Der Mann, der niemals schlief - Simon X. Rost - E-Book

Der Mann, der niemals schlief E-Book

Simon X. Rost

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Beschreibung

Zwei alte Freunde, ein Verbrechen und die Suche nach der Wahrheit.

Jahre ist es her, dass Tom zusammen mit seinem Freund Huck St. Petersburg unsicher machte. Jahre, dass er die Stadt verließ, um als Detektiv zu arbeiten. Jahre, in denen er sich einen Namen gemacht hat, das Attentat auf Präsident Lincoln aber nicht verhindern konnte. Seither hat Tom kein Auge mehr zu bekommen. Um an der Hochzeit seines Halbbruders Sid teilzunehmen, kehrt er in seine Heimatstadt zurück. Dort aber erwartet ihn keine Hochzeitsfeier, sondern Tante Pollys Beerdigung. Sie wurde heimtückisch erschlagen. Eigentlich hat sich Tom geschworen, nie wieder als Detektiv zu arbeiten. Doch unter Verdacht steht ausgerechnet sein bester Freund Huckleberry Finn ...

Ein besonderes Buch für alte und junge Fans von Mark Twain.

»Eines Tages mag es sich lohnen, die Geschichte der Jüngeren wieder aufzugreifen und zu sehen, was für Männer und Frauen sie geworden sind.« Mark Twain, im Nachwort zu Tom Sawyers Abenteuer

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.

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Seitenzahl: 683

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

CoverGrußwort des VerlagsÜber dieses BuchTitelWidmung1. TeilWashington, Karfreitag, 14. April 1865Auf dem Mississippi, am Morgen des 10. Juli 1865Cardiff Hill, Nacht, 10. Juli 1865Lovers’ Leap, am Morgen des 11. Juli 1865Redaktion des St. Petersburg Chronicle, am Morgen des 12. Juli 1865Sieben Meilen vor St. Petersburg, am Mittag des 13. Juli 18652. TeilBei den Potawatomi, am Morgen des 14. Juli 1865An den Gleisen, am Morgen des 15. Juli 1865Hill Street, am Morgen des 16. Juli 1865Main Street, am Morgen des 17. Juli 1865Im Versteck, 18. Juli 1865Auf dem Friedhof von St. Petersburg, 26. Juli 1865NachwortDanksagungÜber den AutorWeitere Titel des AutorsImpressum

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Über dieses Buch

Jahre ist es her, dass Tom zusammen mit seinem Freund Huck St. Petersburg unsicher machte. Jahre, dass er die Stadt verließ, um als Detektiv zu arbeiten. Jahre, in denen er sich einen Namen gemacht hat, das Attentat auf Präsident Lincoln aber nicht verhindern konnte. Seither hat Tom kein Auge mehr zu bekommen. Um an der Hochzeit seines Halbbruders Sid teilzunehmen, kehrt er in seine Heimatstadt zurück. Dort aber erwartet ihn keine Hochzeitsfeier, sondern Tante Pollys Beerdigung. Sie wurde heimtückisch erschlagen. Eigentlich hat sich Tom geschworen, nie wieder als Detektiv zu arbeiten. Doch unter Verdacht steht ausgerechnet sein bester Freund Huckleberry Finn …

SIMON X. ROST

DER MANN,DER NIEMALS SCHLIEF

EIN TOM-SAWYER-ROMAN

Für Johannes und Emil

1. Teil

Wenn Schlaf und Wachen ihr Maß überschreiten, sind beide böse.

Hippokrates von Kos (460 – 377 v. Chr.)

Es ist leichter, eine Lüge zu glauben, die man tausendmal hört, als die Wahrheit, die man nur einmal hört.

Abraham Lincoln (1809 – 1865)

Washington, Karfreitag, 14. April 1865

Der Schuss weckte ihn.

Er dröhnte in seinen Ohren wie Geschützdonner, obwohl der Knall vom Lachen der Zuschauer gedämpft wurde. Tom sprang auf. Noch verwirrt vom Schlaf und begleitet von Bildern eines verlöschenden Traumes, versuchte er, sich zurechtzufinden. In den Geruch nach Seife und kaltem Zigarrenrauch von dem Mantel, auf dem er dösend gelegen hatte, mischte sich ein anderer, ein furchtbarer Geruch, als er die zeternde Garderobiere des Ford’s Theatre zur Seite stieß und unter dem ausladenden Kronleuchter die breite Treppe zu den Logen hinaufhastete.

Es war der Geruch von Schießpulver.

Im Laufen riss Tom den Colt aus dem Schulterhalfter.

Wo zum Henker war Parker? Hatte sich der schmierige Fettsack wieder aus dem Staub gemacht? Saß er im »Star Saloon« nebenan und trank Whiskey mit dem Kutscher des Präsidenten?

Die Zuschauer lachten jetzt nicht mehr. Stattdessen drangen schrille Schreie der Damen an Toms Ohr, dann ein dumpfer Aufprall auf Holz, wahrscheinlich der Bühne, und dann brüllte ein Mann: »Sic semper tyrannis! Der Süden ist gerächt!«

Toms Füße hämmerten auf den roten Teppich, der mit Messingstangen auf der Treppe befestigt war. Als er oben nach rechts abbog und in den schmalen Flur mit der rotgoldenen Tapete und den flackernden Gaslampen zur Loge des Präsidenten rannte, spürte Tom sein Herz wie einen Hammer gegen das Brustbein schlagen. Er hatte geschlafen, verdammt!

Die Türen der anderen Logen öffneten sich, massige Männer in edlen Cuts und Damen in Musselinkleidern sprangen erschrocken heraus und wichen noch erschrockener zurück, als Tom mit seiner Waffe an ihnen vorbeistürmte und sie wild mit den Händen zur Seite scheuchte. »Weg da! Weg da! Holen Sie einen Arzt!«

Die Tür zur Präsidentenloge stand offen. Ein Mann im Militärrock kniete am Boden. Und da war Blut.

DasBlut des Präsidenten.

Tom zwängte sich zwischen Major Rathbone, einem kleinen bärtigen Mann mit breiten Schultern, und dem Türstock in die Loge. Mrs Lincoln hatte die Hände an die Wangen gelegt und zitterte. Sie schrie etwas, das Tom nicht verstand. Und er sah Clara Harris, die Verlobte des Majors, die versuchte, Mrs Lincoln zu beruhigen.

Tom kniete sich hin, Major Rathbone stützte den Kopf des Präsidenten.

Des angeschossenen Präsidenten.

In Abraham Lincolns Hinterkopf klaffte ein ausgefranstes Loch von der Größe eines Silberdollars. Der Präsident war kaum mehr bei sich, seine Augen waren verdreht, und aus dem ohnehin hageren, oft blassen Gesicht war jede Farbe gewichen. Blut lief aus der Wunde über die schwarzen Haare in den weißen Stehkragen hinein. Der Präsident atmete flach.

Tom spürte, wie der Zorn dumpf und schwer in ihm aufwallte wie eine Woge aus Blei. Jemand hatte auf den Präsidenten geschossen. Und er, Tom, hatte geschlafen. Er blickte zum Major.

»Wer war das? Und wo ist er?«

Erst jetzt sah er, dass der Major ebenfalls verwundet war. Die Uniform war am Arm zerfetzt, der dunkelblaue Stoff mit Blut getränkt. An der Stirn hatte Rathbone eine Schnittwunde.

Der Major keuchte.

»Booth. Der Schauspieler. Er ist über die Bühne geflüchtet. Er hatte die hier und ein Messer.« Rathbones Blick ging zum Boden. Neben dem Präsidenten lag eine Derringer. Eine ungenau zielende Waffe, aber auf kurze Distanz hatte das kleine Drecksding eine verheerende Wirkung.

Tom wollte aufstehen, da packte ihn eine Hand am Arm. Der Präsident. Seine unsteten Augen versuchten, Tom direkt anzuschauen. »Sawyer? Sind Sie das?«

»Ja, Sir.« Tom versuchte seiner Stimme einen festen Klang zu geben, aber das Zittern darin konnte selbst einem Angeschossenen nicht entgehen.

Lincolns Griff um Toms Arm wurde fester. »Dieser Mann darf nicht entkommen.«

»Oh nein, Sir. Das wird er nicht.«

»Bleiben Sie gut, Thomas. Bleiben Sie gerecht.«

»Ja, Sir.«

Tom schluckte, dann lockerten sich die Finger des Präsidenten um seinen Arm. Die Augen des großen Mannes schlossen sich.

»Einen Arzt!«, brüllte Tom, seine Stimme überschlug sich. »Verdammt! Schaffen Sie einen Arzt her!«

Er stand auf, beugte sich über die Balustrade der Loge in der unsinnigen Hoffnung, unter den verängstigt nach oben blickenden Zuschauern, die einen unterhaltsamen Abend mit Unser amerikanischer Cousin erwartet hatten, einen Arzt zu entdecken.

Aber da war kein Arzt. Jedenfalls keiner, der sich zu erkennen gab.

Auf der Bühne stand eine ältere Schauspielerin und starrte fassungslos von der Loge zum Seitenvorhang. Tom spähte am Vorhang vorbei und erblickte die Tür nach draußen. Sie stand offen. Das Gaslicht warf einen fahlgelben Schein auf die schmutzige Gasse hinter dem Ford’s Theatre. Tom stieg über die Balustrade und sprang auf die Bühne hinab.

Dieser Mann darf nicht entkommen.

