Der Mädchenhirt - Egon Erwin Kisch - E-Book

Der Mädchenhirt E-Book

Egon Erwin Kisch

0,0

Beschreibung

Fassung in aktueller Rechtschreibung Während seiner Zeit als Lokalreporter in Prag kam Kisch die Inspiration für seinen Roman aus dem Zuhälter- und Prostituiertenmilieu Prags. Es sollte sein einziger Roman bleiben. Das Buch sollte übrigens schon recht früh als Stummfilm auf die Leinwand kommen. Kisch, orientiert am "vertikalen Journalismus" eines Kurt Tucholskys, hatte keine Berührungsängste gegenüber den sozialen Außenseitern der damaligen Zeit. Er schilderte das Leben der Nutten, Zuhälter und kleinen Ganoven und des hoffnungslosen Proletariats auf der Suche nach ihrem Stück vom Glück. Der junge Jarda Chrapot, ein Bewohner des heruntergekommenen Vergnügungsviertels von Prag, sieht vermeintlich nur eine Zukunft als Zuhälter vor sich. Gemeinsam mit seinen besten Freunden sitzt er in der gemeinsamen Lieblingsabsteige und schmiedet Pläne für eine bessere Zukunft. Sie versuchen, Mädchen an Land zu ziehen, Mädchen, die für sie auf den Strich gehen sollen. Sie sind Mädchenhirten. Kisch schildert die Erlebnisse der Halbstarken und Kriminellen Prags, als hätte er mit ihnen am Tisch gesessen. Mit 63 Fußnoten Null Papier Verlag

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 224

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Egon Erwin Kisch

Der Mädchenhirt

Ein Roman

Egon Erwin Kisch

Der Mädchenhirt

Ein Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: Reiß Verlag Berlin, 1914 1. Auflage, ISBN 978-3-962816-73-5

null-papier.de/668

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

SIEBENTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

NEUNTES KAPITEL

ZEHNTES KAPITEL

ELFTES KAPITEL

ZWÖLFTES KAPITEL

DREIZEHNTES KAPITEL

VIERZEHNTES KAPITEL

FÜNFZEHNTES KAPITEL

SECHZEHNTES KAPITEL

SIEBZEHNTES KAPITEL

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr

Newslet­ter abon­nie­ren

Der Newslet­ter in­for­miert Sie über:

die Neu­er­schei­nun­gen aus dem Pro­gramm

Neu­ig­kei­ten über un­se­re Au­to­ren

Vi­deos, Lese- und Hör­pro­ben

at­trak­ti­ve Ge­winn­spie­le, Ak­tio­nen und vie­les mehr

htt­ps://null-pa­pier.de/newslet­ter

ERSTES KAPITEL

Ganz un­ver­mu­tet, ganz plötz­lich platz­te das Ma­no­me­ter.

Be­vor noch das Ent­set­zen mit sei­nem läh­men­den Arm die Hei­zer zu be­rüh­ren ver­moch­te, barst der Kes­sel mit ei­nem grau­en­haf­ten, die gan­ze Stadt er­schre­cken­den Auf­schrei.

Auf dem Ver­deck an das Holz­häus­chen ge­lehnt, in dem sich die Schiffs­kas­se be­fand, hat­te En­gel­bert Naak eben zu Karl Duschnitz et­was Be­lang­lo­ses ge­sagt, die bei­den Wor­te »Mu­sik­ka­pel­le spie­len« ge­spro­chen, als die De­to­na­ti­on er­tön­te.

Im sel­ben Au­gen­blick be­gann das Grau­sen die ra­sends­te Or­gie. Ein Kna­be, die Bo­ta­ni­sier­trom­mel1 um­ge­hängt, wur­de in schnur­ge­ra­der Li­nie ge­gen ein Haus des Kais ge­schleu­dert, prall­te vom Bal­kon des ers­ten Stock­wer­kes ab und saus­te als Lei­che auf das Trot­toir; um sei­nen ver­stüm­mel­ten Rumpf schlang sich schräg die grü­ne Schlei­fe mit der Bo­ta­ni­sier­büch­se. Auf die Fahr­bahn des Kais fiel der Kopf ei­nes jun­gen Man­nes, in dem man spä­ter Matt­hi­as Blecha er­kann­te. Mar­cel Bley­er, der wohl in un­mit­tel­ba­rer Nähe des schad­haf­ten Kes­sels ge­stan­den war, wur­de in hun­dert Stücke ge­ris­sen. Die meis­ten Leu­te, dar­un­ter Ro­bert von Dirn­böck, den man bald un­ter den zu­sam­men­ge­bro­che­nen Trüm­mern des Damp­fers »Ca­put reg­ni« als Lei­che her­vor­zog, und En­gel­bert Naak, den man erst neun Tage nach der Ka­ta­stro­phe bei Mel­nik aus dem Flus­se fisch­te, wa­ren in das Was­ser ge­schos­sen wor­den. An­de­re ver­brüh­ten sich an den glü­hen­den Dämp­fen, die grau und rot über die Bret­ter des Wracks zün­gel­ten. An­de­ren wur­den die Rip­pen und Glied­ma­ßen ge­bro­chen, als sie in­mit­ten der dich­ten, atem­be­rau­ben­den Rauch­wol­ke, in­mit­ten von Be­sin­nungs­lo­sig­keit, Weh­kla­gen, Hil­fe­ru­fen, Stöh­nen, Wahn­sinn und Schrei­en die schma­le Stein­stie­ge zu er­klim­men ver­such­ten, die vom Lan­dungs­platz des Moldau­ni­ve­aus zum Kai hin­auf­führt. Wie­der an­de­re – Fritz Fritz, der acht Tage spä­ter un­ter gräss­li­chen Fie­ber­qua­len starb, war un­ter die­sen – wur­den von den schwar­zen Trüm­mern des Schiffs­ka­mins ge­trof­fen, die zu­nächst wie aus ei­nem Kra­ter in die Höhe des Kai­ge­län­des em­por­ge­sto­ßen wor­den wa­ren, oben als Pa­pier­schnit­zel im Wir­bel­wind kreis­ten und dann in ei­nem Ver­der­ben brin­gen­den Sprüh­re­gen auf das Wrack, die Lan­dungs­brücke, den An­le­ge­platz und in den Fluss, auf Pas­sa­gie­re und Schiffs­be­diens­te­te in den Qualm zu­rück­fie­len, Köp­fe zer­schmet­ternd, Ge­sich­ter von der Stirn zum Kinn auf­rei­ßend.

