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Ein brandgefährlicher Fall für den eigenwilligsten Inspektor Südostasiens Ein Terroranschlag auf der Insel der Götter und ein Schädel, der Inspektor Singh Rätsel aufgibt: Die Nachforschungen führen den skurrilen Ermittler vom idyllischen Ferienparadies über die staubigen Straßen Balis in die schmutzige Realität. Er muss einen Mörder finden, bevor es eine weitere Katastrophe gibt.
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Seitenzahl: 392
Veröffentlichungsjahr: 2017
Shamini Flint
Der Mann, der zweimal starb
Inspektor Singh ermittelt auf Bali
Aus dem Englischen von Antoinette Gittinger
LangenMüller
Die englische Originalausgabe erschien 2009 bei Piatkus, London, unter dem Titel »Inspector Singh Investigates: A Bali Conspiracy Most Foul«
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© für das eBook: 2016 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
© für die deutschsprachige Ausgabe: 2010 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
© 2009 für die Originalausgabe by Shamini Flint
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel
Umschlagmotiv: shutterstock
eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
ISBN 978-3-7844-8298-9
Für den Major
»Und losgelassen blutgetrübte Flut,
Das Spiel der Unschuld überall ertränket;
Die Besten sind des Zweifels voll, die Ärgsten
Sind von der Kraft der Leidenschaft erfüllt.«
W. B. Yeats
Prolog
Jimi hatte klamme Hände. Auf dem unechten Leder des Lenkrads waren feuchte Handabdrücke zu sehen.
Der Motor des weißen Minivans stotterte. Jimi schaute auf die Anzeige. Man hatte ihm gesagt, er solle den Motor laufen lassen. Keiner von den anderen traute es ihm zu, ihn wieder anzulassen. Er hatte nicht einmal einen Führerschein. Darauf hatte Jimi hingewiesen. Er wollte seinen Teil beitragen, aber vielleicht konnte einer von den anderen, Amrozi oder Idris, den Van fahren?
Das Team hatte ihm versichert, dass seine Rolle ganz einfach sei. Er könne vorher ein bisschen üben. Sie würden ihm den Wagen so hinstellen, dass er auf das Ziel gerichtet sei und Jimi um keine Ecken biegen oder anhalten und wieder anfahren musste. Eine kurze Fahrt in die Geschichtsbücher.
Er kannte seine Anweisungen auswendig – er musste darauf warten, dass einer von den anderen ihn anrief, und dann den Fuß von der Bremse nehmen. Das hatten sie ihm immer wieder eingehämmert. Sie machten sich Sorgen, er könnte voreilig handeln. Doch Jimi verstand. Er musste warten und tun, was man ihm sagte. Er hatte sein ganzes kurzes Leben damit verbracht, zu warten und zu tun, was man ihm sagte, ob es nun um seinen Vater, seine älteren Brüder oder den Imam in der Moschee ging.
Jimi war so angespannt, dass sich sein Oberschenkelmuskel verkrampfte. Er trat noch fester auf die Bremse, entschlossen, den weißen Mitsubishi-Van nicht vorwärtsrollen zu lassen. Noch war es nicht so weit.
Er hatte keine Zweifel an dem, was er gleich tun würde. Die anderen hatten ihm versichert, dass er das Richtige tat. Es war Dschihad, der endgültige und einzige Krieg.
Er wusste, dass es schnell gehen würde. Aber würde es wehtun? Er hatte gesehen, wie viel Sprengstoff hinten in den Wagen gepackt worden war. Jimi gestand sich ein, dass ihm die Vorstellung, dass es keine Leiche geben würde, die man seinen Eltern brachte, unangenehm war. Konnte das richtig sein? Muslime sollten mit dem Gesicht in Richtung Mekka begraben werden. Aber wenn es keinen Leichnam gab, nichts, was man begraben konnte, würde er dann eine Sünde begehen? Jimi ging, wenn auch nicht ganz ohne Zweifel, davon aus, dass sein Märtyrertum seine kleineren Verstöße wettmachen würde.
Jimi sah den Sari Club vor sich. Die anderen waren in den letzten paar Tagen einige Male mit ihm daran vorbeigegangen. Er hatte nur einen flüchtigen Blick hineinwerfen können. Aber es gab dort genügend Dinge, die seine Waffenbrüder zutiefst empörten: spärlich bekleidete Mädchen und junge Männer, die tanzten und tranken. Jimi wünschte sich, er hätte die Mädchen gesehen – waren sie wirklich so spärlich bekleidet gewesen? Doch er würde bald seine Belohnung erhalten: zweiundsiebzig Jungfrauen im Himmel. Hoffentlich würden sie nicht alle Burkas tragen.
Sein Telefon klingelte. Er ging nicht ran. Jimi nahm den Fuß von der Bremse und hielt das Steuer fest, die Hände so, wie Amrozi es ihm beigebracht hatte, in der Zehn- und Zweiuhrposition.
Der Wagen rollte langsam vorwärts.
1
Inspektor Singh hörte das Quaken der Frösche und das rasselnde Zirpen der Grillen. Die Geräusche auf Bali unterschieden sich stark von dem Lärm der Baustellen und Automotoren, an den er in Singapur gewöhnt war. Der Polizeibeamte kratzte sich nachdenklich an seinem grau melierten Bart. Irgendwie kam ihm die nächtliche Kakophonie vertraut vor. Ihm wurde bewusst, dass der Krach ihn an das Gezeter seiner Frau erinnerte, wenn er – was regelmäßig vorkam – zu spät zu einem Abendessen im Kreis der Familie erschien oder im chinesischen Café um die Ecke ein paar Bierchen zu viel getrunken hatte.
Singh holte tief Luft. Er roch den würzigen warmen Duft von ikan bakar, in Bananenblätter eingewickeltem Fisch, der auf dem Hotelgrill lag. Seine Nasenhaare zitterten anerkennend. Wo er sich auch befand, der Duft gekochten Essens war immer verlockend. Singh grinste – selbst an seinen eigenen Maßstäben gemessen, war es irgendwie herzlos, sich in diesem Moment nach einer Mahlzeit zu sehnen. Sein großer Bauch protestierte sofort gegen diese Schlussfolgerung und knurrte wie in der Ferne grollender Donner. Der Polizist zuckte die Schultern und bestellte sich ein kaltes Bintang-Bier und nasi goreng. Schließlich musste er essen. Er half niemandem, wenn er nicht aß. Nicht dass er überhaupt jemandem half, dachte er voller Reue.
Singh beobachtete die leuchtend weißen Schaumkronen, die an das entfernte Ufer plätscherten. Der Strand war verlassen, ebenso der zum Strand hin gelegene Speisesaal. Die wenigen Touristen, die noch geblieben waren, hatten vermutlich den Zimmerservice bestellt. Niemand wollte sich in einer Menschengruppe aufhalten, nicht einmal beim Essen. Die Bombenanschläge auf Bali hatten gesellige Besucher in scheue Einzelgänger verwandelt, die Fremde voller Argwohn und Angst von der Seite anblickten.
Sein nasi goreng wurde gebracht, eine hübsche Halbkugel gebratener Reis mit einem Spiegelei obendrauf, dessen weiches Eigelb an den Seiten herabfloss wie die Lava eines neu erwachten Vulkans. Eine Hähnchenkeule, sechs Satéspieße, achar genanntes eingelegtes Gemüse und ein paar Gurkenscheiben waren ordentlich am Rand des Tellers arrangiert. Voller Genuss aß er alles bis auf den letzten Bissen auf, einschließlich der in Scheiben geschnittenen grünen chili padi, die in einem Schälchen mit leichter Sojasauce schwammen.