Oh nein, Sir. Das wird er nicht.

Auf dem Mississippi, am Morgen des 10. Juli 1865

»Geht es Ihnen gut, Sir?«

Tom lehnte an der schneeweißen Reling und starrte auf die schlammigen Wassermassen, die unter ihm dahinzogen wie brauner Nebel. Wegen der schmutzigen Färbung nannten die Leute den Fluss, an dessen Ufer er groß geworden war, auch »Big Muddy«.

Tom blickte zu den steilen Felsen auf der Seite von Missouri. Hinter ihm, nach Backbord, lagen die bewaldeten Ufer von Illinois. Schildkröten sonnten sich auf entwurzelten Baumstämmen im Mississippi.

»Alles klar bei Ihnen, Mister?«, erkundigte sich der Lotse der Excelsior erneut. Er warf Tom über die randlose Brille einen prüfenden Blick zu, während er gegen seinen ungepflegten Schnurrbart pustete. Graue Locken hingen dem Mann in die Stirn. Seine Weste spannte über dem Bauch.

Tom nickte. »Alles klar. Bin nur etwas müde. Die Nacht war kurz.«

Der Lotse grinste. »Oh, die Nächte in Keokuk haben’s in sich, was? Und die Ladys in den Saloons lassen einen nicht zur Ruhe kommen, wie?« Er lachte meckernd.

Tom antwortete nur mit einem schmalen Lächeln.

Der Lotse kam näher. »Mein Bruder Orion wohnt in Keokuk; ich weiß, wovon ich rede, Mister. Haben Sie das Schlitzauge im »Golden Goose« gesehen, der für einen Vierteldollar eine Nudelsuppe durch die Nase schlürft? Haben Sie?« Wieder lachte er meckernd.

Als er merkte, dass Tom ihm kaum zuhörte, folgte er Toms Blick zum Ufer und senkte verschwörerisch die Stimme. »Sie sehen sich das Mistding an, hm?«

Tom blickte den Lotsen verständnislos an.

Der ältere Mann deutete auf eine Rauchsäule hinter den Bäumen am Ufer. »Die Eisenbahn. Macht uns Schiffern das Leben schwer. Einfach zu schnell für uns, und heutzutage hat’s ja jeder so verflucht eilig. Aber wenn Sie mich fragen, ist das eine verdammt armselige Art zu reisen, meinen Sie nicht?«

Tom nickte träge.

Der Lotse klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Ich muss dann mal wieder. Diese verdammten Untiefen hier lassen einen Mann nicht zur Ruhe kommen. Aber Sie haben noch eine Stunde, bis wir in St. Petersburg sind. Und ich kann Sie beruhigen: Verglichen mit Keokuk ist das wirklich ein verschlafenes Nest. Bis dahin können Sie sich ausruhen, hauen Sie sich aufs Ohr! Sie werden die alte Lady schon hören, wenn wir da sind.« Grinsend deutete er auf die große Glocke, die vor dem verglasten Steuerhaus am Texasdeck hing, und machte sich auf zum Bug des Dampfschiffes.

Von irgendwoher zog der Duft von Bratkartoffeln in Toms Nase, und er hörte das Lachen aus dem Saloon, wo ein Ministrel-Sänger mit schwarz geschminktem Gesicht seine Version von Jumping Jim Crow, dem hinkenden Stallburschen, zum Besten gab. Die Nummer war lahm, Tom hatte sie schon zweimal gesehen. Er schüttelte sich. Seine Lider waren bleischwer, und seine Finger fühlten sich taub an.

Hauen Sie sich aufs Ohr.

Tom schnaubte. Wann hatte er das letzte Mal richtig geschlafen? Im Ford’s Theatre in Washington? An jenem Karfreitag? Sicher, es gab jede Nacht ein oder zwei Stunden, in denen sein Geist wegdriftete. Aber die Regel waren durchwachte Nächte in schweißnassen Laken.

We never sleep – Wir schlafen nie.

Das war Pinkertons Motto gewesen. Der Wahlspruch von Toms ehemaligem Arbeitgeber prangte über dem wachsamen Auge, das Amerikas berühmtester Detektiv sich als Erkennungszeichen erwählt hatte.

We never sleep.

Tom hatte geschlafen, als es darauf ankam, und es spielte keine Rolle, dass er zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr Mitarbeiter in Allan Pinkertons Detektivagentur gewesen war. Der Präsident hatte Tom in seinem Umfeld behalten wollen, auch nachdem Pinkerton in Ungnade gefallen war. Seither waren andere für den persönlichen Schutz des Präsidenten zuständig.

Aus Pinkertons Truppe war nur Tom bei Lincoln geblieben, weil Lincoln es so wollte. Und Tom ebenfalls. Er bewunderte den Präsidenten. Nicht wegen seines Charismas. Damit war es nicht weit her, fand Tom. Lincoln wirkte oft herb, fast hölzern, und die lange hagere Erscheinung mit den schweren Tränensäcken und der öligen Haut war wenig einnehmend. Aber früher oder später konnte sich niemand, der ihn kennenlernte, seiner Tiefe, seiner Weisheit und seiner Leidenschaft für die gerechte Sache entziehen. Tom zumindest konnte es nicht. Für einen wie ihn, der ohne Vater aufgewachsen war, gab es beileibe schlechtere Vorbilder als Lincoln, der in einer armseligen Blockhütte in Kentucky geboren worden war und durch harte Arbeit zum Präsidenten der Vereinigten Staaten aufstieg. Und der durch einen Derringer Philadelphia in der Hand von John Wilkes Booth getötet wurde.

Dieser Mann darf nicht entkommen.

Oh nein, Sir. Das wird er nicht.

Und er war auch nicht entkommen.

Tom hatte gedacht, der Tod von Booth würde ihm den Schlaf zurückbringen. Aber er hatte sich getäuscht. Auch die Kapitulation der letzten konföderierten Truppen bei Fort Towsen im Indianergebiet brachte ihm die ersehnte Ruhe nicht zurück. Genauso wenig wie die Hinrichtung der vier anderen Verschwörer. Obwohl Mary Surratt, Lewis Powell, David Herold und George Atzerodt vor drei Tagen im Innenhof von Fort McNair aufgeknüpft worden waren, hatte Tom in der Nacht wach gelegen.

So hatte er, als Sids Telegramm ihn erreichte, nicht gezögert, die Gelegenheit zu ergreifen, um so viele Meilen wie möglich zwischen sich und Washington zu bringen. Obwohl man ihn gebeten hatte zu bleiben.

Andrew Johnson, bis zu jenem Karfreitag Vizepräsident, wurde noch am 15. April als neuer Präsident vereidigt, und die Metropolitan Police hatte Tom angeboten, er solle für Johnson das tun, was er für Lincoln getan hatte. Tom überlegte noch, ob er das Angebot annehmen sollte. Es war ein großzügiges Angebot, und bisher hatte niemand ihm die Schuld an Lincolns Tod gegeben. Noch nicht.

Tom vermutete jedoch, es würde nicht lange dauern, bis man vergessen hätte, dass er an jenem verhängnisvollen Abend gar nicht Dienst gehabt hatte und aus freien Stücken im Ford’s Theatre geblieben war. John F. Parker, der dickliche Polizist der Metropolitan Police, war drei Stunden zu spät gekommen, um Tom bei seiner Schicht abzulösen. Parker war ein unzuverlässiger Säufer, und da Tom sein Rendezvous an diesem Abend durch Parkers Schuld ohnehin versetzt hatte und Parker sichtlich angetrunken war, als er im Ford’s Theatre ankam, beschloss Tom zu bleiben, um den Heimweg des Präsidenten zu sichern. Er hätte nicht gedacht, dass es zu einem Anschlag im Theater kommen würde. Er hätte nicht gedacht, dass Parker so faul und so dreist wäre, nach einer kurzen Stippvisite in der Präsidentenloge schnurstracks in den »Star Saloon« nebenan zu gehen, um seinen Rausch aufzuwärmen.

Er hätte es nicht gedacht. Und doch war es so gekommen.

Irgendwann, da war sich Tom sicher, würde man ihn dafür verantwortlich machen, dass er den Präsidenten nicht geschützt hatte. Ganz einfach, weil er da gewesen war. Und Parker, der da sein sollte, würde nicht zur Rechenschaft gezogen werden, weil er eben nicht da gewesen war. So dachten die Menschen in Washington nun mal. Und im ganzen Rest der Welt auch, vermutete Tom.

Er wühlte in den Taschen seines Gehrocks und zog zwischen einem Taschenmesser, einem Stück Schnur, ein paar Münzen und einem Talisman, auf dem Sankt Christophorus mit dem Kinde abgebildet war, das Telegramm hervor, das sein Halbbruder ihm geschickt hatte.

HEIRATE IN ZWEI WOCHEN +++ STOP +++ FREUE MICH, WENN DU KOMMST +++ STOP +++ IN LIEBE, SIDNEY

Die Nachricht hatte ihn vor acht Tagen in Washington erreicht. Tom sah es als ein Zeichen dafür an, seine Zelte in der Hauptstadt abzubrechen und St. Petersburg einen Besuch abzustatten. Tante Polly, bei der er gemeinsam mit Sid aufgewachsen war, würde ihn bestimmt kaum wiedererkennen, so ausgezehrt und von der Sonne verbrannt, wie er war. Er hatte seine Familie zum letzten Mal vor dem Krieg gesehen. Zehn Jahre war das jetzt bald her.