Karl Duschnitz war un­ter den Ge­ret­te­ten. Auch er war in lan­gem Bo­gen aus dem Damp­fer ge­schleu­dert wor­den, mit­ten in den Fluss. Ne­ben der Stel­le, an der er auf­tauch­te, schwamm ein zer­bro­che­ner Tisch des zer­trüm­mer­ten Schif­fes. An die­sem hielt er sich me­cha­nisch acht­und­zwan­zig Mi­nu­ten fest. Wäh­rend die­ser Zeit ver­ge­gen­wär­tig­te er sich gar nicht, was ge­sche­hen war, die Wor­te »Mu­sik­ka­pel­le spie­len«, die En­gel­bert Naak zu­letzt ge­spro­chen hat­te und we­gen ir­gend­ei­nes Lärms nicht zu ei­nem Sat­ze vollen­den konn­te, klan­gen ihm in den Ohren, er wie­der­hol­te: »Mu­sik­ka­pel­le spie­len« und sah ir­gend­ei­ne blau­graue, dich­te Wol­ke auf dem Was­ser. Ganz apa­thisch hielt er sich an der Plan­ke fest, an de­ren Ecke ein in der Hälf­te zer­bro­che­ner Tisch­fuß war. Ihm fiel gar nicht ein, dass er um Hil­fe schrei­en sol­le. Al­ler­dings hät­te ihm dies nichts ge­hol­fen, weil er in der Mit­te des Stro­mes schwamm, zu weit vom Ufer, als dass man in dem Ge­kreisch, Ge­stöh­ne, Ge­äch­ze und Lärm sei­ne Stim­me zu hö­ren, ihn in­mit­ten des To­hu­wa­bo­hus von schwim­men­den Lei­chen, Bal­ken, Bän­ken, Glied­ma­ßen, Tü­chern, Pa­pie­ren und Hü­ten zu se­hen ver­mocht hät­te. Aber er be­dach­te we­der die Zweck­mä­ßig­keit noch die Un­zweck­mä­ßig­keit ei­nes Ver­su­ches, sich be­merk­bar zu ma­chen, son­dern krampf­te sei­ne Hän­de um die Rän­der der Bret­ter und dach­te nach, wie der von En­gel­bert Naak jäh ab­ge­bro­che­ne Satz zu be­en­den sei.

Duschnitz wur­de ge­ra­de da­durch ge­ret­tet, dass er in der Mit­te der Moldau war. Denn so be­merk­te ihn der Flö­ßer Jo­han­nes Chra­pot, der von sei­nem Häu­schen auf der In­sel Kam­pa, also vom lin­ken, dem ent­ge­gen­ge­setz­ten Ufer, zur Un­glücks­stät­te hin­ru­der­te, zu­erst. Der Flö­ßer pack­te Karl beim Obe­r­arm und ver­such­te, ihn in den Kahn zu zie­hen. Das miss­lang, weil Karl Duschnitz mehr tot als le­ben­dig war und kei­ne An­stren­gung mach­te, sei­nem Ret­ter be­hilf­lich zu sein. Er hielt sich noch im­mer an dem Brett fest. Da zog Chra­pot die Ru­der ein, beug­te sich über den Rand des Kah­nes, pack­te den Halb­to­ten, der nun end­lich die Plan­ke losließ, um die Hüf­ten und hob ihn – fast wäre die Nuss­scha­le um­ge­kippt – in das In­ne­re des Schiff­chens. Dort sank Karl Duschnitz ohn­mäch­tig hin. Chra­pot ru­der­te nun, so schnell er konn­te, zur In­sel Kam­pa zu­rück.

Hier stan­den schon Hun­der­te neu­gie­rig Er­reg­ter. Gleich nach der un­ge­heu­ren De­to­na­ti­on wa­ren die Be­woh­ner der In­sel Kam­pa na­tur­ge­mäß an das Ufer ge­eilt, wo sich ih­nen ein wei­ter Aus­blick auf das jen­sei­ti­ge Prag und auf den Fluss öff­net. Hier konn­ten sich jene, die schon ein Erd­be­ben, wenn nicht gar das Her­ein­bre­chen des Jüngs­ten Ta­ges an­ge­nom­men hat­ten, über­zeu­gen, dass Prag noch auf dem al­ten Fleck ste­he, und die stei­len Rauch­wol­ken, die sich in der Ge­gend der Palacky­brücke in den Him­mel reck­ten, be­lehr­ten, wo­her der un­heim­li­che, ge­heim­nis­vol­le Krach ge­kom­men war. In die­ser Rich­tung jag­ten die sich auf­bäu­men­den Pfer­de des Lösch­trains, in die­ser Rich­tung fuh­ren auch drü­ben am Kai die Ret­tungs­wa­gen, de­ren Len­ker be­deu­tungs­voll pfif­fen. Die Män­ner stie­gen in ihre Fi­scher­käh­ne und fuh­ren in der Rich­tung der Qualm­wol­ke ab, ihre Wei­ber schri­en ih­nen, stolz, ein­dring­lich und die Auf­merk­sam­keit auf sich len­kend, War­nungs­ru­fe nach. Aber nie­mand wuss­te, was ge­sche­hen sei. Dy­na­mi­tat­ten­tat, Ein­sturz der Palacky­brücke, Brand ei­ner che­mi­schen Fa­brik? Bis end­lich von der Brüs­tung der Karls­brücke ein Kam­pa­be­woh­ner das auf­klä­ren­de Wort hin­un­ter­rief, das ein Feu­er­wehr­mann ei­nem Po­li­zis­ten zu­ge­ru­fen hat­te: Damp­fer­ex­plo­si­on. Nun ge­wan­nen die Mut­ma­ßun­gen greif­ba­re­re For­men. Es muss­te, das war schon nach der De­to­na­ti­on zu schlie­ßen, eine gräss­li­che Ka­ta­stro­phe ge­we­sen sein, der Re­qui­si­ti­on von Feu­er­wehr und Ret­tungs­am­bu­lanz konn­te man ent­neh­men, dass es auch Tote ge­ge­ben habe. Au­ßer­dem war Pfingst­sonn­tag, der rech­te Tag für Aus­flüg­ler – man konn­te sich die Grö­ße der Ka­ta­stro­phe aus­ma­len. Der Er­ör­te­run­gen und Er­wä­gun­gen wur­de erst ein Ende, als man den Flö­ßer Chra­pot has­tig ru­dernd zur Kam­pa zu­rück­kom­men sah und bald dar­auf er­kann­te, dass in sei­nem Kahn ein Mensch lie­ge.