Singh versuchte, nicht daran zu denken, wie das ölige Essen Ablagerungen an seinen Arterien entstehen ließ. Sein Arzt hatte ihm zu verstehen gegeben, welch verheerende Folgen es haben könnte, wenn er seine Ernährung nicht umstellte und nichts für seine Fitness tat. Der Polizist hatte dem Arzt mit halbem Ohr zugehört, genickt, um zu zeigen, dass er den Rat ernst nahm, und darauf hingewiesen, dass seine weißen Turnschuhe, sein Markenzeichen, von seiner Bereitschaft zeugten, Sport zu treiben. Dann war er ins Komala Villas gegangen, sein Lieblingsrestaurant in der Serangoon Road, der Hauptstraße von Singapurs Little India, um sich eine Tasse heißen süßen Tee und eine Portion ladoo, einen mit Zucker gefüllten indischen Snack, munden zu lassen. Über Sport zu sprechen machte hungrig.
Die Erinnerung an ladoo weckte sein Verlangen nach einem Nachtisch. Er winkte einen Kellner herbei, bat um eine Speisekarte und studierte sie sorgfältig. Er seufzte. Das Problem mit diesen noblen Hotels auf Bali war, dass sie ihre Speisekarten völlig auf westliche Touristen ausrichteten. Statt einer echten Auswahl an schmackhaften Gerichten und Desserts gab es typisch europäische Kost wie Spaghetti Bolognese und Fish and Chips. Die asiatischen Gerichte waren eine laue Imitation des Originals – um den Touristen einen Eindruck vom Geschmack des Ostens zu geben, ohne dass sie ständig zur Toilette rennen mussten.
Auf der Speisekarte standen auch keine asiatischen Desserts. Es gab entweder ein Stück Schokoladenkuchen oder eine Crème brûlée.
Singh bestellte sich noch ein Bier.
Im Speisebereich im Freien gab es nicht viel Licht. Er zog die schwimmende Kerze näher. Die weiße Frangipaniblüte, die dekorativ am Rand thronte, fiel in die Flamme, kräuselte sich und wurde schwarz, und ihr schwerer Duft wich dem ranzigen Geruch brennender organischer Materie.
Seine Betrachtungen zur Unbeständigkeit der Natur wurden unsanft unterbrochen.
»Da sind Sie also! Ich habe überall nach Ihnen gesucht. Ich hätte mir denken können, dass Sie im Restaurant sind.«
Eine Frau mit mausgrauem Haar, kakifarbener Hose und Männerhemd kam mit schweren Schritten auf ihn zu.
Inspektor Singh nahm einen Schluck Bier und spürte, wie ihn die Gasblasen in der Kehle kitzelten. Eine Schaumschicht zierte seinen Schnurrbart.
»Jedes Mal wenn ich Sie sehe, umklammern Sie ein Bintang-Bier, als wäre es Ihr Lieblings-Teddybär«, sagte sie.
Singh wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. Seine rosafarbene volle Unterlippe verzog sich leicht zu einem Schmollen, das einzige äußere Anzeichen seines Unbehagens. Diese Frau war so nervig wie eine ganze Horde seiner Sikh-Verwandtschaft – die sich gegenseitig und ihm etwas über seine schlechten Gewohnheiten vorjammerte. Doch Bronwyn Taylor war Mitglied der australischen Bundespolizei, der AFP, die man nach den Bombenanschlägen nach Bali geschickt hatte, um bei den Sicherheitsmaßnahmen und der Terrorismusbekämpfung Unterstützung zu leisten. Inspektor Singh von der Singapurer Polizei war mit der gleichen Aufgabe nach Bali geschickt worden. Wenn er sich mit den Australiern stritt, würde er sich bei seinen Bossen nicht gerade beliebt machen. Er wusste nur allzu gut, dass die Suche nach einem Vorwand, ihn rauszuschmeißen, einen beträchtlichen Teil der Freizeit seiner Vorgesetzten einnahm. Er hatte nicht vor, es ihnen leicht zu machen.
Bronwyn, die zum Public Liaison Team der AFP gehörte, ließ sich ihm gegenüber auf einen Stuhl fallen. »Und wie sehen Ihre Pläne für morgen aus? Wie wollen wir dafür sorgen, dass die Welt sicher für die Demokratie bleibt?«
Singh war inzwischen klar, dass sich hinter der schnodderigen Art der Australierin eine außergewöhnliche Sensibilität verbarg. Er ignorierte ihre Frage und stellte selbst eine: »Geht es mit den Ermittlungen voran?«
Sie nickte. »Ein kleiner Durchbruch. Sie haben Bombenreste an einem liegen gelassenen Motorrad gefunden – es wurde von jemandem benutzt, der an den Anschlägen beteiligt war.«
»Und was tun Sie als Nächstes? Den Besitzer ausfindig machen?«
Sie nickte, wobei ihr widerspenstige Haarsträhnen in die Stirn fielen. Ungeduldig schob sie sie weg.
Singh fiel auf, dass sich Bronwyns Züge in der Mitte ihres fleischigen Gesichts konzentrierten. Ihre kleinen Goldohrringe wirkten an den großen Ohrläppchen richtig verloren.
»Das Motorrad muss gestohlen worden sein«, fuhr sie fort. »Die Bombenattentäter können nicht so dumm gewesen sein, eins hier auf Bali zu kaufen.«
»Unterschätzen Sie nie die Unzulänglichkeit des kriminellen Geistes«, erwiderte Singh, zufrieden, einmal das letzte Wort zu haben.
»Gibt es irgendein Zeichen von ihm?«
Sarah Crouch schüttelte den Kopf. Ihr feines blondes Haar, das normalerweise in der Sonne Balis glänzte, hatte seinen Schimmer verloren. Sie hockte am Rand eines Klappstuhls aus poliertem Teakholz wie ein nervöses Schulmädchen. Ihre blassen Hände zerrissen eine weiße Papierserviette in winzige Stückchen.
Die beiden Paare, die mit ihr am Tisch saßen, starrten sie mit einem unterschiedlichen Maß an Mitgefühl und Besorgnis an.
Eine der Frauen, Karri Yardley, sagte: »Ich kann nicht glauben, dass er einfach so verschwunden ist. Glaubst du … ich meine, könnte da eine andere Frau im Spiel sein? Das ist doch normalerweise der Grund, oder?«
Ihr Mann sah sie zornig an. Karri war sonnengebräunt, ihr Haar in dieser Woche tiefschwarz. Das unechte Tattoo eines Paradiesvogels zierte einen ihrer dünnen braunen Arme. Tim Yardley legte seine Hand auf Sarahs und sagte schroff: »Es gibt keinen Grund, das anzunehmen.«
Karri war in streitsüchtiger Laune. »Sarah hat gesagt, es sei in letzter Zeit nicht so gut gelaufen«, konterte sie, ohne die wütenden Blicke der anderen wahrzunehmen. »Richard war nicht sehr mitteilsam. Er ist oft alleine ausgegangen. Klingt für mich nach einer Affäre.«
»Du musst es ja wissen!«, spottete ihr Mann und strich mit einer Hand sorgfältig das spärliche Haar glatt, während er mit der anderen noch immer Sarahs schlaffe Finger umklammert hielt.
Sarah zog ihre Hand weg. Sie wollte nicht in eine der endlosen Streitereien zwischen dem australischen Paar verwickelt werden. Sie bemerkte Tims Versuch, sie auf sich aufmerksam zu machen, schaute aber weg.
»Bist du sicher, dass er nicht im Sari Club war?«, fragte Julian Greenwood mit leiser, tröstender Stimme.
