Der Donnerstagsmordclub und der Mann, der zweimal starb - Richard Osman - E-Book
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Der Donnerstagsmordclub und der Mann, der zweimal starb E-Book

Richard Osman

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Beschreibung

Nach dem Weltbestseller Der Donnerstagsmordclub der zweite Fall für das scharfsinnigste Seniorenquartett der Krimigeschichte Da hat er sich in etwas reingeritten, der gute Marcus Carmichael. Und jetzt soll Elizabeth ihm da wieder raushelfen. Dabei sollte ihr ehemaliger Geheimdienst-Kollege doch eigentlich wissen, von wem man besser keine Diamanten mitgehen lässt, wenn man sich gerade auf einem Einsatz für den MI5 befindet. Dazu gehört ganz bestimmt: die New Yorker Mafia. Ist die erst einmal im Spiel, geht es ziemlich sicher bald jemandem an den Kragen. Doch auch Profimörder können Fehler machen, etwa ihrem Handwerk in der Seniorenresidenz Coopers Chase nachzugehen. Denn wer hier mordet, dem ist der Donnerstagsmordclub auf den Fersen, und der macht, schneller als ihm lieb sein kann, aus dem Jäger den Gejagten. Für die vier rüstigen Senioren heißt es: Endlich ist wieder Donnerstag! »Eine triumphale Rückkehr des Donnerstagsmordclubs.« Wall Street Journal »Osman hat es nicht nur wieder getan, er hat es sogar noch besser gemacht.« Philippa Perry

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Der Donnerstagsmordclub und der Mann, der zweimal starb

Der Autor

Richard Osman ist Autor, Fernsehmoderator und Produzent. Sein Debüt, Der Donnerstagsmordclub, war ein internationaler Riesenerfolg. Der Mann, der zweimal starb ist sein zweiter, gleichwohl erstbester Roman. Er lebt in London.

Das Buch

»Großartig gezeichnete Figuren, das reine Lesevergnügen« THE OBSERVER»Herrlich unterhaltsam« THE GUARDIAN»Voller Humor und Herz, Pflichtlektüre für alle, ich habe es geliebt.« HARLAN COBEN»Osman hat es nicht nur wieder getan, er hat es sogar noch besser gemacht.« PHILIPPA PERRY

Richard Osman

Der Donnerstagsmordclub und der Mann, der zweimal starb

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Sabine Roth

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel The Man Who Died Twice bei Viking, PRH UK.© 2021 by Richard Osman© der deutschsprachigen Ausgabe 2022 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: Sabine Kwauka Umschlagmotiv: © Look and Learn / Bridgeman Images; shutterstock / Vasilyeva Larisa, Artur BalytskyiAutorenfoto: © Penguin Books UKE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com.Alle Rechte vorbehaltenISBN: 978-3-8437-2636-8

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

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Inhalt

Titelei

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

Erster Teil Auf deine Freunde ist Verlass

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Zweiter Teil Bisweilen kannst du nur noch staunen

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Dritter Teil Ausflüge noch und noch

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Anhang

Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Erster Teil Auf deine Freunde ist Verlass

Erster Teil Auf deine Freunde ist Verlass

1

Einen Donnerstag später …

»Diese Frau aus dem Ruskin Court, mit der ich mich unterhalten habe, hat gerade eine Diät angefangen.« Joyce trinkt ihr Weinglas leer. »Und sie ist zweiundachtzig!«

»Mit Rollator sieht jeder dick aus«, sagt Ron. »Das sind diese klapprigen Rädchen.«

»Wozu macht jemand mit zweiundachtzig eine Diät?«, fragt Joyce. »Was kann ein Hotdog dir denn schon tun? Dich umbringen? Da muss er sich hinten anstellen.«

Der Donnerstagsmordclub hat wieder einmal ein Treffen beendet. Diese Woche haben sie den Fall eines Zeitungshändlers aus Hastings aufgegriffen, der seinerzeit einen Eindringling mit einer Armbrust erschossen hat. Er wurde verhaftet, aber dann schalteten sich die Medien ein, die einhellig fanden, ein Mann müsse ja wohl das Recht haben, seinen eigenen Laden mit der Armbrust zu verteidigen, alles was recht ist!, und so kam er frei, erhobenen Hauptes.

Nach etwa einem Monat entdeckte die Polizei, dass der Tote eine Liebschaft mit der jungen Tochter des Zeitungshändlers gehabt hatte, der zudem wegen schwerer Körperverletzung mehrfach vorbestraft war, aber da krähte schon kein Hahn mehr nach der Sache. Es war schließlich das Jahr 1975. Videoüberwachung gab es noch keine, und unnötig Staub aufwirbeln wollte auch niemand.

»Wie würdet ihr zu einem Hund stehen?«, fragt Joyce. »Ich dachte, entweder schaffe ich mir einen Hund an, oder ich gehe auf Instagram.«

»Davon würde ich abraten«, sagt Ibrahim.

»Ach, du rätst doch von allem ab«, sagt Ron.

»Im Großen und Ganzen, ja«, gibt Ibrahim zu.

»Keinen großen Hund natürlich«, sagt Joyce. »Für einen großen Hund habe ich den falschen Staubsauger.«

Joyce, Ron, Ibrahim und Elizabeth sitzen im Restaurant, das das Herzstück von Coopers Chase bildet. Auf ihrem Tisch stehen eine Flasche Rot- und eine Flasche Weißwein. Es ist noch nicht ganz Mittag.

»Nimm ihn aber nicht zu klein, Joyce«, warnt Ron. »Kleine Hunde sind wie kleine Männer, ständig darauf aus, dir was zu beweisen. Kläffen rum, verbellen jedes Auto, das vorbeifährt …«

»Dann vielleicht einen mittelgroßen, oder? Elizabeth?«

»Mmm, gute Idee«, erwidert Elizabeth, aber sie hört nicht richtig zu. Wie auch? Nach dem Brief, den sie gestern Abend erhalten hat?

Die Eckpunkte bekommt sie natürlich mit. Elizabeths Ohren sind immer gespitzt, man weiß schließlich nie, was einem in den Schoß fallen könnte. Im Lauf der Jahre hat sie alles Mögliche aufgeschnappt. Gesprächsfetzen in einer Berliner Bar, das Geprahle eines russischen Matrosen auf Landurlaub in Tripolis. Im jetzigen Fall, beim donnerstäglichen Mittagessen in dieser verschlafenen Seniorenresidenz in der Grafschaft Kent, scheint es so zu sein, dass Joyce einen Hund will, man sich nicht eins über die Größe ist und Ibrahim Bedenken anmeldet. Aber Eliz­abeths Gedanken sind anderswo.

Der Brief wurde unter ihrer Tür durchgeschoben, von wem, weiß sie nicht.

Liebe Elizabeth,ob Sie sich wohl noch an mich erinnern? Vielleicht ja nicht, aber ohne mir zu viel einbilden zu wollen, glaube ich doch eher, Sie tun es.Das Leben hat wieder einmal seinen Zauberstab geschwungen, und nach meinem Einzug diese Woche entdecke ich nun, dass wir Nachbarn sind. In welche Höhen ich aufsteige! Während Sie sich wahrscheinlich wundern, was für Pack hier neuerdings Einlass findet.Ich weiß, unsere letzte Begegnung liegt lange zurück, aber ich fände es wunderbar, unsere Bekanntschaft nach all diesen Jahren aufzufrischen.Dürfte ich Sie auf ein Gläschen in den Ruskin Court Nr. 14 bitten? Als kleine Einweihungsparty? Wenn ja, wäre Ihnen morgen um 15 Uhr recht? Antworten müssen Sie nicht, ich halte so oder so einen Wein bereit.Sie würden mir eine große Freude machen, wenn Sie kämen. Wir haben uns so viel zu erzählen, bei all dem Wasser, das seit damals die Themse hinuntergeflossen ist.In der Hoffnung, dass Sie mich noch kennen und ich Sie morgen bei mir begrüßen darf,Ihr alter FreundMarcus Carmichael

Elizabeth kommt seitdem aus dem Grübeln nicht heraus.