Tante Polly war bestimmt schon in heller Aufregung wegen der anstehenden Hochzeit. Die energische Frau würde für ihren kleinen Siddy alles organisieren – von der Sitzordnung über das Buffet bis zum Kleid ihrer künftigen Schwiegertochter. Welches Mädchen wohl dumm genug war, Sid Sawyer zu heiraten? Bestimmt irgendeine langweilige, hochnäsige Kuh.

Tom runzelte die Stirn und stopfte das Telegramm wieder in seine Rocktasche. Er hielt nicht allzu viel von seinem Bruder. Wenn er früher mit seinem Freund Huck Finn die Schule geschwänzt hatte, um schwimmen und angeln zu gehen, hatte Sid brav in der Bank bei ihrem Lehrer Mr Dobbins gesessen und sich für eine Extraaufgabe gemeldet. Und wenn Tom dann mit zerrissener Hose heimgekommen war, hatte Sid mit gewaschenen Händen und gekämmten Haaren beim Abendbrot gesessen und ihn schon bei Tante Polly verpetzt.

Trotzdem freute Tom sich, Sid zu sehen. Und auf Huck freute er sich auch – falls der noch in St. Petersburg war. Vielleicht würde ihm ja St. Petersburg den Schlaf schenken, den er so dringend brauchte.

Tom ging in seine enge Kabine und packte seine Sachen zusammen. Das schmale Bett war unbenutzt. Er spülte sich den Mund mit Backnatron und Whiskey aus und warf einen kurzen Blick in den Spiegel über der Waschschüssel. Seine Haut spannte sich über die Wangenknochen, und der Anblick des rasierten Kinns ließ ihn wieder zusammenzucken. Vor drei Tagen noch hatte er einen Bart bis zum obersten Hemdknopf getragen. Er fuhr sich mit den Fingern durch die langen dunklen welligen Haare. An den Schläfen hatten sich silbrige Fäden daruntergemischt. Kein Wunder, nach allem, was passiert war.

Garrets Farm. Die Schüsse. Booth.

Bleiben Sie gut, Thomas. Bleiben Sie gerecht.

Tom hörte die Stimmen und die Schritte der anderen Passagiere auf der Treppe zum Oberdeck. Dann ertönte die Glocke. Ohne sich noch einmal umzuschauen, nahm er seinen Koffer und trat zu den anderen auf das Deck.

Der Dampfer überholte gerade einen Verband aus Flößen, der Baumstämme in den Süden transportierte. Die sonnengegerbten Flößer winkten freundlich, saßen um einen Topf Muschelsuppe und sogen an ihren Maiskolbenpfeifen.

Zuerst erkannte Tom Jackson Island, wo er als Kind mit Huck Finn und Joe Harper einige Tage als Ausreißer verbracht hatte, dann tauchte St. Petersburg hinter den Bäumen am Missouri-Ufer auf. Weit vor der Anlegestelle waren die verfallenen Dächer des alten Schlachthofs zu sehen. Tom entdeckte den Kirchturm und das Dach der Sonntagsschule, und ein Gefühl von Wehmut fuhr ihm durch die Brust. Hinter der Stadt erhob sich der Cardiff Hill, und nun konnte er auch die Villa der Witwe Douglas zwischen Sumachbüschen als weißen Bau mit Säulen ausmachen.

Ein bisschen wie das Weiße Haus …

Schnell verscheuchte Tom den Gedanken. Stattdessen blickte er zu den beiden hohen gezackten Schornsteinen, aus denen jetzt dichte schwarze Rauchwolken hervorquollen. Eine billige Pracht, die die Mannschaft kurz vor der Ankunft in einer Stadt mit ein paar Kloben Pechtanne erzeugte. Der Kapitän, ein stattlicher weißhaariger Mann, trat unter das Sternenbanner, das am Göschstock flatterte, hakte seine Daumen in die Uniformjacke und ließ seinen Blick über die Menschenmenge auf dem Oberdeck schweifen, als wäre er ein Admiral und sie seine siegreichen Kadetten.

»Zwei Faden!«, tönte der Ruf des Lotsen über das Deck, dann schoss zischend der Dampf durch die Ventile, der Kapitän hob die Hand, und die Räder griffen rückwärts aus und butterten das Wasser zu Schaum.Am Bug wurde die breite Landebrücke weit nach Backbord hinausgeschoben, an deren Ende bereits ein junger Matrose mit einer Rolle Tau in der Hand bereitstand.

An der Anlegestelle warteten Händler, Packer und neue Passagiere auf die Ankunft des Dampfers. Ein schwarzer Lastenträger führte die Hände zum Mund, formte einen Trichter und ließ einen Schrei gellen: »Dampfboot kommt!«

Das Tau wurde an Land geworfen. Dann lag der Dampfer ruhig im Wasser.

Tom ging von Bord. Außer ihm trug kaum jemand einen Koffer; die Handvoll Passagiere, die die Excelsior mit ihm verließen, waren hier, um einen Ausflug zu machen, etwas einzukaufen oder um auf einen Drink in einen Saloon zu gehen. Offenbar hatte niemand vor, länger in St. Petersburg zu bleiben. Niemand außer ihm.

Er blieb einen Augenblick auf dem Anleger stehen und beschirmte mit der Hand die Augen gegen die gleißende Sonne. Die Hauptstraße schien wie ausgestorben. Die Straßen und Bürgersteige waren verlassen, nur ein Hund mit fleckigem Fell saß mitten auf der Straße und leckte sich die Pfoten. In der Außenwand des Mietstalls konnte man Einschusslöcher erkennen. Es roch nach Fisch und nach den säuerlichen Dämpfen der neuen Gerberei, die man direkt am Anleger gebaut hatte.

Plötzlich spürte Tom, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte.

»Tom? Thomas Sawyer?«

Tom drehte sich um. Ein breites schwarzes Gesicht mit strahlend weißen Zähnen und einem grauen Bart sah ihn entgeistert an. Der kräftige Mann setzte einen Käfig mit aufgeregt gackernden Hühnern ab und strich sich mit einem schmutzigen Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Um seinen Hals hing eine Lederschnur mit einem Kupferpenny. Tom überlegte einen Augenblick. Dann erkannte er die Züge seines alten Freundes. »Jim? Bist du das?«

»Herr im Himmel! Tom Sawyer! Ich dacht schon, die verdammten Rebs hätten dich erwischt.«

Jim schien unschlüssig zu sein, ob er Tom umarmen durfte, obwohl er ihn kannte, seit Tom ein kleiner Junge war. Schließlich trug Tom einen Anzug und war ein weißer Mann, während Jim Mrs Watsons Haussklave gewesen war, bevor sie ihm in ihrem Testament die Freiheit geschenkt hatte. Etwas steif streckte Jim schließlich die Hand aus.

Tom ergriff sie und zog den alten Freund dann kurz an seine Brust.

Jim schnaubte und lachte, doch als Tom ihn losließ, schimmerten Jims Augen feucht. »Hätt nich’ gedacht, dass man dich noch mal sieht. ’s hieß, du wärst ’n feiner Mann geworden in Washington. Wärst bei Präsident Linkum und so. ’ne Schande, das mit sein’ Tod. Verdammte Rebs!«

Tom schüttelte den Kopf. »Bin kein feiner Mann, Jim. War’s nie und bin’s auch jetzt nicht. Hab ein Telegramm von Siddy bekommen. Bin wegen der Familie da. Wollt mich in St. Petersburg umsehen.«

Jim nickte traurig. »Wegen Miss Polly, hm?«

Tom lächelte. »Ja. Schätze, sie kann jede Unterstützung brauchen. Sie macht sich bestimmt verrückt wegen Sids Hochzeit, oder?«

Jim blinzelte verwirrt. Er leckte sich über die Lippen. »Wegen Master Sids Hochzeit? Tom, Miss Polly macht sich nich’ verrückt. Kann sie gar nich’, sie …«

Die Verwirrung in Jims Zügen wich einer tiefen Bestürzung. Jim schluckte und senkte die Stimme. »Sie is’ tot, Tom«, sagte er heiser. »Seit drei Tagen. Ich dachte, das Telegramm von Master Sid hätte dir …« Jims Stimme brach.

Tom spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. Ihm wurde schwindelig, seine Beine gaben nach, und er ließ sich auf Jims Hühnerkäfig sinken. Die Vögel gackerten empört auf. »Tot?«, flüsterte er.

»Sie wird gerade beerdigt. Ich muss den Dampfer abladen, weißt ja, Tom, sonst wär ich auch gekommen. Aber die halbe Stadt is’ da. Wenn du dich beeilst, kommste vielleicht noch rechtzeitig.«

˝˝˝

Der hochgewachsene Fremde mit dem Koffer in der Hand zog sofort die Blicke auf sich. Wer kam schon mit einem Koffer zu einer Beerdigung? Auch sein sandfarbener Gehrock wirkte fehl am Platz neben den dunklen Anzügen der Herren und den schwarzen Glockenröcken und Seidenhauben der Ladys. Die Trauernden drehten sich nach ihm um, beugten sich flüsternd zu einem Nachbarn.

