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Berlin. In einem Neuköllner Abbruchhaus wird eine grausam zugerichtete Leiche gefunden. Für Kommissar Kowalski ist sofort klar: Dieser Fall wird kompliziert. Als einflussreiche Politiker die Ermittlungen zu behindern versuchen, recherchiert er auf eigene Faust – und stößt auf eine düstere Geheimdienstaktion in Bulgarien, der zahlreiche Oppositionelle zum Opfer fielen. Die Fernsehjournalistin Dagmara Bosch, die als Kind aus Wrocław nach West-Berlin kam, erkennt eine Verbindung zu ihrer eigenen Vergangenheit: 1980 verlor sie ihren Vater, einen Solidarność-Aktivisten, bei einem mysteriösen »Unfall« in Bulgarien. Gemeinsam mit Kowalski begibt sie sich auf eine gefährliche Spurensuche.
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Seitenzahl: 757
Veröffentlichungsjahr: 2025
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MAGDALENA
PARYS
MAGDALENA
PARYS
Aus dem Polnischenvon Lothar Quinkenstein
Meinen Eltern
Ich bin ein Berliner.
John F. Kennedy
FAKTEN
PRÄLUDIUM
KAPITEL I
KAPITEL II
KAPITEL III
KAPITEL IV
KAPITEL V
KAPITEL VI
KAPITEL VII
KAPITEL VIII
KAPITEL IX
KAPITEL X
KAPITEL XI
KAPITEL XII
KAPITEL XIII
KAPITEL XIV
KAPITEL XV
KAPITEL XVI
KAPITEL XVII
EPILOG
LIEBE/R LESER*IN!
ANMERKUNGEN DES ÜBERSETZERS
Im Jahr 2010 wurden in der Stasi-Unterlagen-Behörde an die sechs Kilometer Akten vernichtet (20 Millionen Seiten). Schätzungen gehen davon aus, dass zur Zeit des Eisernen Vorhangs um die 4.500 Personen versuchten, über die Grenzen Bulgariens aus dem Ostblock zu entkommen. Etwa 100 von ihnen verloren ihr Leben.
Sie droschen mit den Gewehrkolben auf ihn ein, traten ihn in den Bauch und ins Gesicht. Ich sah seine Augen, seltsam verschleiert schon, und musste mich übergeben. Ich wusste, jetzt kommen sie gleich zu mir. Doch ich verspürte keine Angst, nur eine eigentümlich schläfrige Schwere in der Erwartung des letzten Schlags. Einer von ihnen hatte sich schon umgedreht, stärker noch roch das zerriebene Laub, und ich sah, wie die klobigen Stiefel auf mich zuschritten. Weit mussten sie sich nicht bewegen, zwei Meter vielleicht. Die Stiefel trafen mein Gesicht. Ein süßer Geschmack im Mund. Die Schusswunde am Bein hörte auf zu schmerzen. Ein neuer Schmerz vertreibt den alten. Wie wahr.
»Jetzt kuck dir das an, der Dreckskerl kotzt!«, brüllten die Stiefel über mir dem Gewehrkolben zu, der wieder und wieder auf Boszewskis reglos daliegenden Körper niederfuhr.
Der Kolben kam näher.
»Hast du seine Papiere rausgenommen?«, fragte der Kolben.
»Nein.«
»Dann mach schon, das wird doch alles eingesaut!«
»Aber das ist doch ekelhaft … wie der sich vollgekotzt hat!«
Noch einmal schwang der Kolben, dann war Dunkelheit.
Wieder dieser Traum, in dem er jemandem vom Tod erzählte.
Frank Derbach setzte sich aufs Bett. Blickte sich um. Aus dem grauen Zwielicht traten Umrisse hervor, tote Gegenstände. Er stand auf. Machte das Bett. Er mochte es, wenn Ordnung war. Das gab ihm Selbstvertrauen. An dem es ihm immer gemangelt hatte. Er glättete den widerspenstigen Rand der Decke, dachte mit einem Anflug von Ekel daran, dass in diesem scheinbar sauberen Bett vor ihm schon viele Menschen geschlafen hatten.
Er knipste die Lampe an, ging zu dem kleinen Fenster.
Früher Morgen, sechs Uhr vielleicht, vielleicht auch noch früher. Auf dem grauen Hof hörte er eine Katze miauen, der Metalldeckel eines Müllcontainers klapperte. Die Hotelköchin warf Abfallsäcke hinein. Ein Tag, wie es sie zahllos gibt in jeder Stadt.
Es klopfte an der Tür. Frank Derbach rief nicht »Herein«, regte sich nicht, da war vielleicht nur diese Spur Erstaunen, dass die Person, die er erwartete, schon jetzt gekommen war.
»Bist du es?«, fragte er leise durch die Tür.
»Wer denn sonst?«, erwiderte ungeduldig eine Frauenstimme.
Er öffnete die Tür und ließ die Frau herein.
Aufmerksam folgte er ihren Bewegungen – wie sie mit sicherem Schritt zum Fenster ging, in diesem Zimmer, das nicht das ihre war, die Jalousie herunterließ und sich in einen der Sessel setzte.
»Also, was gibts?«
»Das wird das Geschäft deines Lebens.«
»Das werden wir sehen«, erwiderte die Frau, und nicht der Anflug eines Lächelns zeigte sich in ihrem Gesicht.
Allgemein wurde befunden, dass die Stadt bei bester Gesundheit sei. Kaum ein Erreger konnte hier überdauern.
Terry Pratchett, MacBest
Gerhard schaltete sein Handy aus. Das war jetzt schon das dritte Mal, dass Frank Derbach angerufen hatte. Und wie aufgebracht er gewesen war! Sofort wollte er ihn treffen. Gerhard versprach ihm, in sein Hotel zu kommen, sobald er mit seinen eigenen Angelegenheiten fertig sei.
»Nein, besser nicht im Hotel.«
»Warum nicht?«
»Das ist nicht gut.«
»Hast du getrunken?«
»Nein.«
Schließlich verabredeten sie sich in einem Lokal in der Nähe des Hotels, in dem Gerhard ein Zimmer genommen hatte.
»Kommst du auch ganz bestimmt?«, fragte Derbach drängend.
»Ich komme«, erwiderte Gerhard, den dieser Nachdruck irritierte.
»Ich warte auf dich!« Damit beendete Frank Derbach das Gespräch.
Langsam kroch das Taxi vorwärts in der Autoschlange des Vormittagsstaus. Gerhard blickte hinaus auf die breiten, grauen Straßen. Sofia erinnerte ihn an das Warschau der 1990er-Jahre. Zuerst die schicken Hotels, dann die Banken, später Apotheken und schließlich der Rest.
Einige Zeit später saß er auf einem der harten Stühle in dem Amt und wartete, bis die Beamtin damit fertig war, sich die Lippen zu schminken, bis sie verschiedene Anrufe erledigt hatte, wartete darauf, dass sie sich endlich bequemte, ihn anzusehen. Der Raum war Wartezimmer und Büro in einem.
Die Beamtin wirkte freundlich, doch spürte er rasch, dass sie ihm nur belanglose Antworten gab, die nichts zu bedeuten hatten. Schließlich sagte er unumwunden, worum es ging.
»Ein Pole, ein Ingenieur aus Wrocław, Piotr Boszewski. Er ist hier in Bulgarien verschwunden, 1980. Niemand weiß, was mit ihm geschehen ist. Er war …«, Gerhard zögerte, suchte nach der passenden Vokabel: holiday oder vacation, »… er war mit seiner Frau im Urlaub und ist nie zurückgekehrt.«
Die Beamtin zuckte mit den Schultern.
»Dann wird man wohl in polnischen Archiven suchen müssen.«
»Ich denke aber, dass hier etwas zu finden ist … Ich bin mir sicher«, verbesserte er sich.
»So viele Leute sind verschwunden«, seufzte sie, »Deutsche, Bulgaren, auch Polen …«
»Mir geht es um diesen einen Polen.«
»Warum glauben Sie, dass er bei uns verschwunden ist?«
Sie rieb ihre Brillengläser sauber, betrachtete Gerhard mit müden, kurzsichtigen Augen.
Gerhard zeigte ihr das Foto.
»Was ist das? Woher haben Sie das?« Ungläubig blickte sie ihn an.
Dachte sie wahrhaftig, er werde ihr jetzt einen Namen nennen, eine Adresse, einen Beruf?
Der alte Mann, der ihm das Foto gegeben und den Text ins Deutsche übersetzt hatte – Burkhard Seidel –, führte seit vielen Jahren ein privates Archiv, sammelte Dokumente, Fotos und Tonaufnahmen und stellte sie Interessierten zur Verfügung. 1985 waren seine beiden Söhne bei dem Versuch, über die bulgarische Grenze in die Freiheit zu gelangen, ums Leben gekommen. Schuldige wurden nie gefunden, ein Wort des Bedauerns hat der Vater nie gehört.
Seidels Archiv ist heute kein Geheimnis mehr. Alle, die es wissen wollen, können mühelos in Erfahrung bringen, dass in Leipzig ein Mensch lebt, der mehr Material zu allen Fällen ungeklärten Verschwindens an den Grenzen Bulgariens zusammengetragen hat als sämtliche Ministerien und Archive zusammen.
Er hätte also sagen können, wer ihm das Foto gegeben hatte.
Aber er wollte nicht.