Ihre letzte Begegnung mit Marcus Carmichael war Ende November 1981, ein sehr dunkler, sehr kalter Abend an der Lambeth Bridge, die Themse auf Tiefststand, ihr Atem dampfend in der Luft. Sie waren ein ganzes Team von Spezialisten unter Elizabeths Leitung. Vorgefahren waren sie in einem weißen Transporter, nach außen ein schäbiges Ding im Besitz von »G. Procter: Fenster, Dachrinnen, Aufträge jeder Art«, innen dagegen spiegelblank, eine funkelnde Batterie von Tastenfeldern und Bildschirmen. Ein junger Constable hatte einen Uferstreifen abgeriegelt, und der Gehweg am Albert Embankment war gesperrt.

Elizabeth und ihr Trupp kletterten eine moosbewachsene, tödlich glitschige Steintreppe hinunter. Das fallende Wasser hatte einen Leichnam zurückgelassen, der gegen den Brückenpfeiler lehnte, fast so, als würde er sitzen. Alle Vorschriften wurden akribisch eingehalten, dafür hatte sie bereits im Vorfeld gesorgt. Ein Mitglied ihres Teams untersuchte die Kleidung, durchkämmte die Taschen des schweren Mantels, eine junge Frau aus Highgate fotografierte alles, und der Arzt bestätigte den Tod. Es stand fest, dass der Mann von weiter flussaufwärts angeschwemmt worden war; ob er in die Themse gesprungen oder gestoßen worden war, würde der Coroner entscheiden. Das Ganze würde von einem dienstbaren Geist gewissenhaft im Protokoll festgehalten werden, das Elizabeth dann nur noch abzeichnen musste. Eine saubere Sache.

Der Weg die glitschigen Stufen hinauf, mit der Leiche auf einer Militärtrage, dauerte seine Zeit. Der junge Constable, der begeistert war, dass er mithelfen durfte, rutschte aus und brach sich den Knöchel, was ihnen gerade noch gefehlt hatte. Sie machten ihm klar, dass sie fürs Erste keinen Krankenwagen holen konnten, und er trug es recht gefasst. Wenige Monate später erhielt er eine nicht ganz verdiente Beförderung, es entstand also kein bleibender Schaden.

Elizabeths kleiner Trupp erreichte schließlich den Gehweg, wo die Leiche in den weißen Transporter geladen wurde. Aufträge jeder Art.

Das Team zerstreute sich, bis auf Elizabeth und den Arzt, die im Laderaum die Fahrt zu einer Leichenkammer in Hampshire mitmachten. Sie arbeitete mit diesem Arzt zum ersten Mal zusammen; er war breitschultrig, mit rotem Gesicht und einem dunklen, schon ergrauenden Schnurrbart, kein uninteressanter Mann. Interessant genug, um sich an ihn zu erinnern. Sie unterhielten sich über Euthanasie und Cricket, bis der Arzt einnickte.

Ibrahim verleiht seinem Argument mit dem Weinglas Nachdruck. »Ich fürchte, Joyce, ich kann dir zu gar keinem Hund raten, egal ob klein, mittel oder groß. Nicht in deinem Alter.«

»Jetzt geht das wieder los«, stöhnt Ron.

»Ein mittelgroßer Hund«, so Ibrahim weiter, »sagen wir, ein Terrier oder auch ein Jack Russell, hätte eine Lebenserwartung von circa vierzehn Jahren.«

»Sagt wer?«, will Ron wissen.

»Der Dachverband der Hundezüchtervereine, falls du die Aussage anzweifeln willst, Ron. Willst du die Aussage anzweifeln?«

»Nein, nein, alles gut.«

»Also, Joyce«, fährt Ibrahim fort. »Du bist jetzt siebenundsiebzig?«

Joyce nickt. »Nächstes Jahr achtundsiebzig.«

»Ja, das versteht sich. Und bei einem Alter von siebenundsiebzig Jahren sollten wir einen Blick auf deine Lebenserwartung werfen.«

»Au ja«, sagt Joyce. »So was liebe ich. Ich hab mir mal am Hafen die Karten lesen lassen. Die Frau hat mir geweissagt, dass ich zu Geld kommen werde.«

»Und konkret müssen wir ausloten, wie hoch die Chancen sind, dass deine Lebenserwartung die eines mittelgroßen Hundes übersteigt.«

»Es ist mir ein Rätsel, warum du nie geheiratet hast, alter Knabe.« Ron hebt die Weißweinflasche aus ihrem Kühler. »So wie dir die Worte von den Lippen fließen. Wer mag noch?«

»Danke, Ron«, sagt Joyce. »Schenk gleich ganz voll, dann musst du nicht ständig nachgießen.«

»Bei einer Frau von siebenundsiebzig liegen die Chancen, dass sie noch weitere fünfzehn Jahre lebt, bei einundfünfzig Prozent«, führt Ibrahim aus.

»Ist das nicht spannend?«, sagt Joyce. »Auf das Geld warte ich übrigens heute noch.«

»Wenn du dir also jetzt einen Hund zulegst, Joyce: Würdest du ihn überleben? Das ist hier die Frage.«

»Ich würde einen Hund aus reinem Trotz überleben«, bemerkt Ron. »Wir würden in entgegengesetzten Zimmerecken sitzen, uns anstarren und warten, wer als Erster aufgibt. Ich schon mal nicht. Das ist wie ’78 bei British Leyland. In dem Moment, wo einer von denen aufs Klo ging, wusste ich, wir haben sie.« Ron schwappt einen Schluck Wein hinunter. »Das darfst du nie machen, als Erster aufs Klo gehen. Zur Not machst du dir eben einen Knoten rein.«

»Die Sache ist die, Joyce«, sagt Ibrahim, »vielleicht tätest du’s, vielleicht aber auch nicht. Einundfünfzig Prozent. Das ist, als würdest du eine Münze werfen, und das halte ich für unverantwortlich. Man darf nie vor seinem Hund sterben.«

»Ist das eine Weisheit der alten Ägypter oder eine alte Psychiater-Weisheit?«, fragt Joyce. »Oder hast du dir das gerade eben ausgedacht?«

Ibrahim neigt sein Glas in Joyces Richtung, eine Verheißung noch weiterer Weisheiten. »Vor deinen Kindern musst du natürlich sterben, weil du ihnen beigebracht hast, ohne dich zu leben. Aber nicht vor deinem Hund. Weil du deinem Hund beigebracht hast, mit dir zu leben.«

»Hmm, das ist auf alle Fälle bedenkenswert, Ibrahim, danke dir«, sagt Joyce. »Wenn auch vielleicht ein bisschen herzlos. Findest du nicht, Elizabeth?«

Elizabeth hört sie, aber im Geist ruckelt sie nach wie vor in dem Transporter durch die Nacht, zusammen mit der Leiche und dem Arzt mit dem Schnurrbart. Nicht unbedingt ein Einzelfall in Elizabeths Leben, aber ungewöhnlich genug, um seinen Platz im Gedächtnis zu fordern – wie jeder, der Marcus Carmichael kannte, bestätigt haben würde.

»Nimm einen Hund, der schon alt ist, heb Ibrahims System aus den Angeln«, rät sie.

Und jetzt ist Carmichael wieder da, Jahrzehnte später. Was will er? Ein nettes Plauderstündchen? Gemütliches Reminiszieren am offenen Kamin? Wer weiß?

Die Rechnung wird ihnen von der neuen Kellnerin gebracht. Sie heißt Poppy, und auf ihren Unterarm ist eine Margerite tätowiert. Poppy bedient seit zwei Wochen im Restaurant, und bisher sind die Rückmeldungen nicht besonders.

»Das ist die Rechnung für Tisch 12, Poppy«, sagt Ron.