Karri brach in lautes Lachen aus und hielt sich dann eine Hand mit rot lackierten Krallen vor den Mund. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich weiß, dass die Sache nicht zum Lachen ist – aber Richard in einem Nachtclub …«
Julian starrte sie hasserfüllt an. »Er war vielleicht in der Gegend …«, sagte er. »Kam gerade dort vorbei oder so was!«
Sarah schwieg weiterhin. Die anderen wandten sich ihr zu, mit Ausnahme von Emily, Julians Frau. Sie war in ihr Glas Wein vertieft, nippte nervös daran und starrte in die rubinrote Flüssigkeit, als würde es sich um einen magischen Spiegel handeln.
»Ich habe mich natürlich im Leichenschauhaus umgesehen.« Sarah schüttelte sich. »Es war schrecklich. Überall Leichen. Der Gestank. Ich konnte ihn nicht finden. Ich hab ihnen gesagt, dass Richard vermisst wird … hab ihnen ein Foto gegeben. Sie haben nach seinen Zahnbefunden aus Großbritannien gefragt. Seitdem habe ich nichts mehr gehört.«
Julian verfiel von der artikulierten Sprechweise, die er normalerweise annahm, wieder in das heimische Cockney. »Sie haben die meisten Leichen zur Beerdigung freigegeben … vielleicht brauchst du dir um dieses Szenario keine Sorgen mehr zu machen.«
Emily Greenwood schaute von ihrem Glas auf. Sie strahlte, und ihre grauen Augen wurden leicht glasig, als sie sich zu konzentrieren versuchte. »Ich bin heute Morgen auf dem Weg hierher an einem Leichenzug vorbeigekommen. Es war wirklich reizend. Viel Obst und viele Blumen, und alle waren so schön angezogen.«
»Du bist betrunken!«, sagte Julian grob.
Emily kicherte: »Vielleicht ein bisschen beschwipst, Schatz.«
Tim stand hastig auf, und der Tisch wackelte, als er mit dem Bauch dagegenstieß. »Verdammt noch mal, Emily«, sagte er schnell. »Denkst du nicht, du könntest Sarah ein bisschen Respekt erweisen und einmal nüchtern bleiben? Schließlich hat sie ihren Mann verloren.«
»Die Glückliche«, flüsterte Emily, zwinkerte ihrem Mann zu und beugte sich so zu ihm vor, dass ihr üppiger Busen auf seinem Arm ruhte.
Sarah fiel trotz ihrer Geistesabwesenheit auf, dass Julian die Zähne zusammenbiss und die Knöchel seiner Hand, die das Bierglas umfasste, ganz weiß waren. Wenn er nicht achtgab, würde das Glas noch zerspringen. Aber er zog seinen Arm nicht weg. Er hätte ihr leidgetan, wäre er mit seinem herabhängenden Schnurrbart, der knochigen Nase und dem fast lippenlosen Mund nicht eine so erbärmliche Kreatur gewesen.
Karri schaltete sich ein. Sie sah Sarah durchdringend an. »Was wirst du jetzt tun?«, fragte sie.
Sarah schloss die Augen, von deren Winkeln sich fächerförmig Müdigkeitsfalten ausbreiteten. »Weitersuchen, denke ich«, erwiderte sie. »Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll …«
Seine Frau war größer als er. Mit elastischen, männlichen Schritten entfernte sie sich vom Hotel. Tim Yardley musste sich anstrengen, um mitzukommen. Er keuchte vor Anstrengung, und seine Oberschenkel, die in weiten Leinenshorts steckten, rieben gegeneinander. Er wischte sich mit dem Ärmel die Stirn ab und starrte voller Zorn seine Frau an. Er war wütend auf sie, bestürzt über ihre gleichgültige Grausamkeit, obwohl er sie schon seit so vielen Jahren zu spüren bekam.
»Wie konntest du in einem solchen Moment nur lachen?«, fragte er ungehalten.
Karri blieb vor einem Schaufenster stehen, um ihr Spiegelbild zu prüfen und ihr Haar zu ordnen. Mit ihren langen dünnen Fingern wirbelte sie die schwarzen Locken herum, als mische sie Salat. »Das war doch wirklich zum Schießen – die Vorstellung, dass Richard Crouch die Nacht tanzend im Sari Club verbringt.«
»Darum geht es nicht, und das weißt du. Ich mache mir Sorgen um Sarah – und das solltest du auch. Sie ist unsere Freundin.«
Seine Frau zupfte sorgfältig ein paar Haarsträhnen über der Stirn zurecht und starrte das Spiegelbild ihres Mannes an. »Du machst dir genug Sorgen für uns beide, meinst du nicht? Es ist mir völlig egal, wenn Richard vielleicht irgendwo tot in einem Graben liegt. Ich konnte diesen selbstgerechten Kerl sowieso nicht ausstehen.« Karri drehte sich um und sah ihren beleibten Ehemann an. »Zumindest hat er sich in Form gehalten.«
Tim zog die Hemdenden zusammen und steckte sie in die Shorts, wobei er versuchte, jene Teile seines Bauchs zu verdecken, die durch die Lücken hervorlugten. Die Sommersprossen auf seinen Armen sahen aus wie feine Schlammspritzer.
»Du brauchst nicht so unfreundlich zu sein«, sagte er. Schweiß rann ihm an der Nase herab, verweilte auf deren Spitze wie eine Träne und tropfte dann zu Boden. »Ich kann nichts dafür, dass ich ein bisschen Übergewicht habe.«
»Du musst einfach weniger essen und trinken.«
Tim wandte sich ab, um wegzugehen, mit hochgezogenen Schultern als Schutz gegen weitere Beschimpfungen.
»Was hast du vor?«, bellte Karri. »Zurücklaufen und wieder Sarahs Hand halten?«
Tim drehte sich langsam um. Er wusste nicht, warum er sich mit seiner Frau stritt. Seit der Heirat mit Karri vor fünfzehn Jahren hatte er bei jeder verbalen Auseinandersetzung den Kürzeren gezogen. Schon sehr früh in ihrer Ehe hatte er festgestellt, dass seine Frau sich, auch wenn er recht hatte, nicht davon abhalten ließ, ihn mit ihrer scharfen Zunge zutiefst zu verletzen – und dass er sich anschließend jedes Mal so lädiert und übel zugerichtet fühlte, als sei er in einer Gasse von Schlägertypen überfallen worden.
Wie ein Mann, der in einem dunklen Raum nach dem Lichtschalter tastet, suchte er nach etwas Würde und sagte leise: »Ich weiß nicht, warum du es auf Sarah abgesehen hast – sie ist eine gute, nette Frau, die unsere Hilfe braucht – und unser Mitgefühl. Ich versuche einfach nur, sie zu unterstützen, das ist alles!«
»Ich finde es wirklich erbärmlich, dass du diesem vertrockneten Weib hinterherläufst.«
»Tu ich nicht!« Er wurde knallrot.
»Es bereitet mir keine schlaflosen Nächte«, sagte seine Frau abfällig. »Sie würde dich nicht mal mit der Zange anfassen.«
Tim holte tief Luft, zog den Bauch so weit wie möglich ein und streckte die Brust heraus. »Da wäre ich mir nicht so sicher«, entgegnete er.
Karri lachte.
Nuri machte sich nach Denpasar auf.
Untätig in dem kleinen Apartment herumzusitzen, in dem sie seit einem Monat wohnte, war unerträglich. Sie war unruhig und nervös gewesen, hatte an einem losen Faden ihrer Bluse gezogen und die schmutzigen Vorhänge beiseitegeschoben, um durch die gesprungenen Fensterscheiben hinauszuschauen.