Tom nahm das Tuscheln und Kopfschütteln der Trauergemeinde kaum wahr. Wie in Trance war er die anderthalb Meilen vom Ort hinauf zum Hügel gelaufen, auf dem der Friedhof lag: ein von einem morschen, windschiefen Bretterzaun umschlossenes Viereck aus zahllosen eingesunkenen Gräbern, die im Schatten einiger Ulmen lagen. Verwitterte, oben abgerundete Holzbretter mit den verblichenen Namen der Verstorbenen kennzeichneten die kaum mehr zu erkennenden Grabstellen. Keines der Gräber war mit Blumen geschmückt, und fast niemand in St. Petersburg hatte das Geld, um ein kleines Metallgitter um das Grab eines Verwandten herum errichten zu lassen.

Es war so heiß, dass Tom der Schweiß in den aufgestellten Kragen seines Hemdes lief. Er schlug nach einer Mücke auf seiner Wange.

Jim hatte recht: Die halbe Stadt war da.

Tom blieb in der letzten Reihe stehen und lauschte dem trägen Singsang von Pfarrer Sprague, der weißhaarig und gebeugt vor der Trauergemeinde stand. Er war gerade noch rechtzeitig gekommen, um zu sehen, wie der Sarg in der Grube verschwand. Sechs kräftige Männer ließen die schwarze Kiste aus groben Eichenbrettern mit Seilen in das Loch hinab. Sid war einer von ihnen.

Tom musterte ihn. Sein Halbbruder war dick geworden, seit er ihn zum letzten Mal gesehen hatte, doch das kurze blonde Haar und die weichen Gesichtszüge hatten ihm seine jungenhafte Ausstrahlung bewahrt. Sid zitterte vor Anstrengung, als das grobe Seil durch seine Hände glitt. Vielleicht zitterte er auch vor Trauer.

Tante Polly.

Zwei spindeldürre Männer in der zerschlissenen Uniform der Union bliesen in eine verbeulte Tuba und eine ebenso schäbige Trompete und untermalten den Zug der Trauergemeinde mit einer schaurigen Melodie.

Tante Polly.

Tränen schossen Tom in die Augen. Er hatte nicht geweint, als Lincoln starb. Der Zorn und die Aufgabe, den Mörder zu fassen, hatten ihn davor bewahrt. Doch jetzt konnte er die Tränen nicht zurückhalten. Tom hatte oft Tante Pollys Rute zu spüren bekommen, wenn er frech und ungezogen gewesen war. Sie hatte gebrüllt, gedroht und geschlagen. Aber sie hatte ihn auch in den Arm genommen, hatte ihn getröstet und versucht, ihm die Mutter zu ersetzen, so gut sie konnte. Tom empfand nichts als Dankbarkeit und Liebe, wenn er an sie dachte, und der Gedanke, dass er sie nie wiedersehen würde, zerriss ihm das Herz.

Ich bin zu spät gekommen. Viel zu spät.

Verstohlen wischte Tom die Tränen mit dem Ärmel weg. Er versuchte sich abzulenken, indem er die Menschen, die in einer Schlange anstanden, um seinem Bruder Sid die Hand zu geben und ihm ihr Beileid auszusprechen, nach bekannten Gesichtern absuchte.

Er erkannte die Witwe Douglas, eine wohlhabende Dame Anfang sechzig; ihr Mann war Friedensrichter gewesen und hatte ihr das Anwesen auf dem Cardiff Hill hinterlassen. Hinter ihr kam Rechtsanwalt Riverson, immer noch schlank, aber inzwischen mit grauen Schläfen, und Tom glaubte in dem blonden Mann neben ihm, einem Herrn im feinen dunklen Cut, Willie Mufferson zu erkennen, den einstigen Musterknaben der Schule. So unterwürfig, wie er neben Riverson hertrottete, war er bestimmt bei dem Anwalt in die Lehre gegangen.

Tom staunte, als er seinen alten Lehrer wiedererkannte: Mr Dobbins. Dobbins musste inzwischen Mitte fünfzig sein, doch er hatte rote Wangen und wirkte jugendlich und kräftig, so als würde er körperlich arbeiten und nicht seit dreißig Jahren hinter dem Katheder stehen, um ungezogenen Bengels wie ihm ein wenig lesen und schreiben beizubringen und ihnen die Bibel einzutrichtern. Doch dann erkannte Tom plötzlich, dass Dobbins’ dunkelhaarige Perücke, die er schon früher getragen hatte, zu einem guten Teil dafür verantwortlich sein mochte, dass er ihn so unverändert fand.

Tom ließ den Blick schweifen. Hinter Dobbins glaubte er Susie Harper und ihre Mutter Sereny zu erkennen. Susie war füllig geworden, oder war sie vielleicht schwanger? Sereny weinte. Sie und Tante Polly waren immer gute Freundinnen gewesen. Aber wo steckte Joe, Susies Bruder und sein Jugendfreund, mit dem er und Huck Finn einst Jackson Island erobert hatten? War Joe im Krieg gefallen, oder hatte er St. Petersburg inzwischen verlassen?

Als ein hochgewachsener älterer Herr Sid gemessen die Hand schüttelte und ihm leise und eindringlich sein Beileid aussprach, geriet der Zug der Trauernden ins Stocken. Tom erkannte die markante Nase und die hohen Schläfen von Richter Thatcher, einer Respektsperson seiner Kindheit und der Vater seiner Jugendliebe Becky. Der Richter drückte Sid noch einmal mitfühlend die Schulter, trat dann endlich beiseite, setzte seinen Zylinder auf und ging in den Schatten einer Ulme, wo eine schlanke Frau in einem schwarzen Seidenkleid auf ihn wartete.

Heufalter umschwirrten ihren kleinen Seidenhut, unter dem blondes Haar hervorblitzte. Äste verwehrten Tom den Blick auf ihr Gesicht, doch als er sah, wie sie die Hand von Richter Thatcher ergriff und wie sie mit der anderen Hand einen Schmetterling von ihrem Hut verscheuchte, schlug sein Herz einen Moment lang schneller.

Becky.

Rebecca Thatcher, das Mädchen, in das er mit zwölf Jahren unsterblich verliebt gewesen war. Mit der er sich gezankt und die er geküsst hatte, mit der er sich in der McDouglas-Höhle hinter dem Cardiff Hill verirrt und die er nach Tagen dort wieder herausgeführt hatte. Rebecca, die Jahre später, als Tom und sie sich unzählige Male getrennt und wieder versöhnt hatten, endgültig mit ihm brach, weil sie nie verstanden hatte, warum er aus St. Petersburg wegwollte. Die ihn deswegen einen gottverdammten Idioten genannt und ihm zum Abschied eine runtergehauen hatte. Die nie wieder etwas von ihm hören wollte und deren Wunsch in den letzten zehn Jahren, seit Tom St. Petersburg verlassen hatte, in Erfüllung gegangen war. Jetzt aber würde er mit ihr sprechen müssen. Er konnte nicht hierherkommen, ohne mit ihr zu reden. Doch zunächst würde er mit Sid sprechen müssen. Jetzt gleich.

Der Trauerzug war vorüber, die Trauergemeinde verließ den Friedhof, und die zerfledderten Unionssoldaten schwangen ihre verbeulten Instrumente auf den Rücken und teilten sich die Münzen, die Sid ihnen in die Hand drückte. Tom ging auf Sid zu. Er straffte sich, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und legte sich die Worte zurecht, als ein breitschultriger Mann mit schulterlangen Haaren unter einem buschigen schwarzen Schnurrbart ihm in den Weg trat.

»Tom? Tom Sawyer?«

»Ja, Sir.« Toms Blick fiel auf den schimmernden Messingstern an der Weste des Mannes. »Was kann ich für Sie tun, Sheriff?«

Der Sheriff zog an der Krempe seines breiten schneeweißen Boss of the Plaines-Hutes und hakte dann die Daumen in die Armlöcher seiner Weste. »Tut mir schrecklich leid, das Ganze, Tom. Es ist furchtbar, was mit deiner Tante passiert ist.«

Tom kniff die Augen zusammen. Wer war das bloß? Er dachte sich den Schnurrbart weg, und plötzlich stand ein kleiner schmaler Junge mit aufgeschürften Knien, dreckverschmiertem Gesicht und einer ungezähmten schwarzen Mähne vor ihm. »Joe? Joe Harper? Du bist der Sheriff hier?«

Joe nickte betroffen, als wäre das eine schwere Anschuldigung. »Wie ich schon sagte, Tom: Das Ganze ist furchtbar. Ich hab seit vorgestern kein Auge zugetan. Ich hab mit Jim Hollis und Billy Fisher nur zwei Männer, und, na ja, du kennst Billy ja, er ist nicht der Hellste, aber … aber ich verspreche dir, wir besorgen uns mehr Männer, und dann fassen wir den Dreckskerl.«

Tom schüttelte langsam den Kopf. »Wovon zum Teufel redest du, Joe?«

Joe spuckte aus. »Huck Finn wird dafür büßen, Tom. Der Hurensohn wird in der Hölle schmoren, dafür, dass er deine Tante ermordet hat.«

˝˝˝

Der Herr ist mein Hirte …

Toms Blick ruhte auf dem gestickten Bibelvers in einem aus Zigarrenschachteln gebastelten Rahmen, der über der Hintertür hing.

The Lord is my Shepherd,

I shall not want;

He makes me lie down in green pastures.

He leads me beside still waters;

He restores my soul.

He leads me in paths of righteousness

For His name’s sake.

Psalm 23

Ihr Hirte hatte Tante Polly nicht geholfen. Er hatte sie heimgeführt. Tom wandte die Augen von dem Bibelvers ab und schüttelte den Kopf, als er die fragenden Blicke von Sid und Joe Harper auf sich bemerkte.