Von Seidel wusste er, dass das Foto an einer bestimmten Stelle an der bulgarisch-griechischen Grenze gemacht worden war, und zwar dort, wo man Boszewskis Leiche gefunden hatte. Der Name auf der Rückseite des Fotos war leider unleserlich. Entziffern ließ sich nur der erste Buchstabe, es war ein B, der zweite hätte ein o sein können oder auch ein a. Seidel meinte, dort stehe Boszewski. Außerdem war eine Nummer notiert, deren Bedeutung sie erst einige Monate später erfahren hatten, dank der Hilfe Franks.
»Haben Sie noch mehr solcher Fotos?«
Unter den hellblauen Lidern musterte ihn die Beamtin jetzt mit aufmerksamen Augen. Ihre widerspenstigen Locken umrahmten das pummelige Gesicht. Noch schien ihm das alles fast amüsant.
»Nein«, schwindelte er.
Sie betrachtete die Rückseite des Fotos, strich es glatt, einmal, zweimal. Ein drittes Mal.
»Wissen Sie, was das ist?«
Sie deutete auf die vergilbte Stelle, an der die Ziffern zu sehen waren und die Schrift in kyrillischen Buchstaben. Jetzt hatte sie ihm schon mehr Fragen gestellt als er ihr.
»Ich habe keine Ahnung«, log er ein weiteres Mal.
Die Beamtin sah ihn eine ganze Weile lang an. Sie wollte noch etwas fragen, doch als sie hörte, wie die Tür geöffnet wurde, setzte sie sich gerade hin, rückte die Brille zurecht.
Die große Frau, die in der Tür stand, blickte zuerst auf Gerhard, dann auf ihre Kollegin. Sie hatte etwas von einer römischen Skulptur. Wunderschöne Augen. Gerhard bedauerte es, dass er nicht mit ihr das Gespräch führte. Sie erwiderte sein Lächeln, kam zum Schreibtisch.
»Ekaterina Koneschowa«, sie gab ihm die Hand. »Sie kommen aus Deutschland?« Ein Blick auf die Kollegin: »Du kommst zurecht?«
»Ja, ja, alles in Ordnung, wir unterhalten uns gerade.«
Die Beamtin deckte rasch die Hände über das Foto, was Gerhard nicht entging.
»Ich dachte, du bräuchtest vielleicht Hilfe«, sagte Ekaterina Koneschowa und winkte den Uniformierten herbei, der hinter ihr in der Tür aufgetaucht war.
Die Dunkelhaarige lächelte noch einmal, nickte Gerhard zum Abschied zu und verließ den Raum. Auch die Beamtin stand auf und ging hinaus. Der Uniformierte murmelte einen Namen, einen Dienstgrad, gab Gerhard die Hand.
»Was haben wir da …?«, fragte er auf Englisch und vertiefte sich in das Foto. Er nahm die Dokumente in die Hand, die vor Gerhard auf dem Schreibtisch lagen, blätterte prüfend in den Seiten.
Aufmerksam hörte er der Geschichte zu, die Gerhard nun schon zum zweiten Mal an diesem Tag erzählte. Und flüssiger schon als zuvor – über den Ingenieur, der verschwunden war, während seines holiday in Bulgarien …
Der Offizier runzelte die Stirn.
»Hier werden Sie nichts finden«, sagte er in tadellosem Deutsch. »Außerdem brauchen Sie eine Einverständniserklärung der Hinterbliebenen, notariell beglaubigt, ins Bulgarische übersetzt, und die Übersetzung muss ebenfalls notariell beglaubigt werden. So sind die Vorschriften.« Er breitete die Arme aus.
»Ich habe eine diesbezügliche Erklärung«, erwiderte Gerhard.
»Sie ist aber nicht in Bulgarien beglaubigt …«
»Wo kann ich sie beglaubigen lassen?«
»Mein Herr«, der Uniformierte setzte sich auf die Schreibtischkante, »ich möchte ehrlich sein. Auch wenn Sie mir einen ganzen Stapel Erklärungen bringen, können Sie bestenfalls zwei Kartons Akten zur Einsicht bekommen. Das ist alles, was wir haben. Aber die Dokumente, die Sie suchen, werden Sie dort nicht finden, das kann ich Ihnen jetzt schon sagen.«
»Und wo kann ich sie finden?«
»Dort, wo weder Sie noch ich Zugang haben. Im Archiv des Verteidigungsministeriums, in den Geheimakten des Militärs.«
Gerhard tat, als wäre er erstaunt, das zu hören.
»Und wie kommen Sie auf die Idee, dass es sich hier um Boszewski handelt?«, fragte der Uniformierte und musterte Gerhard mit gespannter Aufmerksamkeit.
»Woher wissen Sie überhaupt, dass es Geheimakten zu Boszewski gibt?«, parierte Gerhard.
»Die meisten Informationen zu Personen, die bei Fluchtversuchen getötet wurden, befinden sich dort. Wir haben hier nichts.«
Der Uniformierte lächelte und zeigte eine Reihe überraschend weißer Zähne.
»In unserem Archiv haben wir keine Angaben zu dieser Person«, wiederholte er bestimmt.
»Interessant«, bemerkte Gerhard. »Das heißt, Sie bestätigen hiermit, dass der Tote auf dem Foto bei einem Fluchtversuch getötet wurde?«
»Das nehme ich an, ich kann es vermuten, sicher weiß ich es nicht. Sie haben es mir ja selbst gesagt.«
»Ich habe nichts dergleichen gesagt.«
»Erlauben Sie, dass wir das Foto an uns nehmen, damit wir prüfen können, ob diese Vermutung richtig oder falsch ist.«
Und um weiteren Fragen zuvorzukommen, erhob er sich von der Schreibtischkante und gab Gerhard die Hand.
»Wir werden uns brieflich mit Ihnen in Verbindung setzen. Es tut mir leid. Sie haben sich umsonst hierherbemüht.«
»Ich möchte das Foto lieber behalten«, erwiderte Gerhard.
»Sie können mir vertrauen«, sagte der Offizier mit gedämpfter Stimme.
Auf diese eigentümliche Versicherung wollte Gerhard noch etwas entgegnen, doch der Offizier hatte sich schon umgedreht und wandte sich zur Tür. Auf der Schwelle hielt er inne, machte abermals kehrt und kam noch einmal auf Gerhard zu. Mit gleichgültigem Gesichtsausdruck fragte er, wie nebenbei, woher Gerhard denn das Foto habe.
»Ich habe es gefunden«, erwiderte dieser.
Gerhard lag auf dem Hotelbett. Die Zeichen seiner leichten Koronarerkrankung machten sich wieder bemerkbar. Er nahm die Sache ernst, zum ersten Mal seit Jahren dachte er, dass er mehr auf seine Gesundheit achten müsse. Einen Moment lang überlegte er, ob er seine Tabletten genommen hatte. Ja, er hatte sie genommen, er nahm sie immer. Alle, wie üblich. Doch der beschleunigte Herzschlag und der erhöhte Blutdruck beunruhigten ihn. Er bemühte sich, ruhig und regelmäßig zu atmen, versuchte, an etwas Angenehmes zu denken. Nach einer Viertelstunde erhob er sich und drückte eine Tablette aus dem Stanniolstreifen, eine, die er nur selten nahm, sie waren für den Notfall. Die letzte hatte er vor einer Woche genommen. An dem Tag, an dem Krystyna ohne ein Wort das Haus verlassen hatte.
Die Tablette wirkte rasch. Er spürte nicht einmal, dass er einschlief. Nach einer Stunde erwachte er, in Schweiß gebadet, mit einem quälenden Gefühl der Unruhe.
Gerhard, von Beruf Fotoreporter, gelernter Fotograf und studierter Politologe, hatte sein Bauchgefühl immer ernst genommen, all die negativen oder positiven Signale, die er verspürte, unabhängig davon, ob er einen bestimmten Auftrag gerne ausführen wollte oder nicht. Wenn seine Intuition ein Nein signalisierte, brachte er es fertig, selbst im letzten Moment noch aus einem Projekt auszusteigen, und nichts und niemand konnte ihn dann dazu bewegen, seine Entscheidung rückgängig zu machen. Und weil er sich häufig aus schwierigen Aufgaben zurückzog, wurde er am Ende Spezialist für Routine und Unscheinbares.
Wahrscheinlich waren aus eben diesem Grund Präsidenten und Botschafter gerne bereit, seine Ausstellungen zu eröffnen. Den Vertretern dieser Ämter ist eine Kunst am liebsten, die sich von allem Politischen fernhält und nicht an dunkle Kapitel der Geschichte rührt. Und so fanden Dagmara und Krystyna seine Ausstellungen fad. Dagmara äußerte ihre Kritik vernehmlich und in aller Offenheit, Krystyna behielt ihre Ansichten für sich. Dagmara warf ihm vor, ein Fotograf zu sein, der auf interessante Weise nichts zu sagen habe.
Dagmara ist zu jung, sie ist … Ja, wie ist sie eigentlich? Sie ist wie ihre Mutter Krystyna: eine Idealistin. Gerhard seufzte und zwang sich, nicht mehr an Krystyna zu denken.
Sie ist gegangen, sie ist weg.
Sie hat ihn nie verstanden.
Er hat sich ja selbst nicht verstanden.