War schon frü­her die Ge­fahr vor­han­den ge­we­sen, dass von den Neu­gie­ri­gen, die zu Hun­der­ten auf der durch kei­ner­lei Ge­län­der ge­schütz­ten Bö­schung zwi­schen der Ro­land­sta­tue und der Kam­pa-Real­schu­le schräg stan­den, sich quetsch­ten, dräng­ten und stie­ßen, je­mand in das Was­ser ge­sto­ßen wer­de, so stei­ger­te sich die Ge­fähr­lich­keit der Si­tua­ti­on noch, als man des Flö­ßers Chra­pot an­sich­tig wur­de; die Män­ner und Bur­schen woll­ten an den Rand der Bö­schung hin­un­ter, um dem Heran­kom­men­den beim Lan­den be­hilf­lich zu sein, die Frau­en und Kin­der, die vor­ne stan­den, woll­ten teils aus Neu­gier­de nicht Platz ma­chen, teils konn­ten sie sich wirk­lich nicht von der Stel­le rüh­ren, da sie ein­ge­keilt wa­ren. Schließ­lich kam Ord­nung in die wo­gen­den und schie­ben­den Rei­hen, es ge­lang ei­nem Flö­ßer­bur­schen, die am Kiel des Chra­pot­schen Kah­nes hän­gen­de Ket­te zu er­fas­sen und das Boot fest an das Land zu zie­hen.

Ei­ni­ge wa­ren be­hilf­lich, den Be­wusst­lo­sen aus dem Boot zu he­ben, und tru­gen ihn zu Chra­pots Woh­nung. Dor­thin war in­zwi­schen auch das Weib des Flö­ßers ge­kom­men. Sie sperr­te die Türe zu dem Zim­mer auf, das links ne­ben der Kü­che war, und man leg­te den Frem­den auf den Tisch. Die Stu­be war voll von Neu­gie­ri­gen, und auch auf der Stie­ge dräng­ten sich sol­che. Chra­pot schob al­les zum Hau­se hin­aus und mach­te sich dann dar­an, den Be­wusst­lo­sen zum Le­ben zu er­we­cken. Kaum hat­te er die Schlä­fe Karls ein­ge­rie­ben, als die­ser die Au­gen öff­ne­te und tief auf­at­me­te. »Leg ihn zu Bett und hei­ze ein«, sag­te der Flö­ßer und ent­fern­te sich ei­lig, um von Neu­em zur Un­glücks­stät­te hin­zu­fah­ren. Auf die Wi­der­re­de sei­nes Wei­bes hör­te Jo­hann Chra­pot nicht.

Frau Chra­pot schloss die Tür, zerr­te des Frem­den Stie­fel von den Fü­ßen, sei­ne Klei­der und Wä­sche vom Lei­be. Karl Duschnitz lag apa­thisch auf dem Ti­sche und ließ al­les mit sich ge­sche­hen. Auch als die Chra­pot mit ih­rem gan­zen Kör­per den Tisch ruck­wei­se bis zum Bett schob, reg­te er sich nicht. Er schau­te mit wei­ten Au­gen auf die Zim­mer­de­cke und at­me­te tief. Als ihn aber das Weib an­pack­te, um ihn ins Bett zu le­gen, schau­te er sich zu­ckend in der Flö­ßer­stu­be um und frag­te: »Was ist?«

»Ihr seid bei der Damp­fer­ex­plo­si­on ins Was­ser ge­fal­len, und mein Mann hat Euch her­ge­bracht. Das ist un­se­re Woh­nung. Ich will Euch jetzt ins Bett le­gen.«

Karl Duschnitz drück­te sei­nen lin­ken Zei­ge­fin­ger der Län­ge nach auf die Schlä­fe und starr­te vor sich hin. Er be­sann sich lan­ge. Nach und nach schi­en ihm der Zu­sam­men­hang der Er­eig­nis­se klar zu wer­den. Wie die Ta­fel­run­de auf dem Damp­fer zur Pfingst­fahrt ver­sam­melt, das Schiff zur Ab­fahrt be­reit war, wie En­gel­bert Naak ir­gen­det­was von ei­ner Mu­sik­ka­pel­le sprach, plötz­lich ein bei­spiel­los furcht­ba­rer Knall er­tön­te, wie er sich dann auf dem Was­ser fand, eine Plan­ke um­fass­te und dann von ei­nem frem­den Mann in des­sen Boot ge­zo­gen wur­de.

»Wo ist Euer Mann?«

»Der ist fort«, sagt Chra­pots Frau zer­streut. Sie hat den frem­den Herrn, der ein so zar­tes Ge­sicht, so schma­le, durch­schei­nen­de Hän­de und einen teu­ren al­ten Ring auf dem Fin­ger hat, den frem­den jun­gen Herrn, des­sen er­staun­lich fei­ne Wä­sche und Klei­der auf dem Stuh­le lie­gen, un­ver­wandt an­ge­se­hen, wäh­rend er er­wach­te. Da er sie nun fragt und sie ihm ant­wor­tet, weilt ihr Sin­nen an­ders­wo.