Poppy nickt. »Ach ja, das … oh, wie dumm von mir … welcher Tisch ist das hier?«

»15«, sagt Ron. »Man erkennt es an der großen 15 hier auf der Kerze.«

»Tut mir leid«, sagt Poppy. »Mit diesen ganzen Essen, die ich mir merken muss, und dann das Servieren, und noch die Nummern … Aber ich komm schon noch dahinter.« Sie kehrt in die Küche zurück.

»Guten Willens ist sie ja«, sagt Ibrahim. »Wenn auch nicht gerade prädestiniert für die Rolle.«

»Aber was für hübsche Fingernägel sie hat«, sagt Joyce. »Makellos. Findest du nicht auch, Elizabeth?«

Elizbeth nickt. »Doch, makellos.« Das ist nicht das Einzige, was ihr an Poppy aufgefallen ist, die aus dem Nichts aufgetaucht zu sein scheint mit ihren Nägeln und ihrer Unfähigkeit. Aber im Moment ist anderes dringlicher, und das Rätsel Poppy wird vorerst warten müssen.

Wieder rekapituliert sie im Geist den Brieftext. »Ob Sie sich wohl noch an mich erinnern? … bei all dem Wasser, das seitdem die Themse hinuntergeflossen ist …«

Ob Elizabeth sich noch an Marcus Carmichael erinnert? Was für eine Frage. Sie selbst hat ja Marcus Carmichaels Leichnam bei Ebbe zusammengesunken vor dem Pfeiler einer Themsebrücke gefunden. Sie hat mitgeholfen, selbigen Leichnam tiefnachts die glitschigen Steinstufen hochzutragen. Sie saß keinen Meter entfernt von dem Toten in einem weißen Transporter, der Fensterputzdienste anbot. Sie hat seiner jungen Frau die traurige Nachricht überbracht und bei der Beerdigung am Grab gestanden, um in gebührender Form ihren Respekt kundzutun.

Die Antwort ist somit Ja, Elizabeth erinnert sich bestens an Marcus Carmichael. Trotzdem, Zeit, ins Hier und Jetzt zurückzukehren. Immer schön eins nach dem anderen.

Sie greift nach dem Weißwein. »Ibrahim, Statistiken sind nicht alles. Ron, du würdest lange vor dem Hund sterben, die männliche Lebenserwartung liegt weit unter der weiblichen, und du weißt, was der Arzt über deine Zuckerwerte gesagt hat. Und Joyce, wir wissen beide, dass deine Entscheidung längst gefallen ist. Du wirst dir einen Hund aus dem Tierheim holen. Er sitzt in seiner Ecke im Zwinger, ganz allein und mit flehenden Augen, und wartet auf dich. Du wirst machtlos dagegen sein, und nebenbei bemerkt würde ein Hund uns allen Spaß machen, warum kürzen wir die Diskussion also nicht ab?«

Geht doch.

»Und was ist mit Instagram?«, fragt Joyce.

»Ich habe keine Ahnung, was Instagram ist, fühl dich also ganz frei«, sagt Elizabeth und trinkt ihr Glas leer.

Eine Einladung von einem Toten? Da sagt man doch besser nicht Nein.

2

»Wir haben gestern Abend Kunst und Krempel gesehen.« Detective Chief Inspector Chris Hudson trommelt beim Sprechen mit den Fingern auf das Lenkrad. »Und da kommt diese Frau, und sie hat diese Krüge dabei, und deine Mum beugt sich zu mir rüber und sagt …«

Police Constable Donna De Freitas schlägt den Kopf ans Armaturenbrett. »Chris, ich flehe dich an, ich flehe dich buchstäblich an. Bitte hör wenigstens zehn Minuten auf, von meiner Mutter zu reden.«

Chris Hudson soll eigentlich ihr Mentor sein, ihr Wegbereiter für den Kriminaldienst, in den sie hoffentlich bald offiziell übernommen wird, aber man würde es nicht glauben, wenn man den ruppigen Ton hört, in dem sie verkehren, oder, mehr noch, die herzliche Freundschaft sieht, die sich fast augenblicklich zwischen ihnen entwickelt hat.

Donna hat Chris, ihren Chef, vor Kurzem mit ihrer Mutter Patrice bekannt gemacht. Sie dachte, die beiden könnten sich vielleicht verstehen. Wie sich gezeigt hat, verstehen sie sich sogar ein bisschen zu gut für Donnas Geschmack.

Observieren mit Chris Hudson war früher viel lustiger. Es gab Chips, es gab Ratespiele, es gab Tratsch über den neuen Detective Sergeant, der, frisch nach Fairhaven versetzt, einer Ladeninhaberin statt der gewünschten Informationen zum Anbringen von Sicherheitsgittern aus Versehen ein Bild von seinem Penis geschickt hat.

Sie haben gelacht, sie haben gefuttert und über Gott und die Welt gelästert.

Aber jetzt? Wie ist das jetzt, wenn man mit Chris an einem Herbstabend in seinem Ford Focus sitzt und den Schuppen von Connie Johnson belauert? Jetzt hat Chris eine Tupperdose mit Oliven, Karottensticks und Hummus dabei. Und die Tupperdose hat ihm Donnas Mum gekauft, der Hummus ist von Donnas Mum selbst gemacht und die Karotten sind von ihr eigenhändig gestiftelt. Als Donna vorgeschlagen hat, ein KitKat zu holen, hat er sie nur angesehen und gesagt: »Kalorien ohne Nährwert.«

Connie Johnson ist ihre ortsansässige Drogenhändlerin. Wobei man eher sagen muss, Drogengroßhändlerin. Die beiden Antonio-Brüder aus St. Leonards hatten das hiesige Drogengeschäft einige Jahre lang unter sich, aber sie verschwanden vor knapp einem Jahr spurlos, und ihren Platz nahm Connie Johnson ein. Ob sie nur eine Drogengroßhändlerin oder zusätzlich auch eine Mörderin ist, steht noch nicht fest, aber das ist auf alle Fälle der Grund, warum Donna und Chris ihre Woche damit verbringen, in einem Ford Focus zu sitzen und durch Ferngläser auf eine Reihe von Schuppen hinunterzuspähen.

Chris hat etliche Pfund abgenommen, er trägt die Haare kürzer und hat sich altersangemessene Turnschuhe zugelegt – alles Dinge, die Donna ihm seit Beginn ihrer Bekanntschaft schmackhaft zu machen versucht hat. Sie hat ihn mit allen Mitteln ermutigt, ihn beschwatzt, ja genötigt, mehr auf sich zu achten. Aber wie man sieht, war die einzige Motivation, derer es bedurfte, um den Wandel einzuleiten, der Sex mit Donnas Mum. Man muss so vorsichtig mit seinen Wünschen sein!

Donna rutscht in ihrem Sitz ein Stück tiefer und bläst die Backen auf. Was gäbe sie jetzt für ein KitKat.

»Ist ja gut, ist ja gut«, sagt Chris. »Also dann: Ich sehe was, was du nicht siehst, und das fängt mit J an.«

Donna schaut aus dem Fenster. Tief unten sieht sie die Zeile kleiner Ladenschuppen, von denen einer Connie Johnson gehört, der neuen Drogenkönigin von Fairhaven. Gleich hinter den Schuppen liegt das Meer. Der Ärmelkanal, tintenschwarz mit ein paar sanften Wellenkräuseln, die das Mondlicht einfangen. Weit draußen am Horizont ist ein Licht.

»Eine Jacht?«, rät Donna.

»Kalt«, sagt Chris und schüttelt den Kopf.

Donna streckt die Arme durch und blickt wieder hinunter zu den Schuppen. Eine Gestalt im Kapuzensweat­shirt radelt auf einem BMX zu Connies Tür und klopft laut. Sie hören das schwache metallische Wummern bis hier oben.

»Junge auf Fahrrad?«, sagt Donna.