Weshalb war er überhaupt hierhergekommen? Seit über einem Monat hatten Seidel und er keine Zweifel mehr daran gehabt, dass Boszewski an der bulgarischen Grenze ums Leben gekommen war. Nach dem letzten Treffen, bei dem auch Frank zugegen gewesen war, hatte Gerhard beschlossen, der Sache persönlich nachzugehen. Auch wenn alles zunächst so aussah, als gäbe es wenig anzuzweifeln. Der Totenschein, das Ergebnis der Obduktion, die Fotos. Ein mehrseitiges Dokument auf Bulgarisch. In Sofia war es ausgestellt worden und trug dieselbe Nummer, die auf der Rückseite des Fotos notiert war, das Frank ihnen gegeben hatte – und das der Offizier jetzt in Verwahrung hatte. Gerhard brauchte keine Bestätigung, dass auf diesem Foto Boszewski zu sehen war. Und dennoch hatte er sie heute früh in diesem Amtszimmer erhalten. Zum Glück war er im Besitz zweier weiterer Fotos, sie lagen bei ihm zu Hause. Unglaublich, wie die Dinge in diesem Land erledigt wurden. Seidel hatte Recht gehabt mit all seinen Warnungen. Genauso spielte es sich ab.
Warum also war er hierhergekommen?
Jetzt erst konnte er sich eingestehen, dass er mit seiner Reise zwei Absichten verfolgte: Er wollte prüfen, ob Frank Derbach tatsächlich die Wahrheit sagte. Und er wollte Aufschub gewinnen für das Gespräch mit Dagmara.
Jetzt gab es nichts mehr weiter zu tun. Jetzt musste er Dagmara schreiben. Das war er Krystyna schuldig. Die Last eines Gesprächs mit seiner Stieftochter konnte er nicht auf sie abwälzen. Er zog das Handy aus der Hosentasche. Setzte die Brille auf. Frank Derbach hatte ein weiteres Mal angerufen. Was für ein Sturkopf! Die Sache musste ihn ja mächtig beschäftigen.
Er nahm ein kleines Heft heraus. Begann zu schreiben, strich das Geschriebene durch, begann von neuem. Er atmete tief ein, als stünde er am Start eines Wettlaufs, dann schrieb er in Großbuchstaben: ZU DAGMARAS KENNTNISNAHME. Er strich es durch, zerriss die Seite, versuchte es erneut:
Liebe Dagusia,
in all den Jahren habe ich nicht den Mut gehabt, Dir zu sagen, dass ich Deinen Vater kennengelernt hatte, bevor ich Deiner Mutter begegnet war. Es hat sich einfach nie die Gelegenheit ergeben, darüber zu sprechen. Mehr als einmal wollte ich ein solches Gespräch beginnen, doch immer kam etwas dazwischen. Wahrscheinlich die Angst. Und ich habe mich gefürchtet, es zuzugeben. Jeder Moment schien unpassend, und je mehr Zeit verging, desto schwieriger wurde es.
Es tut mir so leid, dass Du es erst jetzt erfährst, nach so langer Zeit, und noch dazu aus einem Brief, aber in diesem Augenblick könnte ich Dich nicht einmal anrufen. Glaub mir, ich würde Dir das alles viel lieber persönlich sagen. Ich weiß nicht, wie die Dinge sich weiter entwickeln werden und wann wir uns sehen. Aber mach Dir keine Sorgen. Ich erkläre Dir alles, wenn ich wieder zurück bin.
Du weißt, wie ich zuletzt den Film über das Kindertheater gedreht habe. Der Gründer des Theaters ist Burkhard Seidel, ein älterer Herr, der sein halbes Leben den Marionetten gewidmet hat, undals er in Rente ging, hat er vor allem daran gearbeitet, ein bestimmtes Archiv zu vervollständigen. Seine Marionetten haben mich nicht interessiert, mich hat dieses Archiv interessiert. Ich habe mich mit ihm angefreundet, ein halbes Jahr lang war ich mit dem Film beschäftigt, weil wir dauernd über etwas anderes sprachen. Er erzählte mir die Geschichte seiner beiden Söhne, die erschossen wurden, als sie versuchten, über die bulgarisch-griechische Grenze zu gelangen. Die genauen Umstände des Todes konnte er nie erfahren, obwohl er mehr als einmal mit seiner Frau in Bulgarien war, den dortigen Himmel und die dortige Erde in Bewegung gesetzt hat, womit er sich zum Feind des Regimes machte und einiges riskierte. Über Jahre hinweg hat er ein Archiv zusammengetragen, das Vorfälle an der bulgarisch-griechischen und der bulgarisch-türkischen Grenze dokumentiert. Alles hat er mir gezeigt, und eben dort habe ich eine Spur gefunden, die zu Deinem Vater führt, und im Zuge dieser – wenn wir es so nennen wollen – privaten Ermittlungen einige erschütternde Dinge herausgefunden.
Eines kann ich schon jetzt mit Sicherheit sagen: Das Rätsel um das Verschwinden Deines Vaters habe ich gelöst. Ich weiß, dass das jetzt sehr viel Schockierendes auf einmal ist, aber Du musst es erfahren.
Dagusia, es fällt mir schwer, davon zu schreiben: Dein Vater, der Mann Deiner Mutter, mein Freund, wurde auf hinterhältige Weise an der Grenze gefasst und dort getötet.
Es war der traurigste Brief, den er je geschrieben hatte.
Ihm kamen Tränen der Hilflosigkeit und der Scham darüber, dass er die Wahrheit so lange verschwiegen hatte.
Es stimmte, dass er Dagmara nicht hätte anrufen können, doch selbst wenn es möglich gewesen wäre – es hätte seine Kräfte überfordert. Das Gespräch mit Krystyna hatte ihm alle Energie geraubt. Seinen ganzen Mut hatte er zusammengenommen und ihr gesagt, dass er ihren ersten Mann gekannt hatte, bevor sie sich begegnet waren, und dass …
Fast alles hatte er ihr gesagt.
Um was zu erhoffen nach so vielen Jahren?
Verständnis?
Als er sah, wie sie mit gebeugtem Rücken langsam zur Tür ging, begriff er, dass er in seinem Leben zwei schreckliche Fehler begangen hatte. Den ersten – als er die Wahrheit verschwiegen hatte. Und den zweiten – als er sie endlich offenbarte. Als hätte eine tektonische Verschiebung die Zeiten ausgetauscht, den jüngeren und den älteren Gerhard, und auf hinterhältige Weise dem einen die Sätze des anderen untergeschoben, mit den beiden Gerhards Bäumchen wechsle dich gespielt. Ein entsetzlicher Dummkopf war er. Dummkopf klang besser als Feigling.
Eine Weile überlegte er, welche Worte Dagmara ein wenig Trost geben könnten, doch kamen ihm keine in den Sinn. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war schon nach zwei. Er würde zu spät zu dem Treffen mit Frank Derbach kommen.
Frank wohnte und arbeitete in Berlin. Zuletzt hatte er einen längeren unbezahlten Urlaub genommen, und seit einer Woche hielt er sich jetzt in Sofia auf. Hatte sogar schon irgendwelche Andeutungen gemacht, er wolle kündigen, denn alles, was er dort zu erledigen gehabt hätte, sei erledigt. So war Frank. Zwanzig Jahre dort, in der Stasi-Unterlagen-Behörde, sah er als eine Sache an, die zu erledigen war. Dabei hatte er noch immer Fälle genug und alle Hände voll zu tun. Gerhard kannte ihn schon lange, und oft hatte er den Eindruck gehabt, als führe Frank mehr als nur eine Existenz, doch darüber wollte er sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Gegenwärtig musste in Franks Leben etwas wirklich Einschneidendes vorgefallen sein, denn er hatte wahrhaftig aufgehört zu trinken. Er führte eigene Ermittlungen durch, wie er es nannte, und vermutlich war er auf Material gestoßen, von dem er glaubte, dass es auch für Gerhard interessant sein könnte. Gerhard brauchte eigentlich nichts mehr, er hatte alles, was er wissen wollte. Zu dem Treffen mit Frank ging er allein Seidels wegen, den er sehr schätzte.
Die Reise nach Sofia hatte Seidel übrigens für überflüssig gehalten und versucht, Gerhard davon abzubringen.
»Ich weiß nicht, warum Sie dort hinwollen. Aber wenn es schon unbedingt sein muss, dann treffen Sie sich bitte mit Frank. Angeblich hat er etwas Wichtiges gefunden.«
Seidel lächelte und suchte einen Moment lang nach dem passenden Wort.
»Er sprach davon, dass er Ihnen etwas zeigen müsse. Ich habe keine Ahnung, was er da wieder aufgestöbert hat.«
Gerhard betrachtete ihn interessiert.
»Ja, ja, ich weiß, was Sie von ihm denken«, fuhr Seidel fort, obwohl Gerhard seit längerem nicht mehr in der Weise an Frank gedacht hatte, auf die sein Gegenüber mit dieser Bemerkung anspielte.
»Er ist verrückt, und wie jeder Verrückte ungeduldig. Aber Sie wissen, wie das mit den Verrückten ist. Immer bleibt dieses eine Prozent an Zweifel, dass sie vielleicht doch nicht verrückt sind.« Der gute alte Seidel war ein geduldiger Mensch, und sein Glaube an das Gute kannte keine Bedingungen. Selbst den Narren und Fanatikern konnte er vertrauen, und für eben einen solchen harmlosen Fanatiker hielt er Frank. Ja, ihm gegenüber legte er eine besonders wohlwollende Nachsicht an den Tag, obwohl Franks Verschwörungstheorien selbst den geduldigen Seidel mitunter aus der Fassung brachten.
Nach Seidels Auffassung gab es keine bösen Menschen. Gerhard bewunderte ihn aufrichtig für dieses schier übermenschliche Maß an Verständnis. Über der Tür zu Seidels Archiv hing seit zwanzig Jahren ein Zitat, das er selbst ins Holz geschnitten hatte:
Humanismus, das heißt nicht:
Was ich getan, hätte kein Tier vermocht,
sondern:
Zurückgewiesen habe ich, was das Tier in mir gewollt,
und überall dort wollen wir den Menschen finden,
wo wir dem begegnen,
was ihn zerschmettert.
