Der Mann, der aufrecht blieb - Ford Madox Ford - E-Book

Der Mann, der aufrecht blieb E-Book

Ford Madox Ford

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Beschreibung

Eine letzte große Schau des Zerfalls der englischen Gesellschaft im Ersten Weltkrieg. Nach jahrlanger Trennung und Ungewissheit sehen sich der Kriegsheimkehrer Christopher Tietjens und die von ihm verehrte Valentine Wannop am Tag des Waffenstillstands wieder. Doch die quälenden Bilder des grauenhaften Krieges lassen ihn noch nicht los. Allerdings hat er jetzt – nachdem im Krieg die alte Welt des Viktorianismus und der feudalen Tradition untergegangen ist – die Kraft, sich den Angriffen seiner ihn hassenden Ehefrau zu entziehen, und ist reif, sich zu seiner Liebe zu Valentine zu bekennen. Bisher hatte er sich dies aus Gründen gesellschaftlicher Konventionen versagt. Aus dem Albtraum des Krieges und dem Chaos einer orientierungslosen Gegenwart erwächst den Liebenden die Chance eines Neubeginns. Beider Ziel ist es, gemeinsam ein Leben zu führen, in dem sie sich nicht mehr vor Kugeln und Intrigen wegducken müssen, und das zu tun, wofür sie sich gegenseitig verehren: aufrecht zu bleiben. Ford Madox Fords Fähigkeit, die Nachwirkungen der historischen Ereignisse bis in die Seelen der Menschen hinein zu erkennen und zu beschreiben, macht ihn zu einem der »ganz großen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Graham Greene). Band 3 der Tetralogie Ende der Paraden. »Grandiose Weltliteratur.«Joachim Scholl, Deutschlandfunk »Der beste Roman über den Ersten Weltkrieg.«Anthony Burgess

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Seitenzahl: 390

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Ford Madox Ford

Der Mann, der aufrecht blieb

Band 3 der Tetralogie »Das Ende der Paraden«

Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort von Joachim Utz

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Ford Madox Ford

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Hinweis

Teil Eins

I. Kapitel

II. Kapitel

III. Kapitel

Teil Zwei

I. Kapitel

II. Kapitel

III. Kapitel

IV. Kapitel

V. Kapitel

VI. Kapitel

Teil Drei

I. Kapitel

II. Kapitel

Nachwort

I. Kapitel

II. Kapitel

III. Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Das englische Original erschien unter dem Titel »A Man Could Stand Up« im Jahr 1926 bei Duckworth & Co in London.

Im Sinne der Originaltreue wurden bei der Übersetzung gewisse systematische und grammatikalische Inkonsistenzen in Kauf genommen.

Inhaltsverzeichnis

Teil Eins

I

Langsam, unter unerträglichem Lärm teils von der Straße, teils aus dem großen, mächtig widerhallenden Schulhof, begann in Valentines Wahrnehmung das Innere des Telefons sich in etwas zu verwandeln, wofür sie es schon vor Jahren gehalten hatte – in ein Teil des übernatürlichen Zubehörs des unerforschlichen Schicksals.

Es war auf subtile Weise beunruhigend, dass das Telefon völlig frei in einer Ecke des großen Schulraums stand, an das sie, in einem Augenblick großer Anspannung, mit höchster Dringlichkeit vom asphaltierten Schulhof gerufen worden war – wo die unter ihrer Anleitung in Reihen aufgestellten und wie unter elektrischer Hochspannung stehenden Mädchen gerade noch hatten im Zaum gehalten werden können. Und kaum hatte Valentine den Hörer am Ohr, wurde sie von einer Stimme, die ihr halbwegs bekannt vorkam, mit unverständlichen Mitteilungen überschwemmt. Mitten in einem Satz versetzte es ihr einen Stoß: »… dass er voraussichtlich unter Aufsicht gestellt werden müsse, was Ihnen nicht gefallen dürfte!« Danach explodierte der Lärm wieder und die Stimme ging darin unter.

Eigentlich, dachte sie, müsste in diesen Minuten die ganze Welt unter Aufsicht stehen; das galt, wie ihr bewusst war, auch für sie selbst. Aber einen männlichen Verwandten, auf den speziell dieses Urteil gemünzt sein mochte, hatte sie nicht. Ihr Bruder? Der war auf einem Minenräumboot. Das lag derzeit im Dock. Und jetzt … endgültig in Sicherheit! Es gab da auch einen alten Großonkel, den sie nie gesehen hatte. War irgendwo Domdechant … In Hereford? Oder Exeter? … Irgendwo … Hatte sie eben Sicherheit gesagt? Sie wankte vor Glück!

Sie sagte in die Sprechmuschel:

»Valentine Wannop am Apparat … Leibeserzieherin an dieser Schule, hören Sie?«

Sie musste den Eindruck erwecken, bei gesundem Verstand zu sein … zumindest vernünftig wollte sie klingen!

Die Stimme im Telefon, an die sie sich, zu ihrer Qual, nur vage erinnern konnte, wartete jetzt mit weiteren Unverständlichkeiten auf. Sie klang, als käme sie aus einer Höhle und spräche mit atemloser Schnelligkeit jedes »S« so übertrieben aus, als wollte sie vor Angriffslust spucken.

»Sssein Bruder hat Lungenentzündung; nicht einmal sseine Mätresssse kann ssich um ihn kümmern …«

Dann war die Stimme weg; dann kam sie wieder mit dem Satz:

»Sie sollen jetzt Freunde sein!«

Dann wurde sie eine ganze Weile lang von einem Meer schriller Mädchenstimmen aus dem Schulhof und von einem Ozean heulender Fabriksirenen überflutet, begleitet von unzähligen, dicht aufeinanderfolgenden Explosionen. Woher, in aller Welt, hatten die Bewohner dieser hässlichen Vorstadtstraßen, in deren Mitte die Schule lag, diese Knallkörper? Und wo kriegten sie den Alkohol, dass sie diesen wahnsinnigen Krawall machen konnten? Langweilige Leute! Hausten in leberbraunen Schachteln. Auf den ersten Blick keine imperiale Rasse.

Er habe, stieß die zischende Stimme voller Verachtung aus, nach Aussage des Portiers keinerlei Möbel und scheine den Portier nicht wiederzuerkennen … Unwahrscheinlich klingende, von den Geräuschen von draußen halb überlagerte Mitteilungen, doch in einem Ton, dass zu vermuten war, das Gesagte solle wehtun.

Dennoch war es unmöglich, es nicht von der fröhlichen Seite zu nehmen. Dort drüben, viele Meilen entfernt, schien dieses Ding unterzeichnet worden zu sein – vor wenigen Minuten. In ihrer Vorstellung sah sie eine endlose Reihe böser, übellauniger Kanonen zum letzten Mal feuern.

»Ich habe keine Ahnung«, brüllte Valentine Wannop in die Sprechmuschel, »was Sie wollen oder wer Sie sind.«

Sie bekam einen Titel zurück … Lady Irgendwer … Hätte Blastus sein können. Möglich, überlegte sie, dass eine der Damen des Schulvorstands zur Feier dieses Glückstages eine sportliche Veranstaltung in der Schule anordnen möchte. Die eine oder andere dieser Damen wollten immer etwas von der Schule gefeiert sehen. Zweifellos hatte die Direktorin, der es nicht an Sinn für Humor fehlte – zumindest nicht gänzlich! –, diese titeltragende Dame, der sie eine halbe Stunde lang geduldig zugehört hatte, an Valentine Wannop übergeben. Bestimmt hatte die Direktorin jemanden auf den Schulhof geschickt, wo sie alle den Atem angehalten hatten, und Valentine Wannop mitteilen lassen, dass am Telefon eine Person war, der, wie Miss Wanostrocht, die besagte Direktorin, glaubte, Miss Wannop besser zuhören sollte … Und das hieß: Miss Wanostrocht musste verstanden haben, was die jetzt nicht identifizierbare Dame mit dem Titel gesagt hatte. Das war freilich schon zehn Minuten her … Bevor die Kanonenschläge oder die Sirenen oder sonst was, losgegangen waren … »Der Pförtner sagte, er habe überhaupt keine Möbel … Er schien den Pförtner nicht zu erkennen … Sollte wohl unter Aufsicht gestellt werden!« Valentines Hirn rekapitulierte die Informationen von dieser (einstweiligen) Lady Blastus. Sie vermutete jetzt, dass die Sorgen dieser Lady dem pensionierten Drill-Sergeant galten, den die Schule hatte, bevor man sie, Valentine, als Leibeserzieherin anheuerte. Sie sah den ehrwürdigen, mummelnden Gentleman vor sich, mit den Ordensbändern auf seiner schwarzen Dienstmannsuniform. Lebte vermutlich in einem Altersheim, in dem der Schulvorstand ihn untergebracht hatte. Bestimmt hatte er seine Möbel verpfändet …

Eine fiebrige Hitze erfasste Valentine Wannop. Sie glaubte, dass ihre Augen Blitze schleuderten. War das der Augenblick?