Den Blick fühlt Karl Duschnitz. Er er­wi­dert ihn scheu, ängst­lich und sieht ein jun­ges Weib. Et­was möch­te er sa­gen, ir­gen­det­was sa­gen – das Ge­spräch stockt schon un­heim­lich lan­ge. Müh­se­lig zwingt er sich zu ei­nem Satz, aber wäh­rend er spricht, ist ihm, als ob sein Be­wusst­sein im Was­ser wäre: »Wo­hin – wo­hin ist denn – wo ist denn Euer Mann?«

»Der ist wie­der zum Damp­fer hin­ge­fah­ren. Auf mich woll­te er nicht hö­ren. Was küm­mert sich der um mein Re­den! Der küm­mert sich gar nicht um mein Re­den …«

Nur et­was spre­chen, ir­gen­det­was fra­gen, sie sind so un­heim­lich, die­se Ge­sprächs­pau­sen.

»Ihr – habt auch Kin­der?«

»Nein, Kin­der ha­ben wir nicht. Mein Mann ist krank …« Die Frau sagt den Satz im Ton­fall der Re­si­gna­ti­on. Dann aber schaut sie auf, als ob sie ihn als Ar­gu­ment auf­ge­fasst wis­sen woll­te. Er­mun­ternd.

Duschnitz fühlt, wie sein fah­les Ge­sicht jäh von Rot über­strömt wird. Ein jun­ges Weib. Eine der­be Nase, aber kein häss­li­ches Ge­sicht. Ge­wiss nicht. Eher hübsch. Ja, hübsch. Plötz­lich merkt er, und es scheint ihm, als träu­me er das, dass ihre Au­gen die sei­nen be­ob­ach­ten, dass sie er­ken­nen möch­te, wie die Prü­fung ih­res Ge­sich­tes aus­fal­len wer­de. Er­tappt glei­tet sein Blick ab, tas­tet sich müh­se­lig über die in eine blau­ge­streif­te Kat­tun­blu­se ein­ge­zwäng­ten Brüs­te, über star­ke Hüf­ten. Eine dral­le Per­son. Und er ist da al­lein in der Stu­be. Und nackt … Zit­ternd sucht er nach der De­cke. Die Frau hat sich an den Bett­rand ge­setzt und at­met ein hei­ßes Lä­cheln. »Mu­sik­ka­pel­le spie­len«, er­in­nert er sich un­ver­mit­telt. Sei­ne Ge­dan­ken wer­den im­mer wir­rer. Und er zieht die Frau an sich, zieht sie an sich.

Be­häl­ter zum wis­sen­schaft­li­chen Sam­meln von Pflan­zen  <<<

ZWEITES KAPITEL

Man kennt in Prag das Duschnitz­sche Haus. Das große, rote Fir­men­schild des Sel­chers, der heu­te im Duschnitz­schen Hau­se in der Rit­ter­gas­se La­den und Werk­stät­te in­ne­hat, mag die prunk­vol­le Wür­de der Fassa­de stö­ren, die durch Ruß, Staub und Wit­te­rung fast bein­schwarz ge­wor­den ist – es bleibt doch ei­nes der schöns­ten Ge­bäu­de der Stadt. Es hat nicht die höh­nen­den und ein­schüch­tern­den Ka­rya­ti­den1 mit Skla­ven­ge­stal­ten, die die Bal­ko­ne der Klein­seit­ner Adel­spa­läs­te auf ih­ren Na­cken hal­ten müs­sen, viel­mehr ist hier der Tor­bo­gen von zwei un­per­sön­li­chen Eck­pi­las­tern flan­kiert, die durch ein Ge­sim­se in der Mit­te un­ter­teilt sind und sich am obe­ren Ende in ein ka­pi­tälar­ti­ges Schne­cken­ge­win­de ein­rol­len. Por­tal, Fens­ter und Fassa­de sind über­strömt von fi­gu­ra­len Zier­ra­ten und von ar­chi­tek­to­ni­schen und Pflan­zen-Or­na­men­ten, die, in aus­drucks­vol­lem, fla­chem, aber kräf­tig ein­ge­schnit­te­nem Re­lief be­han­delt, auf bei­den Sei­ten der Fassa­de, an je­dem Fens­ter und an je­der Hälf­te des To­res ganz ver­schie­den sind. Ein aus dem Vol­len schöp­fen­der Stein­metz hat sich hier, zur­zeit, als nie­der­län­di­sche Kup­fer­sti­che ih­ren Ein­fluss auf die Früh­re­naissance mäch­tig gel­tend zu ma­chen be­gan­nen, im Auf­tra­ge ei­nes rei­chen Bau­herrn künst­le­risch aus­zu­le­ben ver­sucht, wäh­rend die Kunst des Archi­tek­ten vor­nehm­lich aus dem ma­je­stä­ti­schen Gie­bel und aus den Ar­ka­den spricht, die im Hofe das ers­te Stock­werk mit kur­z­en, von Rus­ti­ka­b­än­dern um­wun­de­nen Säu­len ein­schlie­ßen.

Auch die erb­ein­ge­ses­se­nen Pra­ger, die tau­send­mal an dem Duschnitz­schen Hau­se vor­über­ge­gan­gen sind und der herr­li­chen Barock­häu­ser mehr ken­nen, pfle­gen nie vor­bei­zu­ei­len, ohne mit ei­nem Blick den Skulp­tu­ren an der schwar­zen Front ihre Re­ve­renz zu be­wei­sen.