André Malraux
»Wissen Sie, Gerhard … je weniger Hass, desto mehr Gesundheit«, sagte Seidel immer wieder. Um nach kurzer Pause versonnen hinzuzufügen: »Das soll nicht heißen, dass der Tod der Nächsten nicht schmerzt. Er wird immer schmerzen, nur ein wenig erhabener ohne den Hass.« Und der Anflug eines Lächelns huschte über sein Gesicht. Gerhard war in solchen Momenten nicht einmal zu erzwungener Mimik fähig.
Gerhard hatte eben die Tür seines Hotelzimmers ins Schloss gezogen, als er hinter dem dünnen Pressspan das Telefon klingeln hörte. Sicher wieder jemand von der Rezeption. Ständig wollten sie ihm den Zimmerdienst schicken.
Obwohl die Zeit schon drängte, beschloss er, einen Umweg zu nehmen.
Er ging über den kleinen Basar, auf dem Gewürze und exotische Früchte angeboten wurden, die er noch nie gesehen hatte. Er müsste heute noch einmal hierherkommen, mit seinem Fotoapparat! Er überquerte die Straße, näherte sich ohne Eile dem kleinen Café an der Ecke. Trotz der Autoabgase spürte er den Frühling in der milden Luft, zum ersten Mal in diesem Jahr.
200 Meter etwa war er von dem Café entfernt, als er in der Tür einen Aufruhr bemerkte. War das möglich? Nein, er täuschte sich nicht. Zwei Männer hielten Frank an den Armen, schleiften ihn zu einem Auto, das auf dem Gehweg geparkt stand. Verzweifelt versuchte Frank, sich zu befreien, wand sich schreiend hin und her, seine Füße berührten kaum den Boden. Und schon war er im Auto verschwunden, das Ganze dauerte nicht länger als zehn Sekunden.
Die Sonne schien, die Straße war belebt, der Verkehr rauschte, Stimmen schwirrten, Menschen kamen aus Geschäften, eilten weiter, in ihren Angelegenheiten unterwegs. Es schien, als hätte niemand etwas gesehen, niemand etwas gehört. Nur Gerhard starrte an die Stelle, wo eben noch der schwarze BMW gestanden hatte. Was sollte er jetzt tun? Auf dem Weg zurück ins Hotel erwog er verschiedene Möglichkeiten. Die Polizei verständigen? Mit der Botschaft Kontakt aufnehmen? Was um Himmels willen sollte er jetzt tun?
Kaum hatte er das Hotel betreten, teilte ihm der Mann an der Rezeption mit, dass jemand ein Päckchen für ihn abgegeben habe. Gerhard, noch ganz benommen von dem, was sich eben ereignet hatte, verstand im ersten Moment nicht, was der Mann zu ihm sagte.
»Was ist das?«, fragte er und hob den Blick auf den hünenhaften Bulgaren.
»Ein Päckchen für Sie«, wiederholte dieser und bedachte Gerhard mit einem professionellen Lächeln.
»Von wem?«
»Dazu kann ich wenig sagen, jemand hat es gebracht und gesagt, es sei für Sie.«
»Wer?«
»Ein Junge«, erwiderte er gelassen und machte eine unbestimmte Handbewegung.
Gerhard blickte sich in der Hotelhalle um. Außer einem älteren Ehepaar war niemand zu sehen. Er lehnte sich an den Rezeptionstresen und blickte dem Bulgaren in die Augen.
»Ich erwarte kein Päckchen.«
Der Mann wich dem Blick nicht aus. Ein breitschultriger Riese mit sanftem Gesicht. Seit zwei Jahren arbeitete er in diesem Hotel und er hatte den Ehrgeiz aufzusteigen, eine große Karriere zu machen. Zum dritten Mal in Folge schon hatte ihm die Hotelleitung die Auszeichnung Mitarbeiter des Monats verliehen. Was leider nicht mit finanziellen Zuschlägen verbunden war. Den Mitarbeiter des Monats Radostin Petrow störte das aber nicht, er widmete sich jeden Tag mit aller Hingabe seiner Arbeit, und keine Sekunde hätte er eine andere haben wollen. Ein bulgarischer Bergbauernsohn vertut seine Zeit nicht mit unnützen Tagträumen, wenn das Glück ihm gewogen ist. Und so verband Radostin all seine Zukunftspläne mit der Arbeit im Hotel. Vor einigen Jahren hatte er die Hotelfachschule abgeschlossen – ein Vermögen hatte die Familie dafür zahlen müssen –, und eben vor einer Woche war er von einer Schulung in Dubai zurückgekehrt, die eine renommierte Hotelkette organisiert hatte. Sein Leben fügte sich nach einem großartigen Plan. Was wollte er mehr?
Er schenkte dem Gast ein beschwichtigendes Lächeln und sagte:
»Ich verstehe Sie. Möchten Sie, dass wir uns um die Sache kümmern?«
Gerhard sah ihn abwesend an.
»Nein, nein, danke … Wann wurde das Päckchen denn gebracht?«
»Vor einer Stunde. Wir haben mehrfach in Ihrem Zimmer angerufen.«
»Bitte buchen Sie meinen Rückflug um. Ich möchte heute zurück.«
»Selbstverständlich. Sofort.«
»Am besten mit dem frühesten Flug«, fügte Gerhard hinzu, beunruhigt, dass seine Stimme zitterte.
»Wir werden tun, was möglich ist.«
Kaum hatte er das Zimmer betreten, als der Mann von der Rezeption anrief und ihm mitteilte, dass der heutige Flug bereits ausgebucht sei. Ob es denn morgen passe, in aller Frühe? Gerhard erwiderte, dass er für eben diesen Flug ein Ticket habe. Er dankte und legte auf.
Wie ein Tiger im Käfig ging er hin und her, starrte auf den großen grauen Umschlag.
Er setzte sich.
Stand wieder auf.
Ging wieder hin und her.
Nach einer Stunde öffnete er den Umschlag. Sofort erkannte er die Handschrift: Frank! Und er zerknüllte das Blatt. Einen Moment erwog er, Seidel anzurufen, oder besser noch einen Freund, einen hochrangigen Beamten der Berliner Polizei, doch konnte er sich die Reaktionen schon ausmalen. Wie sollte der Freund ihm von Berlin aus helfen? Und Seidel würde sich nur unnötig aufregen.
Er legte sich aufs Bett und wartete. Die Zeit verging. Nichts Verdächtiges geschah. Er zog den zerknüllten Zettel aus der Hosentasche. Strich ihn glatt:
Niemand weiß, dass ich Dir das schicke. Ich werde verfolgt. Komm nicht zu unserer Verabredung! Und lies den Rest erst, wenn Du die Negative entwickelt und die Anweisungen befolgt hast.
In dem Umschlag fand er tatsächlich einen Negativfilm, einen Zettel, auf dem vermutlich die besagten Anweisungen festgehalten waren, einen weiteren, kleineren Umschlag und ein vergilbtes Notizheft. Sein sechster Sinn flüsterte ihm ein, dass das, wovor er sein Leben lang davongelaufen war, ihn nun am Wickel hatte. Eine entsetzliche Angst belauerte ihn aus allen Ecken des Zimmers. Jetzt war es wohl die höchste Zeit, sich dieser Angst zu stellen.
Das Taxi brachte ihn zu einem Handelszentrum. In einem großen Geschäft, das von Rottönen dominiert wurde und dessen Filialen vermutlich auf der ganzen Welt identisch aussahen, kaufte er ein Kartenhandy und Fotopapier. In einer Drogerie kaufte er Reinigungsmittel, eine Schere, ein Knäuel Schnur und Latexhandschuhe. In der Apotheke eine Etage tiefer schrieb er der verdutzten Apothekerin Na2S2O3 auf einen Zettel.
Die Frau machte Stielaugen.
»Wie viel wollen Sie denn davon?«, fragte sie auf Englisch.
»Drei Kilo«, scherzte er.
Schließlich kaufte er noch zwei Portionen Salat in Plastikschüsseln. Die eine aß er, die andere schüttete er weg. Im Hotel spülte er die Schüsseln gründlich aus und machte sich gleich an die Arbeit. In die eine goss er die Natriumthiosulfatlösung, die andere füllte er mit Wasser.
Er schloss die Badezimmertür bis auf einen winzigen Spaltbreit und knipste das Licht aus. Einige Stunden war er beschäftigt, dann hatte er die Fotos entwickelt, fixiert und zum Trocknen an der Schnur aufgehängt. Insgesamt waren es fünfzig Bilder. Unscharf, verschwommen. Während er sie der Reihe nach betrachtete, spürte er ein wachsendes Unbehagen.
Was war dort zu sehen? Was sollte das sein?
Nun kam der nächste Schritt: Er musste die Fotos in die richtige Ordnung bringen, dazu dienten die Nummern, die Frank in seiner Anweisung notiert hatte. Er fügte sie zu fünf senkrechten Reihen, die er nah nebeneinanderlegte. Bald schmerzte ihm der Nacken und die Augen brannten.
Die Fotos waren noch nicht ganz trocken.
Wieder und wieder vertiefte er sich in die Bilder – nichts zu erkennen.
Umrisse einer Gestalt. Was sollte er damit?