Sie wusste nicht einmal, ob das, was man da alles losgelassen hatte, Kanonenschläge oder Flugzeuggeschütze oder Sirenen waren. Der Krach – wodurch immer – war ausgebrochen, während sie durch den unterirdischen Gang vom Schulhof zum Schulraum ging, um sich mit diesem heimtückischen Telefon einzulassen. Deshalb hatte sie das Signal nicht gehört. Sie hatte das Signal verpasst, auf das die Ohren einer ganzen Welt seit Jahren gewartet hatten, seit einer Generation. Seit einer Ewigkeit. Kein Signal. Als sie den Schulhof verlassen hatte, war es totenstill gewesen. Alle hatten gewartet: Mädchen, die sich mit der Gummisohle des einen den Knöchel des anderen Fußes rieben …

Demnach würde sie sich für den Rest ihres Lebens nicht daran erinnern können, wie eine ungeahnte Glücksempfindung Millionen erwartungsvoller Menschen jäh durchzuckte. Außer ihr gäbe es niemand, der sich nicht daran würde erinnern können … Vermutlich an ein stichartiges Zucken des Herzens; vermutlich an ein Atemschöpfen, das sich wie das Einatmen einer Flamme anfühlte! Das war jetzt vorbei; inzwischen befand man sich in einer Situation, in einer Verfassung, die gewisse Dinge auf gewisse Weise beeinflussen würden …

Sie erinnerte sich, dass der mutmaßliche ehemalige Drill-Sergeant einen Bruder hatte, der an Lungenentzündung litt, dessen Mätresse aus diesem Grund nicht zur Verfügung stand …

Gerade wollte sie zu sich sagen:

»So geht’s mir immer!«, als sie sich gut gelaunt erinnerte, dass ihr dergleichen gar nicht oft passierte. Im Großen und Ganzen hatte sie Glück gehabt – mit Höhen und Tiefen. Auch viel Angst zu einer bestimmten Zeit – aber wer hatte die nicht gehabt! Aber robuste Gesundheit; eine Mutter von robuster Gesundheit; einen Bruder, der jetzt in Sicherheit war … Sorgen, ja! Aber nichts, was dermaßen schiefgelaufen war …

Es war wirklich außergewöhnliches Pech! Vielleicht war es ein Omen – dafür, dass in Zukunft auch andere Dinge schieflaufen würden: dafür, dass sie auch andere universelle Erfahrungen versäumen würde. Nie heiraten, zum Beispiel; oder nie das Glück erfahren, ein Kind zu gebären, wenn das ein Glück war! Was es ja vielleicht war, vielleicht aber auch nicht. Die Meinungen darüber gingen auseinander. Auf jeden Fall sollte es, bitte, kein Omen dafür sein, dass sie einige universelle und notwendige Erfahrungen versäumen würde! Nie Carcassonne sehen, wie die Franzosen sagten. Vielleicht würde sie nie das Mittelmeer sehen. Man war kein richtiger Mensch, ohne das Mittelmeer gesehen zu haben; das Meer des Tibull, der Anthologisten, sogar Sapphos … Blau: unglaublich blau!

Die Leute könnten jetzt wieder reisen. Es war unglaublich! Unglaublich! Unglaublich! Aber man könnte. Nächste Woche! Man könnte ein Taxi rufen! Und sich nach Charing Cross fahren lassen! Und einen Gepäckträger mieten! Einen ganzen Gepäckträger! … Die Flügel, die Flügel einer Taube; dann würde ich fortfliegen, fortfliegen und Granatäpfel essen neben einer unendlichen Badewanne voller Blau wie in der Waschmittelreklame. Unglaublich, aber das könnte man.

Sie fühlte sich wieder wie achtzehn. Keck! Unter Einsatz ihrer kräftigen, metallisch klingenden Cockneystimme, mit der sie auf Frauendemonstrationen Störer niedergeschrien hatte, bevor … bevor dieser … Laut schrie sie ins Telefon:

»Passen Sie auf, egal wer Sie sind! Vermutlich haben sie es geschafft. Hat man es, wo Sie wohnen, mit Kanonenschlägen oder Sirenen verkündet?« Sie wiederholte es drei Mal, und es war ihr egal, ob Lady Blastus oder sonst eine Lady Blast am anderen Ende war. Sie war entschlossen, diese alte Schule zu verlassen und im Schatten des Felsens, wo Penelope, Gattin des Odysseus, ihre Wäsche wusch, Granatäpfel zu essen. Mit ganz viel Blau im Wasser! Ob in jener Gegend die Unterwäsche durch die Farbe des Meeres einen Blaustich bekam? Könnte sein! Sie könnte! Sie könnte! Dorthin könnte sie gehen, mit ihrer Mutter und ihrem Bruder, dorthin, wo man … Oh ja, neue Kartoffeln essen könnte! Im Dezember, wenn das Meer besonders blau ist … Welche Gesänge die Sirenen sangen und ob …

Keiner Lady würde sie mehr Respekt bezeigen. Obwohl sie eine finanziell unabhängige junge Frau war, war sie bis heute dazu gezwungen gewesen, um der Schule und Miss Wanostrocht mit ihren Vorstandsdamen nicht zu schaden. Jetzt aber … Niemals wieder würde sie irgendjemandem Respekt bezeigen. Sie war durch die Mühle gedreht worden: Die ganze Welt war durch die Mühle gedreht worden! Nie mehr Respekt!

Wie sie sich hätte denken können, bekam sie prompt eins aufs Dach – für ihre Forschheit!

Die zischende, bitterböse Stimme aus dem Telefon nannte genau jene Adresse, die sie nicht hören wollte:

»Lincolnssss … Inn!«

Es klang wie Sünde! … Wie der Teufel!

Es tat weh.

Die grausame Stimme sagte:

»Ich ssspreche von dort!«

Beherzt sagte Valentine:

»Schön; ist ein großer Tag. Vermutlich werden Sie genau wie ich von dem Jubel gestört. Ich versteh nicht, was Sie sagen. Ist auch egal. Sollen sie jubeln!«

Genauso fühlte sie sich. Was nicht hätte sein dürfen.

Die Stimme sagte:

»Sie erinnern sich an Ihren Carlyle …«

Sie hörte es mit Widerwillen. Den Hörer ans Ohr gepresst, schaute sie in dem großen Schulraum umher, der Aula – so gebaut, dass tausend Mädchen schweigend darin sitzen konnten, während die Direktorin ihre Reden hielt, denen diese Schule ihren besonderen Ruf verdankte. Repressiv! … Mit seinen hohen, nackten Wänden und den gotischen Fenstern, die bis unter die mit Pitchpine verkleidete Decke hinaufreichten, glich der Raum einer freikirchlichen Kapelle. Repression suggerierte dieser Ort; genau der Ort, an dem man heute nicht sein durfte … Auf der Straße hätte man sein müssen, Polizisten mit Schweinsblasen was auf die Helme geben. Das war Cockney London: So drückte Cockney London sich aus. Gutmütig Polizisten verkloppen, weil sie steif waren und peinlich berührt von diesen massenhaften Sympathiebezeugungen, hin und her geschoben von jubelnden Massen, über deren Köpfe hinweg sie ihre Blicke schweifen ließen, unnahbar wie von gemeineren Gewächsen bedrängte Pappeln.

