmechanismen wie ein verbindliches Einwanderungsgesetz und eine übergreifende Koordination zum Beispiel auf europäischer Ebene. Und dennoch haben wir von unseren eigenen Grundsätzen her einfach nicht das Recht, anderen Menschen zu sagen: „Bleib wo du bist und verrecke!“ Und wenn wir ihnen in Gefahr Asyl und Schutz anbieten, wenn wir sie als Arbeitskräfte suchen und brauchen oder wenn wir ihnen Heimat in Form einer Staatsbürgerschaft anbieten, dann müssen wir auch bereit sein, die Formen und den gesetzlichen Rahmen unseres Miteinander zusammen neu auszutarieren, sie dabei einzubinden und mit ihnen zusammen den Rahmen unseres Zusammenlebens neu zu vereinbaren.
„In God We Trust – Drei Faltigkeit, III/2024“
Gemeinsame Herausforderungen sind niemals nur eine Einbahnstraße! Dies gilt für gesetzliche Regelungen wie etwa das in unserem Recht verankerte Bigamie- oder Polygamie-Verbot. Dies gilt ebenso in vielen anderen Bereichen innerhalb des derzeit gültigen rechtlichen Rahmens für ein notwendiges Miteinander statt Gegeneinander der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Damit dies gelingen kann ist ein gemeinsames Wollen notwendig. Das aber kann nur auf einem allen gemeinsamen inneren Wollens-Kern beruhen, der sich dann ja individuell unterschiedlich ausprägen kann. Ansonsten führen wir Scheingefechte und reden aneinander vorbei. Erst wenn gegenseitig klar wird, was denn uns selber und was dem jeweils anderen wirklich wichtig und „heilig“ ist, kann es ein solches Zusammenkommen geben.
Natürlich weckt die zunehmende Migration Überfremdungs- und Ich-Ängste. Ihre unversöhnliche Energie beziehen diese jedoch leider nur zu oft aus Mustern unserer Kindheit. Selbstverständlich müssen wir sagen: „Hey – uns gibt es aber auch! Ihr könnt nicht einfach in ein gemachtes Nest kommen und dann verlangen, bei uns müsse alles so sein wie bei Euch. Wozu seid Ihr dann überhaupt hergekommen?“ Wir können selbstverständlich nicht einen ganzen Kontinent oder die ganze Welt bei uns aufnehmen. Aber wer sagt das denn eigentlich? Erst einmal sind es nur konkrete Menschen, die zu uns kommen.
Wir müssen uns natürlich davor schützen, dass kriminelle Strukturen oder religiöse Fanatismen der Herkunftsländer sich auch bei uns festsetzen. Ebenso dürfen wir nicht aufgrund einer falsch verstandenen Liberalität Errungenschaften gefährden oder rückgängig machen, auf die wir zurecht stolz sind und Wert legen. Niemand kann ernsthaft wollen, dass wir irgendwann bei uns die gleichen Verhältnisse haben wie in manchen der Herkunftsländer. Menschen von dort kommen doch zu uns, weil sie bei uns etwas anderes suchen. – und sei es auch „nur“ in wirtschaftlicher Hinsicht, was ja aber in eine gesellschaftliche Gesamtheit verwoben ist.
Das alles sei hier völlig unbestritten. Und doch müssen wir die Zeichen dieser Zeit wahrnehmen. Ansonsten hören wir irgendwann die Einschläge nicht mehr weil wir sie nicht hören wollen. Es geht hier wie bereits geschrieben nicht um Polarisierung. Doch jetzt und hier zusammen kommen und friedlich zusammen in dieser Gesellschaft leben können wir nur, wenn wir in konkreten Begegnungen aufeinanderzugehen statt in Abgrenzung und Ghettoisierung zu verharren. Nur so können wir unsere gegenseitigen Ängste, Wünsche und Hoffnungen verstehen, sie wertschätzend wahrnehmen und miteinander einen gemeinsamen Weg finden. Ansonsten delegieren wir das Problem von uns weg in eine parlamentarische Debatte oder in Gewaltexzesse auf der Straße. Es geht also ganz konkret um Begegnung, in der wir uns gegenseitig erst einmal als Menschen wahrnehmen.
Und hier können wir Religionen und Kirchen einen wichtigen Beitrag leisten. Wir können nicht nur Begegnungen organisieren sondern wir vermögen vor allem das uns „Heilige“ auf unsere jeweilige Weise sichtbar und plausibel zu machen. Dieses „Heilige“ verbindet in seinem inneren Wesenskern übergreifend alle Menschen miteinander, weil wir alle aus demselben von uns „göttlich“ genannten Urgrund herstammen. Im Kern sagen das nicht nur die monotheistischen Religionen wie Judentum, Christentum und Islam sondern ebenso alle polytheistischen oder kosmotheistischen Religionen. Gerade wir Religionen können darum vormachen und darauf hinweisen, dass die unvermeidbare Migration doch gar keine Bedrohung sein muss – zumindest dann nicht, wenn sie im Sinne eines friedfertigen Miteinanders verantwortungsvoll gehandhabt und gelenkt wird. In der gesamten Menschheitsgeschichte waren es Migrationen und Vermischungen, die uns weitergebracht haben, wenn wir die Offenheit anderen gegenüber und Korrekturoffenheit uns selbst gegenüber aufbringen konnten um voneinander zu lernen. Das war im gesellschaftlich-politischen Leben ebenso der Fall wie in der Weiterentwicklung der Religionen. Voraussetzung dafür ist ein gegenseitig wertschätzend-inspirierender Dialog, der auch bereit ist, das eigene „Heilige“ zu durchgründen, es so in seinem Kern aufeinander hin plausibler zu machen und auf dieser Basis eine offene Kommunikation mit dem jeweils anderen zu ermöglichen.