»Eiskalt.«

Donna sieht zu, wie die Tür aufgeht und der Junge nach drinnen verschwindet. Das geht täglich so, rund um die Uhr. Kuriere kommen und gehen. Gehen mit Koks, Ecstasy, Haschisch, und kommen mit Bargeld zurück. In einer Tour. Donna weiß, dass sie schon jetzt zugreifen könnten, aber was hätten sie dann? Einen überschaubaren Drogenfund, einen Mittelsmann, der gelangweilt hinter einem Tisch sitzt, und einen Jungen auf einem Fahrrad. Also harren sie stattdessen hier oben aus, Beamte fotografieren sämtliche Hineingehenden und Herauskommenden und folgen ihnen an ihr jeweiliges Ziel, um so eine möglichst vollständige Dokumentation von Connies Aktivitäten zu liefern. Um genügend Beweise anzusammeln, um das ganze Unternehmen auf einmal hochgehen zu lassen. Mit etwas Glück werden sie konzertierte frühmorgendliche Razzien durchführen können. Mit noch etwas mehr Glück hilft ihnen eine Einheit der technischen Sondergruppe mit druckluftunterstützten Rammen, die Türen aufzubrechen, und einer aus der Einheit ist Single.

»Jacke, gelb?«, sagt Donna, als sie eine Frau den steilen Pfad zum Parkplatz heraufsteigen sieht.

»Kalt«, sagt Chris.

Der Hauptpreis ist natürlich Connie Johnson selbst. Darum sind Donna und Chris hier. Hat Connie zwei Rivalen umgebracht und ist damit durchgekommen?

Gelegentlich entdecken sie unter den Fahrradkurieren ein bekanntes Gesicht. Auch ältere Gesichter aus der Fairhavener Drogenszene. Jeder Name wird festgehalten. Wenn Connie die Antonio-Brüder umgebracht hat, dann war sie es nicht allein. Dafür ist sie zu schlau. Früher oder später kriegt sie ohnehin spitz, dass sie observiert wird. Dann wird sie vorsichtiger vorgehen, verdeckter operieren. Deshalb versuchen sie, ihr Beweismaterial zu sichern, solange sie noch so leichtes Spiel haben.

Es klopft laut ans Beifahrerfenster. Donna zuckt zusammen. Als sie hochschaut, sieht sie die gelbe Jacke der Frau, die den Pfad heraufgestiegen ist. Ein lächelndes Gesicht erscheint im Fenster, dazu zwei Hände mit zwei Kaffeebechern. Donna registriert einen blonden Haarschopf, üppig aufgetragenen roten Lippenstift. Sie fährt das Fenster herunter.

Die Frau geht in die Hocke und lächelt. »Wir sind uns nicht vorgestellt worden, aber Sie müssen Donna und Chris sein. Ich hab Ihnen einen Kaffee von der Tankstelle mitgebracht.«

Sie reicht die Becher zum Fenster herein, und Donna und Chris wechseln einen Blick und nehmen sie.

»Ich bin Connie Johnson, aber das wissen Sie ja sicher.« Die Frau klopft sich auf die Jackentaschen. »Ich hätte auch Würstchen da, falls Sie welche möchten.«

»Nein, danke«, sagt Chris.

»Ja, bitte«, sagt Donna.

Connie händigt Donna eine Papiertüte aus. »Für die Polizistin hinter den Mülltonnen, die diese ganzen Fotos knipst, habe ich jetzt leider nichts.«

»Die ist sowieso Veganerin«, sagt Donna. »Aus Brighton.«

»Ich wollte mich auch hauptsächlich mal vorstellen«, sagt Connie. »Verhaften Sie mich jederzeit, wenn Sie möchten.«

»Werden wir«, sagt Chris.

»Was für einen Lidschatten benutzen Sie?«, fragt Connie Donna.

»Pat McGrath, Gold Standard«, sagt Donna.

»Sehr geil«, sagt Connie. »Für heute sind übrigens alle Geschäfte abgewickelt, falls Sie gern heimmöchten. Und Sie haben die letzten beiden Wochen nichts gesehen, was Sie nicht herzlich gern sehen durften.«

Chris nippt an seinem Kaffee. »Und das ist wirklich Tankstellenkaffee? Schmeckt echt gut.«

»Die haben eine neue Maschine«, sagt Connie. Aus einer Innentasche zieht sie einen Umschlag hervor, den sie Donna gibt. »Hier, können Sie haben. Da sind Fotos von Ihnen beiden drin und von den diversen anderen Bullen, die hier in letzter Zeit rumgekrochen sind. Was ihr könnt, kann ich schon längst. Und ich wette, ihr habt davon nichts mitgekriegt, oder? Zum Teil sind wir euch sogar bis nach Hause gefolgt. Da ist ein nettes Bild von Ihnen mit Ihrem Date neulich dabei, Donna. Nicht so ganz Ihr Niveau, fand ich.«

»Ich ehrlich gesagt auch«, sagt Donna.

»Ich muss dann mal wieder, aber nett, Sie endlich persönlich kennenzulernen. Ich war schon so gespannt auf Sie.« Connie wirft ihnen eine Kusshand zu. »Lassen Sie sich bald mal wieder blicken.«

Sie richtet sich auf und tritt von dem Ford Focus weg. Hinter ihnen kommt ein Range Rover in Sicht. Die Beifahrertür öffnet sich, Connie steigt ein und wird wegchauffiert.

»Tja«, sagt Chris.

»Tja«, pflichtet Donna ihm bei. »Und jetzt?«

Chris zuckt die Achseln.

»Super Plan, Chef«, sagt Donna. »Was war das übrigens, was mit J anfängt?«

Chris dreht den Zündschlüssel und schnallt sich an. »Das war das ›junge, schöne Gesicht deiner Mutter‹. Ich sehe es vor mir, sobald ich die Augen schließe.«

»O Mann«, sagt Donna. »Ich muss mich echt versetzen lassen.«

»Gute Idee«, sagt Chris. »Aber nicht, bevor wir Connie Johnson verknackt haben, hoffe ich doch.«

3

Joyce

Langsam könnte wirklich wieder etwas Aufregendes passieren. Eigentlich egal, was.

Ein Feuer vielleicht, aber eins, wo niemandem etwas zustößt. Nur Flammen und Löschzüge. Dann könnten wir alle mit unseren Thermoskannen dastehen und zuschauen, und Ron könnte den Feuerwehrleuten Anweisungen zubrüllen. Oder eine Affäre, das wäre auch lustig. Vorzugsweise meine eigene, aber man kann ja nicht alles haben. Solange nur ein bisschen was Skandalöses dabei ist, ein großer Altersunterschied zum Beispiel, oder dass ein Partner plötzlich eine neue Hüfte braucht. Oder ein Schwulenpärchen? Das hatten wir in Coopers Chase noch gar nicht, und ich glaube, alle fänden es großartig. Ein Enkel, der im Gefängnis landet, das wäre auch mal was. Oder eine Überschwemmung, die aber nicht bis zu uns reicht. Sie wissen, was ich meine.

Wenn man bedenkt, wie viele Todesfälle es hier bis vor Kurzem gab, ist es nicht leicht, einfach zur Tagesordnung zurückzukehren, Einkäufe im Gartencenter, alte Folgen von Die 2. Auch wenn ich großer Die 2-Fan bin.

Als ich noch Krankenschwester war, starben uns die Patienten andauernd weg. Wie die Fliegen. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe nie nachgeholfen, obwohl es oft kinderleicht gegangen wäre. Viel leichter als für einen Arzt. Den Ärzten wurde zu meiner Zeit doch sehr auf die Finger geschaut. Heutzutage gilt das wahrscheinlich auch für die Pfleger, aber ich wette, wenn es einen überkäme, fände sich schon ein Weg.

Ibrahim ist dagegen, dass ich mir einen Hund anschaffe, aber ich kriege ihn bestimmt noch rum, und dann wird er der größte Hundenarr von allen. Und sicher auch der eifrigste aller Gassigeher. Ich wünschte, ich hätte Ibrahim vor dreißig Jahren in die Hände bekommen.