Sie aber war hier, und irgendjemand erinnerte sie an Thomas Carlyles Verdauungsstörungen!

»Oh!«, rief sie in das Gerät. »Edith Ethel, du!« Edith Ethel Duchemin, jetzt natürlich Lady Macmaster! Aber es war ungewohnt, an sie als an eine Lady Soundso zu denken.

Die letzte Person auf der Welt, die absolut letzte! Es war nämlich schon sehr lange her, dass sie ihr Verhältnis zu Edith Ethel als beendet betrachtet hatte. Und es war unbezweifelbar, dass sie von sich aus keinen Schritt auf die in den Adelsstand erhobene Person würde zugehen können, die rachsüchtig alles missbilligte, was, sozusagen, in finsterer Absicht und unter schwarzen Schatten entstanden war. Alles, was nicht von unmittelbarem Nutzen für Edith Ethel war!

Und in ihren feinen Gewändern an dem mageren Körper hatte sie für jede Gelegenheit ganze Listen passender Zitate parat. Rossetti für die Liebe; Browning für Optimismus – was eher selten der Fall war; mit Walter Savage Landor wurde Vertrautheit mit etwas entlegenerer Prosa demonstriert. Und das Carlyle-Zitat, das nie ausblieb, wenn es galt, Ausschweifungen zu unterbinden: zum Neujahrstag, zu Gottesdiensten, Siegesfeiern, Geburtstagen, festlichen Anlässen … Eben kam das Zitat durch die Leitung:

»… Und dann erinnerte ich mich, dass es der Geburtstag ihres Erlösers war!«

Wie gut Valentine es kannte: Wie oft hatte Edith Ethel es mit verächtlicher Selbstgefälligkeit rezitiert. Es war eine Passage aus dem Tagebuch des Weisen von Chelsea, der in der Nähe der großen Kaserne wohnte.

»Heute«, so lautete das Zitat, »fiel mir auf, dass die Soldaten vor dem Wirtshaus an der Ecke betrunkener waren als sonst. Und dann erinnerte ich mich, dass es der Geburtstag ihres Erlösers war!«

Wie vornehm es doch von dem Weisen von Chelsea war, sich bis zu diesem Augenblick nicht zu erinnern, dass Weihnachten war! Auch Edith Ethel versuchte ihre vornehme Überlegenheit zu demonstrieren. Sie wollte beweisen, dass erst Valentine Wannop sie, Lady Macmaster, darauf aufmerksam gemacht hatte, dass dieser Tag etwas Volksfestartiges hatte, was ihr, Lady Mac, bis dahin nicht bewusst geworden war. Wirklich nicht bewusst. Gemeinsam mit Sir Vincent – dem bekannten Kritiker – lebte sie in selbstversunkener Zurückgezogenheit. Und weil beider Sinn auf die höheren Dinge gerichtet war, achteten sie nicht der Kanonenschläge und verfügten inzwischen über eine wirklich bemerkenswerte Sammlung von Erstausgaben, von befreundeten Titelträgern und berühmten Häusern.

Andererseits erinnerte sich Valentine, einst zu Füßen dieser dunkel-geheimnisvollen Edith Ethel Duchemin gesessen zu haben – wohin war alles das entschwunden? –, Anteil an ihrem ehelichen Martyrium genommen und an ihrem beeindruckenden Möbelgeschmack, ihren stattlichen Räumlichkeiten und ihren spirituellen Ehebrüchen Gefallen gefunden zu haben. Deshalb sagte sie gutmütig ins Gerät:

»Wie du dir gleich geblieben bist, Edith Ethel! Was kann ich für dich tun?«

Über die gutmütige Herablassung in ihrer Stimme staunte sie ebenso wie über die Leichtigkeit, mit der sie ihr über die Lippen kam. Dann merkte sie, dass der Lärm sich entfernt hatte, dass Stille eintrat und die Rufe und Schreie weniger wurden, sich zu einer weiter entfernten Menschenansammlung bewegten. Die Stimmen der Mädchen auf dem Schulhof gab es nicht mehr: Die Direktorin musste sie entlassen haben. Man konnte auch verstehen, dass die Bewohner der Nebenstraßen irgendwann keine Knallkörper mehr abfeuern wollten … Sie war allein, fand sich einsam inmitten von etwas völlig Unvorhergesehenem!

Lady Macmaster hatte sie aufgespürt, und sie, Valentine Wannop, sprach mit Lady Macmaster in diesem herablassenden Ton! Warum? Was mochte Lady Macmaster von ihr wollen? Unmöglich – aber natürlich war es nicht unmöglich – konnte sie mit dem Gedanken spielen, Macmaster zu betrügen, und sie, Valentine Wannop, benötigen, den unschuldigen, jungfräulichen, dummen Anstandswauwau oder die Jüngerin zu spielen. Oder Alibi zu sein. Was auch immer. Dumme Gans passte wohl am besten … Zweifellos war Macmaster der Typ, dem jede Lady Macmaster gerne untreu wäre – ja, sein müsste. Ein kleiner, kraftloser, tadelsüchtiger, winselnder Kerl mit dunklem Bart. Der typische Kritiker! Wahrscheinlich betrogen alle Kritikerfrauen ihre Männer. Ihnen fehlte die schöpferische Gabe. Wie sagte man doch dazu? Es war ein Wort, das nicht in den Mund einer jungen Dame gehörte!

Wie ein Cockney-Schulmädchen ließ sie ihren Gedanken freien Lauf. Sie konnte es nicht abstellen. Es geschah zur Ehre dieses TAGES! Einstweilen verhindert, Polizisten was auf den Kopf zu hauen, gab sie sich respektlosen Gedanken über etablierte Autoritäten hin – über Sir Vincent Macmaster, Erster Sekretär im Statistischen Amt seiner Majestät, Autor der Kritischen Monografie über Walter Savage Landor sowie zweiundzwanzig weiterer Kritischer Monografien in der Reihe Die Großen Langweiler … Solcher Bücher! Und entsprechend respektlos und herablassend war sie zu Lady Macmaster, der Muse unzähliger schottischer Schriftsteller! Kein Respekt mehr! Sollte das eine bleibende Nachwirkung des Kataklysmus sein, der die ganze Welt in Mitleidenschaft gezogen hatte? Des letzten Kataklysmus! Gott sei Dank konnte man ihn seit zehn Minuten als den letzten Kataklysmus bezeichnen!

Sie kicherte doch tatsächlich vor dem Telefon, aus dem jetzt drängend, schmeichelnd, die Stimme Lady Macmasters tönte und sagte – als sei ihr bewusst, dass Valentine nicht recht bei der Sache war:

»Valentine! Valentine! Valentine!«

»Ich höre!«, sagte Valentine gleichgültig.