Alte Deutsch­pra­ger, de­nen sich die in je­der klei­ne­ren Stadt wu­chern­de An­teil­nah­me, Neu­gier­de und Tratsch­sucht im Lau­fe der Jah­re schon zur Lust am Re­mi­nis­zen­zen­er­zäh­len ge­wan­delt hat, wis­sen, wenn sie am Duschnitz­schen Hau­se vor­bei­kom­men, ih­ren jün­ge­ren Beglei­tern vie­ler­lei His­to­ri­en. Sie be­rich­ten von ei­nem der rei­chen Duschnit­ze, der ein­mal vor hun­dert Jah­ren in der Nacht durch Läu­ten an sei­ner Woh­nungs­tür aus dem Schla­fe ge­weckt wur­de und sich, als er öff­ne­te, dem Kai­ser Franz ge­gen­über­sah, der ei­gens in der Post­kut­sche aus Wien nach Prag ge­kom­men war, um ihn zur Be­wil­li­gung ei­ner Staats­an­lei­he zu be­we­gen, sie er­zäh­len von zwei Brü­dern Duschnitz, die ein­an­der ein­mal auf dem Post­amt be­geg­net wa­ren, da ih­nen bei­den gleich­zei­tig – un­ab­hän­gig von­ein­an­der – der Ein­fall ge­kom­men war, einen aus­wär­ti­gen Kom­mit­ten­ten drin­gend mit dem Ab­schluss ei­nes Auf­tra­ges zu be­trau­en. Auch von dem letz­ten Spros­sen die­ses Alt­pra­ger deut­schen Pa­tri­zi­er­ge­schlechts wis­sen sie, der schon bei Leb­zei­ten sei­ner El­tern durch und durch de­ka­dent und sen­ti­men­ta­lisch und ein ro­man­ti­scher Nichts­tu­er ge­we­sen sei, so­dass sein Va­ter, Ro­de­rich Duschnitz, die Hoff­nung auf­ge­ben muss­te, je­mals in Karl einen Chef des Bank­hau­ses D. Duschnitz zu se­hen, und sich zum Ver­kauf des Ge­schäf­tes an eine Bank ge­nö­tigt sah; kurz nach die­ser Trans­ak­ti­on sei der alte Ro­de­rich ge­stor­ben. Der aus der Art ge­schla­ge­ne Karl Duschnitz be­woh­ne jetzt das Haus in der Rit­ter­gas­se, ohne ir­gend­ei­ner nütz­li­chen Be­schäf­ti­gung zu ob­lie­gen.

Die jun­gen Leu­te, ehe­ma­li­ge Mit­schü­ler und Stu­dien­ge­nos­sen des Karl Duschnitz, die des­sen Va­ter in das Haus ge­zo­gen hat­te, um dem me­lan­cho­li­schen, grüb­le­ri­schen Karl fröh­li­che Ge­sell­schaft zu sein, hat­ten sich die­ser Auf­ga­be nach al­len Kräf­ten zu ent­le­di­gen ge­sucht, in­dem sie im gast­freund­li­chen Duschnitz­schen Hau­se all­nach­mit­täg­lich und all­abend­lich zu al­ler­hand Spie­len und Spä­ßen und zum Aben­teu­er­aus­tausch zu­sam­men­ge­kom­men wa­ren und sich selbst fa­mos un­ter­hal­ten hat­ten. Nach dem Tode des al­ten Ro­de­rich Duschnitz hat­ten sie all­mäh­lich so­gar eine fröh­li­che Selbst­herr­schaft in dem Hau­se in­stal­liert, ohne sich ir­gend­wie da­durch ab­schre­cken zu las­sen, dass alle Auss­trah­lun­gen ih­rer über­mü­ti­gen Ju­gend­kraft in ih­rem jun­gen, von ih­nen al­len ge­lieb­ten Gast­freund kei­nen Wi­der­schein fan­den, dass die­ser sei­nes ihm selbst ver­hass­ten Han­ges zur zer­mar­tern­den Schwer­mut durch­aus nicht le­dig zu wer­den ver­moch­te.

Karl Duschnitz war ge­gen alle lie­bens­wür­dig, nett und ge­fäl­lig ge­we­sen, hat­te ihr Be­stre­ben voll an­er­kannt und sich auch, als er sich über­zeugt hat­te, dass die­ses sei­nen Freun­den kein Op­fer sei, kei­ner­lei Sor­ge mehr dar­über ge­macht, dass er ih­nen Mühe be­rei­te. Er hat­te sich von kei­nem Spaß aus­ge­schlos­sen, zu dem sie ihn auf­for­der­ten, aber je­der im Freun­des­kreis hat­te es selbst ge­fühlt, dass Karl al­len die­sen Ver­gnü­gun­gen in­ner­lich fremd sei, ja so­gar manch­mal Ab­scheu da­vor emp­fin­de.

Nur bei Ak­tio­nen, bei de­nen Frau­en im Spie­le wa­ren, hat­te Karl Duschnitz mit sei­nem sanf­ten, aber un­über­wind­ba­ren Wi­der­stand jede Be­tei­li­gung ab­ge­lehnt. Gera­de zu Un­ter­hal­tun­gen mit Frau­en hat­ten ihn sei­ne Freun­de an­fäng­lich, be­vor sie die Uner­schüt­ter­lich­keit die­ser Wei­ge­rung er­kannt hat­ten, be­son­ders leb­haft zu über­re­den ver­sucht, weil sie in ihm ein hef­ti­ges In­ter­es­se zu le­sen ver­meint hat­ten, wenn sie von ih­ren Aben­teu­ern mit Da­men und Däm­chen er­zähl­ten. Die­ses In­ter­es­se war auch wirk­lich vor­han­den ge­we­sen, aber eben die kri­ti­schen, par­odie­ren­den und im letz­ten Grund re­nom­mis­ti­schen Lie­bes­me­moi­ren der Freun­de stie­ßen ihn selbst von der Be­tä­ti­gung in sol­chen Aben­teu­ern ab und nähr­ten sei­ne aus Ro­ma­nen und par-di­stan­ce-Beo­b­ach­tun­gen ge­won­ne­ne Ein­sicht, dass alle die­se Ver­gnü­gun­gen bei den Män­nern nur ei­nem Sport des Er­lan­gens und ei­nem ver­geb­li­chen Mü­hen, den Sin­nen Be­frie­di­gung zu schaf­fen, ent­spran­gen, wäh­rend bei den »be­sieg­ten« Frau­en gleich­falls be­rech­nen­de Ge­winn­sucht, ver­mengt mit Sinn­lich­keit, das Mo­tiv der Un­ter­wer­fung war – Ur­sa­chen, die in ver­lo­ge­ner Wei­se da­durch ka­schiert wur­den, dass die Män­ner pro for­ma Zu­si­che­run­gen dau­ern­der Lie­be äu­ßern muss­ten, wäh­rend die Frau­en un­auf­ge­for­dert ewi­ge Treue schwo­ren, Ehr­bar­keit und ge­dank­li­che Tie­fe heu­chel­ten, nach dem Ge­wäh­ren und beim Ab­schied schluchz­ten.