Es gibt eine Tierauffangstation gleich hinter der Grenze zu Sussex, wo sie alles Mögliche haben. Die üblichen Katzen und Hunde, aber auch Esel, Kaninchen und Meerschweinchen. Mir war gar nicht klar, dass auch Meerschweinchen aufgefangen werden müssen, aber wieso eigentlich nicht? Jeder von uns braucht ab und zu jemanden, der ihn auffängt, warum sollten Meerschweinchen da anders sein? In Peru essen sie Meerschweinchen, wussten Sie das? Das kam neulich bei MasterChef. Sie haben es aber bloß erwähnt, nicht eins gegessen.

Viele der Hunde kommen aus Rumänien, sie werden dort gerettet und zu uns gebracht. Wie genau sie sie hierherbringen, weiß ich nicht, das muss ich noch fragen. Es wird ja wohl keine Flüge speziell für Hunde geben. In einem großen Laster? Sie werden schon etwas ausgetüftelt haben. Ron meint, sie bellen sicher mit ausländischem Akzent, aber Sie kennen ja Ron.

Wir haben uns die Website der Auffangstation angeschaut, und Sie sollten die Hunde dort sehen! Es gibt einen namens Alan, auf den ich ein Auge geworfen habe. »Terrier, Status unbestimmt«, heißt es in seinem Profil. Da haben wir was gemeinsam, habe ich gedacht, als ich das gesehen habe. Alan ist schon sechs, und es heißt, man darf sie nicht umbenennen, weil sie sich an ihren Namen gewöhnt haben, aber ich werde keinen Hund Alan nennen, egal, wie sehr man mich unter Druck setzt.

Vielleicht bringe ich Ibrahim so weit, dass er nächste Woche mit mir hinfährt. Er ist regelrecht autosüchtig geworden. Morgen will er sogar nach Fairhaven fahren. Seit links und rechts Morde passieren, geht er richtig aus sich heraus. Düst durch die Gegend, als bekäme er es bezahlt.

Ich frage mich ja, warum sich Elizabeth heute Mittag so eigenartig verhalten hat. Als wäre sie nur halb da. Vielleicht ist etwas mit Stephen. Ihrem Mann, Sie erinnern sich? Oder sie ist immer noch nicht über Penny hinweg. Irgendwas beschäftigt sie, und sie ist auf diese entschlossene Art vom Tisch weggegangen, bei der sich irgendwer auf etwas gefasst machen muss und jeder nur hoffen kann, es trifft nicht ihn.

Ich habe übrigens angefangen zu stricken. Ich weiß, ich weiß, ich hätte das auch nie gedacht.

Aber neulich bin ich mit Deidre von Schnacken-und-Stricken ins Gespräch gekommen. Ihr Mann war Franzose, aber er ist schon seit einiger Zeit tot – von der Leiter gefallen, glaube ich, aber es könnte auch Krebs gewesen sein. Deidre strickt kleine Freundschaftsarmbänder für wohltätige Zwecke, und sie hat mir das Muster gegeben. Man strickt sie in verschiedenen Farben, je nachdem, für wen sie bestimmt sind. Die Leute legen selbst fest, was sie zahlen, und das ganze Geld wird gespendet. Ich habe auf meine zusätzlich Pailletten genäht. In dem Muster kommen Pailletten nicht vor, aber sie liegen seit Jahren bei mir in der Schublade.

Elizabeth habe ich ein rot-weiß-blaues gestrickt. Es war mein erster Versuch und noch etwas strubbelig, aber sie hat sich nichts anmerken lassen. Ich habe sie gefragt, an welchen Verein ihr Geld gehen soll, und sie sagte, »Mit Demenz leben« – so nah sind wir dem Thema Stephen noch nie gekommen. Ich glaube nicht, dass sie ihn noch sehr lange bei sich behalten kann; Demenz ist eine Einbahnstraße, bei der es kein Zurück gibt. Arme Elizabeth. Und armer Stephen, das natürlich auch.

Für Bogdan habe ich ein Armband in Gelb und Blau gestrickt, weil ich irrigerweise dachte, das wären die polnischen Nationalfarben. Bogdan zufolge ist die polnische Flagge aber rot-weiß, und er sollte es ja wissen. Ich hätte wahrscheinlich an Schweden gedacht, meinte er, und vielleicht stimmt das ja. Wenn ich Gerry noch hätte, wäre mir das nicht passiert. Wie alle guten Ehemänner war Gerry ein großer Flaggenexperte.

Als ich Bogdan vor ein paar Tagen gesehen habe, trug er sein Armband tatsächlich. Er war auf dem Weg zur Baustelle oben am Berg und winkte mir zu, und da war es an seinem Handgelenk, über den ganzen Tätowierungen von Gott weiß was. Ich weiß, das ist kindisch von mir, aber ich kam aus dem Lächeln gar nicht mehr heraus. Die Pailletten blitzten im Sonnenschein, und ich strahlte mit ihnen um die Wette.

Elizabeth habe ich ihres noch nicht tragen sehen, und ich kann es ihr nicht vorwerfen. Aber ich bin schon besser geworden, und außerdem brauchen Elizabeth und ich sowieso kein Armband, um zu zeigen, dass wir Freundinnen sind.

Gestern Nacht habe ich von dem Haus geträumt, in dem Gerry und ich als Frischverheiratete gewohnt haben. In meinem Traum öffneten wir eine Tür und fanden ein neues Zimmer, das wir noch nie gesehen hatten, und wir hatten tausend Ideen, was wir damit machen wollten.

Wie alt Gerry war, weiß ich nicht, er war einfach Gerry, aber ich war die, die ich jetzt bin. Zwei Menschen, die sich nie begegnet sind, und im Traum lachten wir und berührten uns und schmiedeten Pläne. Eine Zimmerpflanze hier, ein Couchtisch da. Was man als Paar eben so macht.

Als ich aufwachte, allein, überwältigte mich der Kummer wieder von Neuem, und ich weinte endlos. Wenn man all die Morgentränen hören könnte, die in Coopers Chase geweint werden, klänge es wie Vogelgesang, denke ich manchmal.

4

Die Herbstsonne strahlt auch heute wieder, aber die Schärfe in der Luft lässt keinen Zweifel daran, dass die strahlenden Tage gezählt sind. Der Winter sitzt schon in den Startlöchern.

Es ist drei Uhr nachmittags, und Elizabeth hat Blumen für Marcus Carmichael dabei. Für den Toten. Für die Wasserleiche, die nun plötzlich quicklebendig im Ruskin Court Nr. 14 wohnt. Den Mann, der vor ihren Augen auf einem Friedhof in Hampshire ins Grab gesenkt wurde, aber jetzt Kisten auspackt und mit seinem neuen WLAN kämpft.

Sie geht an Willows vorbei, dem Coopers Chase angegliederten Pflegeheim. Solange Penny dort lag, war Elizabeth jeden Tag da, um bei ihrer alten Freundin zu sitzen und zu schwatzen, ihre Strategien und den neuesten Klatsch zu besprechen, ohne zu wissen, ob Penny sie hören kann oder nicht.

Jetzt gibt es keine Penny mehr.

Die Tage werden kürzer, hinter den Bäumen auf der Hügelkuppe sinkt schon die Sonne, als Elizabeth den Ruskin Court erreicht und bei der Nummer 14 klingelt. Dann wagen wir’s doch mal. Nach ein paar Sekunden summt der Türöffner.

Sämtliche Gebäude sind natürlich mit Lift ausgestattet, aber solange sie noch kann, nimmt Elizabeth lieber die Treppe. Treppensteigen hält Hüften und Knie beweglich. Außerdem hat, wenn die Lifttür aufgleitet, ein Mörder leichtes Spiel. Keine Chance zur Flucht, kein Versteck irgendwo, nur ein Pling, das das Opfer ankündigt. Nicht, dass sie Angst hätte, ermordet zu werden, diese Gefahr scheint ihr derzeit kaum gegeben, aber es schadet nicht, sich der Risiken bewusst zu sein. Eli­zabeth selbst hat nie jemanden in einem Lift getötet. In Essen war sie einmal dabei, als ein Mann einen leeren Aufzugschacht hinuntergestoßen wurde, aber das war nicht das Gleiche.