Nuri hatte ihren Brüdern Abu Bakr und Ramzi gesagt, sie wolle Einkäufe fürs Abendessen erledigen und sie sollten Ghani, wenn er nach Hause kam, bitte sagen, wo sie sei. Ihr Mann war unterwegs, denn er suchte noch immer nach einem geeigneten Standort für die Religionsschule, die sie auf Bali gründen wollten. Nuri wunderte sich, dass er fest entschlossen war, den Plan weiterzuverfolgen, wo doch eine Religionsschule, die sich auf strenge islamische Lehren konzentrierte, jetzt nach den Bombenanschlägen auf Bali sicher zum Scheitern verurteilt war. Vorsichtig hatte sie Ghani gegenüber ihre Zweifel geäußert. Er hatte sie angelächelt und erklärt, dass Allah lediglich ihre Entschlossenheit teste und dass er nicht beim kleinsten Hindernis, das man ihm in den Weg lege, aufgeben werde. Nuri hatte den Blick gesenkt und zustimmend genickt. Es war so leicht, die gehorsame Ehefrau zu spielen – wieder in die Gewohnheit zu verfallen, sich ihrem Mann zu unterwerfen –, eine Rolle, die sie seit ihrer Hochzeit vor einem Jahr mit dem grauhaarigen alten Mann widerspruchslos erfüllt hatte.
Nuri hatte Sulawesi, die große, dünn besiedelte Insel, die zum indonesischen Archipel gehörte und geformt war wie ein kopfloser Mann, vor dieser Reise nach Bali noch nie verlassen. Sie hatte mit ihrem Mann und ihren Brüdern die überfüllte, heruntergekommene Fähre nach Java genommen. Nach einem kurzen Besuch des pesanteren in Solo, des Internats, das Ghani als Junge besucht hatte, wo er sich mit den geistigen Führern beraten hatte, waren sie weiter nach Bali gereist.
Die Insel hatte dem jungen Mädchen, das auf dem Dorf aufgewachsen war, die Augen geöffnet. Noch nie hatte sie so viel Alkohol und Drogen und so viele Kontakte zwischen Männern und Frauen gesehen. Es hatte sie mit Ekel erfüllt und verlegen gemacht. Sie hatte weggeschaut, wenn Paare sich öffentlich ihre Zuneigung zeigten, und war an Nachtclubs und Massagesalons mit auf den Boden gerichteten Augen vorbeigeeilt. Und sie hatte ihren jüngeren Bruder Ramzi getadelt, als er den Blick nicht von den spärlich bekleideten Touristinnen hatte losreißen können.
Nuri sah mit ihrer klaren Haut und den weit auseinanderstehenden mandelförmigen Augen, die ihr einen fragenden, naiven Ausdruck verliehen, wunderschön aus. Sie hatte glänzendes schwarzes Haar, das sie jedoch hochgesteckt und unter einem Tuch verborgen trug. Für die Dauer ihres Aufenthalts auf Bali verzichtete sie auf den Hijab, das schwarze Gewand, das den gesamten Körper, vom Kopf bis zu den Zehen, bedeckte und auch einen Schleier für das Gesicht mit einschloss. Ghani hatte behauptet, ein Hijab würde zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen; nach den Bombenanschlägen sei Bali kein guter Ort für Muslime.
Nuri war einverstanden gewesen, solange sie ein Kopftuch tragen durfte. Doch selbst mit dem Stück Stoff, das sie sich ums Haar gebunden hatte, fühlte sie sich schändlich entblößt – so als sei sie eine der Frauen aus dem Westen, die sie im Bikini am Strand hatte liegen sehen und deren sonnengebräunte Körper den Blicken jedes vorbeikommenden Fremden preisgegeben waren. Bei der Erinnerung daran schüttelte Nuri den Kopf, und eine Locke stahl sich unter dem Kopftuch hervor und fiel ihr in die Stirn. Sorgfältig steckte sie sie wieder zurück. Seit der Pubertät hatte sie den Hijab getragen. Zu Hause auf Sulawesi beharrte ihr Vater darauf, dass Frauen in der Gesellschaft eine den Männern untergeordnete Rolle spielten. Nuri hatte seine strenge Auffassung als die natürliche Ordnung der Dinge akzeptiert. Als einziges Mädchen in einer Familie von insgesamt dreizehn Kindern der vier Frauen ihres Vaters wusste sie, wie ungehobelt und schwierig Jungen waren. Nuri fühlte sich wohler, wenn sie sich den Männern nicht als Objekt der Anziehung anbot. Das lag nicht allein an der Erziehung durch ihren Vater; es war auch ihre eigene Entscheidung.
Schlendernden Schrittes erreichte sie eine kleine Holzhütte mit einem Wellblechdach, wo Lebensmittel an indonesische Arbeiter verkauft wurden. Nuri kaufte ein Glas Chilipaste. Es würde ihren Mann und ihre Brüder davon überzeugen, dass sie tatsächlich unterwegs gewesen war, um für das Abendessen einzukaufen.
Die Unterhaltung der anderen Kunden drehte sich ausschließlich um die Bombenanschläge und die Ermittlungen, doch Nuri schenkte ihr nicht viel Aufmerksamkeit. Sie war sich nicht sicher, was sie von den Explosionen halten sollte. Ghani hatte ihr erzählt, die Bewohner Balis hätten ihre Insel in ein Bordell verwandelt. Aber sie wusste auch, ja hatte auf Bali selbst die bittere Erfahrung gemacht, dass – egal wie streng die religiöse Erziehung gewesen war und wie gut man den Unterschied zwischen Richtig und Falsch kannte – ein widerspenstiges Herz schwer zu kontrollieren war.
2
Inspektor Singh hatte eine lange und heftige Auseinandersetzung mit seinen Vorgesetzten gehabt, als sie ihm mitteilten, dass ihr neuester Versuch, ihn loszuwerden, darin bestand, ihn nach Bali zu schicken, wo er als Berater in Sachen Terrorismusbekämpfung tätig werden sollte.
»Aber ich habe keine Erfahrung auf diesem Gebiet«, hatte er protestiert und die Arme über seinem dicken Bauch verschränkt, zur Demonstration, dass er entschlossen war, sich auf keinen Fall nach Bali schicken zu lassen.
»Unsinn! Ein Terroranschlag ist einfach Mord im großen Stil. Und Mord ist Ihre Spezialität.«
Der ältere Polizist sprach in einem Ton, als habe er ein schmutziges kleines Geheimnis aufgedeckt, das der Inspektor zu bewahren versuchte. Das überraschte Singh nicht. Bei der Singapurer Polizei war anständige Polizeiarbeit gleichbedeutend mit der Aushebung von Drogensyndikaten. Lob und Beförderungen gab es dafür, Wirtschaftskriminelle in schicken Anzügen festzunehmen. Ein Mord war etwas Unfeines, Unglamouröses. Bei einem Mord ging es um wirkliche Menschen, die von Gier, Liebe oder Rache dazu getrieben wurden, einem anderen das Leben zu nehmen. Die brutale Realität einer Leiche in einem Leichenschauhaus war für diese Polizisten, die zwar Computerkenntnisse, aber keinerlei Ahnung von der menschlichen Natur hatten, einfach zu viel.
Inspektor Singh war ein typischer Vertreter der alten Schule – er arbeitete hart, trank viel und rauchte Kette. Seine Fähigkeit, sich einen Weg durch das Dickicht von Lügen und Betrug zu bahnen, das einen Mord umgab, und den Mörder zu entlarven, wurde, wie er fand, von den höheren Rängen mit derselben Mischung aus Bewunderung und Verachtung betrachtet wie ein dressierter Hund. Es war ein Kunststück, meinten seine Vorgesetzten, aber warum sollte man sich damit abgeben?
»Aber wieso ich?«, fragte er erneut, dieses Mal in leicht klagendem Tonfall.