Vielleicht lag es an dem schummrigen Licht im Zimmer. Er stand auf und knipste die Lampe an. Der Lichtschein fiel auf die Fotos. Anfangs erkannte er nichts Bestimmtes, erst als er sich einige Schritte entfernte und die Fotos aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtete, entstand ein Bild, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er öffnete den Umschlag, las die wenigen Sätze und bekam weiche Knie. Er öffnete das Fenster. Der lärmende Trubel der Millionenstadt schwappte herein, verdichtete noch den Wirrwarr in seinem Kopf. Er fühlte sich wie ein Schiffbrüchiger auf hoher See, der auf einer Planke hockend dahintrieb, ohne sich erinnern zu können, wie er dort hingeraten war.
Mit energischer Bewegung öffnete er die Minibar. Leerte eines der Fläschchen in einem Zug. Wie ein hart gesottener Trinker, der er nie gewesen war. Anschließend fühlte er sich weder besser noch schlechter. Und dann schaffte er es gerade rechtzeitig ins Bad, das noch erfüllt war vom scharfen Geruch des Natriumthiosulfats – alles gab er wieder von sich.
Er hielt den Kopf unter den kalten Wasserstrahl, unter den Lidern noch immer das Bild, das er eben zusammengefügt hatte. Ein großer Mann mit einer Pistole in der Hand, in Zivilkleidung, umgeben von Soldaten. Zu seinen Füßen ein massakrierter Körper. Gerhard hatte nicht den geringsten Zweifel, dass der Mann am Boden tot war. Die Qualität der Fotos ließ zu wünschen übrig, doch gut zu erkennen war – als hätte es eigens so exponiert erscheinen sollen – das Gesicht des Mannes mit der Pistole.
Die lakonische Notiz dazu lautete:
Den Mann auf dem Foto erkennst Du bestimmt. Es ist Christian Schlangenberger. Er hat viele Menschen auf dem Gewissen. Er ist für den Tod Boszewskis und anderer Oppositioneller aus Osteuropa verantwortlich. Schau jetzt in das Notizbuch …
Mehr als einmal hatte Gerhard Schlangenberger gesehen – auf Wahlplakaten und in Fernsehsendungen. Es gab wohl niemanden in Deutschland, der ihn nicht gekannt hätte. Seit Jahren gehörte Christian Schlangenberger zur politischen Elite in der wiedervereinigten Bundesrepublik.
Gerhard setzte sich auf die Toilettenbrille. Wischte sich mit einem Handtuch den kahlen Schädel. Ratlos starrte er vor sich hin.
Was nun? Zuletzt hatte er sich 1968 so gefühlt, als er unfreiwillig in Studentenunruhen hineingeraten war. Allem Chaos und allen Problemen war er immer aus dem Weg gegangen, hatte um alle Demos einen Bogen gemacht. Doch war er Fotograf. Und jener Gerhard damals, der junge Gerhard, arbeitete als frisch gebackener Fotograf für die Springer-Presse, die Front machte gegen die APO, gegen 68, gegen alles, was die heilige Ordnung erschüttern wollte. Und dann war da diese Demo, und Gerhard musste auf die Demo. Ehe er sich versah, zog ihm ein Bulle mit dem Gummiknüppel eins über. Die Braue aufgeplatzt, der Pullover zerrissen, dabei hatte er doch nur seinen Fotoapparat schützen wollen. Dass ihm jemand die Kamera zerdeppern würde, das hätte noch gefehlt! Die Illusionen waren, wie ein Freund von ihm zu sagen pflegte, ruckzuckam Arsch. Der Freund war ein Student, wurde später zum Feind, dann wieder zum Kollegen, doch wie auch immer – die Illusionen waren also rasch beim Teufel, und jetzt hatte er die Wahl: Den Apparat auf die Studenten richten, die verdroschen wurden, auf die prügelnden Bullen oder auf den einen blutüberströmten Studenten und die Gesichter seiner Peiniger, die ihn umringten. Damals verließ er sich zum ersten Mal auf seinen Berufsinstinkt. Er dachte nicht mehr nach, er tat ganz einfach, was er tun wollte. Am nächsten Tag konnte man im ganzen Land seine Fotos sehen. In der Springer-Presse irgendwo am Ende unter ferner liefen, in den anderen Zeitungen auf der Titelseite. Der Student hatte überlebt; ein anderer war getötet worden. Eine lange Geschichte, und verworren genug. Eine Geschichte, die die alte Bundesrepublik verändern sollte. Für den Fotoreporter Gerhard wäre die Demo ohne größere Folgen geblieben, hätte er nicht dieses eine Foto geschossen. Jahre später setzte DER SPIEGEL Gerhard auf die Liste der Mutigsten von 68. Gerhard kannte Mutigere, doch nahm er das Geschenk des Schicksals an. Fuchs, wurde er dann genannt, der Fotografenfuchs. Schmuggler der Wahrheit der Straße.
»Fick dich ins Knie«, fasste es ein anderer mit ihm befreundeter Student zusammen, der heute als Polizist eine hohe Stellung innehatte, und der seit den Unruhen von 68 auf dem rechten Bein ein wenig hinkte.
So viele Fotos sollte Gerhard dann noch machen, sich so gewaltig ins Zeug legen in seinem Beruf, doch die Auszeichnung aus den Händen des sechsten Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland – Richard Karl Freiherr von Weizsäckers – erhielt er abermals für jene Bilder und den Mut im Jahre 68. Haltung hatte er angenommen, als der Bundespräsident ihm die Auszeichnung ans Revers heftete, doch jetzt, da er sich den Moment in Erinnerung rief, ließ seine Miene eher an verhagelte Petersilie denken. So gänzlich überzeugt, dass er die Auszeichnung wirklich verdient hatte, war er nämlich nicht.
Nach einer Stunde endlich beschloss Gerhard, der Fuchs, der Held, zu tun, was er am besten konnte. Er nahm die Kamera aus der Tasche und fotografierte jedes einzelne Teil des Bildpuzzles, das er zusammengefügt hatte.
Als er damit fertig war, nahm er sich das Notizheft mit der verblassten Aufschrift BOSZEWSKI und begann zu lesen. Er und Seidel hatten schon so manches von Frank gehört, doch hatten sie seinen Geschichten bisher wenig Glauben geschenkt.
»Du lieber Gott!«, entfuhr es ihm, als er mit der Lektüre fertig war. Einen Moment überlegte er, ob er den Brief an Dagmara umschreiben oder einen zweiten an seinen Freund bei der Polizei verfassen sollte. Oder ob er nicht am besten beides täte. Unterdessen lief ihm die Zeit davon. Eine Stunde brauchte er, um das gesamte Material fotografisch zu sichern.
Er setzte sich an den Schreibtisch, sah auf die Armbanduhr.
Sprich bitte mit niemandem darüber. Noch nicht. Wir müssen uns jetzt alle ein wenig Zeit lassen. Die Sache ist ernster, als ich angenommen hatte. Wir müssen sehr vorsichtig sein!
Vertrau mir und sei vernünftig!
Die Angst vor dem Gespräch mit Dagmara verschwand. Andere Belange schoben sie beiseite. Er musste jetzt beenden, was er begonnen hatte, und niemanden durfte er mit seinem Handeln einer Gefahr aussetzen.
Nach kurzem Zögern fügte er noch hinzu:
PS: Verzeih mir.
Er setzte einen Punkt, dick wie ein Knopf, faltete das Blatt. Einmal. Noch einmal. Und noch einmal. Bis das Papier winzig klein war. Dann faltete er es wieder auf und strich es glatt. Für weitere Briefe, so befand er, war jetzt keine Zeit mehr.
Lange schrubbte er Badewanne und Waschbecken mit dem Reinigungsmittel. Er leerte den Mülleimer in eine Plastiktüte. Holte tief Luft und sah in den Spiegel. An der Nase entdeckte er eine dünne Linie, die er gestern noch nicht gesehen hatte. Er duschte, zog sich an, benutzte sein Eau de Toilette. Mit Letzterem, so schien es ihm, näherte er sich wieder ein Stück weit der Normalität. Allzu jäh war sein Leben in hellen Aufruhr geraten.
Er nahm das Kartenhandy aus der Tasche, mit dem er ein einziges Mal nur telefonieren wollte. Eben jetzt.
Seidel nahm den Anruf sofort entgegen. Als habe er geahnt, wer sich hinter der unbekannten Nummer verbarg. In wenigen Sätzen berichtete Gerhard von Franks Entführung, von dem Päckchen, und wer der Mann auf dem Foto war.
Am anderen Ende Stille. Nach einer Weile erst ließ Seidel sich vernehmen. Seine Stimme klang verändert.
»Sind Sie sicher, dass das Frank gewesen ist?«
»Ich habe es selbst gesehen!«
»Sie müssen sofort zurückkommen!«
»Soll ich Frank seinem Schicksal überlassen?«
»Ihm werden Sie nicht mehr helfen können!«
»Aber …«
»Kommen Sie zurück! Hören Sie?!« Nie zuvor war Seidel jemals laut geworden. Jetzt sprach er die ganze Zeit mit erhobener Stimme. Gerhard spürte, dass Seidel sich verantwortlich fühlte. Für ihn, für Frank.
»Und das ist wirklich Schlangenberger? Sind Sie sicher?«, fragte er zum Schluss.
»Völlig sicher. Sein Gesicht ist deutlich zu sehen.«
»Das heißt, dass Frank mit allem Recht hatte!«, stieß Seidel mit einem Stöhnen hervor.
»Setzen Sie sich mit Tschapieski in Verbindung und erzählen Sie ihm alles!«, sagte Gerhard hastig.
»Mit wem?«
»Mit Tschapieski!«
»Gut, ja … gut, aber kommen Sie um Himmels willen zurück!«, drängte Seidel aufgebracht und beendete das Gespräch.