Am Kopf der Treppe wendet sie sich nach links, verlagert ihren Strauß in die linke Hand und klopft bei der Nummer 14. Wer wird ihr aufmachen? Was für eine Geschichte steckt dahinter? Muss sie sich Sorgen machen?

Die Tür öffnet sich, und sie blickt in ein mehr als vertrautes Gesicht.

Nicht Marcus Carmichael, wie auch? Aber definitiv jemand, der den Namen Marcus Carmichael kannte. Und der weiß, dass er damit ihre Aufmerksamkeit erlangt.

Und, ja, Sorge ist am Platz.

Der Mann sieht gut aus, gebräunt, grau-blondes Haar, das noch nicht ans Ausfallen denkt. Sie hätte wissen können, dass er nicht kahl wird.

Hmm. Wie nun am besten vorgehen?

»Marcus Carmichael, vermute ich?«, sagt Elizabeth.

»Ja, das vermute ich auch«, sagt der Mann. »Schön, dich zu sehen, Elizabeth. Sind die Blumen etwa für mich?«

»Nein, das ist nur so ein Manierismus von mir – Blumen mit mir herumtragen«, sagt Elizabeth und gibt ihm im Eintreten den Strauß.

»Verstehe. Ich stelle sie trotzdem mal ins Wasser. Komm rein, setz dich, mach es dir bequem.« Er verschwindet in die Küche.

Elizabeth sieht sich um: kahle Wände, nirgendwo ein Bild, nichts, was den Raum wohnlich macht. Keinerlei Hinweis darauf, dass hier jemand einzieht. Zwei Sessel, beide reif für den Sperrmüll, ein Stoß Bücher auf dem Boden, eine Leselampe.

»Hübsch hast du dich hier eingerichtet«, sagt Elizabeth in Richtung Küche.

»Nicht ganz freiwillig, meine Liebe.« Der Mann kommt wieder ins Zimmer, in der Hand die Blumen, die er in den Wasserkessel gestopft hat. »Wobei es mir sicher ans Herz wachsen wird, auch wenn ich hoffentlich nicht zu lange hier sein muss. Darf ich dir einen Wein anbieten?« Er stellt den Kessel auf dem Fensterbrett ab.

»Ja, gern.« Elizabeth nimmt in einem der Sessel Platz. Was geht hier vor? Warum ist er hier? Und was will er von ihr nach all den Jahren? Was immer es ist, es verheißt nichts Gutes. Ein spärlich eingerichteter Raum, heruntergelassene Jalousien, ein Vorhängeschloss vor der Schlafzimmertür. Ruskin Court Nr. 14 sieht schwer nach Schutzgewahrsam aus.

Aber Schutz wovor?

Der Mann kommt mit zwei Gläsern Rotwein zurück. »Einen Malbec für dich, wenn ich mich recht entsinne?«

Elizabeth nimmt ihr Glas, und der Mann setzt sich in den Sessel ihr gegenüber. »Das hältst du anscheinend für eine bravouröse Gedächtnisleistung, dich an meinen Lieblingswein zu erinnern?«

»Ich bin fast siebzig, meine Liebe, da ist so gut wie alles eine bravouröse Gedächtnisleistung. Auf dein Wohl.« Er hebt sein Glas.

»Und auf deins«, sagt Elizabeth und hebt ihres. »Lang ist’s her.«

»Allerdings. Aber an Marcus Carmichael erinnerst du dich.«

»Das war eine schlaue Idee.«

Marcus Carmichael war ein Geist, eine Erfindung von Elizabeth. In so etwas war sie unschlagbar. Ein Mann, der nie existiert hat, ins Leben gerufen einzig zu dem Zweck, »Geheimnisse« an die Sowjets zu verraten. Ein Mann, dessen Vergangenheit aus gefälschten Dokumenten und gestellten Fotos fabriziert war. Ein vorgeblicher Agent, der vorgebliche Geheimnisse an den Feind weitergab. Und als die Sowjets zu nahe kamen und zu viel wissen wollten, war es Zeit, Marcus Carmichael sterben zu lassen, sich eine unidentifizierte Leiche aus einer Londoner Uniklinik auszuborgen und sie auf einem Friedhof in Hampshire zu begraben, beweint von einer jungen Sekretärin aus dem Schreibbüro, die die trauernde Witwe gab. Und die Lüge mit ihm zu begraben. Marcus Carmichael, ein Toter, der nie gelebt hat.

»Danke, ich dachte mir schon, dass dir das gefallen könnte. Gut siehst du aus. Sehr gut. Wie geht es … hilf mir kurz auf die Sprünge … Stephen, richtig? Dein derzeitiger Ehegemahl?«

»Können wir den Teil einfach überspringen?«, fragt Elizabeth mit einem Seufzer. »Und vorspulen zu dem Teil, wo du mir sagst, was du hier willst?«

Der Mann nickt. »Gern, Liz. Zum Reminiszieren bleibt uns noch genug Zeit, wenn alle Karten auf dem Tisch liegen. Aber Stephen stimmt, oder?«

Elizabeth denkt an Stephen daheim in der Wohnung. Sie hat ihn vor den Fernseher gesetzt, also döst er hoffentlich. Wäre sie jetzt nur bei ihm, würde sie nur neben ihm sitzen, sein Arm um ihre Schulter. Stattdessen ist sie hier, in diesem leeren Zimmer mit diesem gefährlichen Mann. Einem Mann, den sie schon mehrfach hat töten sehen. Das ist nicht das Abenteuer, das sie sich für heute erhofft hat. Sie will Stephen und seine Nähe. Sie will Joyce und ihre Hunde.

Elizabeth nippt an ihrem Wein. »Ich nehme an, du brauchst etwas von mir? Wie eh und je?«

Der Mann lehnt sich in seinen Sessel zurück. »Ja, so könnte man es wohl sagen. Aber nichts allzu Strapaziöses – eigentlich müsste es dir sogar Spaß machen. Was Spaß ist, weißt du noch, Elizabeth?«

»Über Mangel an Spaß kann ich mich nicht beklagen, trotzdem danke.«

»Ja, stimmt, ihr seid ja berühmt. Leichen noch und nöcher. Ich habe die Akte gelesen.«

»Die Akte?«, fragt Elizabeth. Ihr schwant Übles.

»O ja, du hast ordentlich für Aufsehen gesorgt in London, mit diesen ganzen Gefallen, um die du in den letzten Monaten gebeten hast. Finanzunterlagen, forensische Gutachten. Und hattest du nicht sogar einen pensionierten Pathologen hier, der mit euch Knochen exhumiert hat? Dachtest du, das bleibt unbeachtet?«

Elizabeth wird klar, dass sie kurzsichtig vorgegangen ist. Ja, sie hat so einige Gefallen eingefordert, während sie und der Donnerstagsmordclub in Sachen Tony Curran und Ian Ventham ermittelt haben. Und in Sachen des dritten Leichnams, der auf dem Friedhof oben am Hügel aufgetaucht ist. Sie hätte wissen müssen, dass irgendjemand irgendwo Buch darüber führt. Kein Gefallen ohne Gegenleistung. Aber eine Gegenleistung welcher Art?

»Was willst du von mir, Douglas?«, fragt sie.

»Ach, du sollst nur ein paar Tage die Kinderfrau spielen.«

»Kinderfrau bei wem?«

»Bei mir.«

»Und warum brauchst du eine Kinderfrau?«

Der Mann nickt, trinkt einen Schluck Wein und beugt sich vor. »Es ist leider so, Elizabeth, ich habe mich da in eine Klemme gebracht.«

»Tja, manche Dinge ändern sich anscheinend nie. Warum erzählst du mir nicht einfach, was los ist?«

Im Schloss dreht sich ein Schlüssel, und die Tür geht auf.