Sein Chef sah sich zu einem Moment der Ehrlichkeit veranlasst. »Wir brauchen unsere Terrorismusexperten hier, um Singapur zu schützen. Aber wir müssen den Eindruck erwecken, dass wir einem wichtigen Nachbarn wie Indonesien gerne behilflich sind. Sie haben den Ruf, den Gesuchten immer zu schnappen. Die werden denken, dass wir unseren Besten nach Bali geschickt haben.«
Das balinesische Hotelpersonal lenkte Inspektor Singh von seinen deprimierenden Erinnerungen ab. Der Portier, schick gekleidet in seiner cremefarbenen Uniform, fragte höflich: »Limousine, Sir?« Sein Ton verriet, dass seine Frage eher auf Hoffnung als auf Erwartung basierte. Zu Singhs Bestürzung hatte Bronwyn Taylor sich schon gleich zu Anfang ihrer Bekanntschaft geweigert, einen Hotelwagen zu benutzen. Es sei absolut nicht nötig, Hotelpreise zu bezahlen, so Bronwyn, wo es doch so viele alternative Transportmöglichkeiten gab. Singh war der Ansicht, dass es keine gute Art sei, den Tag zu beginnen, wenn er seinen voluminösen Körper einem unbekannten jungen Mann mit verspiegelter Sonnenbrille anvertraute, der ein Fahrzeug fuhr, dessen Geschichte ein gut gehütetes Geheimnis blieb. Er hatte versucht, darauf zu beharren, dass eine derartige Sparsamkeit nicht nötig sei, wenn die Regierung von Singapur für die Kosten aufkam.
Bronwyn war hartnäckig geblieben. »Es spielt keine Rolle, wessen Geld es ist; wir sollten es nicht verschwenden. Außerdem«, fuhr sie fort, »wie können wir irgendetwas über Bali herausfinden, wenn wir uns auf die Transportmittel des Hotels beschränken? Wir müssen mit normalen Bewohnern Balis sprechen. Herausfinden, was sie denken.«
»Sie fragen sich, wie es dazu kommen konnte, dass aus einem Spielplatz der Reichen eine verlassene Insel geworden ist. Ich brauche nicht in einer Todesfalle herumzufahren, um das herauszufinden.«
Singh sah jetzt, dass die Australierin durch die Empfangshalle eilte und das Hotelpersonal einzeln mit Namen begrüßte. Niedergeschlagen schüttelte er den Kopf. Wenn er eine Limousine anforderte, würde sie die Sache einfach wieder rückgängig machen. Er könnte natürlich darauf bestehen – aber er hatte den Verdacht, dass sie auf dem Thema herumreiten würde, bis er den Impuls, ein Machtwort zu sprechen, bedauerte. Seine Frau setzte ihren Willen mit genau derselben Taktik durch – vielleicht hatten Frauen ein spezielles Nörgel-Gen, das pausenlose Wiederholungen zuließ.
Gegenüber dem Hotel hockten Dutzende ungepflegt wirkender junger Männer im lichten Schatten der dedap-Bäume auf dem Randstein, zu ihren Füßen einen Teppich samtiger roter Blüten. Jeder von ihnen hatte einen Kijang, einen Kleintransporter, um Touristen für ein paar Dollar auf Bali herumzuchauffieren. Misstrauisch betrachtete Singh die wartenden Fahrer und winkte einen herbei, der nicht ganz so finster aussah wie die anderen. Sofort strahlte der Fahrer über das ganze Gesicht. Er drückte seine kretek aus, die allgegenwärtige indonesische Nelkenzigarette, und eilte zum Hotel herüber.
»Sie brauchen Fahrer?«, fragte er.
Singh nickte.
»Woher Sie kommen?«
Der Inspektor aus Singapur war die unersättliche Neugier der Balinesen leid.
Bronwyn, die wegen der Hitze leicht keuchte, antwortete für beide. »Er ist aus Singapur, ich bin Australierin.«
»Gut, gut – sehr glücklich, Sie kommen nach Bali.« Da er keine Reaktion erhielt, fuhr er fort. »Wohin, Boss?«
Singh sah die Australierin fragend an.
»Polizeihauptquartier von Bali, Denpasar!«, sagte sie forsch.
»Okay, Ibu.«
Er ließ den Motor aufheulen und setzte auf die Straße zurück, wobei er beinahe mit einem kleinen Motorrad zusammenstieß, auf dem eine ganze balinesische Familie hockte. Er winkte zur Entschuldigung, und sie antworteten mit einem Hupen.
Singh schüttelte seinen großen Kopf. Ihm war nie klar gewesen, wie singapurisch er in seinen Gewohnheiten war, gewöhnt an die breiten Straßen, den ordentlichen Verkehr und die fast völlige Abwesenheit dieser schrecklichen kleinen Motorräder, die das Haupttransportmittel balinesischer Familien darstellten.
Der Kijang raste eine stark befahrene Straße entlang, wobei der Fahrer immer wieder hupte. Ein ganz leichtes entschuldigendes Hupen warnte Motorräder, dass sie Platz machen sollten. Das etwas gereiztere Hupen war anderen Kijang-Fahrern vorbehalten, die ihm den Weg abschnitten und deren klappernder Auspuff Wolken grauweißen Rauchs ausstieß. Ein lautes Hupen erschreckte einen räudigen Hund, der gerade die Straße überquerte.
Der Wagen blieb abrupt stehen. Singh reckte den Hals, um zu sehen, was ihnen den Weg versperrte.
»Sorry, Boss«, sagte der Fahrer. »Müssen jetzt warten. Da vorne ist Beerdigung.«
Singh öffnete die Tür und stieg aus, um den sich langsam voranbewegenden Trauerzug zu beobachten; Frauen, die Körbe mit Obst und anderen Gaben auf ihren Köpfen balancierten, Männer, die große weiße, mit Quasten und Troddeln verzierte Schirme mit sich herumschleppten, alle festlich gekleidet. Er fragte sich, ob dies die Beerdigung eines der Opfer der Bombenanschläge war. Den Inspektor überkam eine plötzliche Traurigkeit. Ein brutaler Angriff hatte Menschenleben gefordert und Existenzen zerstört. Obwohl die Medien vor allem über die getöteten ausländischen Touristen berichtet hatten, waren auch viele Balinesen umgebracht worden.
Mit Mühe stieg Singh wieder in das Fahrzeug.
Bronwyn steckte sich eine Haarsträhne hinters Ohr, so als handele es sich um einen fliehenden fehlgeleiteten Gedanken. »Glauben Sie, dass jemals wieder Touristen nach Bali kommen werden?«, fragte sie mit ernster Stimme.
Singh starrte aus dem getönten Fenster des Kijang.
»Nein«, sagte er. »Ich glaube, diese Insel ist am Ende.«
Nuri spazierte durch die Jalan Legian, bis sie zu der Polizeiabsperrung kam. Sie hatte nicht vorgehabt, diesen Weg zu nehmen, doch irgendwie hatte es sie, wenn auch widerstrebend, zum Sari Club, dem Epizentrum der Anschläge, hingezogen. Obwohl sie sich einfach nicht vorstellen konnte, dass ein frommer Muslim wie Abdullah während der Bombenanschläge in diesem Nachtclub gewesen war, blieb doch die Tatsache bestehen, dass ihre verzweifelten Streifzüge durch Bali zu nichts geführt hatten – er war und blieb verschwunden.
Nuri erstarrte vor Schreck, als sie das Ausmaß der Zerstörung sah. Gebäude waren auf schwarze Mauern reduziert, vor denen überall verstreut ausgebrannte Wagen standen. In regelmäßigen Abständen waren ernst dreinblickende Polizisten postiert. Das Blutbad konnten sie nicht mehr verhindern – ihre Aufgabe beschränkte sich darauf, die Neugierigen und Verzweifelten davon abzuhalten, am Schauplatz des Verbrechens Spuren zu verwischen.