Sei­ne schlaflo­sen Näch­te und sei­ne wür­gen­den Träu­me hat­ten dem Wei­be ge­hört. Er hat­te sich ver­spro­chen, dass sei­ne viel be­spöt­tel­te, fast un­na­tür­li­che Un­be­rührt­heit durch ein Wun­der ge­lohnt wer­den müs­se, durch ir­gend­ein Wun­der see­li­scher Hin­ga­be, un­ge­heu­chel­ter Lie­be und volls­ter Un­schuld, durch ir­gend­ein fun­kelnd wei­ßes Wun­der von blü­te­num­kränz­ter Nackt­heit, das alle Mar­tern, alle Fes­seln und alle Düs­ter­keit sei­nes Ge­mü­tes von ihm neh­men, ihn be­frei­en und zum Herrn über vie­le Frau­en ma­chen wer­de, was er lo­dernd er­sehn­te. Da­für hät­te er mehr als al­len sei­nen Reich­tum ge­ge­ben, für den er sich oh­ne­dies nichts kau­fen konn­te. Die­ser wir­re Glau­be an das Wun­der, das ihn von sei­ner fast psy­cho­pa­thi­schen Skep­sis und Schüch­tern­heit ret­ten wer­de, war die ein­zi­ge Hoff­nung ge­we­sen, die er sich nicht selbst zu zer­stö­ren ge­wagt hat­te, um nicht in Verzweif­lung sei­ner sonst für ihn wert­lo­sen Exis­tenz ein Ende zu ma­chen.

In die­ser mo­no­ma­nen Hoff­nung war Karl Duschnitz sie­ben­und­zwan­zig Jah­re alt ge­wor­den, als er mit sei­nen Freun­den den Damp­fer »Ca­put reg­ni« be­stieg, um den Pfingst­sonn­tag ir­gend­wo in ei­nem Wal­de ober­halb Prags zu ver­brin­gen. Be­vor noch die Lan­dungs­brücke des dicht be­setz­ten Schif­fes ein­ge­zo­gen wor­den war, hat­te sich die gräss­li­che Ka­ta­stro­phe er­eig­net, die un­sag­ba­res Leid über die Stadt brach­te und auch den Freun­des­kreis zer­stör­te. Au­ßer Karl Duschnitz war nie­mand aus sei­nem Krei­se da­von­ge­kom­men.

Aus der Flö­ßer­woh­nung war Karl Duschnitz im Wa­gen in sein Haus in der Rit­ter­gas­se ge­fah­ren. Al­lein. Er hat­te jede Beglei­tung ab­ge­lehnt. Zu Hau­se hat­te er sich un­wohl ge­fühlt. Dann hü­te­te er drei Wo­chen, leicht fie­bernd, das Bett. Das Schick­sal sei­ner Fahrt­ge­nos­sen woll­te man ihm ver­heim­li­chen. Aber er ließ kei­ne Ruhe. Was mit Fritz Fritz ge­wor­den sei, mit Matt­hi­as Blecha, mit Naak, Dirn­böck und den an­de­ren woll­te er wis­sen. So brach­te man ihm nach und nach scho­nend bei, dass sie alle tot sei­en. Als man Naak als Lei­che aus der Moldau­mün­dung fisch­te, woll­te man es ihm schon nicht mehr mit­tei­len. Er hat­te sich bei je­der der vie­len To­des­mel­dun­gen zu sehr auf­ge­regt. Aber schließ­lich be­kam es Karl durch sei­ne Fra­gen doch her­aus, dass man auch das Ge­schick En­gel­bert Naaks ken­ne. Und nun nahm er die Bot­schaft vom Tode des letz­ten der Ta­fel­run­de apa­thisch auf.

Nach Karls Hei­lung war sein Weg, das Haus sei­nes Ret­ters zu su­chen. Das war leicht, denn am Ufer der Kam­pa, die ei­gent­lich kei­ne In­sel, son­dern eine Halb­in­sel ist, ste­hen we­ni­ge klei­ne Häu­ser. Es sind nur große, drei­stö­cki­ge Miets­häu­ser dort, und wenn der Ge­such­te in ei­nem von die­sen ge­wohnt hät­te, dann wäre es nicht leicht ge­we­sen, es her­aus­zu­fin­den. Denn die­se Häu­ser sind alle gleich in ih­rer Selt­sam­keit. Da die eine Front nach vor­ne auf die mit großen Lin­den be­wach­se­ne und un­ge­pflas­ter­te Haupt­stra­ße blickt, auf der die Kin­der mit Ku­geln »La­be­da«2 spie­len und die Töp­fer ihre Märk­te ab­hal­ten, und die an­de­re Front ge­gen die Moldau ge­rich­tet und von der Karls­brücke aus sicht­bar ist, so wuss­ten die Er­bau­er die­ser bil­li­gen Häu­ser nicht, wel­chen Teil sie als Rück­sei­te, wel­chen als Vor­der­sei­te de­kla­rie­ren soll­ten. Der Aus­weg aus die­sem Di­lem­ma war durch die Er­wä­gung ge­ge­ben, dass Mör­telan­wurf und Fries­ver­zie­rung teu­re Din­ge sei­en. So mach­te man denn über­haupt kei­ne Vor­der­front.

In­mit­ten die­ser Ge­bäu­de war das wür­fel­för­mi­ge Häu­schen Chra­pots nicht zu ver­feh­len, und Duschnitz konn­te sich die pein­li­chen Fra­gen nach der Woh­nung des ihm dem Na­men nach un­be­kann­ten Flö­ßers er­spa­ren. Schräg ge­gen­über der Schen­ke »Zur Höl­le«, in der Kö­nig Wen­zel in der To­des­nacht sei­nes Va­ters, des vier­ten Kai­sers Karl, mit der Dir­ne Bož­ka Ves­na ge­zecht und um ih­ret­wil­len blu­tig ge­rauft hat­te, war es ge­le­gen. Frau Chra­pot war al­lein zu Hau­se. Ihr Mann sei fort, auf dem Floß nach Ham­burg. Wann er zu­rück­kom­me? Nun, so fünf Wo­chen wer­de es noch dau­ern. Und wie­der der er­mu­ti­gen­de Blick von da­mals. Ohne Wir­kung heu­te. Karl Duschnitz nann­te sei­nen Na­men und sei­ne Adres­se. Er ver­rei­se jetzt nach dem Sü­den und wer­de nach der Rück­kunft sei­nem Ret­ter ein Geld­ge­schenk über­brin­gen. Das Geld hat­te er bei sich; aber er woll­te es dem Wei­be nicht über­ant­wor­ten, das sol­che Bli­cke schick­te. Er ging.