»Pünktlich auf die Minute, ausnahmsweise«, sagt der Mann. »Hier kommt die Frau, die das Bild abrunden kann. Darf ich dir meine Wärterin vorstellen?«

Herein kommt Poppy, die neue Kellnerin aus dem Restaurant. Sie begrüßt beide mit einem Nicken. »Sir. Ma’am.«

»Jetzt wird mir manches klar«, sagt Elizabeth. »Ich kann nur hoffen, Poppy, dass Sie im Spionieren besser sind als im Kellnern.«

Poppy errötet. »Na ja, ganz sicher bin ich mir da ehrlich gesagt nicht. Aber jetzt, wo wir zu dritt sind, werden wir uns schon irgendwie durchwursteln, ohne dass jemand zu Schaden kommt.«

Nach Elizabeths Erfahrung bewahren konspirative Wohnungen nur selten auf Dauer vor Schaden. Poppy rückt den Kessel mit den Blumen zur Seite. »Hübscher Strauß.« Sie schwingt sich aufs Fensterbrett.

»Und was für ein Schaden könnte das sein?«, fragt Eli­z­abeth.

»Ich fange am besten am Anfang an«, sagt der Mann.

»Ja, bitte tu das doch, Douglas.« Elizabeth nimmt einen großen Schluck Wein. »Als Ehemann warst du furchtbar, aber Geschichten konntest du schon immer erzählen.«

5

Ibrahim kommt vom Mittagessen mit Ron. Er hat Ron dazu bringen wollen, Hummus zu probieren, aber was das angeht, beißt man bei Ron auf Granit. Er würde sich ausschließlich von Schinkeneiern und Pommes ernähren, wenn man ihn ließe. Und ganz ehrlich, er ist fünfundsiebzig und immer noch gut in Form, so falsch kann er also nicht liegen. Ibrahim zieht die Autotür zu und schnallt sich an.

Ron ist voller Vorfreude, weil nächste Woche sein Enkel Kendrick zu Besuch kommt, und Ibrahim freut sich kaum weniger.

Ibrahim hätte einen wunderbaren Vater abgegeben, einen wunderbaren Großvater. Aber wie so vieles andere in seinem Leben hat es nicht sollen sein. Du dummer alter Mann, denkt er, als er den Motor anlässt, du hast einen größeren Fehler gemacht als sie alle zusammen. Du hast zu leben vergessen, dich nur weggeduckt, dich gedrückt.

Und was hat er davon gehabt? Von den Entscheidungen, die er aus Vorsicht nicht getroffen, den Liebesgeschichten, die er aus Schüchternheit nicht weiterverfolgt hat? Ibrahim denkt an die vielen Leben, die er über die Jahre hinweg verpasst hat.

Ibrahim war immer so gut darin, alles im Voraus zu bedenken, aber nun wird er in das sprichwörtliche kalte Wasser springen. Ab sofort ist Spontaneität angesagt. Er will sich eine Scheibe abschneiden von Rons chaotischer Ungezwungenheit, von Joyces fröhlichem Optimismus und von der kriminalistischen Schonungslosigkeit, die Elizabeth ausmacht, ebenfalls.

Kauf dir keinen Hund, Joyce. Das hat er ihr vorhin geraten. Aber natürlich soll sie einen haben. Das wird er ihr gleich bei der Rückkehr sagen. Ob sie ihm erlauben wird, ihn auszuführen? Bestimmt wird sie das. Die beste Herz-Kreislauf-Medizin. Jeder sollte sich einen Hund zulegen. Männer sollten die Frau heiraten, die sie lieben, statt aus Angst nach England Reißaus zu nehmen. Ibrahim hatte ein Leben lang Zeit, über diese Entscheidung nachzudenken. Darüber gesprochen hat er nie, auch mit seinen Freunden nicht. Vielleicht sollte er das demnächst einmal nachholen.

Am Tor von Coopers Chase biegt er nach links ab. Selbstverständlich nicht ohne vorher mehrmals nach rechts und nach links zu schauen.

Eine ganze Welt wartet dort draußen auf ihn, und so beängstigend das auch ist, er hat beschlossen, dass er den Schutz von Coopers Chase ab und zu verlassen sollte. Darum ist er nun hier, inmitten des Lärms und des Getriebes und der Menschen.

Einmal die Woche, so sein Plan, will er mit Rons Daihatsu eine kleine Fahrt unternehmen und sich nach Fairhaven hineinwagen. Hier ist schon das Ortsschild. Was für ein Abenteuer. Nur er, ganz allein. Er wird ein paar Einkäufe tätigen, wird mit einem Kaffee bei Starbucks sitzen und Zeitung lesen. Und dabei wird er Augen und Ohren offen halten. Was sprechen die Leute dieser Tage so? Wirken sie unglücklich?

Ibrahim sorgt sich etwas, dass er keinen Parkplatz finden wird, aber er entdeckt problemlos eine Lücke. Er hat Angst, dass er nicht verstehen wird, wie man die Parkuhr bedient, doch auch das ist ein Kinderspiel.

Was für ein Psychiater fürchtet sich vor dem Leben? Jeder anständige Psychiater im Zweifel, warum wäre er sonst Psychiater geworden? Trotzdem schadet es nichts, sich der Welt ein bisschen zu öffnen. Wenn man nicht aufpasst, kann einen in Coopers Chase die Verkalkung ereilen. Tag für Tag dieselben Leute, dieselben Gespräche, dieselben Wehwehchen und Grummeleien. Die Mordermittlungen waren ein regelrechter Jungbrunnen für Ibrahim.

Sehr schnell entdeckt er Selbstbedienungskassen und kontaktloses Zahlen für sich. Das absolute Minimum an menschlicher Interaktion. Endlich muss er keine Leute mehr grüßen, die er überhaupt nicht kennt. Sich vorzustellen, dass ihm all das entgangen wäre!

Er findet eine gemütliche kleine Bücherstube, wo es niemanden stört, wenn man eine Stunde im Sessel sitzt und liest. Natürlich kauft er das Buch, in dem er gelesen hat, hinterher. Es heißt You und handelt von einem Psychopathen namens Joe, in den sich Ibrahim bestens hi­neinfühlen kann. Er kauft auch noch drei weitere Bücher, denn er will, dass der Laden noch da ist, wenn er nächste Woche wiederkommt. Hinter dem Ladentisch hing ein Schild mit der Aufschrift: »Eure örtliche Buchhandlung: Nutzt sie, sonst geht sie ein.«

Nutzt sie, sonst geht sie ein. Sehr richtig. Deshalb ist er hier. Inmitten des Trubels, wo der Verkehr tost, Teenager rufen, Bauarbeiter fluchen. Er fühlt sich gut. Er fühlt sich weniger beklommen. Sein Hirn fühlt sich wach an. Nutz es, sonst geht es ein.

Er sieht auf die Uhr. Drei Stunden sind wie im Flug vergangen, Zeit, sich auf den Heimweg zu machen. Ibrahim ist beschwingt. Wenn er Joyce das mit dem Hund gesagt hat, wird er ihr alles über kontaktlose Zahlungsmöglichkeiten erklären. Für sie wird das nichts Neues sein, aber vielleicht hat sie sich noch nicht mit der Technik dahinter beschäftigt, so wie er es gerade getan hat. Die Zeit fliegt nur so dahin, wenn man richtig lebt.

Er hat in der Nähe des Polizeireviers geparkt, denn wo könnte Rons Daihatsu sicherer stehen? Irgendwann kann er vielleicht einmal hineingehen und Chris und Donna überraschen. Darf man Polizeibeamte in der Arbeit besuchen? Freuen würden sie sich bestimmt, aber er möchte auf keinen Fall die Ermittlungen zu einer, sagen wir, Brandstiftung behindern, weil sie das Gefühl hätten, Small Talk mit ihm machen zu müssen. Doch solche Überlegungen stellt nur der alte Ibrahim an. Der neue Ibrahim würde es einfach drauf ankommen lassen. Du willst jemanden sehen? Dann geh eben hin! Das wäre Rons Devise. Aber Ron geht auch bei offener Tür auf die Toilette, Ibrahim muss also daran denken, dass es Grenzen gibt.