Nuri bemerkte eine Frau mittleren Alters, die leise schluchzte. Sie war Indonesierin und vermutlich auf Bali zu Hause. Nuri schlurfte ein Stückchen weiter, um ihr etwas Privatsphäre zu gönnen. Da schaute die Frau hoch und fragte, vielleicht weil sie das Taktgefühl der jüngeren Frau zu schätzen wusste: »Suchen Sie auch nach Ihrer Familie?«
Nuri war fest entschlossen, die Möglichkeit, dass Abdullah ein Opfer der Bombenanschläge geworden sein könnte, nicht auszusprechen. Sie war abergläubisch und befürchtete, ihre Worte könnten die Macht haben, ihre tiefsten Ängste Wirklichkeit werden zu lassen. »Nein, ich bin nur gekommen, um mir die Sache anzusehen«, sagte sie schroff. Und weil es ihr dann peinlich war, wie ein Voyeur zu klingen, starrte sie auf ihre Füße, die schamhaft in schwarzen Socken steckten, um sie vor neugierigen Männerblicken zu schützen.
Die Verzweiflung machte die ältere Frau geschwätzig, und so fuhr sie fort: »Mein Bruder – wir können ihn nicht finden. Wir sind in den Krankenhäusern gewesen und im Leichenschauhaus im Sanglah …«
Nuri bemerkte ihren Akzent. »Sie sind von Java?«
Die Frau nickte und lächelte durch ihre Tränen. »Ja, wir sind zum Arbeiten hergekommen. Unsere Familie in Jakarta ist arm. Mein Bruder war Tellerwäscher im Sari Club. Ich gebe Massagen in einem der Hotels.« Bei dem Versuch weiterzusprechen versagte ihr die Stimme. »Aber sehen Sie, was jetzt passiert ist … wir können ihn nicht finden.«
Sie starrte auf die Straße, doch Nuri konnte sehen, dass sie blind vor Tränen war.
»Ich hoffe, Sie finden Ihren Bruder«, sagte sie verlegen.
»Ich weiß, dass er tot ist. Ich spüre es in meinem Herzen.« Verbittert fuhr sie fort: »Sie sagen, es seien Muslime gewesen. Terroristen! Ich kann das nicht glauben. Warum sollten sie Unschuldige töten, Glaubensbrüder, junge Menschen, die ihnen keinerlei Schaden zugefügt haben?«
Nuri empfand eine Welle des Mitgefühls für die Fremde. Wie diese Frau war auch sie auf der Suche nach einem geliebten Menschen. Doch diese Frau sah sich der Realität gegenüber, dass ihr Bruder ein Opfer der Bombenanschläge war. Sie, Nuri, hatte noch den Trost der Unwissenheit. Nichts konnte sie daran hindern zu glauben, dass Abdullah irgendwo auf Bali war und auf den richtigen Moment wartete, zu ihr zurückzukehren und die Versprechen zu erfüllen, die er gemacht hatte, als er ihre Hände fest in seine genommen und sich eilig verabschiedet hatte.
Nuri legte der Frau ihren Arm um die Schultern. Sie starrte auf die Verwüstung, die die Bombenanschläge in dieser schmalen Straße angerichtet hatten. Noch Hunderte Meter vom Explosionsort entfernt waren Fensterscheiben herausgeflogen. Der Geruch von Ruß und Rauch war so durchdringend, dass ihr die Augen tränten.
Die weinende Frau folgte Nuris Blick. Flehend faltete sie die Hände und sagte: »Ich kann einfach nicht glauben, dass jemand so etwas im Namen Allahs tut.«
Singh sah einen der Polizisten fragend an: »Was ist los?«
Der balinesische Polizist schüttelte den Kopf. Sein braunes, faltenloses Gesicht wirkte kindlich in seiner Verzweiflung. »Wir befinden uns in einer Sackgasse«, sagte er. »Wir haben alles zwanzigmal, dreißigmal untersucht. Wir haben die Australier hier, die CIA – alle versuchen, uns zu helfen. Einschließlich Ihnen«, fügte er höflich hinzu.
Singh nickte bestätigend und wünschte sich zum tausendsten Mal, er hätte tatsächlich Fähigkeiten, die für diese Ermittlungen von Nutzen wären.
»Was ist mit dem Motorrad?«, fragte er.
»Wir sind der Sache nachgegangen – seltsamerweise haben sie es neu in einem Laden auf Bali gekauft. Der Händler erinnert sich gut an sie – es waren drei –, weil sie nicht über den Preis verhandelt haben.« Er rang sich ein schwaches Lächeln ab. »Das ist sehr ungewöhnlich auf Bali.«
»Kann er sie identifizieren?«
»Ja, aber dazu müssen wir sie zuerst schnappen! Die Australier fliegen ein paar Phantombild-Experten ein.«
Singh war skeptisch. Er hatte noch nie viel Vertrauen in diese Skizzen von Verdächtigen gesetzt. In der Erinnerung der Zeugen schien es immer um ungekämmte Männer mit wilden Augen zu gehen. Seiner Erfahrung nach wurde das Phantom umso bösartiger dargestellt, je ernster das Verbrechen war. Ein Motorradhändler, der die Bombenattentäter von Bali beschreiben sollte? Es würde ihn wundern, wenn der ihnen nicht Hörner und einen Schwanz andichtete.
Singh kratzte sich mit einem seiner Wurstfinger die Stirn unter dem Turban. »Was ist mit dem Lieferwagen – der Fahrzeugbombe?«
»Wir haben jeden Millimeter von dem, was von diesem Fahrzeug noch übrig war, untersucht. Alle Seriennummern sind abgefeilt oder geändert worden – sie entsprechen keiner der registrierten Nummern.« Der Balinese winkte Singh. »Kommen Sie mit, ich werde es Ihnen zeigen.«
Er ging voraus zu einem anderen Gebäude, zeigte einem Wachtposten seinen Ausweis und geleitete den Polizisten aus Singapur nach drinnen. Eine Welle kühler Luft aus der aggressiven Klimaanlage verwandelte die Schweißtropfen auf Singhs Stirn in eine wohltuende kalte Kompresse.
»Sehen Sie!«, sagte der balinesische Polizist.
Singh sah es. Auf Tischen, die man aufgebockt hatte, lagen in ordentlichen Reihen Haufen verbogenen schwarzen Metalls. Jedes Teil war mit einem Aufkleber versehen. Polizisten und Spurensicherungsexperten untersuchten Bruchstücke unter Mikroskopen.
»Hier haben wir jedes Stück des Lieferwagens, das wir finden konnten«, sagte der balinesische Polizist »Aber nicht eine einzige Spur. General Pastika ist so frustriert, dass er zu den Tempeln gegangen ist, um für einen Durchbruch zu beten. Es ist unsere letzte Hoffnung!«
Singh zog konsterniert seine buschigen Augenbrauen hoch, schaffte es aber, den Mund zu halten und sich nicht über Polizisten auszulassen, die die rationale Suche nach Beweisen aufgaben, um in Tempeln herumzuhängen und um göttliche Führung zu beten. Schließlich lief sein eigener Beitrag zu den Ermittlungen bisher lediglich darauf hinaus, dass er balinesische Polizisten davon abhielt, ihren Pflichten nachzugehen. Es wäre nicht viel weniger dabei herausgekommen, wenn auch er seine Zeit damit verbracht hätte, einer balinesischen Gottheit Wünsche zuzurufen.
Dann bemerkte der Inspektor einen Mann, der niedergeschlagen einen Berg verbogener Chassisteile anstarrte. Während Singh ihn beobachtete, änderte sich der Gesichtsausdruck des Mannes: Aus Frustration wurde plötzlich Interesse. »Es ist geschweißt worden!«, sagte er. Er trug das Stück Metall zu einem Arbeitstisch und trennte die Teile mit einem Hammer und einem Metallmeißel.