Auf ei­ner der dal­ma­ti­ni­schen In­seln nahm er Auf­ent­halt. »Im Sü­den, am Meer wer­den Sie sich von Ih­rer Auf­re­gung er­ho­len«, so hat­te der ärzt­li­che Rat ge­lau­tet. Aber die Wel­len des Quar­ne­ro wa­ren nicht hell­blau, son­dern von grü­nem Dun­kel, fast schwarz. Karl Duschnitz sah dort kein sanf­tes Ge­sta­de, das die Was­ser um­spült hät­ten, son­dern nur zer­klüf­te­te, zer­ris­se­ne Klip­pen und stei­le Fel­s­ab­hän­ge, an wel­che die flüs­si­gen Mas­sen mit Ge­tö­se wild her­an­stürm­ten, sich gei­fernd auf­bäum­ten, von de­nen sie dröh­nend zu­rück­fie­len. So weit sei­ne Seh­kraft reich­te, ver­zehr­te sich das Meer in fort­wäh­ren­dem Kamp­fe mit sich selbst, in ste­ter Un­ru­he, in ste­tem Ge­wo­ge. Das Ele­ment, das da wie­der und wie­der ge­gen den stei­len Strand tob­te, auf dem er stand, war das­sel­be, das erst vor Kur­zem den Tod sei­ner Freun­de ge­heischt, sei­nen ei­ge­nen Tod ver­schmäht hat­te. Wa­rum hat­ten ge­ra­de ihn die­se gräss­li­chen Fän­ge los­ge­las­sen, die noch jetzt zu ihm auf die Klip­pen her­auf­grif­fen, Hass, Gei­fer, Dro­hun­gen und Macht ver­sprit­zend, wie­der zu­rück­schlu­gen und sich im­mer hö­her em­por­reck­ten, als woll­ten sie ihm zei­gen, dass sie auch jetzt noch ihr Op­fer um­kral­len könn­ten, wenn sie es woll­ten? Sie woll­ten es nicht. Den le­bens­hung­ri­gen Freun­den hat­ten sie gie­rig das Le­ben ge­nom­men. Aber ihn, der nicht am Le­ben hing, hat­ten sie in der­sel­ben Stun­de heim­tückisch sei­nes ein­zi­gen Be­sit­zes be­raubt: des Glau­bens an das Wun­der.

Heiß­kal­te Schau­er durch­zuck­ten ihn, wenn er sich ver­ge­gen­wär­tig­te, wie er sich in wir­rem Den­ken das Wun­der sei­ner ers­ten, be­frei­en­den Hin­ga­be er­träumt hat­te, und wie er in der glei­chen Stun­de, da ihn ein Mann vom Tode ge­ret­tet, ihm das Wei­ter­le­ben für die Er­war­tung des Wun­ders ge­schenkt hat­te, Le­bens­ret­tung und Gast­freund­schaft noch halb be­wusst­los, dumpf mit Ehe­bruch ge­lohnt. Ein dral­les, un­be­frie­dig­tes, ehe­bre­che­ri­sches Flö­ßer­weib – das soll­te der Lohn für sei­ne Ent­sa­gung sein, da­für hat­te er sei­ne Un­be­rührt­heit hin­ge­ge­ben, das war sei­ne ers­te »Lie­be«, von der die Be­frei­ung kom­men soll­te.

Karl Duschnitz be­gann, das Tem­pe­ra­ment sei­ner to­ten Freun­de zu er­seh­nen. Wie hät­ten die mit be­hag­li­chem La­chen ein sol­ches Aben­teu­er zum Bes­ten zu ge­ben ver­mocht! Wie hät­ten sie ihn be­glück­wünscht, sei­ne Vor­wür­fe spieß­bür­ger­lich und skru­pu­lös ge­schol­ten!

Es half ihm nichts, dass er sich tau­send­mal sag­te, dass sein Glau­ben an das be­frei­en­de Wun­der ein un­er­füll­ba­rer Irr­wahn, ein mys­tisch un­kla­rer Ge­dan­ke, und dass jene Stun­de in der Flö­ßer­woh­nung eine rea­le Be­lang­lo­sig­keit ge­we­sen sei – es half ihm nichts, dass er sich tau­send­mal wie­der­hol­te: Nur da­durch, dass ihm sei­ne Krank­haf­tig­keit als sol­che be­wusst sei, un­ter­schei­de er sich von vollends Geis­tes­kran­ken –, im­mer wie­der kehr­ten Verzweif­lung, Ent­täu­schung und Selbst­vor­wür­fe mit der grau­sen Be­harr­lich­keit zu­rück, mit der die Wo­gen schrei­end an das Ufer klatsch­ten. Wie glü­hen­de Schrau­ben la­gen die Adern in sei­nen Schlä­fen.

Drei Mo­na­te ver­brach­te Karl Duschnitz so sich selbst zer­wüh­lend am zer­wüh­len­den Meer. Dann kehr­te er zu­rück. Man konn­te nicht fin­den, dass er sich im Sü­den er­holt habe. Aber er ver­moch­te sich zu Ge­sprä­chen mit den Ver­wand­ten zu zwin­gen, die ihn auf­such­ten. Nur den Fra­gen nach der Ka­ta­stro­phe wich er aus. »Las­sen wir das The­ma, das er­regt mich zu sehr.« Und sprach von et­was an­de­rem.