»Das kann nicht sein, Siddy. Das ist unmöglich.«

»So wahr mir Gott helfe, Tom. Es ist die bittere Wahrheit.«

Tom starrte auf die Holzdielen der Stube, wo man noch dumpf und braun die Blutflecken sah, die das Mädchen wohl auch mit viel Scheuern nicht wegbekommen hatte. Er saß am Esstisch in Tante Pollys Haus in der Hooper Street. Dem Haus, in dem er gemeinsam mit Sid aufgewachsen war, nachdem seine Eltern gestorben waren.

Im Erdgeschoss gab es neben der Küche und der Speisekammer nur einen einzigen Raum, der wie früher gleichzeitig als Schlafzimmer, Frühstückszimmer, Speisezimmer und Bibliothek diente. Das Holz der Wände war im Laufe der Jahrzehnte dunkel geworden, Gestecke aus Trockenblumen hingen neben Stickereien und weiteren Bibelversen. Auf dem Sofa mit dem verblichenen hellblauen Bezug lagen viereckige Flicken aus alten Hemden und Hosen säuberlich übereinandergestapelt, so als hätte Tante Polly eben erst mit einer neuen Steppdecke beginnen wollen. Eine Außentreppe führte zu den Räumen im oberen Stockwerk, wo damals Toms und Sids Kinderzimmer gewesen war. Draußen vor dem Fenster schnüffelte eine Sau mit ihren Ferkeln den Bürgersteig entlang und labte sich an Melonenabfällen.

»Es stimmt, Tom. Ich habe ihn selbst gesehen, deinen Huck.« Sid stand an den Schrank gelehnt, in dem das Porzellan für die Feiertage aufbewahrt wurde, und schob betrübt die Unterlippe vor.

Deinen Huck? Tom war noch keine Stunde in der Stadt und verspürte schon jetzt den brennenden Wunsch, seinem Halbbruder eine Ohrfeige zu verpassen. Manche Dinge änderten sich eben nie. Er sah sich langsam um und entdeckte im Holz des Schrankes die Kerben, die er einst mit seinem Barlow-Messer hineingeritzt hatte. Das Messer hatte ihm seine Cousine Mary geschenkt, und es war zwölfeinhalb Cent wert gewesen.

Zwölfeinhalb Cent, zwölfeinhalb Cent …

Tom schüttelte den Kopf und rieb sich die Augen. Warum fiel ihm das jetzt ein? Er fühlte sich wie gerädert, war benommen vom Schlafmangel, von der Reise und von den erschütternden Neuigkeiten, und ihm ging auf, dass er seit dem Morgen nichts gegessen hatte. In der Stube war es unerträglich heiß, und Tom nahm einen großen Schluck Eistee aus dem Glas vor sich, bevor er sich an seinen Bruder wandte. »Tut mir leid, Siddy, ich kapier’s einfach nicht. Vielleicht erzählt ihr beide, du und Joe, mir einfach noch einmal, was hier los war, damit ich nicht dumm sterbe.«

Sid warf dem Sheriff, der an der Hintertür lehnte, einen schnellen Blick zu, und Tom bemerkte, wie Joe Harper die Augenbrauen hochzog. Der Sheriff schob seinen Hut in den Nacken und verschränkte die Arme. Als Sid nicht anfing zu reden, nickte Joe ergeben. »Also gut, Tom, pass auf: Vorgestern Abend bin ich unten am Fluss, weil irgend so ein Penner aus Illinois seinen Kahn am Anleger vertäut hat, obwohl wir noch ein Frachtschiff erwartet haben, und der Typ war nicht auffindbar. Jedenfalls … jedenfalls mach ich mich auf, um in den Saloons nach diesem Kerl zu suchen, als der kleine Will Tanner, das ist der Sohn von Bob Tanner und Amy Lawrence, du weißt schon: Amy, die Blonde, ihr zwei hattet da mal was laufen, wenn ich mich nicht irre … jedenfalls kommt Willy durch die Straßen gelaufen und schreit nach mir wie blöd, und als er mich gefunden hat, sagt er, ich soll zu Polly kommen, weil Sid dort auf mich wartet und weil was Schlimmes passiert ist. Ich komm also hierher, und da seh ich Sid, und ich seh deine Tante, Tom. Sid ist total fertig und lehnt an der Tür hier, so wie ich gerade, und deine Tante liegt in ihrem eigenen Blut auf den Dielen.«

»Wurde sie erschossen? Erstochen?«

Joe und Sid wechselten wieder einen kurzen Blick, dann fuhr der Sheriff fort: »Erschlagen. Und wie! Huck muss total durchgedreht sein. Sie hatte vorne ’ne Platzwunde, wo er ihr wohl eins übergezogen hat, dann ist sie wahrscheinlich zusammengebrochen, und auf dem Boden hat er ihr dann den Rest gegeben. So ’n Loch im Schädel hintendrin.«

Joe formte mit beiden Daumen und Zeigefingern einen Kreis. Als er dafür einen tadelnden Blick von Sid erntete, ließ er betreten die Hände wieder sinken. »’tschuldigung. Dachte, du willst es genau wissen, Tom. Ich mein, wo du mal bei Pinkerton warst, wenn’s stimmt, was die Leute so sagen.«

»Es stimmt, was die Leute so sagen, Joe.« Tom nickte Sid zu. »Wie hast du sie gefunden, Sid? Und wie kommst du darauf, dass es Huck Finn war?«

»Na, weil ich ihn gesehen habe!«

»Wo hast du ihn gesehen?«

Sid blickte durch die Stube und hob die Hände: »Na hier! Wo denn sonst?«

»Und was genau hast du gesehen? Hast du gesehen, wie er Tante Polly erschlagen hat?«

»Klar! Ich kam von einer Besprechung mit der Witwe Douglas. Sie hat ein Grundstück hinter dem Cardiff Hill, das Pettibone vom Sägewerk ihr abkaufen will, und unsere Bank soll das Geschäft abwickeln.«

Unsere Bank? Erst jetzt merkte Tom, dass er noch nicht einmal wusste, womit sein Halbbruder sein Geld verdiente.

»Als ich nach Hause komme, höre ich in der Stube jemanden heftig atmen, und als ich reinkomme, steht da Huck. Er hat einen blutigen Sack in der Hand und steht über Tante Polly gebeugt, die leblos am Boden liegt. Huck starrt mich an, als wär ich ein Gespenst. ›Sie ist tot!‹, sagt er, als würde man das nicht sehen, bei dem ganzen Blut, und ich bin wie festgenagelt und starr sie an und starr ihn an, und dann schrei ich Huck an, warum er das getan hat, und dann stößt mich das Schwein zur Seite und rennt einfach weg!«

Während seiner Schilderung war Sid immer aufgeregter geworden. Joe Harper trat zu ihm und klopfte ihm auf die Schulter. »Wir kriegen den Hurensohn, Sidney. Mach dir keine Sorgen.«

Tom blickte auf die verblassten Blutspuren, die sich von der hinteren Tür bis zum Schrank zogen. Tante Polly hatte sich wohl noch ein paar Fuß auf dem Boden dahingeschleppt, bevor ihr Mörder sie endgültig tötete. Hatte sie versucht, ihm zu entkommen?

»War etwas in dem Sack drin, Sid?«

Sid sah auf. Sein Blick war verschwommen. »In dem Sack?«

»In dem Sack, den Huck dabeihatte. War da etwas drin? Etwas Schweres vielleicht? Ein Stein?«

Sid schüttelte den Kopf. »Nein. Der Sack war ganz schlaff. Warum fragst du?«

Tom wandte sich an den Sheriff. »Habt ihr die Mordwaffe gefunden?«

»Nein. Aber ich nehm an, es war ’ne Axt oder ’ne Eisenstange oder ’n Hammer.«

Tom nickte. »Du nimmst also an, es war ein schwerer Gegenstand?«

»Ja.«

»Weil man mit einem Kissen so schlecht jemanden erschlagen kann, hm, Joe?« Tom seufzte.