Singh beugte sich neugierig vor, beeindruckt von der Geschicklichkeit und Sorgfalt des Mannes.
Das nun entfernte geschweißte Stück hatte das darunterliegende Metall vor der Explosion geschützt. Darin eingeätzt stand eine Fabrikationsnummer. Mit bewegter Stimme sagte der Ermittler: »Wir haben etwas. Gott sei Dank, wir haben etwas! General Pastikas Gebete sind erhört worden!«
Sarah Crouch steckte die kleine Summe Geld, die sie am Automaten abgehoben hatte, in ihre Handtasche und ging schnell auf ein wartendes Minicab-Taxi zu. Als sie sich auf den Rücksitz zwängte, erhaschte sie im Rückspiegel einen Blick aus rot geränderten Augen. Der Fahrer sah sie neugierig an. Ihr abgespanntes, blasses Gesicht bremste seinen natürlichen Impuls, eine Unterhaltung zu beginnen. In barschem Ton, der nicht zu einem Kommentar einlud, sagte sie ihm, wo sie hinwollte, und lehnte sich zurück in die schmutzigen Polster. Sarah schloss die Augen. In letzter Zeit litt sie an Schlaflosigkeit. Nacht für Nacht lag sie im Bett auf der zu weichen Matratze, starrte stundenlang an die Decke und lauschte den seltsamen Klickgeräuschen der kleinen braunen Geckos, die an den Wänden ihres Zimmers Fliegen und Moskitos hinterherjagten.
Sie wünschte, Richard hätte in die Scheidung eingewilligt. Sie war sich sicher, dass er sich gefreut hätte, diese Ehe hinter sich zu lassen, die nichts weiter als eine Illusion war, um andernorts ein beständigeres Glück zu finden. Auch sie hatte sich danach gesehnt, frei von den Banden zu sein, die sie eilig geknüpft und dann schnell bedauert hatten. Sie zog eine Grimasse. Es war Richard mit seinem übermäßigen Verantwortungsgefühl, der gezögert hatte, die Beziehung aufzugeben, ohne einen letzten Versuch zu unternehmen, sie zu retten. Er war derjenige gewesen, der diesen Aufenthalt auf Bali vorgeschlagen hatte, um zu versuchen, die Risse zu kitten oder zumindest mit Urlaubsschnappschüssen zu übertünchen.
Sie seufzte. Der Versuch war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Eine Ehe konnte nur gerettet werden, wenn noch Zuneigung da war. Sie verachtete ihren Mann schon seit Langem und sehnte sich nach einer erfüllenderen Beziehung. Er hatte irgendwann die meiste Zeit mit den Freunden verbracht, die er auf der Insel gefunden hatte, und sie hatte sich einer Clique von hier lebenden Ausländern angeschlossen, zu der auch die Yardleys und die Greenwoods gehörten. Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen sie Richard zu einem Abendessen mit ihnen geschleift hatte, hatte er die ganze Zeit über missbilligend geschwiegen. Dabei stand ihm die Verachtung für ihre Freunde deutlich in das schmale Gesicht geschrieben. Er hatte nie Interesse daran gezeigt, sie seinen Freunden vorzustellen. Sarah blickte finster vor sich hin, was sie älter wirken ließ. So kam ihre Unzufriedenheit zum Vorschein, die normalerweise von ihren regelmäßigen Zügen und dem leichten Make-up, mit dem sie die feinen Fältchen glättete, verdeckt wurde.
»Wir sind da, Ibu«, sagte der Fahrer.
Sorgfältig zählte Sarah den genauen Fahrpreis ab. Sie würde diesem Mann kein Trinkgeld geben. Er hatte seine Arbeit getan – mehr nicht. Es bestand kein Anlass, verschwenderisch mit ihrem schwindenden Vorrat an Rupien umzugehen. Das Geld wurde immer knapper. Sie musste irgendeine Lösung für ihre unmittelbaren Probleme finden. Sie überlegte, ob sie es wagen konnte, sich an Tim Yardley zu wenden. Wie würde er reagieren? Sarah ballte ihre schmalen Hände zu wütenden Fäusten. Sie hatte keine Ahnung, was sie als Nächstes tun sollte.
Bronwyn erschien an der Tür und gab Singh ein Zeichen. Als er sich näherte, wobei seine weißen Turnschuhe seine Schritte dämpften, sagte sie: »Ich habe gerade einen Anruf vom Leichenschauhaus des Sanglah-Krankenhauses in Denpasar erhalten. Sie wollen, dass wir dorthin kommen.«
»Wer will das?«, fragte Singh verwirrt.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht genau. Die AFP? Die Polizei auf Bali?«
Singh seufzte. »Na schön, ich hab sowieso nichts Besseres zu tun.«
Draußen wartete ein Wagen mit einem Fahrer der Polizei auf sie. Als der Sikh-Inspektor auf ihn zukam, salutierte er schnell. Zum zweiten Mal an diesem Morgen schnellten Singhs Augenbrauen in die Höhe. Er ließ sich neben Bronwyn auf dem Rücksitz nieder und dachte über die plötzliche Aufwertung seines Status nach: Hatte er vorher nur eine politische Alibifunktion gehabt, so war er jetzt zur wichtigen Persönlichkeit avanciert. Ein dringender Termin. Ein Wagen samt Fahrer. Irgendetwas war los, und er hatte keine Ahnung, was es sein konnte.
Auf Bronwyns breiter Stirn stand die Verwirrung geschrieben. Sie sprach seine Gedanken aus. »Was geht hier vor?«
»Habe keinen blassen Schimmer!«, erwiderte er.
Der Inspektor aus Singapur lehnte sich zurück und starrte aus dem Fenster. Der Himmel war wolkenlos und von einem durchdringenden Blau. Es war ein heißer Tag, und daran änderte auch das Schnaufen und Keuchen der lauten Klimaanlage nichts. Singh wischte sich mit einem großen weißen Taschentuch die Stirn ab. Er fuhr mit dem Zeigefinger unter den Rand seines Turbans, um etwas kühle Luft an seine Kopfhaut heranzulassen. Bei heißem Wetter juckte sie. Er wünschte sich, jemand würde eine leichte Version des fast sechs Meter langen Baumwolltuchs erfinden, das er sich am Morgen um den großen Kopf gewickelt hatte. Er könnte natürlich einfach auf den Turban verzichten. Viele seiner Sikh-Brüder hatten sich schon lange dem heißen Wetter und der modernen Kleiderordnung gebeugt und trugen die traditionelle Kopfbedeckung nicht mehr. Er selbst verzichtete auf den Eisenarmreif – davon bekam er Ausschlag am Handgelenk –, ein weiteres Symbol des Sikhismus. Aber Singh wusste, dass er sich ohne seinen Turban allen Blicken ausgesetzt und schutzlos fühlen würde. Er trug ihn schon zu viele Jahre. Der Turban war sein Sicherheitsnetz.
Er warf einen kurzen Blick auf Bronwyn. Ihr Gesicht war von der Hitze gerötet. Haarlocken klebten an ihrer Stirn. Jede einzelne Pore auf ihrer kleinen Nase war so deutlich zu sehen wie die Krater auf dem Mond. Die Feuchtigkeit über ihrer Oberlippe nahm sich aus wie ein durchsichtiger Schnurrbart. Das Klima auf Bali bekam blasshäutigen Australiern offensichtlich nicht besonders gut. Doch wenigstens trug Bronwyn keinen Turban. Sie bemerkte, dass er sie anschaute, und lächelte – das Grübchen, das sich in eine ihrer Wangen eingegraben hatte, ließ ihr Lächeln ansteckend wirken. Singh musste sich anstrengen, es nicht zu erwidern. Er wollte nicht, dass sich womöglich eine Art Freundschaft zwischen ihnen entwickelte. Es war jetzt schon schwierig genug, diese entsetzlich kameradschaftliche Frau auf Distanz zu halten.