Gerhard schickte Seidel eine SMS mit Tschapieskis Nummer. Dann beschlich ihn das Gefühl, dass er allein zurückgeblieben war in der Arena dieses Kampfes. Mutterseelenallein.
Er packte seine persönlichen Sachen in die Reisetasche, alles Übrige in die beiden roten Plastiktüten. Ein letzter Blick und er verließ das Zimmer.
Es war zehn Uhr am Abend und sein Entschluss stand fest. Er wollte die Nacht am Flughafen verbringen. Mit dem Lift fuhr er nach unten, ging ins Hotelrestaurant, trat durch die Seitentür hinaus auf den Hof. Die Müllcontainer … dort drüben, er warf die beiden Plastiktüten hinein.
Zurück im Hotel nahm er die Halle in Augenschein. Dort in der Ecke, hinter der Marmorsäule, saß eine Frau, die er bereits kannte. Jetzt brannte ihm wahrhaftig die Zeit auf den Nägeln! An der Rezeption bat er darum, dass ihm ein Taxi gerufen werde. Falls er es eilig habe, erwiderte der Hüne – gleich in der nächsten Gasse gebe es einen Taxistand. Wenn der Gast es wünsche, wolle er aber gerne telefonisch ein Taxi bestellen.
»Ich habe es eilig!«, sagte Gerhard, beglich die Rechnung, unterschrieb, was zu unterschreiben war. Dann hob er den Kopf, sah Radostin Petrow in die Augen und reichte ihm unvermittelt die Hand.
Der junge Mann spürte zusammengerollte Scheine in der Handfläche, und kalter Schweiß brach ihm aus.
»Tun Sie so, als würden Sie sich von mir verabschieden«, sagte Gerhard langsam und betont ruhig, mit einem breiten Lächeln im Gesicht, während er noch immer die kräftige Hand in der seinen hielt.
»Und jetzt hören Sie mir bitte genau zu! Dort hinter der Säule sitzt eine Frau. Sobald ich weg bin, wird sie nach mir fragen. Sagen Sie ihr, dass ich heute das Hotel nur einmal verlassen habe, und zwar heute früh. Verstehen Sie? Und noch etwas müssen Sie für mich tun …«
Gerhard schüttelte noch immer die Hand, und wie Gerhard auch, lächelte der Hüne die ganze Zeit ein breites, herzgewinnendes Lächeln. Das alles dauerte gute zehn Sekunden; den beiden schien es eine Ewigkeit.
Gerhard bog in die Seitengasse ab. Der Taxistand war tatsächlich nicht weit, doch sein Schritt wurde immer langsamer. Der Arm tat ihm weh, und wenn seine Reisetasche auch nicht übermäßig groß war und zudem Rollen hatte, so wurde sie ihm doch zur Last.
Er blieb stehen, blickte sich mit einer Regung leichter Unruhe um, zog das bulgarische Handy hervor, das er nur einmal hatte benutzen wollen. Jetzt musste er trotz allem ein zweites Telefonat führen. Rasch tippte er die Nummer, die er auswendig wusste. Seit Stunden schon lief sie in seinem Gedächtnis ab wie ein Mantra.
»Tschapieski!«, erklang auch gleich ein Bariton.
»Ich bins«, stieß Gerhard hervor, den Atemnot befiel.
»Wat rufst du unter dieser Nummer an? Du weißt doch …«
»Ich bin in Schwierigkeiten, Waldemar«, unterbrach ihn Gerhard und beschleunigte den Schritt, weil er den Eindruck hatte, jemand folgte ihm.
Es schien ihm, als würde es immer heißer werden. Eine Gruppe junger Menschen ging an ihm vorbei, sie unterhielten sich lebhaft, lachten unbefangen. Er fragte sich, welcher Tag heute eigentlich war. Freitag? Die Gruppe betrat das Hotelrestaurant. Musik klang durch die Tür, er erkannte die Melodie: Das Lullaby aus Rosemaries Baby. Einen Moment lang war er erleichtert und verlangsamte sein Tempo, doch bald darauf hörte er erneut Schritte hinter sich.
»Kann dich nich verstehen, quatsch ma lauter!«, sagte ungeduldig die Stimme im Apparat.
»Ich habe Ärger«, keuchte Gerhard, »richtig Ärger!«
»Wat sagst du? Wo bist du denn?«
»Ich bin in Bu… in Bul…«, Gerhard wurde flau, ein stechender Schmerz fuhr ihm durch die Brust, er taumelte noch ein paar Schritte, zerrte an seiner Krawatte.
»Seidel … ruf Seidel an …!« Er stürzte zu Boden.
Aus dem Handy klang beunruhigt die Stimme:
»Wen? … Wen soll ick anrufen?«
»Seidel«, ächzte er.
»Gerhard! Gerhard!«
Einen Moment noch hörte er Tschapieskis Stimme, hörte Schritte, die sich näherten. Er wollte schreien, doch seiner Kehle entrang sich nur ein Wimmern. Er streckte den Arm aus, schubste mit letzter Kraft das Handy durch ein Gullygitter. Ein dumpfes Glucksen ertönte. Er bekam keine Luft mehr. Es war, als glühte er im Innern.
»Ich brenne«, durchzuckte es ihn mit dem Schmerz der Verzweiflung.
Dann beugte sich jemand über ihn, fühlte seinen Puls. Eine andere Person durchsuchte sein Gepäck, tastete die Taschen seiner Kleidung ab.
»Wo ist das Handy?«, fragte die Gestalt in der dunklen Jacke.
»Hier«, erwiderte die zweite Person, die ganz ähnliche Kleidung trug und das deutsche Handy herauszog.
Gerhard spürte davon nichts mehr, seine Augen starrten reglos ins Nichts.
Gerhard war tot.
Ekaterina Koneschowa steckte ihren Dienstausweis wieder in die Handtasche. Der Hüne an der Rezeption sah sie an, ging in Gedanken alle Regeln durch, die er auf der Schulung gelernt hatte, und beschloss, Regel Nummer 12 anzuwenden – den Gästen ist maximale Sicherheit zu gewährleisten –, die er sofort an die gegenwärtigen Bedingungen anpasste.
»Er hat ein Päckchen erhalten …«, sagte Ekaterina Koneschowa.
»Das stimmt. Gegen 16.00 Uhr.«
»Hat er das Hotel verlassen?«
»Einmal, am Morgen.«
Die Frau sah ihn aufmerksam an.
»Er wollte, dass sein Flug umgebucht wird«, fügte Radostin Petrow rasch hinzu.
»Und? Ist das auch geschehen?«
»Nein.«
»Ich möchte sein Zimmer sehen.«
»Selbstverständlich.«
Radostin Petrow rief den Hotelboy an die Rezeption, die Frau hielt ihn mit einem Blick zurück.
»Ich komme allein zurecht.«
»Selbstverständlich«, wiederholte Radostin Petrow und begleitete sie zum Lift.
Ein plötzlicher Luftzug wehte ihr ins Haar, der leichte Stoff ihres Kleides geriet in Bewegung, ließ die Umrisse eines attraktiven Körpers erahnen. Ein Mann, der eben aus dem Aufzug trat, warf ihr ein gewinnendes Lächeln zu. Ohne darauf zu achten, ging sie in den Lift.
In der dritten Etage stieg sie aus. Das Zimmer hatte sie rasch gefunden. Mit der Schlüsselkarte öffnete sie die Tür, knipste das Licht an. Die übliche Unordnung eines Hotelzimmers, das eben erst verlassen worden war, es roch nach einem Eau de Toilette. Unten auf der Straße ertönte die Sirene eines Krankenwagens. Ekaterina Koneschowa sah aus dem Fenster. An der Ecke der belebten Straße hatte sich eine Menschenansammlung gebildet. Ein bisschen Wärme, dachte sie voller Widerwillen, und schon kommen sie herausgekrochen wie die Kakerlaken aus allen stinkenden Spalten und Ritzen …
Sie streifte sich Handschuhe über, öffnete der Reihe nach Schranktüren und Schubladen. Zuletzt sah sie noch in den Mülleimer im Bad. Sie konnte nichts finden. Das Telefon klingelte. Sie hob sofort ab. Hörte den Erklärungen zu.
»Bis du sicher? Und die Kamera habt ihr?«
»Ja.«
»Und das Handy?«
»Auch.«
Sie legte auf und ging zurück zum Fenster. Sie durfte zufrieden sein, alles lief nach Plan, ja, es lief sogar besser noch als vorgesehen. Immer größer wurde die Menschenmenge vor dem Hotel. Ein zweiter Krankenwagen traf ein. Sie konnte jedoch von hier oben nicht alles sehen. Nun galt es, das Ganze geschickt zu deichseln – mit der Polizei, den Sanitätern. Sie verließ das Zimmer. Sie hatte, was sie brauchte.
Noch einmal ging sie an die Rezeption.
»Wie oft machen Sie die Zimmer sauber?«
»Wann immer die Gäste es wünschen, Standard ist zweimal am Tag. Wir sind ein Fünf-Sterne-Hotel.«
Sie hörte den Stolz in seiner Stimme.
»Und das Zimmer, in dem ich gerade …?«, fragte sie mit gedämpfter Stimme und bemühte sich, nicht in die Kamera zu schauen, die die Rezeption und die Halle überwachte.
»Da müsste ich nachsehen.«
Ekaterina Koneschowa zögerte – nein, das war jetzt nicht mehr ihre Sache. Sie hatte ihre Aufgabe so gut wie erfüllt, gewissenhaft wie immer.