Joe zog die Augenbrauen zusammen. »Ja … aber … Wie meinst du das, Tom? Sag mal, machst du dich gerade über mich lustig?«

Tom schüttelte den Kopf. »Nein. Hast du überhaupt nach der Mordwaffe gesucht?«

»Nein, ich … schätze, er hat sie mitgenommen.«

Tom nickte. »Ja, kann sein. Aber Sid hat keine Mordwaffe gesehen, als er Huck hier angetroffen hat. Nur einen schlaffen Sack. Vielleicht hat er Polly ja erschlagen, hat die Waffe dann draußen ins Gebüsch geworfen und ist dann noch einmal reingekommen?«

Joe blinzelte und sah ihn verständnislos an. »Warum sollte er das tun?«

»Genau: Warum sollte er das tun? Merkst du was, Joe? Wenn der Sack schlaff war, dann hat Huck Tante Polly wohl kaum damit erschlagen. Und wenn er sonst keine Waffe in der Hand hatte, dann war vielleicht jemand vor ihm da und hat Tante Polly erschlagen, und Huck hat sie einfach nur gefunden, weil er zur falschen Zeit vorbeigekommen ist. Warum sollte er sie überhaupt umbringen? Was für einen Grund sollte es dafür geben? Hast du nachgesehen, ob irgendetwas fehlt, Siddy?«

Sid schüttelte den Kopf. »Nein, warum?«

Tom stöhnte auf. »Weil das ein Grund sein könnte, warum jemand Tante Polly erschlägt! Ein Dieb kommt rein, wird überrascht und tötet sein Opfer. Also: Fehlt etwas?«

Sid blickte sich hilflos um und zuckte mit den Schultern. »Ich … ich glaube nicht, ich … Hör mal, Tom, keine Ahnung, was für einen Grund Huck hatte, Tante Polly zu erschlagen, und ich weiß, er war mal dein Freund, aber Huck war es, das kannst du mir glauben, Tom. Er war früher vielleicht mal ein netter Kerl, obwohl ich ihn noch nie ausstehen konnte. Aber seit du weg bist …«

Sid brach ab, und Joe Harper sprang ein. »Sid denkt sich das nicht aus, Tom. Huck Finn ist ein Mistkerl. Fast noch schlimmer, als sein Vater einer war. Er trinkt, er klaut, er prügelt sich. Er hat kein Haus und schon gar keine Arbeit. Huck lebt irgendwo im Wald oder am Fluss – das weiß keiner so genau. Vor etwa einem Monat konnte ich die Männer der Stadt gerade noch davon abhalten, ihn zu lynchen, weil er sich beim Gemeindefest an Sally Austin, das ist die kleine Schwester von Mary Austin, vergehen wollte. Sie waren beim Friedhof, das Mädel war vierzehn, und sie hat geschrien. Die Männer kamen gerade noch rechtzeitig. Sie haben ihn quasi von ihr runtergezogen, Tom.«

Tom nickte betroffen. Die beiden hatten recht. Die Tatsache, dass der Sack leer gewesen war, besagte gar nichts. Wer lief schon mit einem blutigen Sack herum? Und vielleicht hatte sich Sid ja auch getäuscht, und in dem Sack war doch etwas gewesen. Dass Joe Harper offensichtlich ein Stümper war und keine Ahnung hatte, wie man den Schauplatz eines Mordes anständig untersuchte, machte die Sache nicht besser. Und Huck … Hucks Vater war ein grausamer Despot und ein furchtbarer Trinker gewesen und hatte Huck als kleinen Jungen so oft blutig geschlagen, dass Huck irgendwann abgehauen war. Ein Trinker, ein Schläger, immer Schwierigkeiten mit dem Gesetz.

Immer wieder die gleiche Geschichte.

Vor fünf Jahren hatte Tom Walter P. Winslow, einen krankhaften Mörder, ins nagelneue Joliet Prison vor den Toren Chicagos gebracht. Winslow war ein perverser Sadist, ein kaltblütiger Killer, der junge schwarze Männer angesprochen und sich als Schaffner der Untergrundbahn ausgegeben hatte, einer Organisation, die entflohenen Sklaven dabei half, in die Nordstaaten zu flüchten. Winslow gab vor, auch den Familien der jungen Männer helfen zu können, die noch im Süden in Staaten lebten, wo es weiterhin Sklaverei gab.

Winslow war ein Holzfäller, der sich nebenher mit Schreinerarbeiten über Wasser hielt. Er hatte die jungen Männer mit Versprechungen zu sich nach Hause gelockt und ihnen mit einem Schäleisen, mit dem man normalerweise die Rinde von einem Baum schabte, den Leib aufgeschlitzt. Er hatte gesagt, es bereite ihm Genuss, den Blick in ihren Augen zu sehen, wenn sie ihr eigenes, noch schlagendes Herz in den Händen hielten. Auf dem Weg ins Gefängnis aber hatte Winslow in Pinkertons schwarzer Kalesche geheult wie ein kleines Kind und von seinem Vater erzählt. Einem Trinker und Schläger, der immer Schwierigkeiten mit dem Gesetz hatte – und der den kleinen Walter immer wieder blutig geschlagen hatte. Tom hatte die Geschichte so oder so ähnlich auch von anderen Mördern so oft gehört, bis sie ihm zu den Ohren heraushing. Er hatte Winslow angefahren, es solle die Klappe halten. Es gab keine Entschuldigung für das, was diese Bestien taten, und doch glaubte Tom, ein Muster in diesen Lebensläufen zu erkennen. Ein Trinker und Schläger, immer Schwierigkeiten mit dem Gesetz.

Aber Huck? Sein Huck ein Mörder?

Joe Harper räusperte sich. »Tja, ich …« Er deutete unbestimmt mit dem Daumen auf die Hintertür der Stube, die in den Garten führte.

Sid nickte beflissen. »Sicher, Joe, du hast ’ne Menge zu tun.«

Joe grinste dankbar, doch er machte keine Anstalten zu gehen, sondern druckste herum, während er mit seinem Stiefel unsichtbare Staubflusen auf den Dielen von links nach rechts schob.

Tom blickte fragend zu Sid, dann wieder zum Sheriff. »Joe? Willst du noch was sagen?«

»Jaah«, kam es gedehnt von Joe. »Weißt du, Tom, die Wahl zum Sheriff steht an, und Saul Jones, der Sohn vom alten Waliser, bewirbt sich auch, obwohl er eigentlich der Postmeister von St. Petersburg ist. Aber er hat jede Menge Freunde, und ein bisschen Geld scheint er auch zu haben, und er gibt jedem Penner, der ihn darum bittet, einen aus und … Also jedenfalls … wäre es natürlich gut, wenn ich Huck bis zur Wahl finden würde. Für die Leute hier, meine ich, und ich dachte mir, ich dachte, du könntest mir vielleicht helfen, weil … Ich mein, immerhin war sie ja deine Tante, und du warst mal bei Pinkerton.«

Tom blickte auf. Joe wippte auf den Füßen und versuchte so etwas wie ein schüchternes Grinsen. Große weiße Zähne blitzten unter dem buschigen Schnurrbart hervor wie Kieselsteine.

Tom schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Joe. Ich bin kein Detektiv mehr. Das letzte Mal, als ich eine Waffe getragen habe, um jemanden zu beschützen, ist der Mann gestorben. Und ich hab bestimmt keine Lust, dabei zu sein, wenn man Huck Finn fasst und ihm den Prozess macht. Wahrscheinlich ist er eh schon über alle Berge.«

Joe blickte enttäuscht zu Boden. Tom sah zu Sid hinüber. Dunkle Ringe lagen unter dessen Augen, als hatte er viel geweint. Plötzlich bahnte sich eine Welle der Zuneigung ihren Weg in Toms Herz. »Ich werd mir ein Zimmer in einem der Saloons nehmen und dir ein paar Tage unter die Arme greifen, Siddy. Dann werd ich wieder gehen. Kannst du einen Saloon empfehlen, wo ich keine Läuse bekomme und wo die Wanzen einen nicht gleich auffressen?«

Sid zog die Stirn kraus. »Aber … Du kannst hier wohnen, Tom. Ich werd auf der Couch schlafen, und du kannst mein Zimmer … unser altes Zimmer haben.«

Tom nickte. »Danke. Aber ich will dir nicht zur Last fallen. Ich nehme an, deine Hochzeit ist erst mal verschoben?«

»Ja. Rebecca war die Erste, die gesagt hat, wir müssten erst mal warten. Sie ist immer so verständnisvoll.«

»Rebecca?«

»Meine Braut. Becky Thatcher. Du kannst sie unmöglich vergessen haben, Tom!«

˝˝˝

Becky Thatcher. Becky.

Tom hatte sie nicht vergessen. Wie auch? Seine Wange brannte immer noch, wenn er an den Abschied vor zehn Jahren dachte.

Tom knallte das leere Glas auf den Tresen und bestellte sich einen vierten Whiskey. Sein Koffer stand ungeöffnet neben dem Spucknapf am Ende des Tresens, um den herum braune Tabaksprenkel verspritzt waren. Tom hatte sich noch nicht einmal das Zimmer angesehen, das ihm der Wirt für zwei und einen halben Dollar die Nacht vermietete. Stattdessen war er gleich am Tresen geblieben; er wollte sich dermaßen betrinken, dass man ihn später in sein Zimmer würde hinauftragen müssen. Deswegen hatte er dem Wirt Harold, mit einem eindrucksvollem Backenbart und einer zerfurchten unförmigen Nase, und seinem kräftig wirkenden Sohn Timothy schon im Voraus ein großzügiges Trinkgeld zukommen lassen.

Whiskey. Vielleicht kam dann endlich der Schlaf. Oder zumindest eine andere Form geistiger Abwesenheit. Tom seufzte. Er war am Morgen mit der Absicht nach St. Petersburg gekommen, etwas Ruhe zu finden, und nun musste er feststellen, dass seine Tante ermordet worden war – vermutlich von seinem besten Freund. Und dass sein Halbbruder, den er nie wirklich hatte leiden können, dabei war, seine Jugendliebe zu heiraten. Wenn das nicht Grund genug war, einen zu heben, was dann?