Was nicht wirklich zutraf. In Wirklichkeit überlegte sie, ob in der Lehrerinnenkonferenz, die an diesem Morgen feierlich im Privatzimmer der Direktorin stattgefunden hatte, nicht doch mehr Verstand gewaltet hatte. Zweifellos hatten die Lehrerinnen mit der Direktorin an der Spitze befürchtet, die Welt werde in Scherben fallen, sollte man ihnen, den Direktorinnen, den Lehrerinnen, den Lehrern, den Pastoren – die mich erschufen, und so weiter und so fort! – keinen Respekt mehr entgegenbringen, weil auf einen Kanonenschlag hin Orgien ausbrachen! Eine schreckliche Vorstellung! Mädchen, die nicht mehr stumm in der Nonkonformisten-Kapelle saßen, während die Direktorin eine Rede voller Ermahnungen an sie richtete …

Erst am vergangenen Nachmittag hatte sie in jener Aula eine Rede gehalten, die den Satz »Das Ansehen einer großen Privatschule« enthielt und in der sie, eine blonde, magere Frau mit eckigen Ellbogen, der ein wenig Sonne in ihr zu einem Knoten geschlungenes blondes Haar schien, ernsthaft die Mädchen ersucht hatte, die Freudenbezeigungen des vorausgegangenen Tages nicht zu wiederholen. Am Tag zuvor hatte es nämlich einen falschen Alarm gegeben, und die ganze Schule – wie grässlich – hatte gesungen:

»Hängt Kaiser Willi am Apfelbaum auf

Und bis zum Tee ist’s mit ihm Aus, Aus, Aus!«

In ihrer heutigen Rede gab sich die Direktorin überzeugt, eine geläuterte Schule vor sich zu haben, eine Schule, die sich jedenfalls töricht fühlte, weil das Gerücht vom Vortag sich als Falschmeldung erwiesen hatte. Folglich schärfte sie den Mädchen ein, welche Art von Freude sie zu empfinden hätten, nämlich eine gedämpfte Freude, geeignet, sie still nach Hause gehen zu lassen. Das Blutvergießen sei beendet worden: ein angemessener Grund zu häuslicher Freude – gleichsam eine Hausaufgabe. Es dürfe kein Triumphgeschrei geben. Gerade die Tatsache, dass man die Feindseligkeiten beendet habe, schließe Triumphgeschrei aus.

Valentine überraschte sich bei der Überlegung, wann überhaupt es statthaft sein könnte, Triumph zu empfinden? … Solange nicht, solange noch miteinander gerungen wurde; und nicht, wenn man gesiegt hatte! Wann dann? Die Direktorin erklärte den Mädchen, als zukünftige Mütter Englands – nein, eines wiedervereinten Europa! – sei es ihr Amt, ihre Hausaufgaben zu machen, anstatt mit Karikaturen des Großen Besiegten auf den Straßen herumzulaufen! Sie bezeichnete es als ihre Aufgabe, mehr vom Licht einer weiblichen Kultur – die zu vergessen ihnen hier, dem Himmel sei Dank, nie erlaubt worden sei! – über einen sich wieder erhellenden Kontinent auszugießen … Als könne man jetzt einfach die Lichter wieder anschalten, nachdem nichts mehr von U-Booten oder Luftangriffen zu befürchten war!

Und Valentine hätte gerne verstanden, warum sie einen aufrührerischen Augenblick lang gerne Triumph empfunden hätte … warum sie bei irgendjemanden gerne Triumphgefühle bemerkt hätte. Er … sie alle … hatten es sich doch so heiß gewünscht. Durften sie nicht wenigstens einen Augenblick lang Triumph empfinden – einen Feiertag lang! Auch wenn es falsch war? oder vulgär? Etwas Menschliches, hatte mal jemand gesagt, sei wichtiger als ein ganzer Wald von Gesetzestafeln!

Doch auf der Lehrerinnen-Konferenz an jenem Morgen war Valentine aufgegangen, dass das, wovor sie sich wirklich fürchteten, jener neue Ton war. Die Furcht hatte sehr klare Konturen. Wenn an dieser Wegscheide, an diesem Riss durch die Tafel der Geschichte, die Schule – die Welt, die zukünftigen Mütter Europas – außer Kontrolle gerieten – würden sie sich je wieder führen lassen? Davor hatte die Regierung – hatten alle Regierungen der Welt Angst. Davor fürchteten sie sich mehr als vor irgendetwas sonst. War das Verschwinden von Respekt denn wirklich etwas Unmögliches? Respekt weder für verfasste Autorität noch geheiligten Brauch?

Und während sie sich die Befürchtungen dieser gramgebeugten, unterernährten Damen anhörte, war Valentine Wannop ins Grübeln verfallen.

»Kein Respekt mehr … Für den Äquator! Für das metrische System. Für Sir Walter Scott! Oder George Washington! Oder Abraham Lincoln! Oder das siebente Gebot!«

Sie errötete bei der Vorstellung, wie die blonde scheue Miss Wanostrocht mit ihren eckigen Ellbogen – die Direktorin! – den trügerischen Schmeicheleien eines Verführers erlag! … Genau hier drückte der Schuh! Jetzt kam es darauf an, die Zügel in der Hand zu behalten – bei den Mädchen, der Bevölkerung, bei jedermann! Niemand konnte wissen, wohin dich diese Massen gleich einer riesigen Meereswoge spülen würden, ließe man jetzt locker. Nur der Himmel wusste es! Unvorstellbares könnte sich ereignen – dass Adelsfamilien unter die Händler gingen, dass Gentlemen Geschäftemacher wurden! Das Undenkbare würde eintreten!

Mit ein wenig verstohlener Freude wurde Valentine klar, dass diese Konferenz im Begriff war zu beschließen, dass die Mädchen an diesem Morgen auf dem Schulhof beschäftigt werden sollten – mit Leibesübungen. Sie hatte sich nie viel Herablassung von dem humanistisch orientierten Zweig des Establishments mit den nachlässigen Frisuren gefallen lassen. Doch als die perfekte Klassizistin, die sie einmal gewesen war, hatte sie anerkennen müssen, dass von den an der Schule unterrichteten Fächern die humanistischen das waren, was unter den Waffengattungen die Kriegsmarine war. Sie war dort nur, um ihren Beitrag zu leisten – weil ihr berühmter Vater besonderen Wert auf die Ertüchtigung ihres Körpers gelegt hatte, der kraftvoll und bewunderungswürdig war. Nur um ihren Beitrag zu leisten war sie eine Zeit lang dort gewesen – wie die Arbeiterinnen in der Rüstungsindustrie und dergleichen –, war aber dennoch immer bescheiden geblieben und hatte bis jetzt noch nie auf einer Lehrerinnenkonferenz die Stimme erhoben. Die Welt war wirklich auf den Kopf gestellt – schon jetzt! –, als Miss Wanostrocht hinter ihrem von zwei blassrosa Nelken geschmückten Schreibtisch hervor hoffnungsvoll sagte:

»Der Plan, Miss Wannop, ist der, sie – also dass Sie sie, bitte, – so gut es geht in – kann man so sagen? – Grundstellung halten, bis die – äh – Geräusche … den … na, Sie wissen schon, verkünden. Wir stellen uns vor, dass sie daraufhin, sagen wir, dreimal »Hurra« rufen. Dann könnten Sie sie vielleicht – in geordneter Weise – zurück in ihre Klassenzimmer führen …«

Valentine war sich keineswegs sicher, ob sie es könnte. In Wirklichkeit war es nicht möglich, jedes einzelne von sechshundert in Reihen aufgestellten Mädchen im Auge zu behalten. Gleichwohl war sie bereit, es zu probieren. Sie war bereit einzuräumen, dass es vielleicht nicht gänzlich – nun ja – ratsam! wäre, sechshundert vor Aufregung völlig verrückte Mädchen auf die Straßen zu lassen, die bereits voller Leute waren, die zweifelsohne ebenfalls völlig verrückt vor Aufregung sein würden. Wenn die Möglichkeit dazu bestand, war es besser, sie auf dem Schulgelände zu halten. Sie würde es probieren. Und sie fand Gefallen an der Idee. Sie fühlte sich in guter Form: in erstaunlich guter Form! In einer Form, um die Viertelmeile in … oh, in jeder beliebigen Zeit zu laufen? Und jedem groß gewachsenen schwierigen Mädchen jüdischen – oder auch angloteutonischen – Typs eins auf die Backe zu geben, das versuchen sollte auszuscheren. Was mehr war als alles, wozu die Direktorin oder irgendeine der anderen bedenkentragenden und unterernährten Damen in der Lage gewesen wären. Es freute sie, dass sie das erkannten. Und großzügigerweise sah sie ein, dass die Welt besser nicht auf den Kopf gestellt werden sollte, wenigstens so lange nicht, bis keine Kanonenschläge mehr krachten; deshalb sagte sie:

»Natürlich will ich es probieren. Aber was die Aufrechterhaltung der Ordnung betrifft, so würde es eine Verstärkung bedeuten, wenn die Direktorin – Sie, Miss Wanostrocht – und vielleicht ein oder zwei andere Lehrerinnen auf Streife gehen würden. In Staffeln, natürlich; nicht der ganze Lehrkörper den ganzen Vormittag lang …«

Das war vor etwa zweieinhalb Stunden gewesen: bevor die Welt sich verwandelt hatte, denn die Konferenz hatte um acht Uhr dreißig stattgefunden. Jetzt, nachdem sie in der Zwischenzeit die Mädchen fast pausenlos und bis an den Rand der Erschöpfung hatte herumhüpfen lassen – jetzt begegnete sie einer in ihr Amt eingesetzten Autorität mit Respektlosigkeit. Denn wem sonst hätte man Respekt entgegenbringen müssen, wenn nicht der Gattin eines Ministerialdirektors mit Titel, Landsitz und einem von den höchsten Kreisen besuchten Donnerstagnachmittag?