Als sie gegangen war, wischte sich Radostin Petrow ein paar Schweißtropfen von der hohen Stirn und ließ seinen Blick durch die Hotelhalle schweifen. Hinter den hohen Palmen drängten sich englische und deutsche Gäste an der Bar. Alle starrten wie gebannt auf den großen Bildschirm und übertönten einander in ihrer Erregung. Dem Klang der Stimmen nach zu urteilen, waren einige bereits betrunken. Es sah so aus, als sollte Deutschland das Spiel gewinnen. Außer den Fußballfans war im Augenblick niemand in der Halle.
»Ein guter Tag für uns«, dachte Radostin Petrow und meinte damit sich selbst und den Kollegen an der Bar. Wenn die Deutschen erst einmal in Laune waren, kannte ihre Großzügigkeit keine Grenzen mehr.
Er bewegte sich aus dem Radius heraus, den die Hotelkameras erfassen konnten. Als er sicher war, dass ihn keine mehr registrierte, zog er das Geld aus der Tasche. Acht rosa-violette Scheine. Was für schöne, was für erhabene Farben! So viel Geld! Warum so viel? Ihm wurde mulmig.
Radostin Petrow war noch jung, aber er wusste, dass der Dienstausweis der Polizei, den diese Ekaterina ihm gezeigt hatte (der Nachname war ihm entfallen), nichts Gutes verheißen konnte. Und jetzt wurde ihm mulmig, weil er nicht wusste, was er tun sollte, und das mulmige Gefühl wurde umso rascher zur handfesten Angst, weil er unschuldig war. Denn wer unschuldig in etwas verwickelt wird, wird schuldig. Eben weil er verwickelt ist. Das hatte er in den letzten Jahren gelernt in seinem Land. Er überlegte, ob es nicht das Beste wäre, alles der Hotelleitung zu erzählen. Doch wie er es auch drehte und wendete – am Ende lief es immer auf dasselbe hinaus: Er war zwar unschuldig, doch weil er jetzt mit drinsteckte, war er schuldig. Nein, er durfte niemandem etwas davon erzählen.
Er achtete nicht auf die nervöse Geschäftigkeit vor dem Hotel. Seine Gedanken waren auf das Geld fixiert und auf die Frage, welche Regel im Hotelkodex er jetzt gebrochen hatte. Dann dachte er daran, dass er seiner Schwester das Studium finanzieren würde, dass er ihr ein verantwortungsvoller Bruder sein wollte, ein würdiger Petrow, der es verdiente, ein Erbe mit diesem Namen anzutreten. Vor allem aber würde er seinen Vater um Rat fragen müssen.
Mit dem Aufzug fuhr er nach unten ins Restaurant und ging hinaus in den Hof. Aus den Lagerräumen des Restaurants hörte er die Melodie des Lullaby, die in süßer Sehnsucht schmelzende Stimme von Mia Farrow.
Radostin Petrow sah sich im Hof um, hob den Blick zu den Hotelfenstern. Auf der Klappe eines Müllcontainers hockte ein kleiner Spatz und musterte ihn. Die Container standen unter einem Dach, das von wildem Wein umrankt war, gleich daneben wuchs eine ausladende Robinie. Die Fünf-Sterne-Gäste sollten sich nicht gestört fühlen durch einen unschönen Anblick oder unangenehme Gerüche. Radostin Petrow nahm sich den erstbesten Abfallsack, der neben dem Kücheneingang stand, und ging zu den Containern. Er öffnete die quietschende Klappe, Gestank schlug ihm entgegen. Das war schon witzig, der Fünf-Sterne-Müll stank schlimmer als der älteste Abfallkübel im Dorf seines Vaters, und irgendwie witzig war auch, dass er, Radostin Petrow, jetzt im Dreck wühlen würde. Alte, verbeulte Müllcontainer, ein auf Hochglanz poliertes, neues Hotel, und er benahm sich wie der letzte Lumpensammler. Er zog die beiden roten Plastiktüten heraus und sah hinein.
Mia Farrow sang immer noch, als wäre die Platte hängen geblieben, von der Straße ertönte das Geheul von Sirenen. Radostin Petrow hatte eine Anweisung erhalten, und er wollte seiner Schwester ein Studium ermöglichen. Und seinen Vater würde er vielleicht lieber doch nicht um Rat fragen. Der Gast hatte gesagt, dass er sich beeilen solle, also beeilte er sich.
Als er das Hotel verließ, beunruhigten ihn die Scheine in seiner Hosentasche nicht mehr. Er lächelte mit verschlagener Freude. Was hatte ihm die Wahrsagerin zuletzt prophezeit? Dass er ein gutes Geschäft machen würde. Ja – mehr als nur eins!
Sich sein Opfer aussuchen, die Pläne bis ins Kleinste ausarbeiten, seinen Rachedurst stillen und dann schlafen gehen. Etwas Schöneres gibt es nicht auf der ganzen Welt.
Stalin, nach: Simon Sebag Montefiore,
Stalin: Am Hof des Roten Zaren
Die Häuserzeile in der Straße in Berlin-Neukölln war an einer Stelle unterbrochen. Die Lücke – vermutlich die Spur einer Fliegerbombe der Alliierten –, in Breite und Tiefe den Ausmaßen eines Hauses entsprechend, wirkte, um es behutsam auszudrücken, wenig einladend.
Die Kirchturmuhr zeigte sechs. Die ersten Tropfen fielen auf den Bürgersteig. Kommissar Kowalski stellte den Kragen hoch. Die dunkle Wolke im Abendhimmel schien nur über ihm und diesem wenig idyllischen Gelände zu hängen.
Unwillig betrachtete er das Areal, auf dem sich eine Unmenge an Müllsäcken stapelte. Dazwischen ragten die Reste zertrümmerter Möbel in die Luft. Ausgeweidete Matratzen und ein verrosteter Käfer ohne Türen vervollständigten das Bild. Im Hintergrund erhob sich die Fassade des Hinterhauses, auf der in weißer Farbe gepinselt stand:
SIE WOLLEN UNS ANS ENDE DER WELT JAGEN, DOCH DIE ERDE IST RUND!
Kowalski rang sich ein Lächeln ab. Das Haus hatte nicht nur zwei Weltkriege überstanden, sondern auch noch eine Belagerung durch Hausbesetzer. Längst war der Putz von der Mauer gebröselt, nur ganz oben, dort, wo die Aufschrift prangte, hielt er sich noch. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt oder mit Pappkarton verblendet. Die zweiflügelige Eingangstür mit den hohen Kämpferfenstern musste einmal herrschaftlichen Glanz ausgestrahlt haben, jetzt bot sie sich kläglich dar. Mehrere Schichten Ölfarbe hatten die Schnitzmuster ruiniert, von den Metallverzierungen waren nur die Umrisse geblieben. Von einer Klingeltafel keine Spur. Auch die Klinke suchte man vergebens.
Umso befremdlicher wirkte der Anblick des säuberlich an der Wand aufgeschichteten Brennholzstapels, der ebenso säuberlich mit einer Folie abgedeckt war. Das Ganze wurde von einer Hoflaterne beleuchtet, die eher bedrohliche Schatten warf, als dass sie Licht spendete.
Kowalski trat seine Kippe aus. Von diesem Ort hatte er oft genug gehört. Seinen Vorgesetzten bereitete das Haus so manchen Ärger, brachte sie zur Weißglut. Wie jeder Ärger, vor dem man ratlos stand, wenn er sich nicht bewältigen ließ. Ständig wurde das Haus observiert. Gegenwärtig standen vier Polizeiwagen auf der Straße. Zahlreiche Beamte sicherten das Objekt. Einen von ihnen kannte der Kommissar. Und dieser Kollege kam jetzt auf ihn zu.
»Ganz oben«, sagte er zu Kowalski und deutete mit dem Blick in die Höhe.
Kowalski wusste, dass es hier in letzter Zeit etliche Durchsuchungen gegeben hatte, die aber ergebnislos geblieben waren. Die Roma, die in Verdacht standen, Bagatelldelikte zu begehen, kleinere Diebstähle vor allem, hatten in der Regel weder Aufenthaltsgenehmigungen noch überhaupt irgendwelche Papiere, weshalb man sie am Tag darauf zähneknirschend wieder gehen ließ, um auf die nächste Gelegenheit zu warten, sie festzunehmen. Wie viele von ihnen hier wohnten, konnte auch niemand sagen. Wenn die einen verschwanden, kamen die nächsten, oder es kehrten nach einer Weile die ersten wieder. Oder auch nicht. Taschendiebe, Penner, Drogendealer … im Laufe der Zeit war die Liste der Probleme in Neukölln immer länger geworden. Gegenwärtig schienen die Roma an erster Stelle zu stehen. Und in der gesellschaftlichen Hierarchie nahmen sie ohne Frage die letzte ein.
»Wie soll man die Zigeuner am Arsch kriegen, wenn es sie theoretisch gar nicht gibt und sie sich praktisch trotzdem hier herumtreiben?«, klang Kowalski noch im Ohr, was er kürzlich auf einer Besprechung im LKA gehört hatte – aus dem Mund von Hauptkommissar Tschapieski, der mit seinen Worten nicht zimperlich war, und mitunter auch nicht mit seinen Methoden.