An einer Ecke kurz vor dem Polizeirevier kommt er an drei Jugendlichen vorbei, alle auf Rädern, alle mit Kapuzen über dem Kopf. Er riecht Cannabis. Viele der Bewohner von Coopers Chase rauchen Cannabis. Angeblich hilft es bei grünem Star, wobei statistisch gesehen kaum derart viele Leute grünen Star haben können. Als junger Mann hat sich Ibrahim einmal von reicheren Freunden dazu überreden lassen, Opium zu rauchen. Er hatte immer zu viel Angst, es ein zweites Mal zu probieren, aber vielleicht ist das noch so etwas, das er auf seine Liste setzen sollte. Wo man Opium wohl herbekommt? Chris und Donna werden es wissen. Es ist doch immer nützlich, mit Polizeibeamten befreundet zu sein.

Diese drei Jugendlichen sind natürlich genau das, was Ibrahim Angst machen sollte, das weiß er. Aber sie machen ihm kein bisschen Angst. Junge Männer auf Rädern haben schon immer an Straßenecken herumgelungert, und sie werden es immer tun. Ob in Fairhaven, London oder Kairo.

Da vorne steht der Daihatsu. Ibrahim wird ihn auf dem Heimweg durch die Waschstraße fahren. In erster Linie als Dankeschön an Ron, aber auch, weil er Waschstraßen großartig findet. Er zieht das Handy aus der Tasche. Das ist das Erste, was er heute gelernt hat: Man kann seine Parkgebühr mit einer App zahlen, was die Abkürzung für Application ist. Vielleicht ist es ja verständlich, dass jeder nur noch auf sein Handy schaut. Wenn man die gesamte Geschichte menschlichen Wissens und menschlicher Errungenschaften in der Tasche hat, ist es dann nicht nur recht und billig, die meiste Zeit auf …

Ibrahim hört das Rad nicht herankommen, aber er spürt den Luftzug, als es ihn überholt, sieht die Hand, die nach seinem Telefon greift, es ihm wegreißt mit einem Ruck, dass er zu Boden taumelt.

Er landet auf der Seite und rollt, bis der Bordstein ihn aufhält. Schmerz schießt ihm in den Arm, in die Rippen. Sein Jackett ist am Ärmel aufgerissen. Lässt sich so etwas richten? Er hofft es – es ist sein Lieblingsjackett –, aber der Riss sieht übel aus, das weiße Futter leuchtet hervor wie ein Knochen. Er nimmt Schritte wahr, rennende Füße, Teenagerlachen. Dann plötzlich zwei Tritte. Einer in seinen Rücken, einer gegen den Hinterkopf. Wieder schlägt Ibrahims Kopf an den Bordstein.

»Komm weg da, Ryan!«

Das hier ist schlimm, so viel ist Ibrahim klar. Keine Bagatelle. Er will sich bewegen, aber es geht nicht. Aus dem Rinnstein dringt Nässe durch den Wollstoff seiner Hose, und er schmeckt Blut.

Neue Schritte eilen herbei, und Ibrahim kann sich nicht schützen. Die Bordsteinkante drückt kalt gegen sein Gesicht. Die Schritte machen halt, doch diesmal folgt kein Tritt, stattdessen umfassen Hände seine Schultern.

»Hallo? Hallo? Um Gottes willen, Christine, ruf einen Krankenwagen!«

Ja, das Abenteuer endet immer mit einem Krankenwagen, egal, wer man ist. Wie groß ist der Schaden in seinem Fall? Nur ein paar Knochenbrüche? Schlimm genug in seinem Alter. Oder ist noch mehr passiert? Immerhin hat er einen Tritt gegen den Hinterkopf abgekriegt. Wie immer es weitergeht, eins weiß er gewiss: Er hat einen Fehler gemacht. Er hätte in Deckung bleiben sollen. Ab jetzt wird es keine Ausflüge nach Fairhaven mehr geben, kein Schmökern mehr in dem Sessel in der Bücherstube. Wo sind seine neuen Bücher hin? Liegen sie im Rinnstein, schon ganz nass? Jemand schüttelt ihn.

»Hallo! Machen Sie die Augen auf! Wach bleiben!«

Aber ich habe die Augen doch offen, denkt Ibrahim, bevor er begreift, dass sie zu sind.

6

Elizabeth trinkt ihren zweiten Malbec, während sie den Ausführungen ihres Ex-Mannes Douglas Middlemiss zum Thema internationale Geldwäsche lauscht. Seinen Ausführungen darüber, warum ein Mann seines Alters jemanden braucht, der bei ihm die Kinderfrau spielt.

»Wir hatten ihn schon eine ganze Weile im Auge, diesen Martin Lomax, wunderschöne alte Villa, Unsummen an Geld, aber alles bis auf den letzten Penny belegt. Die Jungs von der Finanzaufsicht hatten keine Handhabe. Aber was man weiß, weiß man eben, nicht?«

»Nur zu wahr«, stimmt Elizabeth zu.

»Und alle kreuzen sie bei ihm auf, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Russen, Serben, die türkische Mafia. In diesem abgelegenen Haus am Rand eines verschlafenen Dörfchens. Hambledon, falls dir der Name was sagt. Der Geburtsort des Cricket.«

»Auch das noch«, sagt Elizabeth.

»Range Rovers, Bentleys, diese schmalen Sträßchen rauf und runter. Araber in Hubschraubern, die ganze Palette. Einmal ist sogar ein irischer Militärkommandant mit dem Fallschirm aus einem Leichtflugzeug abgesprungen und bei ihm im Garten gelandet.«

»In was für einer Branche ist er?«, fragt Elizabeth. »Inoffiziell?«

»Versicherung«, sagt Poppy.

»Versicherung?«

»Er fungiert als Bank für große Verbrechersyndikate.« Douglas beugt sich vor. »Angenommen, die Türken kaufen Heroin im Wert von hundert Millionen von den Afghanen. Dann zahlen sie nicht gleich den vollen Betrag.«

»So wie man bei einem Gefrierschrank auch nicht den vollen Betrag zahlt, bevor er geliefert wird«, ergänzt Poppy.

»Danke, Poppy«, sagt Elizabeth. »Das ist ein wertvoller Hinweis.«

»Also leisten sie eine Anzahlung von, sagen wir, zehn Millionen bei einem verlässlichen Mittelsmann«, sagt Douglas. »Um ihre Glaubwürdigkeit zu beweisen.«

»Und der Mittelsmann ist Martin Lomax.«

»Tja, sie vertrauen ihm alle. Du würdest ihm vertrauen, wenn du ihn kennenlernen würdest. Er ist ein seltsamer Bursche, ein Bösewicht, aber grundsolide. Es ist schwer, Bösewichte zu finden, die gleichzeitig verlässlich sind. Wie du ja weißt.«

Elizabeth nickt. »Das heißt, sein Haus quillt über von Bargeld?«

»Teils Bargeld, teils auch Exotischeres. Wertvolle Gemälde, Gold, Diamanten«, sagt Douglas.

»Ein usbekischer Drogendealer hat mal eine Erstausgabe der Canterbury Tales mitgebracht«, steuert Poppy bei.

»Je kostbarer, desto besser«, sagt Douglas. »Und diese ganzen Schätze werden in einem Tresorraum im Haus unseres Freundes aufbewahrt. Wenn mit dem Deal alles glattläuft, gibt er die Anzahlung zurück, und nicht selten kommt sie mehrmals zum Einsatz. Und wenn etwas schiefgeht, dann wird die Anzahlung als Ausgleich einbehalten.«

»Das heißt, dieser Tresorraum hat’s in sich«, konstatiert Elizabeth.