Sie hörte nur mit halbem Ohr ins Telefon, weil Edith Ethel ihr von Sir Vincents Befinden erzählte: so überarbeitet mit seinen Statistiken, der arme Mann, dass jederzeit ein Nervenzusammenbruch befürchtet werden müsse. Geldsorgen obendrein. Diese schrecklichen Steuern wegen dieser üblen Affäre …

Valentine benutzte die Gelegenheit zu überlegen, warum – warum, in aller Welt! – Miss Wanostrocht, die Edith Ethels Geschichte in groben Zügen kennen musste, sie hatte rufen lassen, um sich dieses ganze Durcheinander anzuhören? Miss Wanostrocht musste im Bilde sein: Edith Ethel hatte offenkundig lange genug mit ihr geredet, dass sie sich ein Urteil bilden konnte. Dann jedoch musste es sich um etwas Wichtiges handeln. Sogar etwas Dringendes, wo doch die Aufrechterhaltung der Schuldisziplin von höchster Bedeutung für Miss Wanostrocht gewesen war; ein geradezu entscheidender Augenblick in der Geschichte der Schule und der Mütter Europas.

Für wen dann mochten Lady Macmasters Mitteilungen von über Leben und Tod entscheidender Bedeutung sein? Für sie selbst, Valentine Wannop? Das war unwahrscheinlich: Außerhalb des Schulhofs gab es keine wichtigen Ereignisse, die von Bedeutung für ihr Leben hätten sein können, waren doch ihre Mutter und ihr Bruder beide in Sicherheit – sie in ihrem Haus, er auf einem Minenräumboot im Pembroke Dock …

Und sonst? … wichtig für Lady Macmaster? Inwiefern? Was hätte sie tun können für Lady Macmaster? Wurde sie gebraucht, um Sir Vincent Körperübungen beizubringen, die vielleicht seinen Nervenzusammenbruch verhindern und ihn so weit wiederherstellen mochten, dass er die Hypothek für seinen Landsitz abzahlen konnte, die, wie sie sich dachte, erdrückend sein musste wegen der schandbar hohen Steuern infolge eines Krieges, den man nie hätte führen dürfen?

Die Vorstellung, sie könnte zu diesem Zweck gebraucht werden, war abwegig! Was für eine absurde Geschichte … Hier stand sie jetzt, strotzend vor Gesundheit, Kraft, guter Laune und absolut sprühend vor Leben – da stand sie also, bereit, für die Sache der Ordnung Leah Heldenstamm, dem großen Mädchen, ordentlich was auf die Backe zu geben, oder alternativ dem allgemeinen Allotria in der Welt zuliebe dabei zu helfen, die Polizei auf nette Weise außer Gefecht zu setzen. Hier stand sie also in einer Art nonkonformistischem Kloster. Wie eine Nonne! Absolut wie eine Nonne! Am Scheideweg des Universums!

Sie pfiff leise vor sich hin.

»Beim Jupiter«, rief sie kühl, »hoffentlich ist das kein Omen, dass ich in der wiederaufgebauten Welt den Rest meiner Tage wie eine Nonne fristen muss!«

Sie begann, sich ernsthaft Rechenschaft über ihre Situation abzulegen – über ihren Stand im Leben allgemein. Bisher war er dem einer Nonne sehr ähnlich gewesen. Sie war dreiundzwanzig, ging auf die vierundzwanzig zu, war kerngesund und völlig unberührt. Körpergröße fünf Fuß in Turnschuhen. Und bis jetzt hatte sie keiner heiraten wollen. Bestimmt, weil sie so unberührt und munter war. Keiner hatte je versucht, sie zu verführen. Bestimmt deshalb, weil sie so keusch war. Offenbar bot sie den Gentlemen mit den hufeisengroßen Sergeant-Major-Schnurrbärten und gurgelnden Stimmen keine verlockende Aussicht – wie drückte der Bursche sich aus? – polsterweiche Wonnen! Würde sie auch nie. Vielleicht würde sie deshalb nie heiraten. Und nie verführt werden!

Wie eine Nonne! Ihr ganzes Leben lang würde sie neben einem Telefon stehen müssen und warten; in einem leeren Schulraum, in den vom Sportplatz das Geschrei einer ganzen Welt dringt. Die vielleicht gar nicht mehr auf dem Sportplatz schreit, sondern zum Piccadilly weitergezogen ist!

Aber zum Henker, sie wollte ihren Spaß haben! Jetzt!

Jahrelang hatte sie sich – wie eine Nonne, stimmt! – um die Lungen und Gliedmaßen der Mädchen in dieser asthmatisch-bronchitischen, nonkonformistischen – in Wirklichkeit freikirchlichen (oder so wenig staatskirchlichen, dass es nicht ins Gewicht fiel) – Großen Privaten Mädchenschule gekümmert. Sie hatte sich mit den Atemproblemen schwieriger, aber nicht abstoßender kleiner Cockney-Kreaturen herumschlagen müssen, wenn sie die Arme streckten … Ihr dürft nicht im selben Rhythmus atmen, in dem ihr euch bewegt. Nein. Nein. Nein! … Nicht zur ersten Bewegung aus- und mit der zweiten einatmen! Atmet natürlich! Schaut her zu mir! … Sie atmete richtig!

Ja, jahrelang hatte das gedauert! Der Kriegsbeitrag einer ver---ten Prodeutschen. Oder Pazifistin. Ja, auch das war sie jahrelang gewesen. Was sie nicht hatte sein wollen, weil es die Einstellung der besseren Leute war und sie nichts Besseres sein wollte. Jemand wie Edith Ethel!

Doch jetzt! War es nicht offenkundig? Sie konnte von ganzem Herzen ihre Hand in die irgendeines Tom, Dick oder Harry legen. Und ihm Glück wünschen! Von ganzem Herzen! Glück für ihn und seine Pläne. Sie kehrte zurück, in die Herde, ja, in die Nation. Sie konnte den Mund aufmachen! Sie konnte die hübschen kleinen Schreie der Cockneys ausstoßen, die ihr Geburtsrecht waren. Sie konnte frei sein, unabhängig!