Das Haus war ein Dorn im Auge der Polizeidirektion 5, Friedrichshain-Kreuzberg/Neukölln. In den Medien jagte ein Skandalbericht den anderen. Dass die Roma-Kinder nicht zur Schule gehen, dass die Frauen betteln, dass die Männer stehlen, und dass die Mieter aus den Nachbarhäusern der Reihe nach wegziehen, weil der Dreck zum Himmel stinkt. Europäischer Standard sozusagen. Und ein solcher Routinestandard schon, dass auf den Einsatzbesprechungen alle der Schlaf übermannen wollte, denn in Wirklichkeit juckte das Roma-Haus niemanden mehr. Abgesehen von Tschapieski, abgesehen von Kossmann, dem Direktor der Fünften, und abgesehen vom sorgengeplagten Bürgermeister von Neukölln. Kossmann brachte das Haus in Rage, der Bürgermeister stand unter Strom, weil nach jedem Artikel in der Presse, nach jedem Bericht im Radio oder Fernsehen seine Telefonleitung heiß lief. Das unselige Haus mit den Bergen von Müllsäcken davor geisterte aber auch ständig durch irgendwelche Reportagen. Es schrie geradezu nach Berichterstattung.
Kommissar Kowalski wusste von alledem nur wenig, mit Kossmann hatte er nicht viel zu tun, den Bürgermeister kannte er nicht persönlich, und was das Haus betraf – sein sechster Sinn sagte ihm, was es war. Ein Wort genügte: verflucht.
Er überquerte den Müllplatz, sauer, dass er den Anruf von Flatow überhaupt entgegengenommen hatte. Seit einem Jahr arbeitete er jetzt mit dem Assistenten Flatow zusammen, und das mit wechselndem Erfolg. Er war sauer, dass er gerade in der Nähe gewesen war, sauer auf den Regen und das verfluchte Haus. Sauer auf alles und jeden.
Nicht die geringste Lust hatte er, sich jetzt noch einen neuen Fall aufzuhalsen, morgen begann sein Urlaub. Irgendwelche alten oder neuen Fälle konnten ihm ohnehin gerade gestohlen bleiben. Sein Hund war krank und er erwartete jeden Moment den alles entscheidenden Anruf des Tierarztes. Er sah seine Babsi, die zwölfjährige Hündin, wie sie ihn mit traurigen Augen anschaute. Zu schwach, um noch zu bellen, zu schwach schon zu allem. Außerdem war er müde, entsetzlich müde. Seit Monaten schon. Unsägliche Erschöpfung. Kowalski hatte keine Lust zu gar nichts.
Zuerst hatte er eben auch gedacht, der Tierarzt rufe ihn an, doch dann war es Flatow gewesen. Ziemlich aus der Fassung. Und weil Tschapieski den Kommissar Kowalski gerade auf dem Kieker hatte, wollte er ihn nicht ausgerechnet jetzt, am Tag vor seinem Urlaub, unnötig reizen. Außerdem gab es Gerüchte, Tschapieski solle befördert werden. Da wäre es doppelt ungünstig, ihn zu vergrätzen. Also hatte er Flatow gesagt, dass er sich beeilen wolle, dass er gleich vor Ort sei, und das Gespräch beendet. Doch hatte er auch aus Flatows aufgeregtem Gestotter genug erfahren. Er wusste jetzt, dass es eine Leiche gab. Und dass es schrecklich sei.
Wieder einmal bescherte ihm das böse Schicksal den Fall im ungünstigsten Augenblick. Und nun sollte er nicht ruhen, bis er ihn gelöst hätte. Doch konnte das Schicksal sich auch verrechnen, denn nicht alle Fälle brachte der Kommissar zur Aufklärung. Seine Quote war nicht schlecht, aber 100 % betrug sie nicht. Und wie die meisten Kollegen verdankte auch er in jüngster Zeit seine guten Ergebnisse vor allem den hervorragenden Qualitäten eines Polizeipsychologen sowie einer gewissen Schwäche mancher seiner Vorgesetzten. Die ließen nämlich, was die mitunter unkonventionellen Methoden betraf, mit denen Kowalski und seine Kollegen arbeiteten, fünfe gerade sein.
Es waren einige Freiheiten, die gestattet wurden. Berichte ließen ewig auf sich warten, Fortbildungen fanden ohne die besagten Herren Ermittler statt, auch auf Betriebsfeiern – und selbst zu Weihnachten etwa – waren sie nicht zugegen. Und besonders heikel war, dass die Arbeitszeit mit der biologischen Uhr gemessen wurde, das heißt, Kowalski kam und ging, wie es ihm beliebte. Und in den Stunden, in denen er anwesend war, tat er, wonach ihm der Sinn gerade stand.
So jedenfalls sah es Tschapieski.
»Ick warne Sie, Kowalski! Ick warne Sie!« Und nach Luft schnappend fuchtelte er ihm mit seinem Wurstfinger vor der Nase herum.
In letzter Zeit schnappte er immer öfter nach Luft, und unter normalen Umständen hätte Kowalski sich das vielleicht zu Herzen genommen, doch seit ein paar Monaten waren die Umstände nicht mehr normal. Mit Kowalski ging etwas vor sich und das war alles andere als gut. Ständig begleiteten ihn Gedanken an die Vergänglichkeit, das Leben erschien ihm sinnlos, er schlief miserabel, ständig war er übermüdet, eine bodenlose Unlust hatte ihn befallen. Das alles machte ihm immer mehr zu schaffen.
Trotz der Krise gelang es Kowalski, ein Minimum an Willen zu mobilisieren, um sein Leben, das heißt: seine Arbeit in Angriff zu nehmen. Eine andere Existenz kannte er seit zwanzig Jahren nicht. Einmal abgesehen von ein paar längst verflossenen Beziehungen, die nicht lange gehalten hatten. Und abgesehen von Babsi. Ansonsten galten seine Gedanken ausschließlich seiner Arbeit, die ihn in der letzten Zeit zunehmend pessimistisch stimmte mit banalen und ausgesprochen langweiligen Ermittlungen. Und heute früh hatte es ihm klar vor Augen gestanden: Es gab nichts, aber auch rein gar nichts, was ihn noch in irgendeiner Weise interessierte.
Bisher war es Babsi gewesen, die ihn dazu gebracht hatte, aufzustehen. Jeden Morgen hatte er einen langen Spaziergang mit ihr gemacht. Durch die Straßen der Stadt, die er kannte wie kein Zweiter. Vor allem auch deshalb, weil er jeden Tatort selbst in Augenschein nahm. Egal wie weit draußen er sich befinden mochte. Außerdem zog er ständig um. Im Schnitt alle zwei Jahre.
Auch diese Umzüge kaute er mit dem Polizeipsychologen durch. Auf manche Fragen gab er keine Antwort. Weil er nicht wollte oder weil er keine wusste. Er zog einfach um, von einem Kiez in den nächsten, und fertig. So hatten sie sich fürs Erste darauf geeinigt, dass er das Gefühl brauchte, von nichts und niemandem abhängig und niemandem irgendetwas schuldig zu sein.
Seiner Arbeit kam dieses Nomadendasein natürlich zugute. Er kannte jeden Winkel, jede Spelunke, jede Edelpinte, jeden Park, jeden Puff, jede Kirche. Jedes Theater, jeden Bahnhof, jede U-Bahn-Station. Die vornehmen Viertel ebenso wie diesen weniger noblen Ort, an dem er sich gerade befand.
In Berlin konnte man überall wohnen. Und überall konnte man einen Mord begehen. Zum Beispiel auch hier bei den Roma.
Er betrat das düstere Treppenhaus. Ein Flur führte zur nächsten Tür, und die führte hinaus auf den nächsten Hof, der von weiteren Gebäuden umschlossen war.
Da werden wir was zu tun haben, dachte er, als er dort drei weitere Hauseingänge sah.
Er hätte nicht gedacht, dass diese Roma-Siedlung so weitläufig war. Verglichen mit dem Müllplatz vorne sah der Hof erstaunlich sauber aus. In der Mitte wuchsen ein paar krumme Birken, schwarzhaarige Kinder sausten einem Ball hinterher. Er fragte sich, ob sie Deutsch konnten, und ob man überhaupt irgendetwas von ihnen erfahren würde.
Vor ein paar Monaten noch hätte er jetzt einen Adrenalinschub verspürt, die Treppe vielleicht sogar im Laufschritt genommen, um keine Zeit zu verlieren. Hätte sich gefreut. Dass es einen Fall gab, eine Leiche. Wie krank das war! Alles um ihn herum war krank. Der Sinn seines Lebens lag im gewaltsamen Tod anderer Menschen. Er wusste, dass dieses Denken ins Nichts führen musste, aber anders zu denken, war er nicht imstande. Er konnte nicht anders, wollte es nicht anders.
Er hob den Kopf. Zwischen den Stücken von Bettwäsche, die im Hof auf der Leine hing und die sich niemand bisher anschickte, aus dem Regen zu holen, bemerkte er dunkle Schemen in den Fenstern gegenüber, die jetzt ins Zimmer zurückwichen. Unwillig betrachtete er die Treppe. Ausgerechnet der vierte Stock. Wie ihm das alles zuwider war.
Aus der angelehnten Kellertür wehte Kartoffelmoder. Andere Gerüche nahm er im Treppenhaus nicht wahr, auch keine Stimmen waren zu hören, keine Geräusche, nichts. Wären da nicht die blätternde Farbe und die fehlenden Klingeln, es hätte jedes beliebige andere Haus in Berlin sein können. Hätte, hätte … Und wäre da nicht diese lastende Stille gewesen. Etwas stimmte hier nicht, das spürte er, und das hatte nichts mit dem Pulsieren in seinen Schläfen zu tun oder mit der Leiche, die er gleich zu sehen bekäme. Es schien, als wäre dieses Haus völlig ausgestorben. Außer den Kinderstimmen im Hof und den Polizisten, die ihm eben auf der Treppe entgegenkamen, unter ihnen auch Kollegen von der Fünften, war hier keine Spur menschlicher Anwesenheit.