Als er wie­der in das Haus kam, in dem der Flö­ßer Jo­hann Chra­pot wohn­te, be­geg­ne­te ihm des­sen Gat­tin auf der Paw­lat­sche.3

»Ich habe mei­nem Mann al­les ge­sagt.« Und als Duschnitz sie groß an­schau­te, füg­te sie noch hin­zu: »Er hät­te es bald auch selbst be­merkt.«

Er­b­lasst drück­te Karl Duschnitz sei­ne Hän­de an das Ge­län­der, als er das er­fuhr.

»Was – was – hat – Euer Mann – er­wi­dert?«

»Na, er hat sich halt ge­är­gert. Aber er hat sich doch selbst im­mer ein Kind ge­wünscht. Üb­ri­gens«, das Weib schlägt trot­zig den Kopf zu­rück, »hab ich zu Hau­se zu re­den.« Und dann: »Kom­men S’ her­ein, er ist drin­nen im Zim­mer.«

Jo­hann Chra­pot liegt ohne Rock auf ei­nem so­fa­ähn­li­chen Mö­bel­stück.

»Steh auf, der Herr Duschnitz ist da.«

»Herr Chra­pot, ich kom­me, um Ih­nen tau­send­mal zu dan­ken – und Sie um Ver­ge­bung zu bit­ten.«

»No jo«, brummt der Flö­ßer, der beim Ein­tritt des Frem­den auf­ge­stan­den ist, mit erns­tem Ge­sicht und denkt nach, was sich da so er­wi­dern lie­ße.

Aber Karl Duschnitz kommt ihm zu­vor. Er zieht die Brief­ta­sche und reicht dem Chra­pot zwei Bank­no­ten. Der nimmt sie und dreht sich mit sehr großen Au­gen nach sei­nem Wei­be um. Sein Ge­sicht glüht jetzt vor freu­di­ger Auf­re­gung.

»Tau­send Gul­den.« Der Ge­dan­ke, dass er jetzt tau­send Gul­den habe, ist ihm über die Lip­pen ge­huscht. Dann be­müht er sich, ein wür­di­ges Lä­cheln zu zei­gen. »No jo«, sagt er laut und trägt das Geld zum Schrank.

Skulp­tur ei­ner weib­li­chen Fi­gur mit tra­gen­der Funk­ti­on in der Archi­tek­tur.  <<<

Mur­meln spie­len.  <<<

bal­kon­ar­ti­ge Ga­le­rie, meist im Hof ei­nes Hau­ses.  <<<

DRITTES KAPITEL

Auf der Kam­pa-In­sel war des Mun­kelns kein Ende. Dass der klei­ne Ja­ros­lav, der Jar­da, nicht der Sohn des kran­ken Flö­ßers Chra­pot sei, wuss­te man; man wuss­te auch je­nen Mann, der da­mals halb tot vom Wrack her­über­ge­bracht wor­den war, mit der Ge­burt des Kin­des in Zu­sam­men­hang zu brin­gen. Wer aber war je­ner Frem­de ge­we­sen? Die Fra­ge war der Er­ör­te­rung wert. Frau Chra­pot trug jetzt einen großen Da­men­hut, die Klei­der des Klei­nen wa­ren in ei­nem Kin­der­kon­fek­ti­ons­ge­schäft ge­kauft – nicht wie die Kleid­chen der an­de­ren Flö­ßer­kin­der aus Wä­sche­stücken oder An­zü­gen der El­tern plump zu­recht­ge­näht. Mit je­nem Schiff­brü­chi­gen war also bei den Chra­pots der Reich­tum ein­ge­kehrt, und man hät­te ver­teu­felt ger­ne ge­wusst, wer er ge­we­sen sei. Aber die Chra­po­tin ver­riet nichts. Sie war, wie man so sagt, mit al­len Sal­ben ge­schmiert. Als sie le­dig war, war sie Fa­brik­ar­bei­te­rin in Hol­le­scho­witz ge­we­sen, und die Flö­ßer, die hin­ter dem Het­zin­sel­wehr an­leg­ten, um beim »Ba­stecky« den letz­ten Trunk Pra­ger Bie­res zu tun und ihre Flö­ße zum Re­mor­queur­trans­port1 an­ein­an­der­zu­kup­peln, hat­ten sie ge­kannt. Man­cher brüs­te­te sich auf der Wei­ter­fahrt la­chend ei­nes Aben­teu­ers mit ihr, des­sen Zeu­gen die Gras­bü­schel auf der Ma­ni­na-Hei­de oder die Aka­zi­en­sträu­cher der Het­zin­sel ge­we­sen sei­en. Den Flö­ßer Chra­pot, der nicht mehr jung und kei­ner der Klügs­ten ge­we­sen war, hat­te sie oft ge­hän­selt, be­vor er be­gann, ihre Spä­ße da­mit zu er­wi­dern, dass er ihr nach­stell­te. Sie mach­te sich dar­über lus­tig, und la­chend er­kun­dig­ten sich die Flö­ßer, wenn sie sich auf ih­rer Tour nachts auf das Floß oder un­ter die Wirts­haus­ti­sche in Je­di­bab und Lau­be zum Schla­fe nie­der­streck­ten, bei Chra­pot, was wohl jetzt sei­ne An­ge­be­te­te ma­che, ob sie sei­ner in Treue ge­den­ke. All­mäh­lich hat­te aber das schlaue Fa­brik­mä­del über die Nach­stel­lun­gen des Flö­ßers zu spöt­teln auf­ge­hört. Sie be­dach­te, dass sich hier eine Ge­le­gen­heit zum Hei­ra­ten bie­te, wie sie nicht so bald wie­der­keh­ren wer­de. Und ei­nes Ta­ges wohn­te sie als le­gi­ti­me Frau Chra­pot auf der In­sel Kam­pa. Die Kam­pa-Leu­te, de­ren El­tern und Fa­mi­li­en schon dem Holz­schwemm­be­trieb ent­stamm­ten, sa­hen das ehe­ma­li­ge Fa­brik­mä­del, die »Fa­britsch­ka«, der ei­ner der ih­ren so täp­pisch ins Garn ge­gan­gen war, nicht ger­ne un­ter sich, ins­be­son­de­re die Frau­en moch­ten sie nicht lei­den. Frau Chra­pot hat­te ih­rer­seits die »Pods­ka­la­ci«2