Es dauerte nicht lange, bis sie das Leichenschauhaus des Sanglah-Krankenhauses erreichten. Widerstrebend stieg Singh aus dem Wagen. Er hatte schon viele Leichen gesehen, Leichen von Menschen, die erstochen, erschossen, ertränkt oder erdrosselt worden waren. Doch nie zuvor hatte er es mit einem Massenmord von einem Ausmaß wie bei den Bombenanschlägen auf Bali zu tun gehabt.
Am Eingang erwartete sie ein großer dünner Mann, dessen rotblondes Haar bis auf den Kragen seines weißen Kittels hinabfiel. »Sie sind Singh?«, fragte er mit abgehackter Stimme.
Der Inspektor nickte. Er beschloss, den barschen Ton des Mannes zu ignorieren. Seine blutunterlaufenen Augen wie auch die Ader, die auf der Stirn hervortrat, zeigten, dass er am Ende war.
»Ich bin Dr. Alex Barton. Ich bin für die Sammlung verbrannter Körperteile verantwortlich, die wir hier haben.«
»Sie Glücklicher!«, murmelte Singh, als er dem Mann die Hand schüttelte, und bemerkte, wie trocken dessen Handfläche war. Er hatte noch immer keine Ahnung, warum er im Leichenschauhaus war. Er hoffte, dass nicht irgendetwas getan werden musste, wovon er nichts verstand – Gott allein wusste, was seine Vorgesetzten den Balinesen über seine Fähigkeiten erzählt hatten. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn seine Bosse in Singapur ihnen versichert hätten, dass er ein Spurensicherungsexperte war.
Der Arzt sah aus, als wolle er etwas sagen, wisse aber nicht, wie. Er steckte die Hände in die Taschen seines weißen Kittels, sah Singh an, änderte seine Meinung und starrte verwirrt auf die weißen Turnschuhe des Polizisten. Dann sagte er unvermittelt: »Kommen Sie bitte mit.«
Fasziniert von dieser rätselhaften Situation, trottete Singh dem Arzt hinterher und benötigte für einen von dessen Schritten jeweils zwei. Bronwyn, die Schuhe mit weichen Sohlen und abgelaufenen Absätzen trug, hatte keine Probleme, mit dem Pathologen mitzuhalten. Sie war fast so groß wie er. Für ihre Verhältnisse war Bronwyn zurückhaltend. Singh wunderte sich einen Moment lang darüber. Wusste sie etwas, wovon sie ihm nichts sagte? Er gab es auf, an Bronwyn zu zweifeln, und konzentrierte sich stattdessen darauf, mit den anderen mitzukommen.
Alex Barton blieb erst stehen, als er einen großen Gefrierschrank aus Stahl erreichte. Er öffnete die Tür und bedeutete ihnen hineinzuschauen. Singh kam seiner Aufforderung nur widerwillig nach. Seine Abneigung wurde gerechtfertigt durch den Anblick von kleinen Haufen verkohlter Gliedmaßen und anderer menschlicher Überreste.
Er sah den australischen Arzt fragend an. »Haben Sie Probleme, diese Opfer zu identifizieren?«, fragte er.
»Ja. Aber wir stehen erst am Anfang. Wir warten noch auf die DNA-Proben, die Zahnbefunde, Informationen über unverwechselbare Merkmale wie Narben, Tätowierungen und dergleichen.«
»Ein harter Job«, sagte Bronwyn mitfühlend.
»Das Durcheinander nach den Bombenanschlägen hat uns da auch nicht gerade weitergeholfen«, klagte der Arzt verbittert.
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Inspektor Singh mit seiner tiefen, heiseren Stimme.
»Es gab nicht genug Platz hier – im Leichenschauhaus, meine ich. Der Gefrierschrank ist nur für zehn Leichen gedacht. Wir hatten über zweihundert. Die Überreste wurden in Säcken im Garten gelassen. Sie waren so verbrannt, dass sie schneller verfaulten als gewöhnlich. Selbst in den Kriegsgebieten, in denen ich war, war es nicht so schlimm. Aber das Schlimmste ist« – er schüttelte ungläubig den Kopf –, »jeder durfte hier reinkommen und nach vermissten Verwandten suchen. Die Menschen haben aufgrund einer visuellen Identifizierung Anspruch auf die Leichen erhoben – unter diesen Umständen hoffnungslos.«
»Wollen Sie damit sagen, die Familien hätten Anspruch auf die falschen Leichen erhoben?«, fragte Bronwyn entsetzt.
»Das ist noch das wenigste«, sagte der Arzt und seufzte. »Einige der Freiwilligen, die kamen, um uns zu helfen – sie hatten keine Ausbildung und haben die Überreste durcheinandergebracht. Es gibt viele Querkontaminationen zwischen den DNA-Proben.«
»Aber das heißt doch, dass es Opfer gibt, die vielleicht nie identifiziert werden!«, rief Bronwyn aus.
Der Arzt nickte. Sorge und Müdigkeit lagen auf seinem Gesicht.
Alle schwiegen.
Singh fand als Erster wieder Worte: »Aber was kann ich für Sie tun? Ich bin leider kein Spurensicherungsexperte.«
Bevor Dr. Barton antworten konnte, trat ein anderer Mann dazu. Klein, gedrungen und mit großem, eckigem Kopf sah er aus wie eine weiße Version von Inspektor Singh – nur dass er keinen Turban trug. Der Neuankömmling schüttelte Barton die Hand, wandte sich an den Polizisten und fragte: »Sie sind Singh?«
Singh hatte es allmählich satt, sich mit ungehobelten Australiern abgeben zu müssen. Und so erwiderte er, ohne sich die Mühe zu machen, seinen Ärger zu verbergen: »Ja, mit wem habe ich die Ehre?«
»Ich bin Polizeipräsident Atkinson – AFP.«
»Was wollen Sie von mir?«
Der Australier wandte sich dem Arzt zu und blaffte: »Sie haben es ihm nicht gesagt?«
»Nein. Ich wollte es gerade tun, als Sie aufgetaucht sind.«
»Okay.«
Atkinson starrte den Sikh-Polizisten prüfend an. Singh vermutete, dass er nicht zu den Menschen gehörte, die Vertrauen erweckten. Er war klein und dick und hatte übermäßig viele Kugelschreiber in der Brusttasche seines Hemdes. Seine schneeweißen Turnschuhe standen im Kontrast zu dem großen blauen Turban auf seinem Kopf. Er hatte eine dünne Oberlippe, eine rosafarbene, fast vorstehende Unterlippe und einen gepflegten Bart und Schnurrbart, beide durchzogen von weißen Fäden.
»Sind Sie Muslim?«, fragte Atkinson.
Singh war jetzt wirklich verärgert. »Eigentlich geht es Sie nichts an, aber nein, bin ich nicht.«
»Warum tragen Sie dann dieses Taschentuch um den Kopf?«
»Weil ich ein Sikh bin und unser Volk schon länger einen Turban trägt, als Ihre Vorfahren keine Strafgefangenen mehr sind.«
Atkinson brach in bellendes Gelächter aus. »Da könnten Sie recht haben, Kollege.«
Singh reagierte mit eisigem Schweigen und verzog schmollend die Lippen, um sein Missfallen zum Ausdruck zu bringen.
»Es ist mir völlig egal, ob Sie Sikh oder Christ oder auch ein verdammter Muslim sind«, fuhr der Australier fort. »Weil aber hinter den Bombenanschlägen auf Bali eine Reihe von Handtuchköpfen stecken, habe ich gedacht, ich könnte ruhig mal fragen.«