Tom legte den Kopf in den Nacken, goss sich Whiskey Nummer vier in die Kehle und schüttelte sich. Das Zeug schmeckte grässlich. Der Wirt putzte mit seiner speckigen Schürze die zerkratzten Gläser, hielt sie prüfend ins Licht und blickte dann mit demselben prüfenden Blick auf Tom und die leeren Gläser vor diesem. »Gehen Sie’s langsam an, Mister. Der Abend ist noch jung.«

»Der Abend hat noch gar nicht angefangen, Harold. Wenn ich Ihnen zur Last falle, dann stellen Sie die Flasche einfach her, dann kann ich selbst nachschenken.«

»Hab’s ja nur gut gemeint.« Der Wirt hob beschwichtigend die Hände und stellte dann die Flasche mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit vor Tom hin. »Man sollte was essen, bevor man die erste Flasche leert.«

Tom blickte aus trüben Augen auf. »Sollte man, Harold? Man sollte so vieles, wissen Sie? Man sollte zum Beispiel am Karfreitag nicht in ein Theater gehen, das bringt Unglück. Und man sollte nie zu einer Hochzeit fahren, wenn man nicht weiß, wer die Braut ist. Und mit einem leeren Sack sollte man am besten auch nicht dort auftauchen, wo gerade jemand umgebracht wurde.«

Harold blinzelte, hielt für einen Moment mit dem Putzen der Gläser inne und brummte endlich wie zustimmend, bevor er mit der speckigen Schürze über das Ende des Tresens wischte, das weit von Tom entfernt war.

Tom seufzte und blickte sich um. Die Lampen mit den grünen Glasschirmen in »Harold’s Happy Tavern« an der Ecke Bird Street und Main waren schon angezündet, obwohl es draußen noch gleißend hell war. Doch sie brachten nur wenig Licht in die düstere Schankstube, die von einem dunkelroten Tresen und einem ausladenden Lüster in der Mitte des Raumes beherrscht wurde. Hinter der Bar hing ein stumpfer Spiegel, davor standen sorgsam aufgereiht Flaschen und Gläser. Zahlreiche Ölgemälde mit Jagdszenen, die der Rauch aus dem Kamin und die Essensdünste mit einem schmierigen dunklen Firnis überzogen hatten, zierten die Wände. Obwohl es den Saloon schon viele Jahre gab, kannte Tom den neuen Besitzer nicht. Der vorige Inhaber, Mr Walker, hatte ihm und Huck öfter das Fell gegerbt, wenn sie wieder einmal versucht hatten, ein Loch in das Limonadenfass im Hinterhof zu bohren, um sich dann abwechselnd unter den munter plätschernden Strahl zu legen.

Tom sah sich um. Er war fast allein im Schankraum. Harold wischte immer noch den Tresen, Timothy klopfte in der Küche irgendwelche Fleischstücke, vermutlich in der Hoffnung, sie würden dadurch weniger zäh. Ein schwarzer Junge von vielleicht zehn Jahren fegte die vor Schmutz starrenden Dielen, und in einer Ecke hockten zwei Männer in der verschlissenen Uniform der Konföderierten. Die rissigen grauen Uniformhosen hingen über die berüchtigten Schlammtreter herab – klobige Stiefel von schlechter Qualität, mit denen die Kontrakthändler der Armeen ein Vermögen verdient hatten.

Ein Potawatomi-Indianer, der eine blaue Kerseyhose und die Abzeichen eines Scouts trug, döste neben der Tür. Er hob träge die Lider, als die Glocke an der Saloontür anschlug und ein gut gekleideter Schwarzer mit einer kleinen ledernen Gladstone-Reisetasche eintrat. Zu einem Anzug aus braun karierter Wolle trug er eine ebenso karierte Mütze, eine flaschengrüne Weste und ein weißes Hemd, um dessen Kragen ein schwarzes Schnürband gebunden war.

Der junge Schwarze achtete nicht auf die feindseligen Blicke der beiden Veteranen in der Ecke, sondern ging forschen Schrittes zu Harold an den Tresen. Er stellte seine Tasche ab und tippte sich an die karierte Mütze. »Sir. Mein Name ist Hiram B. Cooper, und man hat mir diesen Saloon empfohlen. Haben Sie noch ein Zimmer frei?«

Harold blickte von seinen Gläsern auf und dann zur Seite, als wolle er sichergehen, dass der junge Schwarze tatsächlich mit ihm gesprochen hatte. »Ein Zimmer wollen Sie?«, echote Harold dann und schielte unbehaglich zu den Veteranen in der Ecke.

»Ja, Sir. Haben Sie eines frei, das ich mieten könnte?«

»Du wirst dem Nigger wohl doch kein Zimmer vermieten, Harold? Ich dachte immer, das hier wär ein anständiges Lokal.« Einer der beiden Veteranen, ein dünnes kleines Frettchen mit einem fransigen Schurbart, reckte das Kinn und spähte aus trüben gelblichen Augen über seinen Bierkrug zum Tresen. Ein .45 Allen-Pepperbox-Revolver lag vor ihm auf dem Tisch.

Harold stützte beide Hände auf den Tresen. »Halt die Klappe, Jeb! Wenn das ein anständiges Lokal wär, wärst du wohl kaum hier! Und ich krieg noch drei Dollar und zwanzig Cent von dir, Freundchen!«

Jeb äffte Harold gehässig nach, aber dann verstummte er.

Tom blickte über den Spiegel hinter der Bar zu Jebs Begleiter. Der Mann war groß und sicher zweihundert Pfund schwer, überragte Jeb bestimmt um mehr als einen Kopf. Er trug einen rötlich schimmernden Vollbart, der ihm bis zur Brust ging, und sein Kopf war rasiert und nur von kurzen Stoppeln bedeckt. Seine rote Schildmütze lag auf dem Tisch. Gekreuzte Kanonen auf dem Stoff verrieten Tom, dass der Mann bei der Artillerie der Südstaaten gedient hatte. Der Hüne wirkte ganz ruhig. Er starrte geradeaus, als hätte er den Schwarzen gar nicht bemerkt. Doch Tom sah, wie seine Nasenflügel bei jedem Atemzug bebten. Die Faust des Riesen umklammerte den Henkel seines Bierkrugs. Die Knöchel der Hand wurden weiß.

»Tut mir leid, Mr Cooper, aber ich kann Ihnen leider kein Zimmer geben.« Harold wandte dem jungen Mann den Rücken zu, leerte einen Spucknapf in den Ausguss und wischte den Napf mit seiner Schürze durch.

Cooper hob die Augenbrauen. »Heißt das, dass Sie kein Zimmer mehr frei haben? Oder heißt es, Sie geben mir keins?«

Harold drehte sich um, wollte etwas erwidern. Dann aber zuckte er plötzlich zusammen und ging in Deckung. Im gleichen Augenblick flog ein Bierglas heran, zerschellte am Tresen neben Cooper. Glassplitter und Bier spritzten in alle Richtungen, trafen Cooper, Harold und auch Tom. Der Indianer schreckte aus seinem Schlaf, und der kleine schwarze Junge, der den Boden fegte, flüchtete mit einem raschen Sprung in eine Ecke und suchte Schutz hinter einem Fass. Dann herrschte einen Moment lang Stille.

»Du hast gehört, was er gesagt hat, Nigger. Und jetzt mach, dass du hier rauskommst, bevor ich mich vergesse.« Es war Jebs großer Begleiter, der leise gesprochen hatte. Der Bierkrug stand nicht mehr vor ihm. Der Hüne mit dem roten Bart glotzte immer noch geradeaus, als müsste er sich konzentrieren, um den Farbigen nicht anzublicken.

Der schluckte. Er zitterte plötzlich, hielt sich mit einer Hand an der Messingstange fest, die um den Tresen herumlief, und griff mit der anderen ganz langsam nach seiner Reisetasche am Boden. Sein Blick blieb dabei über den stumpfen Spiegel auf die beiden Veteranen hinter ihm gerichtet.

Mit bleichem Gesicht tauchte Harold im gleichen Moment wieder hinter dem Tresen auf. »Dale, du verfluchter Drecksack! Ich war doch schon dabei, ihn wegzuschicken! Was fällt dir ein, verdammt noch mal?!«

»Er soll gehen, Harold. Sag ihm, dass er jetzt lieber schnell gehen soll, sonst wird Dale böse!«, zischte Jeb in Richtung Tresen.

Der Wirt nickte Cooper zu. »Sie haben’s gehört, Mister, vielleicht ist es ja besser … Ich meine, bevor …«

Cooper nickte. »Ist gut, Sir. Ist gut, ich gehe.«

»Ja, geh zu deinen Niggerfreunden, und sag ihnen, dass wir hier keine Nigger haben wollen!«, schrie Jeb aufgebracht. »Sag ihnen das! Sonst geht’s dir und ihnen so wie dem Niggerfreund Lincoln, verstanden?«

Cooper hatte immer noch die Hand auf die Messingstange gelegt, um das Zittern in den Griff zu bekommen. Dann straffte er sich, um den Saloon zu verlassen.

»Moment.« Tom legte eine Hand auf Coopers Handgelenk.

Der junge Schwarze blickte an seinem Ärmel hinab und sah Tom verständnislos an. In seinen Augen stand Angst.

Tom ließ dessen Handgelenk los, tätschelte ihm kurz den Handrücken, dann schwang er auf dem Barhocker herum und grinste in die Ecke, in der die Veteranen saßen. »Du bist also Dale. Ja?«

Dale blinzelte. Er neigte den Kopf ein klein wenig zur Seite und heftete den Blick auf Tom, ohne zu antworten.

»Dale, hm? Das ist lustig, weißt du, Dale? Dale ist doch eigentlich ein Mädchenname. Also, hier in St. Petersburg ist das zumindest so. Als ich ein kleiner Junge war, hatten wir hier im Ort ein Mädchen, das hieß Dale. Dale Porter. Sie war klein, picklig und nicht besonders schlau. Ein bisschen wie du, Dale. Bist du auch ein Mädchen? Ich meine, wenn du einen Mädchennamen trägst?«

Jeb sog zischend die Luft ein und blickte erschrocken zu Dale. Harold und Cooper musterten Tom erstaunt. Dale hingegen sagte gar nichts, sondern starrte weiter geradeaus. Seine kräftigen Pranken umfassten die Tischkante.