Selbst ihre liebe, viel gepriesene, konfuse, hochberühmte Mutter hatte inzwischen eine Sekretärin, die niedergedrückt wirkte. Sie, Valentine Wannop, musste nicht mehr nächtelang aufbleiben und tippen, nachdem sie bereits einen ganzen Tag lang auf dem Schulhof richtiges Atmen eingepaukt hatte … Und beim Jupiter, sie könnten sich jetzt alle, Bruder und Mutter, in schlampiges Schwarz werfen, mit etwas Mauve, die Sekretärin in schlampiges Schwarz ohne Mauve, und sie, Valentine, dürfte ihre einer Pfadfinderinnen-Kluft nachempfundene Uniform ausziehen und in – oh, ja, weißem Musselin oder Harris Tweed unter den Pinien von Amalfi in Cockneylauten übers Essen reden. Am Mittelmeer … Dann könnte keiner mehr behaupten, sie habe nie das Meer der Penelope, der Mutter der Gracchen, der Delia, Lesbia, Nausikaa, Sappho gesehen …

»Saepe te in somnis vidi!«

»Du guter… Gott!«, sagte sie, ohne den geringsten Anflug von Cockney, sondern im Englisch eines Gentleman der alten Schule, der sich mit einem unsäglichen Antrag konfrontiert sieht. Nun, es war ein unsäglicher Antrag. In ihre Abgelenktheit hinein hatte die Stimme aus dem Telefon nämlich ziemlich kriecherisch, nach endlosen Einzelheiten bezüglich der finanziellen Situation des Hauses Macmaster, gesagt:

»Deshalb dachte ich mir, meine liebe Val, in Erinnerung an alte Zeiten, dass … Kurz und gut, wenn ich das Mittel wäre, euch wieder zusammenzubringen … Ich glaube nämlich, ihr habt euch nicht geschrieben … Du könntest dann als Gegenleistung … Du kannst dir ja selbst vorstellen, dass die Summe derzeit absolut niederschmetternd wäre …«

II

Zehn Minuten später stellte sie Miss Wanostrocht entschlossen, aber ohne Heftigkeit, die Frage:

»Nun, Frau Direktor, was hat Ihnen diese Frau erzählt? Ich mag sie nicht; ich habe keine gute Meinung von ihr und eigentlich habe ich ihr nicht zugehört. Aber ich würde es gerne wissen!«

Miss Wanostrocht, die gerade ihren dünnen schwarzen Mantel von dem Kleiderhaken hinter der hochpolierten Pitchpine-Tür ihres privaten Zimmers genommen hatte, errötete, hängte das Kleidungsstück wieder auf und drehte der Tür den Rücken zu. Schmächtig, ein wenig steif, ein wenig errötet, verwelkt und verblichen wirkte sie und ein wenig wie in die Enge getrieben.

»Sie dürfen nicht vergessen«, hob sie an, »dass ich Schulleiterin bin.« Mit einer gewohnheitsmäßigen Bewegung drückte sie die Innenseite ihrer schmalen linken Hand auf den auffällig goldenen Zopf auf ihrem stumpf-braunen Haar. Keine der Damen dieser Schule hatte ausreichend zu essen gehabt – jahrelang. »Wir akzeptieren instinktiv«, fuhr sie fort, »jedes Mittel, um etwas zu erfahren. Ich mag Sie sehr gerne, Valentine – wenn Sie mir erlauben, Sie privat so anzureden. Und ich dachte, für den Fall, dass Sie sich in …«

»In Schwierigkeiten befinden?«, fragte Valentine … »In Gefahr?«

»Sie müssen verstehen«, erwiderte Miss Wanostrocht, »dass dieser … Person ebenso sehr daran gelegen war, mir Dinge über Sie mitzuteilen, wie Ihnen – es war der Vorwand, Sie anzurufen – Nachrichten über eine, eine … andere Person mitzuteilen. Mit der Sie einmal … Umgang hatten. Und die wieder aufgetaucht ist.«

»Ach!«, hörte Valentine sich ausrufen. »Er ist wieder aufgetaucht, wirklich? Ich habe so etwas geahnt.« Sie war froh, dass sie sich unter Kontrolle hatte.

Vielleicht brauchte sie sich gar keine Sorgen zu machen. Sie konnte nicht sagen, dass im Vergleich dazu, was sie gerade noch vor zehn Minuten gewesen war, sie sich verändert fühlte durch das Wiederauftauchen eines Mannes, von dem sie gehofft hatte, ihn aus ihrem Bewusstsein getilgt zu haben. Ein Mann, der sie »beleidigt« hatte. Auf die eine oder andere Weise hatte er sie beleidigt!

Wahrscheinlich aber hatte sich ihre gesamte Lebenslage verändert. Bevor Edith Ethel ihren unmöglichen Satz in jenen Apparat gesprochen hatte, hatte sich ihre Vorstellung vom Leben auf nichts weiter als auf ein Familienpicknick unter Feigenbäumen am Rand eines ungewöhnlich blauen Meeres beschränkt – und dieser Lebenstraum schien ihr so leicht erfüllbar wie ein Kuss auf die eigene Hand! Mutter in Schwarz und Rot; Mutters Sekretärin in schmucklosem Schwarz. Der Bruder? Oh, eine romantische Figur; schlank, muskulös, in weißen Hosen und mit einem feinen Strohhut und – ja, warum sollte man denn keine romantischen Vorstellungen von seinem Bruder haben – einer breiten scharlachroten Schärpe. Mit einem Fuß auf dem Strand, mit dem anderen … in einem sanft auf den plätschernden Wellen schaukelnden leichten Boot. Netter Junge; netter kleiner Bruder. Seit Kurzem bei der Marine und deshalb in der Lage, ein leichtes Boot zu führen. Morgen würden sie abreisen … aber warum nicht schon an diesem Nachmittag, mit dem Zug um vier Uhr zwanzig?

»Sie hatten die Schiffe und hatten die Männer

Und das Geld hatten sie obendrein!«

Gott sei Dank hatten Sie das Geld!

In zwei Wochen würden die Schiffe bestimmt wieder fahren, Charing Cross – Vallombrosa. Und die Gepäckträger würden auch wieder aus der Armee entlassen sein. Man konnte nicht mit Mutter, Mutters Sekretärin und Bruder hinlänglich bequem reisen – mit deiner ganzen Welt und dem nötigen Gepäck – ohne eine Schar von Gepäckträgern … Und Buttermarken? Was konnten sie schon bedeuten, verglichen mit einer Reise ohne Gepäckträger?

Nachdem sie einmal damit begonnen hatte, fuhr sie in Gedanken fort, das alte britische und antirussische Kriegslied aus den fünfziger oder siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu singen, das einer ihrer kleinen Freunde kürzlich wiederentdeckt hatte – um die historische Wildheit seiner Landsleute unter Beweis zu stellen:

»Wir haben’s dem Bären schon früher gezeigt

Und werden es wieder tun!

Der Russe kriegt Konstantinopel nie …«

»Oh!«, rief sie plötzlich aus.

Eigentlich hatte sie »Oh, verdammt!«, sagen wollen, doch die plötzliche Erinnerung daran, dass der Krieg seit mehr als einer Viertelstunde vorbei war, hatte sie dazu bewogen, es bei »Oh!« zu belassen. Du darfst nicht mehr wie im Krieg sprechen! Du bist jetzt wieder eine junge Dame. Auch der Frieden hat sein Ermächtigungsgesetz. Trotzdem hatte sie an den Mann, der sie einmal beleidigt hatte, als an den Bären gedacht, mit dem sie wieder würde kämpfen müssen! Doch mit warmer Großmut sagte sie:

»Eine Schande, ihn einen Bären zu nennen!« Trotzdem war er – der Mann, von dem es hieß, er sei »wieder aufgetaucht« – mit all seinen Problemen ein bisschen absorbierend … Irgendwie überwältigend, mit seinen wiegenden grauen Schultern, die dich mit der Last ihrer unerträglichen Probleme mitsamt deinen eigenen Problemen aus dem Weg schoben …

All diese Gedanken hatten sie noch in der Schulaula beschäftigt, noch bevor sie zur Direktorin gegangen war, und unmittelbar nachdem Edith Ethel, Lady Macmaster, den unerträglichen Satz von sich gegeben hatte.

Lange hatte sie dort nachgedacht … Zehn Minuten!

In knappen Zügen fasste sie die erste einer ganzen Reihe unangenehmer Erfahrungen zusammen – aus einer Zeit, die fast vergessen zu haben sie sich schmeichelte. Vor Jahren hatte Edith Ethel sie aus dem blauen Himmel heraus beschuldigt, von jenem Mann ein Kind zu haben. Dabei trat er in ihren Gedanken kaum als Mann auf. In ihren Gedanken war er eine schwerfällige graue intellektuelle Masse, jetzt wahrscheinlich hinter den geschlossenen Läden eines leeren Hauses in Lincoln’s Inn umherirrend, offenbar geistesgestört, da er den Portier ja nicht erkannt haben soll … Nichts weniger, ich versichere es dir! Sie war nie in diesem Haus gewesen, aber sie stellte ihn sich vor, wie er im Licht, das durch die Schlitze in den Fensterläden des Eingangs brach, über die Schulter weg auf einen zurückschaute, grau wie ein ungeheurer Bär … Auf dem Sprung, dich in einem Anfall von Verwirrung zu umklammern!

Sie überlegte, wie lange es her war, dass die großartige Edith Ethel diese Behauptung erhoben hatte … selbstverständlich mit allem Anschein von Indignation, um der Gattin des Mannes willen, auf deren »Seite« sich Edith Ethel ebenso selbstverständlich gestellt hatte. (Jetzt versuchte sie, »euch wieder zusammenzubringen« … Es war anzunehmen, dass die Gattin nicht oft genug Edith Ethels Teekränzchen besucht oder eine allzu glänzende Erscheinung geboten hatte, wenn sie dort war. Wahrscheinlich Letzteres!) Wie viele Jahre war das her? Zwei? Nicht so viel! Achtzehn Monate? Bestimmt mehr! … Mindestens, bestimmt mehr! … Wenn man sich in jenen Tagen Gedanken über die Zeit machte, geriet dein Geist haltlos ins Schwimmen … wie Augen, die vom Lesen zu kleiner Schrift zu ermüden begannen … Er war im Herbst ausgerückt, das war sicher … Ja, es war im Herbst, dass er zum ersten Mal ausrückte. Es war Ted, der Freund ihres Bruders, der ’16 ausrückte. Oder der andere … Malachi. So viele rückten aus und kehrten zurück, rückten aus und kehrten vielleicht nicht mehr zurück. Oder nicht mehr ganz: wenn die Nase fehlte … oder die Augen. Oder – oder, oh verdammt! Oh verdammt! Und sie ballte die Hände zu Fäusten, presste sich die Fingernägel in die Hand – verrückt!

Sie konnte sich vorstellen, dass Edith Ethel das gemeint hatte. Er hatte den Portier nicht erkannt; man sagte, er besitze keine Möbel. Dann … Sie erinnerte sich …

Zehn Minuten vor ihrem Gespräch mit Miss Wanostrocht, zehn Sekunden nachdem sie aus dem Mundstück des Telefonapparates gespien worden war – hatte sie auf einer polierten Bank aus Pitchpine gesessen, deren schwarze Eisenfüße an der in einem nonkonformistischen Torpedograu gestrichenen Wand befestigt waren; in zehn Sekunden war ihr alles klar geworden … Ja, genau so war es gewesen!

Im Augenblick, da Edith Ethel die Worte gesagt hatte:

»Die Summe würde absolut niederschmetternd sein …«, hatte Valentine verstanden, dass sie über eine Schuld sprach, die ihr elender Gatte dem einen menschlichen Wesen schuldete, über das nachzudenken sie, Valentine, nicht ertragen konnte. Und natürlich war ihr im selben Moment blitzartig aufgegangen, dass Edith Ethel ihr die jüngsten Neuigkeiten über ihn mitgeteilt hatte: Er war in neuen Schwierigkeiten; zugrunde gerichtet, gesundheitlich zerrüttet, völlig pleite … Nur degradiert hatte man ihn nicht … Aber er war gebrochen … Und allein. Und schrie nach ihr!

Sie vermochte nicht – konnte es nicht ertragen! –, sich auch nur seines Namens zu erinnern oder vor ihr geistiges Auge, dem sie sich unausgesetzt aufdrängten, sein grau-bleiches Gesicht, seine ungeschlachten viereckigen verlässlichen Füße zu rufen; diesen Berg von einem Körper; seinen absichtsvoll hölzernen Gesichtsausdruck; seine absolut überwältigende, aber authentische Allwissenheit … Seine Männlichkeit. Seine … seine Schrecklichkeit!

Jetzt, durch Edith Ethel – man hätte gedacht, selbst er hätte eine geeignetere Person finden können –, rief er sie an, damit sie wieder in das strangulierende Netz seiner Irrungen und Wirrungen geriete. Nicht einmal Edith Ethel hätte es gewagt, sie auf ihn anzusprechen, hätte nicht er den ersten Schritt getan …

Es war undenkbar; es war unerträglich; und ihr war, als wäre sie vom bloßen Klang dieses Ansinnens von ihren Füßen gehoben und auf jener Bank an der Wand abgesetzt worden …Wie lautete das Ansinnen?

»Ich dachte, du könntest, falls ich das Werkzeug wäre, durch das ihr wieder zusammengeführt werden solltet …« Sie könnte … was?

Sich bei diesem Mann, dieser grauen Masse, dafür verwenden, nicht den finanziellen Anspruch geltend zu machen, den er gegenüber Sir Vincent Macmaster hatte. Kein Zweifel, dass in diesem Fall sie … und die graue Masse! … zum Salon der Macmasters zugelassen würden, um … über die zeitgenössische Moral zu diskutieren! Einfach so!

Sie war immer noch außer Atem; immer noch quakte das Telefon. Sie wünschte, es würde aufhören, doch fühlte sie sich zu schwach, um aufzustehen und den Hörer in die Gabel zu hängen. Sie wünschte, es würde aufhören; es fühlte sich an, als dringe eine Strähne von Edith Ethels Haar in ekelerregender Weise in ihr torpedograues Kloster. Oder so was Ähnliches!

Die graue Masse würde niemals ihre finanziellen Ansprüche einklagen … Diese Leute hatten jahrelang gnadenlos von ihm schmarotzt, ohne jemals anzuerkennen, von wem sie schmarotzten. Es machte sie umso erbärmlicher. Denn es war erbärmlich, laut darum zu betteln, zum Zuhälter werden zu dürfen, um Schulden zu entgehen, die nie eingefordert werden würden …

Jetzt, in den leeren Räumen in Lincoln’s Inn – denn darauf lief es wahrscheinlich hinaus! – war dieser Mann eine graue Kugel aus Nebel! ein grauer Bär, der finster in einem leeren Zimmer mit geschlossenen Läden umhertrollte. Ein graues Problem, das nach ihr rief!

Verdammt viel … Verzeihung, sie meinte natürlich: Bemerkenswert Viel! … was sie in zehn Minuten alles gedacht hatte! Inzwischen waren es wahrscheinlich elf. Später verstand sie, dass Gedankentätigkeit sich so abspielt. In zehn Minuten, nachdem dich großzügige, starke Arme von einem Telefon weggetragen und auf einer festgeschraubten Bank vor einer Wand abgesetzt hatten, die die spezifische Kälte eines mit torpedograuer Ölfarbe gestrichenen Verputzes ausstrahlte, der sich in den großen Privatschulen (für Mädchen) besonderer Beliebtheit erfreute … in jenen zehn Minuten hattest du, wie dir klar wurde, mehr gedacht als in zwei Jahren. Vielleicht war es auch nicht so lange.

Vielleicht war das nicht verwunderlich. Wenn man, zum Beispiel, zwei Jahre lang nicht über abwaschbare Leimfarbe nachgedacht hatte und dann zehn Minuten darüber nachdachte, konnte einem in diesen zehn Minuten verdammt viel dazu einfallen. Wahrscheinlich alles, was es darüber zu denken gab. Gut, natürlich war abwaschbare Leimfarbe nicht wie die Armen – immer bei euch. Zumindest in jenen Gängen war sie immer gegenwärtig, wenngleich nicht spirituell. Sich selbst aber hatte man immer dabei.

Aber vielleicht war man gar nicht immer spirituell bei sich selbst; stets aufs Neue erklärte man, wie man atmen musste, ohne darüber nachzudenken, welchen Einfluss das Leben, das du führst, auf deine … Ja was denn? Deine unsterbliche Seele? Deine Aura? Deine Persönlichkeit? hat … Irgend so was!