Tom wusste, dass der Whiskey ihm die Zunge schwer gemacht hatte, aber er hörte nicht auf zu reden. »Vielleicht fehlt dir ja was? Da unten, meine ich?« Tom ließ den Zeigefinger in Hüfthöhe kreisen. »Vielleicht magst du ja auch Jungs? Ich meine, wer Dale heißt und einen so hübschen Mann dabeihat wie Jeb? Wollt ihr zwei Liebchen das Zimmer von Mr Cooper hier vielleicht selber haben, um eine rauschende Nacht …«

Weiter kam Tom nicht. Mit einem Grunzen, das zu einem Schrei wurde, packte Dale den Tisch und schleuderte ihn in Toms Richtung.

Harold schrie ebenfalls auf.

Tom und Cooper wichen aus, als der Tisch am Tresen zerschellte. Dale sprang auf und stürmte auf ihn zu, den Kopf gesenkt, als wollte er Tom einfach durch den Tresen rammen. Tom lächelte grimmig. Er machte einen Schritt zur Seite, versetzte Dale einen Stoß in den Rücken, sodass der noch mehr Schwung bekam, und im nächsten Augenblick krachte Dale mit dem Kopf gegen den Tresen.

Tom hob die Whiskey-Flasche und hieb sie Dale auf den Schädel. Das Glas zersprang, und Dale ging mit einem Ächzen zu Boden. Er rührte sich nicht.

»Das war alles, Dale? War das echt alles, was du zu bieten hast? Du bist wirklich wie ein Mädchen, weißt du, du –«

»Schnauze, du Bastard! Und nimm die Hände hoch!« Es klickte. Jeb hatte den Hahn des Allen-Pepperbox-Revolvers gespannt und richtete den Lauf nun auf Tom.

Tom schluckte, dann lächelte er schief und nahm die Hände hoch. »Jeb? Jetzt sei doch nicht gleich eingeschnappt, das war doch ein Witz, das mit dir und Dale und –«

»Halt’s Maul, sag ich!« Jebs Stimme wurde gefährlich leise.

Plötzlich klickte es erneut. Diesmal hatte der Potawatomi angelegt und den Hahn gespannt. Er zielte mit einer Deane & Adams, Kaliber 36, einem Double-Action-Revolver mit fünf Schuss, auf Jeb. »Mann gegen Mann, Faust gegen Faust«, murmelte er.

Tom ließ die Hände wieder sinken. »Tja, Jeb, ich schätze, das ändert einiges.«

»Das ändert gar nichts! Lass die Hände oben!« Jeb fuchtelte mit dem Revolver zwischen Tom und dem Potawatomi hin und her. »Das hier geht dich nichts an, Rothaut! Misch dich nicht ein, und verpiss dich!«

»Ihr verpisst euch alle! Und zwar sofort!«

Harold hob eine Winchester Yellowboy über den Tresen und richtete sie auf den Potawatomi. Timothy kam aus der Küche gerannt und trat neben seinen Vater. Seine Kochschürze war blutverschmiert. Er hielt einen Le-Mat-Revolver in der Hand. Cooper stand heftig atmend neben Tom, er schien sich unschlüssig zu sein, ob auch er die Hände hochnehmen sollte. Einen Augenblick lang herrschte atemlose Stille.

Tom rührte sich als Erster. Er hob die Handflächen beschwichtigend zur Decke. »Gut. Schön. Jetzt stehen wir hier also rum. Mal ernsthaft: Können wir nicht alle so tun, als wär nichts passiert? Das hier …«, Tom wedelte unbestimmt mit der Hand zu den Waffen, »… das hier bringt uns jetzt echt nicht weiter!«

Schweigen im Saloon, niemand rührte sich.

Tom trat einen Schritt auf Jeb zu. »Also gut: Ich komm für den verschütteten Whiskey auf, und Dale hier …« Er wandte sich um und wollte auf den am Boden liegenden Dale zeigen. Aber Dale lag nicht mehr am Boden, sondern war inzwischen schwankend auf die Füße gekommen. Sein Bart war nass vom Whiskey, Scherben glitzerten darin. Blut lief ihm von einer Platzwunde an der Stirn, und es sah fast so aus, als schielte er.

Tom schluckte. Dale war einen Kopf größer und gut fünfzig Pfund schwerer als er. Und Dale war wütend. Tom sah Dales Faust kommen, aber er war nicht schnell genug. Der Kinnhaken traf ihn hart und schleuderte ihn quer durch den Saloon. Er landete auf einem Tisch, der glatt unter ihm entzweibrach. Tom war nah an einer Ohnmacht, doch Dale packte ihn, zog ihn hoch und warf ihn durch die Schwingtüren des Saloons auf die staubige Bird Street. Tom schlug mit dem Rücken auf, und ihm schwanden die Sinne.

Als er wieder zu sich kam, fühlte sich sein Kehlkopf an, als wäre er in eine stählerne Schraubzwinge geraten, und er spürte, wie ihm die Augen aus den Höhlen traten. Dale hatte die fleischigen Pranken um Toms Hals gelegt und würgte ihn. Tom bekam keine Luft. Wenn er nicht bald etwas tat, würde dieses sadistische Schwein ihn umbringen.

Tu was! Tu endlich was!

Er versuchte, mit der Hand nach dem kleinen Atkinson-Messer in seinem Stiefel zu greifen, aber er kam nicht heran. Er musste die Hände hochnehmen, um Dales Griff um seinen Hals abzuwehren.

Tom spürte, wie die Schwärze langsam in ihn hineinkroch. Dales Griff um seinen Hals war eisern, Tom keuchte, rang nach Luft, er schloss die Augen, weil er das Ende kommen fühlte. Doch dann erlahmte Dales Griff mit einem Mal.

Tom schlug die Augen wieder auf und sog gierig die Luft ein. Dale hatte die Hände von seinem Hals gelöst. Der Hüne blinzelte, sah sich erstaunt um.

Hinter ihm stand Hiram Cooper und zog eine Spritze aus dessen Hintern. Er klopfte gegen das Glas der Spritze, nahm die Nadel ab, verstaute sie in einem kleinen Futteral und legte das Futteral in die Reisetasche neben sich zurück. »Sie werden nur ein wenig schlafen und morgen vielleicht etwas Kopfweh haben, Sir«, sagte er zu Dale. Dann schloss er die Tasche, klemmte sie unter den Arm und lief eiligen Schrittes die Bird Street hinab.

Dale blinzelte immer noch, als würde er nicht wissen, wie ihm geschehen war. In der Saloon-Tür stand Jeb und starrte ungläubig auf seinen Kumpel. Dale wollte sich aufrichten, doch seine Beine gaben nach, er sackte zusammen, als hätte man ihm das Rückgrat entfernt, und schlug der Länge nach hin. Der Rotschimmel und der Braune, die vor dem Saloon angeleint waren, blickten kurz auf, dann senkten sie den Kopf wieder in den Wassertrog vor sich.

»Dale!« Jeb sprang zu seinem Kameraden, kniete neben ihm nieder und tätschelte ihm die Wange. »Dale, sag doch was!«

Doch Dale blieb am Boden. Er schlief.

Tom atmete tief durch und blieb erschöpft liegen. Er blickte nach oben und sah die Rockschöße einer Frau.

»Glotzt du mir unter den Rock, oder was soll das werden, Thomas Sawyer? Puh, und du stinkst wie ein Whiskeyfass!« Die Frau fächelte sich mit der Hand Luft zu.

Becky.

˝˝˝

»Pass auf, dass du nichts umwirfst. Hier ist ein furchtbares Durcheinander, ich weiß. Aber ich bin erst seit acht Wochen hier drin und bin noch nicht dazu gekommen, aufzuräumen. Nimmst du Zucker?«

Tom setzte sich vorsichtig auf einen klapprigen Hocker neben der Druckmaschine. Um ihn herum waren bis zur Zimmerdecke alte Zeitungen gestapelt. Sie lagen auf dem Fußboden und auf den Tischen des Redaktionsbüros, sie hingen noch druckfrisch über Wäscheleinen, die quer durch den Raum gespannt waren. Gerahmte Sonderausgaben zierten die Wände, und zusammengeknüllte alte Ausgaben steckten in den Ritzen zwischen den Wandbrettern, um den Wind abzuhalten. Er saß in einem Meer aus Buchstaben.

»Hat der Kerl aus dem Saloon dir auch die Zunge rausgerissen? Ob du Zucker haben willst, hab ich gefragt.«

»Nein, keinen Zucker, danke.«

Tom nahm die Tasse entgegen, die Becky ihm hinhielt. Der Geruch der Bohnen mischte sich mit dem von frischer Druckerschwärze, der im Raum hing wie ein schweres Parfüm. Toms Kiefer schmerzte, seine Kehle brannte wie Feuer. Er fühlte sich, als wäre er in die massive Druckerpresse geraten, neben der er saß. Die schweren gusseisernen Platten der schwarz und rot lackierten Maschine wurden durch einen klobigen Hebel aufeinandergepresst; auf einer Seite der Setzkasten mit den Bleilettern, auf der anderen Seite der Papierbogen.