Also gut, zwei Jahre … lass es zwei Jahre sein, um Himmels willen, und fertig damit! … Sie musste sich in einer Art … nun, sagen wir, in einer Art »Scheintod« befunden haben. Aber Schluss jetzt damit! Eine Art von Inhibition, wie man dazu sagte. Sie hatte sich selbst daran gehindert – hatte es sich verboten –, über sich nachzudenken. Und hatte sie etwa nicht gut daran getan? Was gab es für eine v-----te Prodeutsche in einer zur Schlacht gerüsteten, vollkommen mit sich selbst beschäftigten Nation voller Kriegsgeschrei nachzudenken, zumal sie ihre Gesinnungsgenossen nicht sehr gemocht hatte! Eine Einsamkeit, die nur aufgelöst werden konnte durch … Kanonenschläge! In der Schwebe!

Aber … Nun sei mal ehrlich zu dir selbst, mein liebes Mädel! Als dieses Telefon dich aus seinem Mundstück spie, wusstest du ganz genau, dass du zwei Jahre lang vermieden hattest, darüber nachzudenken, ob du nicht beleidigt worden bist! Vermieden, dir die Frage zu stellen. Nichts sonst! Du weißt schon!

Natürlich hatte sie nicht in der Luft gehangen, sondern im Ungewissen. Denn wenn er ein Zeichen gegeben hätte – »Ich nehme an«, hatte Edith Ethel gesagt, »dass ihr keinen Briefverkehr gehabt habt« … oder hatte sie »keine Verbindung« gesagt? … Nun, es hatte weder das eine noch das andere gegeben …

Wenn jedenfalls dieses graue Problem, dieses verwirrte Knäuel grauer Kammwolle, ein Zeichen gegeben hätte, hätte sie gewusst, dass sie nicht beleidigt worden war. Oder lag darin irgendein Sinn?

Konnte man es wirklich als Beleidigung bezeichnen, wenn ein männliches und ein weibliches Exemplar derselben Spezies in einem Raum zusammen waren und das männliche Exemplar keine … war das eine Beleidigung? Auf diese Idee konnte ein Mädchen nur kommen, wenn jemand sie ihm einpflanzte, war sie das aber einmal, bekam sie die Leuchtkraft einer Wahrheit! Natürlich war ihr, Valentine Wannop, diese Flause in den Kopf gesetzt worden von Edith Ethel, die mit der gleichen Selbstverständlichkeit gesagt hatte, dass sie es selbst nicht so sehe, es aber die Meinung … der Frau des Mannes sei! Jenes müßigen, Lilie und Geliebte Salomos an Schönheit übertreffenden, wunderbar grazilen, hochgewachsenen, makellosen Wesens, das dir auf den Hochglanzseiten der Regenbogenpresse im Hydepark in langen Wiegeschritten, von neugierigem Volk bestaunt, entgegenkam, lachend, in Begleitung eines Ehrenwerten Soundso, des zweiten Sohnes von Lord Wieheißternoch … Edith Ethel war kultivierter. Sie führte einen Titel, die andere nicht, und sie war gedankenvoll. Sie ließ erkennen, dass sie Walter Savage Landor gelesen hatte, und erst seit Kurzem keine Perlenketten aus milchigem Bernstein mehr trug, wie es die jüngeren Präraffaeliten zu tun pflegten. Sie war so gut wie nie in den Illustrierten, aber sie war geistreicher. Die Männer, die sie für nicht so geistreich hielt, sie waren es, denen Edith Ethel das entrée zu ihren Nachmittagen gewährte. Sie war ihre Egeria! Von vergeistigendem Einfluss!

Der Gatte jener Frau also? Einst war ihm der Zutritt zu Edith Ethels Salon gestattet worden: jetzt nicht! … Musste schlimmer mit ihm geworden sein!

Scharf, in ihrer »Mach-keinen-Quatsch«-Art, sagte sie zu sich:

»Hör auf damit. Du liebst einen verheirateten Mann, dessen Frau eine Dame der Gesellschaft ist, und du regst dich darüber auf, dass die Dame mit dem Titel dir in den Kopf gesetzt hat, du könntest wieder ›mit ihm zusammenkommen‹. Nach zehn Jahren!«

Doch sofort erhob sie dagegen Einspruch:

»Nein. Nein. Nein! Das ist es nicht. Es ist schon in Ordnung, Dinge sarkastisch zu formulieren, aber es führt nicht weiter, wenn man die Dinge so ungeschminkt formuliert.«

Was bedeutete dieses Wiederzusammenkommen, das ihr da in Aussicht gestellt wurde? Auf den ersten Blick nichts, als erneut in die unerträglichen Probleme jenes Mannes wie unglückselige Maschinisten von Transmissionsriemen in Räder gezogen zu werden, die ihnen das Fleisch von den Knochen reißen! Das war, ehrlich gesagt, ihr erster Gedanke gewesen. Sie hatte Angst, Angst, Angst! Plötzlich wusste sie die Vorzüge nonnenhafter Zurückgezogenheit zu schätzen. Außerdem wollte sie zur Feier des Elften Elften Polizisten Schweinsblasen auf den Kopf schlagen!

Jener Bursche hatte keine Möbel; schien den Portier nicht zu erkennen … Übergeschnappt. Übergeschnappt und moralisch zu heruntergekommen, um Zutritt zum Salon der Dame mit dem Titel zu erhalten, bei dessen Besuchern man sich darauf verlassen konnte, dass sie ohne hinreichende Provokation keine amourösen Annäherungen unternahmen, wenn man sie mit dir allein ließ …

Ihre großmütige Seele war schmerzlich berührt.

»Oh, das ist nicht fair!«, sagte sie.

Die Unfairness hatte ganz unterschiedliche Aspekte. Vor diesem Krieg und natürlich bevor er sein ganzes Geld Vincent Macmaster geborgt hatte – da war dieser graue Grizzly des Landpfarrhaus-Salons der Edith Ethel Duchemin vollkommen würdig gewesen: Überschwänglich hatte man ihn dort willkommen geheißen! … Nach dem Krieg und als sein Geld – wahrscheinlich – aufgebraucht und sein Geist verbraucht war, denn er hatte keine Möbel mehr und erkannte den Portier nicht … Nach dem Krieg also und als sein Geld aufgebraucht war, war er des Salons der Lady Macmaster nicht mehr würdig – jener Dame, die als Einzige in London einen Salon führte.

Nach oben buckeln, nach unten treten, hieß das!

Offensichtlich war es notwendig. Es gab so viele dieser verstörenden Kriegshelden, dass ein Salon bald den Namen nicht mehr verdient hätte, wenn man ihnen allen Zutritt gewährt hätte, insbesondere dann, wenn man Verbindlichkeiten bei ihnen hatte! … Es war ein bedrängendes nationales Problem und kurz davor, unbeherrschbar zu werden – binnen zwanzig Minuten; nach jenen Kanonenschlägen. Dann würden die verarmten Helden des Krieges alle zurückkehren. Unzählige. Seinem Dienstmädchen würde man sagen müssen, man sei nicht zu Hause … sieben Millionen Fälle!

Einen Moment mal … Wo waren sie gerade?

Er … Aber sie konnte ihn nicht in einem fort mit »er« bezeichnen wie ein achtzehnjähriges Schulmädchen, das an seinen Lieblingsschauspieler denkt … in aller jugendlichen Unschuld. Wie sollte sie ihn nennen? Nie – selbst als sie sich näherstanden – hatte sie ihn anders als Mister Soundso genannt … Sie schaffte es nicht, im Geiste ihre Lippen seinen Namen bilden zu lassen … Nie hatte sie diesem grauen Gebilde gegenüber etwas anderes als seinen Nachnamen gebraucht, diesem vertrauten Objekt im Arbeitszimmer ihrer Mutter, das sie so oft auf den Nachmittagspartys gesehen hatte … Einst war sie eine ganze Nacht lang mit ihm auf einer Kutsche spazieren gefahren! Man stelle sich vor! … Und sie hatten sich gegenseitig Tibull hergesagt im mondhellen Nebel. Gerne hätte sie sich von ihm küssen lassen – in jenen mondhellen Nebelschwaden ein, wahrlich, ganz und gar sonderbarer Bär!

Das wäre natürlich nicht statthaft gewesen, aber sie erinnerte sich, wie sie gezittert hatte … Ph … Ph … Ph … Gezittert hatte.

Sie zitterte.